Eine von vielen - Viktorija Tokarjewa - E-Book

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Viktorija Tokarjewa

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Beschreibung

Angela möchte singen. Angela möchte entdeckt werden. Ein Moskauer Musikproduzent sagt ihr, dass sie dafür nicht nur eine gute Stimme braucht, sondern Geld: für Songtext, Komposition und Aufnahmen. Doch wie kommt man zu Geld, als einfaches Mädchen aus der Provinz?

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Seitenzahl: 169

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Viktorija Tokarjewa

Eine von vielen

Roman

Aus dem Russischen vonAngelika Schneider

Originaltitel: ›Odna iz mnogih‹

Umschlagillustration:

Pete Nawara, ›A Woman Twice

in a Golden Interior‹, 2012 (Ausschnitt)

Acrylic and Gold Leaf on Canvas

Roy Kolak Collection – Chicago

Copyright © Pete Nawara

All rights reserved

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 06912 9 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60442 9

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Ihr Name ›Angela‹ kam von Engel. Und wie ein Engel sah sie auch aus: helle, zarte Haut, blaue Augen, noch dazu sang sie gern. Und das sogar gut. Sie konnte das hohe C singen, und ihre Stimme war dabei noch fest und hatte einen silberhellen Klang. Es war nicht wie bei diesen Sternchen aus den Talentfabriken: Sie hauchten so bemüht erotisch ins Mikrophon, dass es geradezu peinlich war hinzuschauen. Als ob sie sich nicht öffentlich zur Schau stellten, sondern vor dir ganz allein.

Das Nest, in dem Angela wohnte, hieß Martynowka. In früheren Zeiten war es einmal ein Kosakendorf gewesen: weiße Hütten, Obstbäume und Gänse, die über den Weg liefen.

Angelas Mutter, sie hieß Natascha, hütete die Kühe. Früher war sie einmal Lehrerin gewesen, dann aber dem Alkohol verfallen. Man hatte sie von der Schule gejagt, Kinder konnte man ihr nicht mehr anvertrauen. Aber Kühe schon. Den Kühen war es egal, ob sie ab und zu… Sie mochten sogar Nataschas Geruch, der ein bisschen an Medizin erinnerte.

Natascha zog mit den Kühen weit in die Weiden hinein, sie ging gern barfuß durch die Wiesen. Die [6] Sonne verbrannte ihr Gesicht bis aufs Fleisch. Auf ihren Wangenknochen war immer ein runder rosiger Fleck zu sehen, da, wo die Haut sich gerade erneuerte.

Angelas Vater Wassili wohnte am Ende des Dorfes in einem heruntergekommenen Haus mit einem Dach aus Lehmziegeln.

Wassili trank von morgens bis abends Wodka und konnte direkt vom Haus aus nach draußen pinkeln. Er hatte eine Zementröhre genommen, sie quer durchgefräst und durch die Wand gesteckt, so dass sie auf die Straße führte. Das war seine Toilette. So machte man das schon im fünfzehnten Jahrhundert.

Wassili wusste davon allerdings nichts. Er war von allein auf dieselbe Lösung gekommen, die man schon vor über fünfhundert Jahren gefunden hatte.

In sein Haus ließ Wassili niemanden herein. Es war ihm irgendwie unangenehm.

Abends ging er an den Strand hinaus. Dort versammelten sich seine Saufkumpane – eine Gesellschaft Gleichgesinnter, die zu Melancholie und Gefühlsausbrüchen neigten. Man sprach über alles Mögliche: Politik, Frauen, Gott und die Welt…

Wassili hatte eine Lieblingserinnerung: Nämlich die, wie er einmal Breschnjew persönlich die Hand gegeben hatte. Und zum Beweis zeigte Wassili genau die Hand, die geschüttelt worden war. Alle [7] schauten ihn ehrfürchtig an. Bei welcher Gelegenheit allerdings Breschnjew Wassili die Hand gegeben hatte, war ihm entfallen. Aber vielleicht war Wassili auch betrunken gewesen. Oder Breschnjew war betrunken gewesen, auch das war sehr gut möglich gewesen.

Breschnjew war langsam im offenen Auto vorbeigefahren, alle streckten ihm die Hände hin, und er drückte eine nach der anderen. Das musste so gewesen sein. Niemand zweifelte daran. Wieso sollte Wassili auch lügen?

Seine zweite Lieblingserinnerung war die Feindschaft mit seinem eigenen Vater.

Wassili mochte seinen leiblichen Vater nicht. Irgendwann, vor etwa dreißig Jahren, hatte der Vater seine Frau, Wassilis Mutter, schwer gekränkt: Er hatte sie geschlagen und betrogen. Wassili erinnerte sich an das Leiden seiner Mutter mit dem Gedächtnis eines Kindes und hasste seinen Vater immer noch aus vollem Herzen. Jetzt war dieser Vater, Angelas Großvater, fünfundsechzig. Er war ein gebeugter, häuslicher, arbeitsamer Mann, der immer an etwas herumwerkelte. Er wusste, wie Wassili zu ihm stand, aber er litt nicht unter der Undankbarkeit des Sohnes. Für ihn war Wassili einfach eine verlorene Seele, und er konnte nicht verstehen, wie man so leben konnte: von morgens bis abends Wodka saufen, zu [8] Hause hocken, nichts tun und keinerlei Verantwortung übernehmen.

Natascha hütete wenigstens Kühe. Sie kannte alle Kühe beim Namen, sah sie nicht einfach als Vieh an, sondern achtete jede einzelne als Persönlichkeit.

Die Kühe weideten auf der smaragdgrünen Wiese. Dann wateten sie bis zu den Knien ins Meer hinein und erholten sich von der Hitze.

Das Meer war an dieser Stelle flach, aber sehr fischreich. Hier konnte man metergroße Zander angeln. Und hierher brachte man Kinder, die radioaktiv verstrahlt waren, um sich zu erholen. Die Meeresströmung sog die Radioaktivität ab. Jedenfalls sagte man das.

Die Kühe hoben die Schwänze, um sich zu erleichtern, und die Kuhfladen schaukelten auf den Wellen sanft hin und her.

Touristen gab es hier kaum, vielleicht lagen mal fünf oder sechs am Strand. Das zählte nicht.

Die Kuhscheiße erregte, im Gegensatz zur menschlichen, keinerlei Ekel, eher im Gegenteil.

Natascha beispielsweise betrachtete die Fladen und kam ins Sinnieren: Das ist Dünger. Dieser Dünger verbessert die Erde. Die menschlichen Ausscheidungen sind zu nichts gut, deshalb stinken sie so abstoßend. Die Natur sagt auf diese Weise: Halte dich fern davon. Die Natur ist klug, sie tut nichts [9] umsonst. Die Blumen riechen gut, um Bienen anzulocken. Und was stinkt, muss an der Luft trocknen und vom Wind in alle Richtungen verweht werden. Nichts wie weg damit.

Das von Martynowka aus nächstgelegene Städtchen hieß Ejsk. In den Betrieben von Ejsk hatten sämtliche arbeitsfähigen Männer von Martynowka gearbeitet. Aber nach der Perestroika ging es mit diesen Betrieben bergab, jetzt konnte man nirgends mehr Arbeit finden.

Man ernährte sich aus dem Meer, angelte Zander. Und zielstrebige Motorboote durchschnitten die Meeresoberfläche.

Jeden Sommer brannte die Sonne drei Monate lang wie in Afrika. Die Früchte reiften. Die Kühe vermehrten sich. Das Wasser war ohne jegliche schädliche Zusätze, es lebte, und es schmeckte gut. Und dazu war es klar und kühl. Das Paradies. Der Garten Eden. Aber wenn der Sommer vorbei war, gab es nichts mehr zu tun, man konnte von nichts mehr leben. Und das Wasser bot auch keine Nahrung mehr.

Angela sagte zu ihrer Mutter: »Ich fahre nach Moskau.«

»Das lasse ich nicht zu!«, hielt Natascha dagegen.

[10] »Wenn du es nicht erlaubst, fahr ich eben ohne alles. So wie ich hier stehe«, beharrte Angela.

Natascha betrachtete ihre Tochter und sah ihr an, dass sie so oder so fahren würde. Da seufzte sie und ging zur Nachbarin, um sich etwas Geld zu leihen.

Bei der Nachbarin wohnte ein Sommergast aus Moskau. Eine sehr dumme Frau. Sie bestellte bei Wassili Zander und bezahlte im Voraus. Wassili vertrank das Geld postwendend, und als er den Fisch brachte, verlangte er nochmals Geld.

»Aber ich hab dich doch schon bezahlt«, entgegnete die Frau.

»Tut es dir etwa um das bisschen Geld leid?«, fragte Wassili verwundert.

Die Datschenmieterin sah den nicht alten, aber ziemlich abgerissenen Wassili erstaunt an.

»Sag mal, hast du überhaupt kein Gewissen?«

»Gewissen hab ich wohl. Aber Geld hab ich keins. Ich muss Kohle für den Winter kaufen.«

Die Frau reimte sich zusammen, dass man es hier im Winter ohne Kohle nicht aushalten konnte. Für die Zander verlangte Wassili nur wenige Kopeken. Wieso sollte sie ihn also nicht noch einmal bezahlen…

Also gab sie ihm nochmals etwas. So eine dumme Person. Dachte jedenfalls Wassili.

[11] Aber die Frau war gar nicht dumm. Es war für sie nur einfacher, noch einmal zu bezahlen, als sich mit Wassili herumzustreiten.

Da ging die Gartenpforte auf, und Natascha kam herein; herausgeputzt im Sarafan und mit einer Glasperlenkette um den Hals.

›Sie will Geld‹, dachte die Datschenmieterin sofort.

Und so war es auch.

Natascha bat um fünfhundert Rubel für Angelas Fahrkarte. Für jemanden aus Martynowka war das eine Riesensumme.

Natascha sah den Sommergast mit einer Mischung aus Verzweiflung und Hoffnung an, wie vor der Erschießung.

Die Frau öffnete ihre Brieftasche. Das Geld lag in Tausendernoten gebündelt darin. Fünfhunderter hatte sie nicht.

»Kannst du mir nicht tausend geben?«, fragte Natascha vorsichtig, denn sie glaubte selbst nicht an ein Ja. »Wassili kann es später abarbeiten…«

Die Datschenmieterin zog einen dunkelblauen Tausender aus der Brieftasche und streckte ihn ihr hin.

»Du gibst mir den?«, fragte Natascha und erstarrte. Sie fiel auf die Knie und berührte mit der Stirn die Erde. Wie die Muslime beim Gebet.

[12] Dann richtete sie sich wieder auf und kniete schweigend da, die Tausendernote in der Faust.

»Mir fehlen jegliche Worte«, sagte Natascha.

Die Datschenmieterin wunderte sich über diesen gedrechselten Satz. Ihr war es immer so vorgekommen, als ob Natascha in Gesellschaft der Kühe das Reden ganz verlernt hätte.

Tausend Rubel, fast vierzig Dollar. Das war nicht wenig. Aber auch nicht so furchtbar viel. Wieso also nicht eine gute Tat vollbringen und dieser müden, halbkranken und im Grunde kreuzunglücklichen Kuhhirtin etwas Geld geben?

Aber die Datschenmieterin hatte sich wieder geirrt. Natascha war gar nicht unglücklich. Wie herrlich war es doch, auf der Wiese zwischen den Kühen zu sitzen. Der Himmel und die Erde küssten sich am Horizont. Die Kühe waren gutmütige, einfache Gemüter und schöne Wesen, wie Kinder. Man trank einen Schluck, und dann leuchtete die Welt in allen Farben. Und man liebte alle so sehr, dass einem die Tränen kamen: Man liebte die Menschen genau wie die Kühe. Und sogar die Wespen, die durch die Luft sirrten und Unannehmlichkeiten bereiteten; auch sie waren Geschöpfe Gottes, auch sie hatten etwas zu tun, hatten genauso ihre Bestimmung.

[13] Angela fuhr nach Moskau. Sie konnte bei der Datschenmieterin übernachten. Sonst kannte sie niemanden in Moskau.

Eine der bekannten Talentfabriken rief zu einem Wettbewerb auf.

Die Datschenmieterin, Kira Sergejewna, telefonierte herum und meldete Angela schließlich bei dem Wettbewerb an.

Der Wettbewerb fand im Haus der Kultur statt, einem riesigen Gebäude, das einem Bahnhof ähnelte. In der Sowjetzeit hatte man viele solcher Gebäude errichtet, um die ›Kultur in die Massen zu tragen‹, wie das damals hieß.

Angela schaffte zwei Runden. Nach der zweiten Runde kam die Hauptorganisatorin auf die Bühne und nannte die Namen derer, die es in die dritte Runde, ins Finale, geschafft hatten. Der Nachname von Angela war Sujenko. Angela lauschte gespannt, sie fürchtete ihren Namen zu überhören. Aber dieser Name wurde nicht ausgesprochen. Angela wurde nicht genannt. Sie war also nicht in die dritte Runde gekommen.

Um sie herum, im Saal, stand eine ganze Truppe von Mädchen, die alle dasselbe wollten wie Angela. Einige fingen an, freudig zu schreien, und sprangen auf die Bühne. Andere standen da wie zur Salzsäule erstarrt.

[14] Angela wollte sich zur Rampe vordrängen und fragen: »Wie ist das denn möglich?« Aber es ging nicht. Zu der Organisatorin war kein Durchkommen, niemand würde sie durchlassen. Und selbst wenn sie sich hätte durchboxen können, sie hätten sie doch nur abgeschmettert, vielleicht sogar mit Fäusten. Die Welt teilte sich grausam in die, die auf der Bühne standen, und die, die im Saal warteten.

Angela fuhr ›nach Hause‹, zu Kira Sergejewna. Sie nahm den Bus Nummer drei.

Der Bus war halb voll. Angela fand einen Platz am Fenster. Sie wollte sich all die Moskauer anschauen wie im Kino, aber plötzlich schluchzte sie laut. Sie wollte sich zusammennehmen, aber es ging nicht. Im Bus wurde es still. Doch niemand fragte: »Warum weinst du denn, Mädchen?« Niemand tröstete sie: »Das Leben ist noch lang, du hast ja noch alles vor dir.«

Die Menschen wurden mehr und mehr von dem fremden Kummer angesteckt und fingen ebenfalls leise an zu weinen. Allen tat das junge Mädchen leid, und sie selber taten sich auch leid. Jeder hatte seine eigenen Gründe, sich leidzutun.

Ein ganzer Bus voller Kummer fuhr langsam durch die Straßen, fuhr bedächtig in die Abenddämmerung hinein.

Doch nun gingen in Moskau die Lichter an, die [15] Stadt wirkte feierlich herausgeputzt wie eine Tanne an Neujahr.

Kira Sergejewna wohnte neben der Metrostation ›Universität‹.

Das Haus war nichts Besonderes, ein Plattenbau mit niedrigen Decken. Aber Angela kam es so vor, als habe es sie in einen Palast verschlagen. Genau in so einer Wohnung hatte Maria aus der mexikanischen Fernsehserie Simplemente Maria gelebt, als sie noch arm war.

Kira Sergejewna war von Beruf Filmwissenschaftlerin und arbeitete in einem Filmstudio als Redakteurin. Was das genau für eine Tätigkeit war und wozu sie gut war, wusste Angela nicht. Hauptsache, Kira Sergejewna wusste es. Alle kannten sie. Und wenn nicht alle, so doch sehr viele. Sie hatte den Spitznamen ›Kira Tausendsassa‹.

Kira lebte mit ihrem Mann Innokenti zusammen, der jedoch von allen Kescha genannt wurde. Kescha hatte mit Wassili viel gemein. Auf einen Nenner gebracht: Beide taten nichts, und ihre Frauen hatten sie am Hals. Auch Kescha hatte Breschnjew gekannt, hatte ihm aber nicht die Hand geschüttelt, sondern sie hatten sich gegenseitig zum Gruß zugenickt. Er war Breschnjew ziemlich häufig begegnet, denn er hatte für ihn Reden geschrieben, die [16] dieser vom Blatt ablas, als ob er sie selbst geschrieben hätte.

Damals hatte Kescha viele Privilegien gehabt, inklusive Lebensmittelpakete mit der damals knappen Fleischwurst, ganz zu schweigen von den begehrten in Öl eingelegten Sprotten.

Jetzt konnte man diese Wurst in rauhen Mengen kaufen, vorausgesetzt man hatte Geld.

Als Breschnjew starb, verlor Kescha seine Arbeit. Eine Zeitlang saß er zu Hause und tat nichts. Doch plötzlich ging ihm auf, was für ein Glück das eigentlich war, seinen eigenen Interessen nachgehen zu können! Wozu lügnerische schablonenhafte Phrasen dreschen, wenn man auch gar nichts schreiben konnte. Man konnte gute Bücher lesen, ins Schwimmbad gehen, den Arbat hinauf- und hinunterspazieren und nachdenken, über alles Mögliche philosophieren…

Und eines schönen Tages setzte sich Kescha hin und fing an, seine und Breschnjews Memoiren zu schreiben, so wie der Chronist Pimen in früheren Zeiten es für Boris Godunow getan haben soll. Kescha war realistisch genug, um zu wissen, dass er diese Aufzeichnungen so schnell nicht würde veröffentlichen können. Aber er wollte einfach das in sich Aufgestaute loswerden. Kescha saß da und schrieb und schrieb, und es war, als würde er sein [17] Leben noch einmal leben. Er hätte über sich sagen können, genau wie Puschkin den Chronisten Pimen sagen ließ: »Nicht umsonst hat mich der Herr zum Zeugen gemacht, Jahr um Jahr, und mich die Schreibkunst ausüben lassen, an seiner statt.«

Im Unterschied zu Pimen betete Kescha aber nicht, sondern fuhr auf den Markt, um frische Lebensmittel einzukaufen, und spülte nach dem Essen das Geschirr.

Angela war aufgefallen, dass das Geschirr nicht sorgfältig gespült war, sondern nur auf einer Seite, und zwar auf der inneren. Die Außenseite dagegen war ganz schmierig.

Also stellte sie sämtliche Teller und Tassen ins Spülbecken, hobelte Haushaltsseife darüber, gab starkes Soda dazu und spülte alles sehr sorgfältig ab, so dass es glänzte.

Nun blitzte und blinkte das Geschirr wie die Knöpfe einer Uniform. Tassen und Teller sahen aus wie neu, wie direkt aus dem Geschäft.

Nach dem Geschirr nahm sich Angela die Fenster vor.

Sie stand auf der Höhe des vierzehnten Stockwerks und sang. Sie hatte nämlich die Angewohnheit, bei der Arbeit zu singen.

Ihre Stimme war rein und kräftig, konnte sich problemlos emporschwingen und in die Weite [18] fliegen. Und die ganze Angela, die am Fenster stand, jung und biegsam, mit langem Hals und langen Beinen, weckte in den Menschen die Erinnerung an eine Mazurka. Es gibt ein musikalisches Werk, das so heißt. Es geht nicht um die Mazurka selbst, sondern eben um die Erinnerung daran. Denn die Erinnerung ist meistens stärker als die Wirklichkeit selbst.

Die Leute blieben stehen und schauten mit in den Nacken gelegten Köpfen hoch. Dann seufzten sie und gingen weiter.

Auch Innokenti sah zu ihr hin und seufzte. Warum war ihm damals nicht ein solches Mädchen begegnet: arbeitsam und arglos. Stattdessen war es diese intellektuelle Kira Sergejewna gewesen, die alles über alles wusste und mit Zitaten nur so um sich warf. Wer brauchte denn solch fruchtloses Wissen? Sie hätte besser Fenster geputzt und Kinder geboren, eins nach dem anderen. Stattdessen hatte sie einen einzigen Sohn geboren und ihn in die philosophische Fakultät der Universität getrieben. Und was jetzt? Der Sohn kannte alle möglichen Sentenzen, alle möglichen philosophischen Strömungen, nur Geld verdienen konnte er nicht, und keine Frau hielt es lange bei ihm aus.

Im einundzwanzigsten Jahrhundert war kein Geschwafel gefragt, sondern konkrete Taten.

[19] Die staubigen Gardinen spiegelten sich in den blankgeputzten Fenstern. Das kam Angela so vor wie ein Mensch, der nach einem Bad schmutzige Wäsche anzieht.

Sie riss die Gardinen herunter und wusch sie von Hand. Der Waschmaschine traute sie nicht.

Dann wollte sie die Vorhänge auf dem Balkon aufhängen, damit sie Sonne und Wind in sich aufnehmen konnten. Dafür musste man aber eine Wäscheleine haben, um die Wäscheleine zu befestigen, brauchte man Haken. Und für die Haken musste sie Innokenti bitten, Dübel in die Betonwand zu setzen.

Innokenti bestand zu neunzig Prozent aus Faulheit, so wie ein Mensch zu neunzig Prozent aus Wasser besteht. Er hatte schon lange nicht mehr so viele Bewegungen hintereinander gemacht: auf die Leiter klettern, aus dem Hängeboden die Bohrmaschine hervorholen, sie ans Stromnetz anschließen, Löcher in die Wand bohren, die Dübel mit dem Hammer einschlagen…

Innokenti führte alles brav aus. Es gefiel ihm, sich einem fremden kreativen Willen unterzuordnen und sich als echter Mann zu fühlen, der im Haushalt gebraucht wurde.

Kira Sergejewna dagegen hatte Innokenti sämtliche Freiheiten gegeben. Nach dem Motto: Leb, wie [20] du willst, aber lass auch mich leben, wie ich will. Doch Innokenti war einer, der Führung brauchte. Man musste ihm sagen, wo es langging. Dann konnte er alles Mögliche vollbringen, ja sogar die Sterne vom Himmel holen. Er war kein Leadertyp. Er war ein guter Ausführender. Aber die braucht man ja auch.

Ein Leader steht allein vorne. Wie Jeanne d’Arc oder Michail Kutusow. Alle anderen Kämpfer sind Ausführende. Doch auch wenn der Leader die Nummer eins ist, kann er allein gar nichts erreichen. Die Welt ist voll von Ausführenden.

Schließlich waren die Vorhänge gewaschen und gebügelt. Stolz und feierlich hingen sie da. Die klaren Fenster mit den sauberen Vorhängen sahen aus wie Bräute vor der Hochzeit.

Kira Sergejewna bemerkte die Veränderung in der Wohnung, aber sie verstand nicht genau, was es war. Im Wohnzimmer war es mit einem Mal hell und sonnig. Innokenti lächelte. Auf dem Tisch standen heiße Piroggen mit Kohlfüllung. Es roch nach Vanille und nach frischgeputzten Ecken. In der Küche tropfte der Wasserhahn nicht mehr. Verstummt waren die rhythmischen Schläge der schweren Tropfen.

»Was ist passiert?«, fragte Kira Sergejewna.

»Frühjahrsputz«, antwortete Angela. »Irgendwann muss man es ja mal machen.«

[21] »Einmal in dreißig Jahren«, präzisierte Innokenti.

»Und was hast du sonst noch für Pläne?«, fragte Kira Sergejewna interessiert.

»Mein Leben aufzubauen«, antwortete Angela.

»Und wie?«

»Ein Star werden. Auf der Bühne stehen und singen. Wie Christina Aguilera. Geld verdienen. Meine Mutter unterstützen.«

»Das ist nicht wenig«, bemerkte Innokenti.

»Ist doch normal«, sagte Angela. »Ich klaue doch nichts vom lieben Gott. Ist denn diese Christina besser als ich?«

»Sie hat eine andere Mutter«, bemerkte Kira Sergejewna.

Innokenti dachte nach und fragte dann: »Wann ist der nächste Wettbewerb in dieser Talentfabrik?«

»Ich geh in keine Talentfabrik mehr«, sagte Angela finster.

»Wieso nicht?«

»Dort geht es ungerecht zu. Ich habe besser gesungen als Ljuba Jukina. Aber man hat sie genommen und nicht mich. Weil ich aus Martynowka bin. Für mich hat niemand geklatscht.«

»Dort wird nicht für Namen geklatscht, sondern für Geld«, sagte Kira Sergejewna.

»Es gibt noch andere Möglichkeiten, das hab ich [22] herausgefunden. Sie nehmen junge Talente an und bringen sie groß raus«, verkündete Angela.

»Vielleicht kannst du da was machen?« Innokenti sah seine Frau an. »Du kennst doch Gott und die Welt.«

Kira Sergejewna rief ihre Sekretärin Ljudotschka an und bat sie um die Telefonnummer eines der größten Talentscouts. Er hieß Mark Tamarkin.

Ljudotschka bekam nicht nur die Telefonnummer heraus, sondern sogar die Handynummer.

Kira wählte. Es antwortete eine hohe, rüpelhafte Männerstimme. Offensichtlich wurde er alle drei Sekunden angerufen, und er setzte seine Stimme ein, um den ungebetenen telefonischen Besucher loszuwerden: »Ja?«

»Hier spricht ›die verdiente Kulturarbeiterin‹ Kira Degtjarjewa.«

»Kenne ich nicht«, unterbrach sie der Maestro Mark Tamarkin.

»Pech für Sie«, sagte Kira Sergejewna. »Wenn Sie Leute um sich herum haben, dann fragen Sie mal nach. Mich kennen alle, außer Ihnen.«

»Moment…«, sagte der Maestro plötzlich bereitwillig. Er nahm das Handy vom Ohr und fragte jemanden was. Kira konnte das Wort ›Zasrak‹ heraushören, was die Abkürzung für zaslushenij rabotnik kultury war, ›verdiente Kulturarbeiterin‹.

[23] Dann knisterte es im Hörer, und der Maestro sagte: »Also…«

Das hieß, dass er bereit war zuzuhören.

Kira begriff, dass sein Mitarbeiterstab ihren Namen bestätigt hatte, der schließlich sehr bekannt war, wenn er auch nicht viel bewirkte.