Glücksvogel - Viktorija Tokarjewa - E-Book

Glücksvogel E-Book

Viktorija Tokarjewa

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nichts ist zu schwierig für die clevere, skrupellose Nadka, sie schafft einfach alles aber einer schafft sie: Andrej, ihre große Liebe, ist verheiratet und will es auch bleiben. Doch so schnell gibt Nadka nicht auf.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 259

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Viktorija Tokarjewa

Glücksvogel

Roman

Aus dem Russischen von Angelika Schneider

Diogenes

1

Der Glücksvogel des morgigen Tages, flog vorbei mit den Flügeln schlagend, flieg zu mir, flieg zu mir, du Vogel des Glücks …« So heißt es im Volkslied.

Und wenn er nicht zu einem fliegt, dann fliegt er vorbei. Oder zu jemand anderem, und man selbst bleibt mit offenem Mund stehen.

Man muß die Initiative ergreifen: ganz hoch springen und den Vogel am Schwanz packen, und zwar schneller als all die anderen.

Nadka hatte gelesen, daß die Frau eines berühmten russischen Bildhauers die Geliebte von Albert Einstein gewesen war und außerdem für den sowjetischen Geheimdienst gearbeitet hatte. Einstein mit der hohen Stirn hatte sich wohl kaum von selbst für diese Russin interessiert. Er war viel zu sehr mit seiner Relativitätstheorie beschäftigt gewesen, um nach rechts oder links zu schauen. Wahrscheinlich hatte die Frau des Bildhauers die Initiative ergriffen, sich bis zum großen Einstein vorgearbeitet, und er war einverstanden gewesen. Warum auch nicht, wenn sie sich in seine Arme warf. Da hast du deinen Glücksvogel! Er war ein dummes Vieh, denn schließlich war er nur ein Vogel. Flog einfach so planlos durch die Gegend und flatterte mit den Flügeln. Auf den Zufall zu warten war lächerlich. So einen Zufall mußte man vorbereiten.

 

Nadka war noch in der Breschnjew-Ära in Rostow am Don geboren worden. Ihre Eltern hatten sich bei einem Universitätsball heftig umarmt – und dann ein Kind gezeugt. Das Kind kam zur völlig falschen Zeit, genau vor dem Abschlußdiplom der werdenden Mutter. Aber dann war sie da, die kleine Nadka. Kein Mädchen, sondern ein Faß ohne Boden: man mußte sein ganzes Leben hineinstecken, ob man wollte oder nicht.

Der Papa machte sich ziemlich schnell aus dem Staub. Es war eine Sache, jemanden nach dem Tanzen zu umarmen und dabei vor Leidenschaft zu vergehen. Aber eine ganz andere, jeden Morgen in die Küche zu rennen, um Fläschchen aufzuwärmen.

Der junge Vater zog sich zuerst ins Studentenwohnheim zurück, dann verschwand er nach Moskau und ließ ewig nichts mehr von sich hören.

Nadkas Mutter, sie hieß Xenia, stillte das Kind brav, bis es sieben Monate alt war. Dann händigte sie den unbezahlbaren Schatz ihrer Mutter aus und entschwand ebenfalls nach Moskau. Aber sie lief nicht etwa ihrem Mann hinterher. Xenia hatte nur schnell begriffen, daß ihre lebendige, gesunde Heimatstadt tiefste Provinz war. Die wirklich guten Sachen passierten in Moskau.

Xenia kam dort an und ließ sich in einer Kunstgewerbeschule aufnehmen. Es hatte ihr schon immer gefallen, etwas mit den Händen zu machen. Sie dachte mit den Händen. Natürlich dachte sie auch mit dem Kopf, aber ihre Hände waren klüger.

Xenia lernte, Rahmen für Gemälde herzustellen, mit Ton zu arbeiten und Keramik zu brennen. Besonders gut gelangen ihr Teller mit einer speziellen blauen Glasur.

Xenia war nicht faul, sie lernte arabische Kalligraphie, und schon liefen ineinander verschlungene Schriftzeichen um den Tellerrand. Und es waren nicht einfach nur Buchstaben, sondern es war eine Zeile aus einem Gedicht.

Alle waren entzückt, alle, außer dem Meister, der den Kurs leitete.

»Zu glatt«, sagte der Meister. »Das ist wie ein Stempel. Wenn wenigstens ein Splitterchen drin wäre …«

Xenia begriff nicht: Wozu sollte ein Splitter drin sein? War glatt denn nicht besser?

Xenia war eine Blondine mit braunen Augen – eine seltene Mischung. So einer Mischung hätte man vieles verzeihen können, anstatt so ein Getöse zu machen wegen eines Splitters. Aber der Meister hatte eine Macke: Er erkor sich manche Schüler als Lieblinge, und die anderen ließ er wie einen staubigen Pantoffel unterm Sofa liegen.

Zu seinen Lieblingen gehörte German Glebow, ein Talent und Säufer, und ein Schönling dazu. Xenia konnte die Augen nicht von ihm lassen. Ihr Blick klebte förmlich an seinem Gesicht, und die Zeit blieb dann stehen. German hatte weitstehende Augen mit hohen Brauenbögen. Sein Hinterkopf war knabenhaft und sein Hals rührend dünn. Man munkelte, er stamme von Adeligen ab. Ein wiedergeborener Aristokrat. Man hätte ihm den Arm reichen mögen, um ihn zu stützen. Und Xenia reichte ihm natürlich diesen Arm …

German ging manchmal einen ganzen Monat lang nicht zu den Kursen. Dann kam er und zog eine Skizze heraus: eine Katze mit menschlichem Gesicht. Was war daran Besonderes? Alle Tiere ähnelten Menschen, und die Menschen den Tieren. Der Meister beispielsweise sah gleichzeitig einem Bären ähnlich und dem Künstler Papanow. Aber der Meister machte ein Riesentrara um diese Katze, hielt sie allen unter die Nase: Seht euch das an, unter uns ist ein leibhaftiger Pirosmani! Doch der leibhaftige Pirosmani betrank sich zielstrebig, als hätte er ein Selbstzerstörungsprogramm eingelegt. Er brannte wie eine Fackel – und verglühte.

»Für Russen ist das normal«, seufzte der Meister schwer. »In Rußland säuft jeder richtige Künstler wie ein Loch.«

Offensichtlich mußte man richtige Laster haben, wenn man zu den echten Künstlern gehören wollte, aber Xenia hatte keine Laster. Nur Tugenden. Sie war schön, bescheiden, fleißig, ordentlich. Wenn sie sich etwas lieh, gab sie es rechtzeitig wieder zurück.

Wenn sie sich verliebte, dann geschah es völlig uneigennützig und gereichte ihr sogar eher zum Nachteil. German zum Beispiel. Sie ernährte ihn, behütete ihn; ja sie trug ihn sogar wie einen Sack Kartoffeln auf dem Rücken, wenn er nicht mehr fähig war, auf den eigenen Beinen zu stehen.

Ansonsten hielt sie ihn fest an der Hand. German lachte und sagte: »Was hältst du mich so fest? Ich bin das einzige, was du sowieso nie verlieren wirst …«

Und das stimmte tatsächlich. Er starb, und sie verlor ihn nicht: Er war in ihr.

German hatte Xenia weit mehr gegeben als der Meister. Der Meister ließ kein gutes Haar an ihr, und von all der Kritik ließ sie die Hände sinken.

Wenn man Xenia heruntermachte, glaubte sie es sofort, war innerlich gleich einverstanden: Ja, ich kann nichts, ich bin ein Nichts und ein Niemand.

Xenia wuchs nur durch Liebe und Bestätigung. Wenn German sagte: ›Du bist besser als alle anderen …‹, dann glaubte sie auch das sofort. Ja, sie war die Beste! Und es würde ihr alles gelingen …

Im letzten Jahr hatten sie sich viel gestritten. Xenia hatte seine Sauferei satt und schleuderte ihm Beleidigungen ins Gesicht. Einmal erwiderte German: »Eines Tages wirst du alles haben, nur mich nicht mehr. Und dann wird es dir schlechtgehen …«

Nachdem German Glebow gestorben war, fand eine Ausstellung statt. Allen wurde klar, was für ein Verlust sein früher Tod war. Und Xenia erkannte, daß von nun an ihre Seele sich für immer wie ein obdachloser Teenager auf Bahnhöfen und in Kellern herumtreiben würde. Etwas war ein für alle Mal zu Ende gegangen.

Xenia lebte von einem Tag zum anderen, ohne besondere Pläne. Irgendwo würde es schon hingehen. ›Du wirst alles haben, nur mich nicht. Und es wird dir sehr schlechtgehen …‹

 

Während sich Xenias Schicksal fügte und zerbrach, wuchs Nadka in Rostow am Don im Haus ihrer Großeltern auf. So vergingen ihre Kinderjahre, sie kam in die Pubertät. Nadka wurde dreizehn Jahre alt, und plötzlich bemerkte sie, daß ihre Großmutter und ihr Großvater nicht nur alte, sondern auch altmodische Menschen waren. Sie erlaubten ihr aber auch rein gar nichts. Dies war verboten, jenes nicht erlaubt. Geh dort nicht hin, red nicht mit jenem. Und bei schlechten Schulnoten versteckten sie ihr die Schuhe, damit sie zu Hause blieb. Was für Idioten!

So schlich sich Nadka ohne Schuhe aus dem Haus. Dann eben barfuß. Ein paar Tage lang wohnte sie bei Freundinnen, nur um es den Großeltern mal richtig zu zeigen. Sollten sie sich ruhig aufregen.

Und sie regten sich auch auf. Großmutter hatte erhöhten Blutdruck, der Großvater schrie wie angestochen. Alles endete damit, daß die Großeltern Xenia anriefen: »Hol deine Tochter nach Moskau, und erzieh sie selbst. Wie sollen wir noch atmen können mit so einer Enkelin …«

Xenia wußte wohl, daß sie ihre Tochter irgendwann zu sich nehmen mußte. Aber doch nicht gerade jetzt.

Gerade jetzt hatte sie nämlich einen guten Auftrag erhalten: Souvenirteller für das Geschäft ›Usbekistan‹. Das war ein Riesenerfolg – und bedeutete endlich Geld.

Nun mußte sie wohl heiraten. Nicht aus Liebe, leider. Nur eine Scheinehe, damit sie die Daueraufenthaltsgenehmigung für Moskau erhielt. Aber diese Genehmigung war erst der Anfang vom Anfang. Danach konnte sie in eine Wohnungsgenossenschaft eintreten, sich auf eine Warteliste eintragen, später in die eigene Wohnung einziehen und dann endlich Nadka zu sich nehmen.

Xenia bat ihre Eltern, doch noch ein, zwei Jahre durchzuhalten. Sie waren einverstanden, was blieb ihnen auch übrig? Wen hatten sie denn sonst, außer der Tochter und der Enkelin? Und im großen und ganzen waren sie ja bereit, sich für die Enkelin aufzuopfern, aber es wurde immer klarer, daß der Altersunterschied, die Kluft zwischen den Generationen, einfach zu groß war. Das Mädchen brauchte junge Eltern.

 

Xenia verwirklichte Schritt für Schritt ihre Träume: ›Langsam, aber sicher‹, das war ihr Motto. Sie heiratete fiktiv, verdiente Geld, trat einer Wohnungsgenossenschaft bei. Dann zog sie in ihre Zweizimmerwohnung. Die Wohnung war leider nicht sonnig, denn die Fenster gingen nach Norden. Xenia betrachtete jeden Morgen, wie die Sonne das Haus gegenüber beschien. So hatte doch wenigstens jemand anderer Glück. Xenia freute sich für die anderen. Ihr fehlte der Stachel des Neides völlig, und ebensowenig kannte sie die Gier. Sie feilschte nicht mit ihren Auftraggebern, so viel sie ihr boten, so viel nahm sie, und danke. Es war angenehm, mit ihr zu tun zu haben: Sie war zuverlässig, feinfühlig, und sie war hübsch. Ihre Ware war Qualität auf höchstem Niveau. Deshalb war sie nie ohne Auftrag. Es bewahrheitete sich bei ihr das russische Sprichwort: ›Je langsamer du fährst, um so weiter kommst du.‹

Das Einzige, was Xenia wirklich fehlte, war Liebe. Es wäre so schön gewesen, sich zusammen schlafen zu legen, zusammen die Wohnung zu putzen, gemeinsam die Schwierigkeiten zu bewältigen, die ihre Arbeit barg. Und gemeinsam zu schweigen. Es war so schwer, allein zu schweigen …

 

Xenia war an ihre Tochter nicht mehr gewöhnt und bemühte sich, deren Einzug bei ihr hinauszuzögern. Aber Nadka wurde nun schon fünfzehn und entfaltete ihre ganze Größe. Sie kam nach der anderen Seite der Familie, den Warlamows. Mit Xenia hatte sie äußerlich gar nichts gemeinsam. Xenia war eine Slawin, und Nadka war eine junge Asiatin. Es hieß, daß bei den Warlamows mal ein Mongole dazwischengekommen wäre. Und bei Nadka trat er offen zutage. Die leicht gewölbte Fläche über den Oberlidern, die starken, fast schwarzen Haare und die Augen von der Farbe einer Avocado. Nadka war schön und gleichzeitig nicht schön, wie der Alexandrit, ein Halbedelstein, dessen Farbe sich je nach Lichteinfall ändert. Hatte sie schlechte Laune, sah man nur ihre hängende Nase. Ging es ihr aber gut, sah sie aus wie eine Japanerin in einem teuren Kalender. Der einzige Unterschied war der Augenausdruck. Im Blick der Japanerin aus dem Kalender lag weibliche Fügsamkeit. In Nadkas Blick aber war wachsame Erwartung: Von woher würde jemand auf sie zukommen, wen sollte sie angreifen …

 

Als Nadka dann zu ihr zog, betrachtete Xenia ihre Tochter mit gemischten Gefühlen. Einerseits war sie ihr eigen Fleisch und Blut, andererseits war sie wie ein Baumstamm, den man ihr in den Weg gelegt hatte. Man konnte nicht drüberklettern, ihn nicht umfahren und nicht wegziehen. Sie konnte nun niemanden mehr in die Wohnung mitbringen, denn sie wollte ihrer Tochter ja kein schlechtes Beispiel geben. Und zurück nach Rostow konnte sie sie auch nicht schicken.

 

Xenia brachte Nadka in der nächstgelegenen Schule unter, sie ging nun in die neunte Klasse.

Nadka fand schnell Freundinnen, Nelly und Nina. Sie hatte Umgang mit allen möglichen Altersgenossen und richtete sich im Nu ihr eigenes Leben ein.

Abends ging Nadka die Freundinnen besuchen. Mal war sie bei Nelly, mal bei Nina.

Bei Nelly war es interessanter. Ihre Mutter war auf der Arbeit, die Wohnung leer, und es gab ganze Regale voll mit der raren Zeitschrift ›Amerika‹. Man konnte stundenlang dasitzen und geheimnisvolle Schwarzweißfotos ansehen, die Kreidepapierseiten umblättern und in das verbotene Leben schauen.

Eines Tages fiel Nadkas Blick auf ein Interview mit Jackie Onassis. Der Journalist fragte, wie sie nach dem schönen John Kennedy den kahlköpfigen kleinen Onassis habe heiraten können. Jackie antwortete: »Wenn sich Aristoteles Onassis auf seine Brieftasche stellt, wird er sehr, sehr groß.«

Recht hatte sie, diese Jackie. Sie hatte sich nicht geniert, sondern einfach das getan, was sie für nötig gehalten hatte.

Nadkas Augen glühten wie die einer Katze in der Nacht. Sie wußte: Das war ihr Weg. Sie würde nicht dem ausgetrampelten Arbeitspfad ihrer Vorfahren folgen.

Ihr Großvater und die Großmutter hatten einen Hochschulabschluß. Sie waren beide Ärzte. Und wie armselig lebten sie doch! Bloß gut, daß sie noch nie was anderes gesehen und somit keinen Vergleich hatten. Sie wußten einfach nicht, wie schlecht sie lebten.

Und Xenia: Zehn Jahre waren vergangen, seit sie die Wohnung gekauft hatte. Und sie würde noch weitere zehn Jahre brauchen, um es halbwegs zu etwas zu bringen. Und dann war die Jugend vorbei. Und wenn man erst mal alt war – dann war doch sowieso alles egal …

Nadka legte die Zeitschrift hin, aber irgend etwas hatte bei ihr geklickt. Jackies Gesicht mit der flachen Nasenwurzel und den weitstehenden Augen wurde ihr Leitbild.

 

Neben den ausländischen Zeitschriften besaß Nellys Mutter eine ganze Ausrüstung an französischer Kosmetik und einen aufklappbaren dreiteiligen Spiegel.

Die Mädchen machten sich schön und betrachteten sich aus drei verschiedenen Perspektiven. Von vorn, von der Seite, von hinten. Dann zogen sie sich nackt aus und schauten sich wieder in drei Dimensionen an. Vor lauter Kühnheit und Scham blieb ihnen die Luft weg.

Der einzige Nachteil war, daß es bei Nelly kein gutes Essen gab: immer nur Grütze und Wurst. Bei Nina dagegen gab es immer ein komplettes Menü, und die Haushälterin Njura dazu, die einem die vollen Teller unter die Nase stellte, und später wieder wegräumte.

Nadka versuchte immer, um die Mittagessenszeit bei Nina aufzukreuzen. Njura gab ihnen etwas zu essen, stellte aber auch unbequeme Fragen, in der Art von: »Und wo ist eigentlich dein Vater?«

Und sie mußte antworten, daß ihr Vater eine andere Familie und andere Kinder hatte.

»Und siehst du ihn ab und zu?«

Wie sollte man jemanden ab und zu sehen, der inzwischen in den Niederlanden wohnte? Schon allein das Wort war kostbar: Niederlande …

»Und was willst du mal werden?« bohrte Njura eines Tages.

»Keine Ahnung«, sagte Nadka schlau.

In Wirklichkeit wußte sie es ganz genau: Sie wollte die Frau eines Millionärs werden. Aber wenn sie das laut sagen würde, würden alle lachen.

Nelly wollte Filmwissenschaftlerin werden und lernte Sprachen, um Filme im Original zu verstehen. Nina wollte Architektur studieren und nahm Zeichenstunden. Aber wie lang müßten sie sich krummlegen, um genug Geld für ein anständiges Leben zu verdienen? Mindestens zwei Generationen lang. Wenn man aber einen Onassis heiraten würde, bekäme man alles sofort, ohne einen einzigen Tag zu verlieren.

Nach dem Essen mußte Nadka gehen. Nina bereitete sich auf die Aufnahmeprüfung vor, darum kamen Privatlehrer zu ihr.

Nadka ging heim. Zu Hause fing Xenia auch noch an: »An welches Institut willst du?«

»Wozu denn?« fragte Nadka.

»Wieso, wozu?!« Xenia war entsetzt. »Schau mich an, ich habe sogar zwei Ausbildungen.«

»Und was nützen einem zwei Ausbildungen?«

»Ich habe ein interessantes Leben. Und ich liebe meine Arbeit.«

»Du weißt bloß nicht, wie andere leben.«

»Wieso, wie leben sie denn?«

»Kommt drauf an, wer es ist. Manche haben ein eigenes Flugzeug und ihre eigene Insel.«

»Wozu braucht man eine eigene Insel?« fragte Xenia verständnislos.

»Man kann sich nackt ausziehen und dort ganz ungeniert herumspazieren. Weißt du, wie toll das ist, nackt herumzulaufen?«

»Nein, weiß ich nicht. Und woher weißt du das?« fragte Xenia erschrocken. Die Großeltern hatten ihr ganzes Leben lang in einem zwanzig Quadratmeter großen Zimmer gelebt. Und Nadka wollte eine ganze Insel. Woher hatte sie das bloß? Wessen Gene waren das? Doch nicht etwa die des Mongolen … Aber vielleicht waren es genau die. Die Mongolen waren ein Steppenvolk, da kamen auf viele Quadratkilometer anderthalb Menschen. Das Bedürfnis nach Weite blieb wohl in den Genen gespeichert.

Xenia wollte, daß ihre Tochter ihr eigenes Schicksal wiederholte: immer langsam, aber sicher voran. Und alles aus eigener Kraft. Im Alter konnte man sich dann an den Früchten seiner Mühe laben.

Aber Nadka wollte es nicht langsam haben, Jahr um Jahr. Nadka wollte es hier und heute. Laben konnte man sich auch an fremden Früchten, und das nicht erst im Alter, sondern in der Jugend, wenn die Wünsche in den Himmel wuchsen.

Ninas Mutter, eine Sängerin mit riesigem Mund, kam aus Ungarn zurück und brachte Nina ein Paar Hosen mit. Karottenform mit Taschen auf den Knien und am Hintern. Die Mädchen probierten sie der Reihe nach an. Sie waren ganz aus dem Häuschen vor Freude. Nadka drehte und wendete sich vor dem Spiegel, und ihr wurde klar, daß sie sich schon nicht mehr sehen konnte in ihren alten, ausgebeulten Jeans. Nelly und Nina gaben zu, daß Nadka die Karottenhose bei weitem am besten stand. Sie hatte die längsten Beine und den rundesten Po.

Abends weinte Nadka. Xenia wurde böse.

»Wir haben dazu einfach nicht die Möglichkeiten«, sagte Xenia dezidiert. Sie war eine strenge Mama.

»Wieso hat dann Nina die Möglichkeiten und ich nicht?«

»Weil sie eine Mutter und einen Vater hat, die beide arbeiten. Und ich bin allein.«

»Und warum habe ich keinen Vater?«

»Das hat sich so ergeben. Wir waren zu verschieden.«

»Ninas Eltern sind auch sehr verschieden.«

Ninas Mutter, die Schlagersängerin, fuhr ständig in verschiedenen Autos vor dem Haus vor. Ninas Vater kam immer mürrisch und zu Fuß von der Arbeit nach Hause. Es schien, als könnten zwei Menschen nicht verschiedener sein. Es war unverständlich, was sie verband. Nina, das war es, was sie verband. Jeder liebte Nina, von seiner Seite aus, mehr als alles auf der Welt. So eine Liebe, die man in der Kindheit bekommen hat, gibt einem einen Vorrat an Sicherheit fürs ganze Leben.

Aber Nadka wurde von niemandem geliebt. Großvater und Großmutter waren weit weg, der Vater war in den Niederlanden, und die Mutter steckte bis über beide Ohren in ihrer Arbeit mit den Tontöpfen.

Xenia bedauerte es manchmal selbst: Warum hatte sie sich von Warlamow scheiden lassen? Warum war sie ihren unreifen Gefühlen gefolgt – Eifersucht, Narzißmus, Ungeduld … Damals schien es ihr, als hätte sie das ganze Leben und vor allem die ganz große Liebe noch vor sich. Aber nichts kam zustande, weder die ganz große Liebe noch eine mittelgroße. Offensichtlich hatte der Oberste Richter beschlossen: Gesundheit und beruflicher Erfolg – ja. Aber Glück im Privatleben – nein. Das brauchst du gar nicht erst zu fordern.

Es war unmöglich, alles gleichzeitig zu haben. Bloß eine Sache, oder auch zwei … Und das war doch schon was. Andere hatten nicht mal das.

 

Die Mädchen beendeten die neunte Klasse. Sie trennten sich, um in die Ferien zu fahren. Nelly und ihre Mutter fuhren ins Baltikum. Nina nach Sotschi zu den Großeltern väterlicherseits. Und Nadka sonnte sich zu Hause auf dem kleinen Balkon, der voller Farbkanister stand.

Nadka stellte sich Nelly am baltischen Meer vor, zwischen all den zurückhaltenden blauäugigen Balten; und Nina am Schwarzen Meer bei den heißblütigen Südländern. Und sie selbst hockte hier auf diesem winzigen Balkon! Warum war das Leben so ungerecht?

»Wieso fahren wir nicht in Urlaub?« wollte Nadka von der Mutter wissen.

»Ich sitze nicht gern rum, ohne was zu tun. Das langweilt mich.« Xenia fand ihr Gleichgewicht nur in der Arbeit, wenn die Hände beschäftigt waren und der Kopf auch. Hatten aber Hände und Kopf nichts zu tun, dann jagten die Gedanken einander nach, einer trauriger als der andere. Ihr früherer Freund Kolja, der arme Künstler mit dem Wirbel auf dem Oberkopf, dessen Haare sie nie hatte glattstreichen können, hatte jetzt eine Zwanzigjährige geheiratet. Er telefonierte ab und zu mit ihr und erzählte ihr aus seinem Leben. Und dann kam noch Nadka, nörgelte herum und wußte nichts mit sich anzufangen.

Aus lauter Langeweile schrieb Nadka Gedichte, merkwürdigerweise aus der Perspektive eines Mannes.

›Ich sehe deine Knie, mein Blick ist rein und zärtlich und kühn. Ich kann mich nicht satt sehen und bedaure, daß ich solche nie hatte.‹

Xenia las es und sagte: »Blödsinn.«

»Wieso Blödsinn?«

»Alles. Wer hat auf deine Knie geschaut? Wo?«

»Überall. Im Bus. In der Metro.«

»Ach, du lieber Himmel …«

Xenia konnte sich in Nadka nicht hineinversetzen. Und sie wollte sich auch nicht krummlegen deshalb. Um einen anderen Menschen zu spüren, muß man sich von den eigenen Gedanken und Taten ablenken lassen. Man muß einen Schritt zur Seite treten und alles mit Abstand betrachten. Aber einander nahestehende Menschen sitzen oft zu eng aufeinander, und wenn man sich zu dicht gegenübersteht, kann man nicht das ganze Gesicht erkennen, sondern nur einen Teil sehen.

Nadka zeigte ihr Gedicht auch Nellys Mutter. Sie war schließlich Redakteurin und arbeitete bei einer Zeitschrift.

Nellys Mutter las es und sagte: »Das Gedicht ist noch nicht ausgereift, aber es hat Temperament, Energie. Ein kühner Wurf.«

Na, bitte! Ein fremder Mensch hielt es für einen ›kühnen Wurf‹, und die eigene Mutter sagt ›Blödsinn‹, drückte sie runter, zog sie an den Beinen unter Wasser.

Nellys Mutter war Witwe. Ihr Mann, ein Pilot, war unter ungeklärten Umständen verschwunden. Das Flugzeug hatte irgendeine Fracht nach Afrika transportiert. Flugzeug, Fracht und Besatzung waren verschwunden. Niemand wußte etwas über ihren Verbleib. Vielleicht waren sie über dem Dschungel abgestürzt, und wilde Tiere hatten ihre Körper gefressen. Kein Mensch wußte etwas. Man hatte nichts herausbekommen können.

Der umgekommene Vater und Ehemann wurde zum Stolz der Familie, zur Familienlegende, zur Ikone. Sein Porträt hing mit einer getrockneten Rose an einem gut sichtbaren Platz in der Wohnung. Nelly maß all ihre Taten an der Meinung des Vaters: Das würde Vater gefallen. Oder: So würde Vater nicht handeln … Der Vater war ihr Leuchtturm, nach dem sie sich immer ausrichten konnte.

Aber einen Vater, der seine Familie im Stich gelassen hatte, wollte man verstecken wie eine große Schande. Nadka beneidete Nelly darum, daß sie eine Orientierung hatte. Sie hatte keine, sie trieb durchs Leben ohne Steuer und ohne Kompaß. Wohin es sie trug, dort landete sie.

Nadka ging oft auf die Leninberge. Es gefiel ihr, auf der Aussichtsplattform zu stehen und das Panorama von Moskau zu betrachten. Moskau war groß, war, wie ein Planet, nicht zu umfassen. Und Nadka war ein Sandkorn, eine armselige Hälfte. Sie wünschte sich so sehr, mit jemandem zusammen ein Ganzes zu werden … Mit dem Präsidenten zum Beispiel. Die First Lady werden. Oder mit Onassis, dann könnte sie ganz Moskau in die Tasche stecken. Lilafarbene Wolken zogen von der Sonne beschienen vorbei, und änderten mit jedem Moment ihre Form.

2

Ein Jahr später machten die Mädchen Aufnahmeprüfungen fürs Institut. Nina am Architektur-Institut, Nelly an der Filmhochschule und Nadka am Pädagogischen Institut. Xenia hatte dort Bekannte, aber auch die konnten nicht helfen. Nadka fiel mit Pauken und Trompeten durch.

Aus lauter Angst, nach Hause zu kommen, ging Nadka mit zu Awet. Sie hatten die Prüfung zusammen gemacht und waren zusammen durchgefallen, waren Freunde im Unglück geworden.

Awet überredete sie, bei ihm zu übernachten, denn er hatte ein eigenes Zimmer.

So verlor Nadka ihre Unschuld auf ganz dumme Weise, ohne jegliche Liebe. Denn dieser Awet begriff gar nicht, daß sie noch Jungfrau gewesen war, und bot ihr morgens nicht einmal einen Tee an.

Awets Mutter, eine sonnengegerbte Armenierin, sah sie von der Seite an und fragte: »Na, hat dir das Techtelmechtel gefallen?«

Nadka wußte nicht, was sie auf diese Frage antworten sollte und sagte: »Wieso, Awet ist doch ein netter Kerl …«

Was das ›Techtelmechtel‹ anbetraf, so hatte es auf Nadka keinen großen Eindruck gemacht, und gefühlt hatte sie auch nichts. Küssen war interessanter.

Nadka eilte zu ihren Freundinnen, um die betrübliche Neuigkeit mitzuteilen. Sie diskutierten die Sache ernsthaft.

»Du hast einfach keine Ahnung, wie’s geht«, kommentierte Nina. »Das Zentrum der Lust befindet sich im Gehirn.«

Nadka riß die Augen auf. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie das ›Techtelmechtel‹ bis ins Gehirn vordringen sollte.

Nina nahm ein Blatt Papier, einen Bleistift, skizzierte das Becken und erogene Zonen. Und malte Ziffern daran: was, wo und in welcher Reihenfolge. Nina war gut in Theorie. Und vielleicht nicht nur in der Theorie. Dieses Geheimnis blieb im dunkeln. Nelly verbreitete sich auch nicht über den Gegenstand ihrer Zuneigung. Die beiden waren Geheimniskrämerinnen. Und so was nannte sich Freundinnen!

Eine Freundschaft war doch dazu da, daß man die Seele umstülpen konnte wie eine Jackentasche. Wozu gab es Freundschaft denn sonst? Nadka war ein offenherziger Mensch, oft zu ihrem eigenen Schaden, versteht sich …

»Du kannst kein Wasser im Arsch halten«, sagten die Freundinnen oft zu ihr.

»Wozu braucht man es auch da?« entgegnete Nadka bloß.

 

Die Freundinnen begannen ihre Berufslaufbahn. Nina wurde wirklich im Architektur-Institut aufgenommen, Nelly in der Filmhochschule, in der Filmwissenschaftlichen Abteilung. Als wenn irgend jemand je ihre Artikel über Film lesen würde. Und wenn doch, dann würden sie ihr nichts dafür bezahlen. Sie würde einen Mann heiraten, der ebenfalls Filmwissenschaftler war, sie würden sich klug miteinander unterhalten und mit billigen Pelmeni aus den staatlichen Lebensmittelgeschäften ernähren.

In der bewußten Zeitschrift ›Amerika‹ hatte Nadka gelesen: Die Tochter von Onassis, Christina, hatte einen Russen geheiratet. War das nicht irre! Christina hatte sich so verliebt, daß sie sogar nach Moskau, in eine Vierzimmerwohnung übergesiedelt war.

Nadka sah sich das Foto des Glückspilzes an: Gar nichts Besonderes, er hatte sogar irgendein Problem mit dem Auge. Na, bitte sehr, das hieß doch, daß der Glücksvogel tatsächlich umherflog und sich irgendwem auf die Schulter setzte.

 

Xenia arrangierte für Nadka, daß sie als Sekretärin in der Kunstgewerbeschule arbeiten konnte. Aber Nadka fand es dort öde. Oft legte sie die Arme auf den Tisch, den Kopf auf die Hände und schlief. Die Chefin der Lehrabteilung konnte das nicht übersehen. Wann immer sie die Tür öffnete, lümmelte Nadka am Schreibtisch, und ihr Gesicht machte sich fast selbständig vor Langeweile. Sie drohte Nadka mit Rauswurf, aber Nadka klammerte sich sowieso nicht an diese mickrig bezahlte Stelle. Sie hatte ganz andere Pläne.

Wo gingen die Ausländer hin? Ins Bolschoj-Theater, auf den Roten Platz, in den Zirkus, auf die Aussichtsplattform auf den Leninbergen.

Ins Bolschoj-Theater kam man ohne Beziehungen nicht rein, der Rote Platz war zu weit weg von ihrem Zuhause. Aber die Aussichtsplattform auf den Leninbergen lag nur vier Bushaltestellen entfernt.

Nadka kam auf die Plattform wie zu einem Wachdienst, und jedesmal blieb ihr Herz fast stehen: vielleicht heute …

Es war an einem Dienstag. Nadka erinnerte sich daran, weil es an diesem Tag Lohn gegeben hatte.

Leichter Regen fiel. Es war kaum jemand auf der Aussichtsplattform, wenn man die Souvenirverkäufer nicht mitrechnete.

Neben den Matrioschkas stand ein blasser Deutscher und feilschte. Der Verkäufer zeigte ihm vier Finger und er, als Antwort, drei. Der Verkäufer gab nach, er winkte ab. Lieber für drei Dollar verkaufen als gar kein Geschäft.

Der Deutsche nahm die Matrioschka. Er war zufrieden, weil er einen ganzen Dollar gespart hatte, das waren anderthalb Mark. Und das war in Rußland viel Geld.

Nadka ging auf ihn zu und fragte: »Wieviel Uhr ist es?« Sie hatte die Initiative ergriffen. Besser ein weißblonder Deutscher als gar nichts.

Der Deutsche starrte Nadka an. Er begriff nicht, was sie wollte. Und Nadka betrachtete derweil sein Gesicht, seine Pubertätspickel auf der Stirn, seinen mageren Körper. Er war nicht gerade stattlich, eher dürr. Wie ausgehungert.

Nadka zeigte auf seine Uhr. Der Deutsche dachte wohl, daß die Russin seine Uhr kaufen wollte, und schüttelte heftig den Kopf, nein, er wolle nicht verkaufen.

»Nein!« sagte er auf deutsch.

»Ich will doch deine Uhr gar nicht. Ich will nur die Zeit wissen …« Nadka zeigte mit dem Finger auf das Zifferblatt.

Der Deutsche schaute Nadka genauer an, versuchte herauszufinden, was die Frau wollte. Und plötzlich sah er eine nie gesehene Schönheit: Schwarze, seidige Haare umrahmten ihr Gesicht, die asiatischen Jochbeinbögen und die grünen Augen, die leuchteten wie ein Stachelbeerstrauch in der Sonne. Er sah das strahlende Weiß ihrer Zähne, das hinter den vollen Lippen hervorblitzte.

Der Mongole in ferner Zeit hatte sich lange mit slawischem Blut gemischt, bis dieses Resultat zustande gekommen war.

Nadka stand in voller Schönheit da, der Deutsche konnte die Augen nicht von ihr wenden. Er schaute sie nur an und fürchtete, sie würde gleich wieder verschwinden. Dann zog er die Uhr vom Arm und hielt sie Nadka hin. Es war das erste und einzige Geschenk, das er ihr je machte.

3

Ein Jahr später heiratete Nadka den Deutschen. Er hieß Günther. Xenia hatte nichts gegen die Verbindung. Günther war ein anständiger Junge aus einer guten Familie. Er hatte eine Ausbildung und war Ingenieur. Und Ingenieur im Westen war etwas ganz anderes als in Rußland. Dort schätzte man diesen Beruf und bezahlte ihn so gut wie einen Anwalt oder Arzt.

Nadka empfand nichts für Günther, für sie war er nur die Räder, auf denen sie in den Westen rollen würde. Er würde sie aus dem Lande der Sowjets hinausbringen und ihr eine Aufenthaltsgenehmigung beschaffen.

Damals konnte man nur auf drei Arten in den Westen gelangen: als Flüchtling ohne Rückkehrmöglichkeit, als Dissident oder per Trauschein. Eine Flucht war gefährlich und mühevoll. Ein berühmter Dissident zu werden, war schwierig. Dazu mußte man ein herausragender Mensch sein, ein Solschenyzin oder Rastropowitsch. Die Heirat war noch am ehesten möglich. Man mußte nur die nötigen Papiere zusammenbekommen und ausreisen. Sich umsehen, und auf ging’s zu schimmernden Berghöhen. Die ganze Welt lag einem dann zu Füßen. Das war doch gleich ein ganz anderer Aussichtsplatz als auf den Leninbergen.

 

Eine große Hochzeit wollten sie nicht, sie wollten den Ehemann nicht groß bekannt machen. Xenia hatte Angst, daß es herauskäme und sie irgendwelche Nachteile hätte. Sie hatte immer vor irgend etwas Angst. Als Künstler war man so abhängig. Wenn sie einem den Sauerstoff abstellten, wenn sie einem keine Aufträge mehr gaben, was dann? Xenia war keine Kämpferin, und schon gar keine gegen den Staat. Der Staat war so groß, und sie selbst war so klein …

Aus Rostow kamen die Großeltern. Ihnen gefiel Günther sehr, so ein bescheidener, wohlerzogener junger Mann! Er würde Nadka schon bändigen und ihr Manieren beibringen. Er würde einen anständigen Menschen aus ihr machen. Hier in Rußland würde es Nadka mit ihrer Faulheit sowieso zu nichts bringen.

Sie machten Musik, Nadka forderte ihren Großvater zum Tanz auf. Er hatte sich immer gut bewegt, und auch jetzt setzte er die Füße sicher aufs billige Parkett. Nadka trug ein wunderschönes weißes Satinkleid, das ihre schlanke Figur umschmeichelte.

Und plötzlich brach Xenia in Tränen aus. Nadka tat ihr auf einmal leid. Wohin ging ihre Tochter bloß? In ein fremdes Land, begab sich in fremde Hände. Und Xenia tat sich auch selbst leid – ihre Jugend ging dahin und winkte ihr noch einmal zu. Und dieser gutgläubige Dummkopf Günther, blind vor Liebe …

Was war das nur für ein Leben: Du willst das eine und bekommst etwas ganz anderes … Der einzige Trost war, daß es allen so ging. Niemand um sie herum war völlig glücklich.

 

Die Stadt Münster hatte im Zweiten Weltkrieg nicht viel abbekommen. Die feindlichen Bomben hatten sie verschont. Vielleicht hatten sie es nicht mehr geschafft. Deutschland hatte kapituliert, und es entfiel die Notwendigkeit, diese Schönheit zu zerstören.

Das Zentrum der Stadt war eine gewundene Straße, die rechts und links von frisch renovierten Fachwerkhäusern gesäumt war. Jedes Haus mit den dunklen Balken im weißen Putz war wieder anders, jedes war ein Original. Die Fenster blitzten vor Sauberkeit. Den Deutschen waren die Fenster wichtig, sie waren die Visitenkarte der Hausfrau.