Mara - Viktorija Tokarjewa - E-Book

Mara E-Book

Viktorija Tokarjewa

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Beschreibung

Die ehrgeizige Mara hat zwei Ziele: Macht und Geld. Weil sie beides mangels Ausbildung auf direktem Wege nicht erreichen kann, geht sie den Umweg über Männer. Madame Pompadour ist ihr unerreichtes Vorbild. Doch dann verliebt sie sich unversehens in einen jungen Musiker, der ihre Liebe aber nur ausnutzt. Von da an geht sie über Leichen Tokarjewa entwirft ein psychologisch feinfühlig gezeichnetes tragikomisches Bild einer modernen russischen femme fatale.

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Seitenzahl: 80

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Viktorija Tokarjewa

Mara

Erzählung

Aus dem Russischen von Angelika Schneider

Diogenes

Mein Adreßbuch ist vollgepfropft wie eine Kommunalwohnung in der Nachkriegszeit. Einige Seiten sind herausgefallen, auf das ›K‹ ist Wasser getropft und hat Buchstaben und Ziffern verwischt.

Das Büchlein muß neu geschrieben werden, und gleichzeitig muß ich in meiner Vergangenheit Inventur machen. Der eine wird hinübergenommen in das weitere Leben, der andere wird in den Tiefen der Erinnerung begraben, um vielleicht später einmal wiederentdeckt zu werden.

Ich bekam ein neues Adreßbuch geschenkt, und eines schönen Tages setzte ich mich hin, um es einzuweihen. Das alte Büchlein ist eine Chiffre meines Lebens, sein Code sind Buchstaben und Zahlen, Namen und Telefonnummern. Schade, daß man sich davon trennen muß. Aber man muß. Denn die Zeit, die ihr eigenes Muster strickt, besteht darauf.

Ich schlage die erste Seite auf.

›A‹. Alexandrowa, Mara …

 

Ihr voller Name war Maria. Aber für seinen Namen kann man ja nichts, man bekommt ihn eben. Ihre schwangere Mutter ging im Zoo spazieren und las diesen Namen an einem Tigerkäfig. Die Tigerin war jung, gelenkig, noch nicht von der Gefangenschaft zermürbt. Der wilde, unbezähmbare Name paßte zu ihr: Maria. Die romantische Mutter beschloß, ihr Kind so zu nennen. Und falls es ein Junge werden würde, sollte er Marlon heißen. Aber sie bekam ein Mädchen. Das für das russische Ohr ungewohnte ›L‹ fiel schon in der Kinderkrippe weg, und von da an war sie Mara oder Mascha. Eine Maria Petrowna existierte nur im Paß.

Ihr Vater kam im dritten Kriegsjahr um. Da war sie bereits evakuiert und lebte mit ihrer Mutter in einem sibirischen Dorf. Aus der ganzen Zeit der Evakuierung behielt sie nur eines in Erinnerung: das große beigefarbene Hinterteil eines Pferdes vor dem Fenster. Ein Milizionär war zu ihrer Mutter gekommen, und sie bestickte ein Hemd für ihn. Dann erinnerte sie sich noch an einen blonden Arzt, für den hatte die Mutter auch ein Hemd bestickt. Mara war ständig krank. Mal hatte sie dies, mal das. Der Arzt kam und behandelte sie. Die Mutter beugte sich über Mara und beschwor sie: »Bind mich nicht an!«

Mara verstand nicht, was sie wollte. Sie hielt doch die Mutter gar nicht fest. Ihre Hände fuchtelten frei in der Luft herum.

Dann war der Krieg zu Ende. Mara und die Mutter kehrten nach Leningrad zurück. Aus dieser Zeit erinnerte sie sich an deutsche Kriegsgefangene, die ein Dampfbad bauten. Die Kinder gingen zu ihnen, schauten sie schweigend an. Die Deutschen hatten normale menschliche Gesichter. Genau wie andere Leute auch. Einer, mit einem runden Gesicht und einer runden Brille, weinte die ganze Zeit. Mara brachte ihm Brot und eine Dose Krabben. Damals, nach dem Krieg, lagen diese Dosen zu Pyramiden aufgestapelt in den Läden. Jetzt war alles verschwunden. Wohin? Vielleicht waren die Krabben zu anderen Ufern gekrochen? Aber es geht nicht um jetzt, sondern um damals. Damals ging Mara zur Schule und sang im Schulchor:

»Stalin – unser Kampfesstolz,

Stalin – unsrer Jugend Schwung,

Kämpfend und siegend mit Liedern,

Marschiert unser Volk für Stalin.«

Die Mutter war mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Sie war gerade dreißig. In diesem Alter braucht eine Frau einen Ehemann, und zwar nicht irgendeinen, sondern einen, den sie liebt. Den muß man erst einmal finden, und die Suche ist eine ernste Angelegenheit, die einen ganz in Anspruch nimmt.

Mara war sich selbst überlassen. Einmal stand sie in einer Schlange vor dem Kino. Es fehlten fünf Kopeken. Sie bekam die Karte nicht. Der Film fing schon an. Mara lief durch die Straßen und schluchzte laut. Die Passanten blieben stehen, betroffen von ihrer Verzweiflung.

Es gab aber auch Angenehmes. Einmal, im Pionierlager, wurde sie in den Freundschaftsrat gewählt. Sie trug auf dem Ärmel einen Aufnäher: zwei Streifen und darüber ein Sternchen. Eine große Ehre. Einige fingen an, um sie herumzuscharwenzeln. Mara lernte zum ersten Mal den Geschmack der Macht kennen. Etwas Schöneres gibt es nicht.

Zu Hause waren die Ratten nicht wegzukriegen. Die Mutter fing sie mit einer Rattenfalle und ertränkte sie dann samt Käfig in einem Eimer mit Wasser. Mara erinnerte sich an die Pfoten der Ratten, an die rosafarbenen Klauen, mit denen sie sich an die Metallstäbchen klammerten. Sie kletterten am Käfig hoch, um sich vor dem unaufhaltsam steigenden Wasser zu retten. Die Mutter hatte nicht genug Verstand, um ihrer Tochter diesen Anblick zu ersparen.

Mara lernte nur mittelmäßig, aber sie war ausschließlich mit den besten Schülerinnen befreundet. Die Nähe der Auserwählten ließ auch auf sie einen Schimmer von Auserwähltheit fallen. So wurde ihr Machthunger gestillt. Aber unbestreitbar fanden auch die Einserschülerinnen Geschmack an der Freundschaft mit Mara und lieferten sich sogar Eifersuchtsszenen. Jede beanspruchte für sich das Recht, Mara zu beherrschen.

Im Frühjahr des Jahres dreiundfünfzig starb Stalin. Im Radio wurde von morgens bis abends wunderbare Trauermusik gesendet. Es war eine schöne Zeit, denn in der Schule lernten sie fast nichts. Sie kamen und saßen unnütz in den Bänken herum. Die Lehrerin vergoß ehrliche Tränen. Mara kam auf die Idee, zusammen mit Rita Nosikowa nach Moskau zu Stalins Beerdigung zu fahren, aber die Mutter rückte kein Geld raus und ließ sie einfach nicht gehen. Mara erinnerte sich noch daran, wie sie am Tag der Beerdigung in die Trambahn eingestiegen waren. Die Leute im Waggon saßen bedrückt und in sich gekehrt da, ganz als säßen sie um den unsichtbaren Sarg herum. Rita und Mara dagegen aßen eingelegte Tomaten und kicherten hinter vorgehaltener Hand. Wenn man nicht darf, muß man immer ganz besonders lachen.

Die Leute schauten finster drein und verstanden nicht, wie man an einem solchen Tag essen und lachen konnte. Den Mädchen ihrerseits war es unbegreiflich, wie man an einem strahlenden, verlockenden Frühlingstag so todernst sein konnte.

In diesem Alter dehnt sich die Zeit unendlich in die Länge und vergeht trotzdem sehr schnell. Mara wuchs und wuchs, sie wurde erwachsen. Bei einer Feier im ›Haus der Offiziere‹ lernte sie den bildschönen Journalisten Shenka Smolin kennen. Er forderte sie zu einem Walzer auf. Sie schwenkten durch den Saal. Ihr Kleid flatterte. Die Zentrifugalkraft trieb sie auseinander, aber sie hielten sich ganz fest an den Händen und schauten einander in die Augen, ohne den Blick abzuwenden. Es war zum Verrücktwerden schön.

Mit achtzehn heiratete sie ihn.

Es war eine eilige Hochzeit, eine Expreß-Hochzeit. Sie ließen sich auf dem Standesamt registrieren und fingen dort auch gleich an zu streiten, und dann stritten sie sich weiter, morgens, mittags, abends und nachts … Sie stritten sich mit Leidenschaft, und mit genausoviel Leidenschaft versöhnten sie sich wieder. Das Leben bestand aus Streit und Umarmung. Ein endloser Machtkampf. Als Mara feststellte, daß sie schwanger war, wußte sie nicht, ob vom Streit oder von den Umarmungen. Bis zum fünften Monat wuchs ihr Bauch, und dann war es, als würde er kleiner. Es stellte sich heraus, daß es solche krankhaften Schwangerschaftsverläufe gab, bei denen der Embryo sich von einem bestimmten Stadium an wieder zurückentwickelt, kleiner wird und abstirbt. Um die Mutter vor einer Vergiftung zu bewahren, umgibt die Natur den Embryo mit einer Kalkschicht. Er wird nach neun Monaten – wie bei einer normalen Schwangerschaft – ausgestoßen, aber winzig und tot, wie im eigenen Sarkophag. Was es nicht alles gibt auf der Welt! Und ausgerechnet das mußte Mara zustoßen. Die Ärzte suchten nach Gründen, aber Mara wußte: Ihre Liebe hatte einen umgekehrten Verlauf genommen, bildete sich zurück, starb ab, ohne reif geworden zu sein.

Nach dem Krankenhaus fuhr Mara in den Süden, um im glatten, salzigen Meerwasser das frühere Leben herauszuwaschen und sich dann mit geschlossenen Augen ans Ufer zu legen. Sie wollte nur in Ruhe gelassen werden.

In dieser Verfassung war Mara, als der ruhige, wortkarge Dima Palatnikow auf sie zukam und sich schweigend um sie kümmerte. Sie nannte ihn Dimitschka. Dimitschka schwieg chronisch, verstand aber alles, wie ein Hund. Und genau wie bei einem Hund ging von ihm Wärme und Ergebenheit aus. Schweigen kann man aus zwei Gründen: aus Klugheit oder aus totaler Dumpfheit. Mara versuchte herauszubekommen, was wohl bei Dima der Fall war. Ab und zu brachte er etwas zur Sprache, einen fertigen Gedanken oder eine Beobachtung. Das war gar nicht dumm, obwohl man darauf auch hätte verzichten können. Wenn Dimitschka etwas nicht gefiel, dann machte er die Augen zu: Ich hör nichts, ich seh nichts. Das hatte er offenbar noch aus seiner Kindheit beibehalten. Machte er aber die Augen auf, veränderte sich sein Gesichtsausdruck trotzdem nicht. Seine Augen waren ausdruckslos: man sah ihnen nicht an, ob sein Verstand gerade arbeitete oder nicht. Doch genau der, ohne Augen und ohne Worte, paßte zu Maras zerquälten Nerven, ihrem geschundenen Körper, der ein paar Monate lang ihrem eigenen Kind als Sarg gedient hatte.

Mara und Dimitschka kehrten zusammen nach Leningrad zurück. Dimitschka war ein konservativer Mensch. Wenn man zusammen lebt, soll man auch heiraten. Sie heirateten, traten in eine Kooperative ein, um an eine Eigentumswohnung zu kommen, und kauften ein Auto.

Dimitschka war Arzt: Hals, Nasen, Ohren – was verdient man da schon! Der finanzielle Stützpfeiler wurde Mara. Sie entwickelte ein Talent: Sie nähte und nahm für die geschneiderten Sachen viel Geld. Der Preis stand in keinem Verhältnis zu der gelieferten Ware und überstieg den gesunden Menschenverstand. Aber sie zwang ja niemanden: Willst du nicht, brauchst du ja nicht zu kaufen. Und wenn du bezahlst, bist du selbst der Dumme. Mara nahm Geld für die Dummheit der anderen.