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Viktorija Tokarjewa

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Beschreibung

Aus purem Trotz heiratet Elja viel zu früh den sie naiv vergötternden Tolik und zieht mit ihm zu seinen Eltern in ein russisches Provinznest. Als sie an der Langeweile des Kleinstadtlebens zu ersticken droht, verliebt sich Elja in den Schauspieler Igor, der so wunderschön Lermontow rezitiert. Sie zieht mit ihm nach Moskau. Aber Igor ist Alkoholiker und hat seit Jahren keine guten Rollen mehr gespielt ...

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Viktorija Tokarjewa

Happy-End

Erzählung

Aus dem Russischen von Angelika Schneider

Diogenes

1 Piroggen

Den ganzen Samstag über buken sie Piroggen, und den ganzen Sonntag lang aßen sie sie auf. Die Piroggen waren mit Fleisch, mit Kohl, mit Äpfeln, mit Kirschen und mit Kartoffeln gefüllt. Und die mit Kartoffeln waren – noch heiß – ganz besonders gut. Elja aß ganze vier Stück davon, ihr Magen war so überdehnt, daß ihr das Zwerchfell wehtat, und sie fühlte sich so vollgefressen und unbeweglich wie ein schwangeres Nilpferd.

Elja schaute voller Entsetzen, aber mit einem gewissen ethnografischen Interesse auf die Alten, die Eltern ihres Mannes. Sie saugten das Essen in sich ein wie Staubsauger. Dann wälzten sie sich – im wahrsten Sinne des Wortes – auf ihren Stühlen hin und her, ließen sich zurückfallen und begannen ein Lied zu krähen. Es sangen drei Generationen: die alten Kisljuks, der Sohn und der Enkel Kirjuscha. Und alle vier waren ganz entschieden glücklich. Vor allem die Alte. Wie sollte sie sich auch nicht freuen? Sie hatte schwere Zeiten mitgemacht, hatte Heißes und Kaltes probiert. Als sie im Jahre dreißig heiratete, hatte sie nicht einmal Unterwäsche. Unterhemd und Unterhose hatte sie sich aus Transparenten genäht. Auf der Hose waren weiße Ölfarbenbuchstaben zu sehen. Die Farbe ging dann beim Waschen raus, aber die Buchstaben waren immer noch zu sehen. Irgendwas mit ›Es lebe …‹. Armut und Hunger herrschten damals, die einzige Freude war ihre Jugend. Aber daß man jung ist, spürt man nicht, und der Hunger färbt dir das Weiße im Auge grünlich. In den dreißiger Jahren hungerte die Ukraine. Und im Krieg hungerte sie auch. Nach dem Krieg, im Jahre sechsundvierzig, kam eine große Dürre. Da aß man immer auf Vorrat: wer weiß, ob es morgen noch was gibt …

Das Leben der Alten war rauh gewesen, aber je schlimmer die Zeiten, desto süßer die Träume. Und wenn man damals von der ›lichten Zukunft‹ träumte, dann dachte man immer an einen Tisch, der von Piroggen überquoll.

Und jetzt waren sie da, diese lichten Tage, da waren die Piroggen – mit Fleisch, mit Kirschen und mit Kartoffeln gefüllt. Ihr Sohn Tolik war erwachsen geworden, hatte eine Hochschulbildung bekommen; er war jetzt Jurist im Bergwerk, saß hoch über der Erde und atmete frische Luft, nicht wie der alte Kisljuk, der sein ganzes Leben unter Tage verbracht hatte wie ein Maulwurf und dessen Lungen voller Kohlenstaub waren. Der Enkel Kirjuscha war ein hübsches Kerlchen, ein schlauer Bursche, niemand sonst hatte so ein Kind. Nur war er ein bißchen zu sehr nach der Schwiegertochter geraten, ein bißchen dünn, wie ein Wildkarnickel. Aber ganz egal nach wem er geraten war, und wenn’s nach dem Hitler gewesen wäre, Hauptsache, niemand nahm ihn ihr weg. Als der Enkel zur Welt kam, verjüngte sich das Haus, sie lebte vor sich hin und wollte nicht sterben. Irgendwie spürte sie das Alter gar nicht, aber vor ihr lag nur noch eine kurze Lebenszeit. Früher war sie oft ungeduldig gewesen, wollte, daß die Zeit schneller verginge. Aber jetzt flogen die Tage nur so vorbei, kaum daß man sie am Schwanz zu fassen bekam. Kaum war der Winter da, da wurde es schon wieder Sommer. Früher zählte sie Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag. Und jetzt Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Sie legte sich schlafen und wußte nicht, ob sie noch mal aufwachen würde. Aber man lebt halt nur ein Leben; höher als man selbst hoch ist, kann man nicht springen. Alles, was lebt, denkt an das Leben. Die Kisljuks hatten ihren Garten, ihre Gemüsebeete: Vitamine das ganze Jahr über. Sie mästeten Schweine, hielten Truthähne. Der ganze Tag war ausgefüllt mit Arbeit, von morgens bis abends, kaum daß man Zeit hatte, sich umzudrehen. Wie man sich bettet, so liegt man. Man müht sich ab, zieht ein Vieh groß. Ist es groß, wird es verkauft. Ist es verkauft, gibt’s Geld. Gibt’s Geld, gibt man es aus. Hat man’s für was ausgegeben, kann man sich freuen. Und dann wieder von vorne. Und das Leben ist ganz klar. Man lebt selbst und hilft noch den Kindern, Gott sei Dank muß man dem Sohn nicht in die Tasche langen.

Und trotzdem ist die Schwiegertochter nicht zufrieden, sitzt da, als hätte sie Kletten unterm Hintern. Warum ist sie bloß nicht froh? Was will sie noch? Sollte lieber noch drei Kinder gebären, solange sie noch nicht zu alt dazu ist. Aber die alte Kisljuk mischt sich nicht ein, geht niemandem mit Ratschlägen auf die Nerven. Der Sohn hat sie sich ausgesucht, er muß mit ihr leben. Sonst lassen sie sich vielleicht noch scheiden und nehmen ihr das Kind weg, Gott bewahre. Soll alles bleiben wie es ist, wenn’s nur nicht schlechter wird.

Elja steckte sich eine Zigarette an.

»Rauch nicht«, sagte die Alte gebieterisch. »Hier ist ein Kind, das muß sonst mitrauchen.«

»Na, ist ja schon gut«, verteidigte Tolik Elja.

Tolik bemühte sich nach Leibeskräften, daß Elja es bei den Alten gut hatte, aber sie lebten einfach in verschiedenen Welten. Seine Mutter betonte dauernd das Wort ›umsonst‹. Elja brauchte weder die Piroggen noch die Schwiegereltern, noch deren Vorwürfe. Tolik brauchte sowohl seine Eltern als auch Elja, rutschte zwischen ihnen hin und her, sein Herz vibrierte nur so und war ganz erschöpft davon.

»Was heißt hier ›ist schon gut‹! Bist du der Vater oder nicht?«

Elja stand auf und ging aus der Isba1.

Es dämmerte. Auf dem Hof stand ein Tisch. Im Tisch war ein großes Loch für den Stamm der alten Eiche, und es sah so aus, als sei die Eiche durch den Tisch gewachsen und entfaltete ihre große Krone über ihm. Neben dem Stamm türmten sich die Schweine aufeinander wie ein einziger großer Fettberg. Elja kam es so vor, als fehle nicht mehr viel und sie würde sich selbst in so eine grunzende Masse mit Augen verwandeln.

 

Alles hatte damit angefangen, daß ihre Mutter Ilja geheiratet hatte und er bei ihnen eingezogen war. Elja war schon Studentin im zweiten Studienjahr in der Textilhochschule, und sie war es gewohnt, für die Mutter die Hauptperson zu sein. Und jetzt waren da zwei Hauptpersonen, eine Doppelherrschaft. Damit war ein Machtkampf in Gang gekommen. Er wurde aber nicht offen ausgetragen, sondern schwelte kaum wahrnehmbar zwischen allem. Es knisterte. Auf diesem Spannungshintergrund bewegte sich Ilja durch die Wohnung, aß, trank und schlief. Er hatte die Angewohnheit, mit nacktem Oberkörper in Schlafanzughosen herumzulaufen. Unter seinen Achseln quoll ein rostbraunes Haargestrüpp hervor. Auf Brust und Bauch kringelte sich ein graues Fell. Ilja kratzte sich den Bauch geräuschvoll, und wenn man nicht hinsah, sondern ihn nur hörte, dachte man, eine Kuh kratzt sich am Zaun. Dabei dröhnte Ilja:

»Frau, liebst du mich?«

Die Mutter kicherte und bewegte sich mit der ungeschickten Grazie eines Zirkuspferdes durch die Wohnung, wobei sie bemüht war, auf ihren Wegen Ilja in die Hände zu fallen. Ilja nahm herablassend mit zwei Fingern ihre Wange und kniff hinein. Das war Zärtlichkeit. Die zwanzigjährige Elja dachte, daß Liebe nur für Zwanzig-, na vielleicht noch für Dreißigjährige existiert. Aber mit fünfzig … Mit fünfzig war so was widernatürlich und peinlich, und wenn es schon passierte, sollte man es verstecken, geheimhalten, mit gesenktem Blick herumlaufen, aber nicht auch noch wiehern wie Kriegsveteranen-Gäule.

Aus Protest kaufte sich Elja ihre eigenen Lebensmittel. Ilja stibitzte ihr öfter mal was, und wenn Elja ihn dabei ertappte, witschte er aus der Küche wie eine Ratte und kaute weiter. Und so was mit über fünfzig! Dem ersten Jubiläum. Elja hatte keine Lust, mit ihm zu reden, schrieb ihm nur Zettel. Er antwortete ihr ebenfalls schriftlich. Die Mutter war zwischen ihren beiden Lieben hin- und hergerissen. Schließlich zog Elja ins Studentenwohnheim.

Im Studentenwohnheim standen die Betten eng beieinander wie im Krankenhaus. Die Studentinnen lernten schlecht, mit Widerwillen. Sie dachten immer an ein und dasselbe und redeten auch nur davon. Milka Nikaschina, deren Bett am Fenster stand, kaufte bei einem Trödler einen japanischen Wandschirm und heiratete sozusagen. Und allen war es peinlich, wenn hinter dem Wandschirm angespannte, beredte Stille herrschte. Elja ging aus dem Zimmer. Nach Hause wollte sie nicht. Sie wußte nicht wohin, und so schlenderte sie ziellos durch die Straßen und ging dann ins Kino Ars, Der Film handelte auch wieder von Liebe, und Elja kam es so vor, als ob alles Lebende nichts anderes im Sinn hätte als aneinander zu kleben, und selbst die Fliegen, die Swastiken in die Luft zeichneten, schafften es, miteinander zu kopulieren, ohne dabei mit dem Zeichnen aufzuhören. Die Welt war verrückt geworden.

Eines Tages lernte Elja im Kino Tolik Kisljuk kennen. Er verkaufte ihr eine überzählige Karte. Es stellte sich heraus, daß Tolik auch Student war, Jurastudent, aus einer fremden Stadt und daß er auch im Studentenwohnheim wohnte. Er sah aus wie ein unglücklicher deutscher Kriegsgefangener: bläßlich, blauäugig, mit einem Eierkopf, nichts Besonderes. Das Gute an Tolik war, daß er sie nicht angrabschte. Er kam zu ihr wie ein Bruder und saß friedlich neben ihr. Dann gingen sie zusammen spazieren. Elja ging gern spazieren, sie brauchte Bewegung. Sie redeten über nichts Besonderes, über Alltagskram, aber neben Tolik fühlte Elja Wärme und Geborgenheit, wie zu Hause, bevor Ilja eingezogen war. Eines Tages küßten sie sich, und Tolik brach in Tränen aus vor Rührung. Dann küßten sie sich immer, und da Elja nichts Besseres hatte, gewann sie Tolik allmählich lieb. Diese Liebe hatte den Beigeschmack von Herablassung, aber trotzdem war es Liebe. Tolik gehörte ganz ihr. Er steckte von den Füßen bis zum Scheitel ganz in Elja und wollte nicht raus. Etwas Eigenes in fremde Hände zu geben, fand Elja schade, also heiratete sie Tolik.

Zuerst lebten sie in Untermiete, dann mieteten sie ein winziges Loch von einer Wohnung. Die Armut quälte sie. Und dann kam auch noch Kirjuschka auf die Welt. Die Mutter wollte ihn zu sich nehmen, riskierte ihr eigenes Glück. Denn Kirjuschka war so dürr und bläulich, hol der Teufel das eigene Glück, wenn nur das Kind überlebte. Elja nahm das Opfer nicht an, und schließlich brach sie ihre Ausbildung ab, und sie zogen nach Letitschew. Das war nur dem Namen nach eine Stadt. Wahrscheinlich war Letitschew nicht mal auf Militärkarten vermerkt. Hühner liefen über die Straße. Es gab ein Kaufhaus und ein Kino. Das war Toliks Heimat. Hier wohnten seine Alten. Tolik war ein solider Mensch, er hatte von allem nur ein Exemplar: eine Liebe, eine Heimat, ein Leben …

 

Elja ließ die Zigarette fallen. Die Zigarette fiel auf ein Schwein. Das Schwein schaukelte den Fettberg sanft hin und her und grunzte. Der Sonntag ging zu Ende.

Morgen war Montag, dann Dienstag. Dann Mittwoch – die Mitte der Woche, und dann kam schon bald Donnerstag und Freitag. Am Samstag wurden Piroggen gebacken, und am Sonntag wurden sie gegessen. Und das war es. Mehr gab’s nicht zu sehen … Tolik kam heraus und blieb hinter ihrem Rücken stehen.

»Wenn du willst, dann nehmen wir Kirjuscha zu uns, sonst entfremdet sich uns das Kind noch«, sagte Tolik schuldbewußt.

»Er entfremdet sich uns, aber er gewöhnt sich schon wieder an uns, und dann entwöhnt er sich auch wieder. Er hat noch das ganze Leben vor sich …«

Elja stand da, fremd und hart. Tolik erschrak, drückte sie mit beiden Armen an sich, um den Abstand zu verringern. Er preßte sie an sich und zitterte wie ein Zeisig im Frost. Elja tat ihm leid. Er liebte sie. Es stimmte, daß diese Liebe mehr und mehr wie Haß aussah, aber trotzdem war es Liebe.

Die Dämmerung machte die Schweine unsichtbar. Die Luft roch nach dem nahen Wald und dem Wasser des Flusses. Die Welt war ruhig und friedlich, und es war gut zu wissen, daß es morgen auch so sein würde, aber gleichzeitig war es auch unerträglich zu wissen, daß es morgen auch so sein würde. Ihr Herz zersprang fast. Und alles wegen Ilja. Wäre Ilja nicht gewesen, wäre ihr weder das mit Tolik passiert noch das mit Letitschew.

 

Am Montag ging Elja zur Arbeit. Sie ging die in der Stadt einzige – und deshalb Hauptstraße genannte – Straße entlang, und sie wußte, daß sich jetzt alle die Nasen an den Fensterscheiben plattdrückten, genau musterten, was sie anhatte und den Preis jedes einzelnen Stückes abschätzten.

Wenn die geschiedene dreißigjährige Vera hier entlangging, schauten sie mit weit größerer Leidenschaft hin und suchten an Vera die Stelle, wo sie ihr das Schandmal aufdrücken konnten. Und stellten fest, daß es keine Stelle gab. Nach Meinung der Letitschewer konnte man Vera nicht brandmarken. Elja kannte Veras Leben: Sie hatte mit niemandem was, ihre Jugend ging wie Rauch durch den Schornstein. Es war ganz einfach: Einmal geschieden, war sie raus aus der Festung, außerhalb der Herde, man konnte auf ihr herumtrampeln.

Das Kaufhaus war das einzige zweigeschossige Gebäude in der Stadt. Eljas Büro lag im zweiten Stock. Sie war Einkäuferin. Alle Defizitwaren wurden bei ihr gelagert.

Mit fünfundzwanzig blühte Elja richtig auf: Löckchen, freche Blicke, eine schlanke Taille. Die Schönheit einer Fünfundzwanzigjährigen, das war noch eine zusätzliche Macht, genauso mächtig wie das Defizitwarenlager. Elja hatte also zwei Trümpfe. Aber wofür? Wenn sie in Moskau leben würde, ja dann. ›Nach Moskau, nach Moskau‹ – wie die drei Schwestern bei Tschechow. Moskau würde sie von den Piroggen erlösen, von den Gerüchten und von der Schwiegermutter. In Moskau konnte man eine Berühmtheit treffen oder einen Millionär und mit ihm nach Amerika reisen. Sich vor einem Wolkenkratzer fotografieren lassen und Ilja eine Fotografie schicken. »Da, guck, wo ich bin und wo du bist.« Wie sie als Kinder immer sangen: »Ich flieg weit weg, und du liegst im Dreck.«

Aus Eljas Bürofenster sah man auf die Post. Vor der Post standen junge Kerle rum. An den Seitennähten der Hose waren Vorhangringe angenäht. Sie machten auf Cowboy.

Es klopfte, und dann kam der Schuldirektor herein, Nikolaj Anisimowitsch. Ein seltsamer Mann, häßlich, als wenn er aus einem Hund gemacht worden wäre. Er brachte, Dankbarkeit in den Augen, einen Briefumschlag. Die Dankbarkeit sprühte nur so aus seinen Pupillen. Elja hatte seiner Frau zu einem Webpelzmantel verholfen: der war warm und wasserundurchlässig, wenn sie zu Patienten gerufen wurde. Diese Mäntel waren längst aus der Mode gekommen, aber den beiden war die Mode ganz egal.