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Viktorija Tokarjewa

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Beschreibung

Viktorija Tokarjewa erzählt vom Leben auf der Datscha und dem Überlebenskampf in der Großstadt, von der Bohème und der ländlichen Armut, von unerwarteter Güte und der Bosheit der Menschen, von Schicksalsschlägen und glücklichen Wendungen, von der Gelassenheit des Alters und vom Ungestüm der Jugend. Und immer wieder von den Seltsamkeiten der Liebe.

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Viktorija Tokarjewa

Auch Miststücke können einem leidtun

Erzählungen

Aus dem Russischen von Angelika Schneider

Diogenes

{7}Ljuska aus Bakowka

Bakowka ist ein Dorf, das an unsere Datschensiedlung angrenzt. Ein richtiges Dorf mit Holzhäusern, aus Balken, die im Laufe der Zeit dunkel geworden sind. Das Dorf hat geschnitzte Fensterläden, Palisadenzäune, Vorgärten, ein malerisches Flüsschen, Gänse, ausspuckende Männer und herumschreiende Frauen.

Nach der Perestroika begann man, diese herumschreienden Frauen ›Farmerinnen‹ zu nennen. Sie brachten ihre selbstangebauten und -hergestellten Lebensmittel zu unserer Siedlung: Milch, Quark, Eier, Gemüse.

Ich hatte schnell herausgefunden, bei wem man etwas kaufen konnte und bei wem nicht. Alles hängt vom ›menschlichen Faktor‹ ab. Die sehnige Olga kauf‌te den Quark in der ganzen Gegend auf, er wurde bei ihr sauer, dann legte sie zweihundert Gramm frischen Quark obenauf und trug ihn aus. Die Leute probierten von oben – man wühlt ja nicht mit dem Finger bis in die Tiefe – und kauf‌ten {8}voller Begeisterung die ganze Portion. In der Küche kippten sie den Quark in eine Schüssel. Dann kam das, was unten war, nach oben, stinkend und gesundheitsschädlich.

Was kann man da sagen? Die kurzsichtige Olga kannte die Gesetze des Marktes nicht. Ein zweites Mal kauf‌te natürlich niemand mehr bei ihr. Und selbst wenn sie nun gute Sahne brachte und frische Eier, so jagte man sie doch mit deutlichen Worten von der Schwelle. Olga hatte so etwas wie Wettbewerb nicht in ihre Rechnung mit einbezogen. Sie handelte nach dem Gesetz der Zieselmaus: raf‌fen und ab in die Höhle. In der Datschensiedlung wohnten zwar Leute aus der Intelligenzija, doch Dummköpfe waren sie deshalb noch lange nicht. Man konnte sie einmal anschmieren, aber öf‌ter auch nicht.

Dann kam die dicke Irka, die polternd einen eisernen Karren hinter sich herzog. In diesem Karren lagen alle Gemüse der Saison. Ihre Ware war nicht schlecht, doch ihre Preise hatten eine Null zu viel. Wenn ein Kilo Kartof‌feln auf dem Markt zehn Rubel kostete, dann kostete es bei Irka hundert.

»Na, nimm doch gleich tausend«, schlug ich vor.

Irka sah mir misstrauisch ins Gesicht.

»Na und?«, sagte ich weiter in naivem Ton. »Wenn einer Geld hat, was für einen Unterschied {9}macht es da schon, wie viel er zahlt: ob hundert oder tausend? Arm wird der davon sowieso nicht.«

Irka begriff, dass ich mich über sie lustig machte, und meinte: »Na gut, sagen wir fünfzig pro Kilo.«

»Auf dem Markt kosten sie zehn«, erinnerte ich sie.

»Aber zum Markt muss man erst mal hinfahren. Und ich bringe dir das Gemüse direkt ins Haus.«

Ich war einverstanden. Die Hauslieferung war bares Geld wert.

In unserer Siedlung lebte ein sehr hübscher Bursche. Groß, gut gebaut, mit goldenen Haaren. Er sah aus wie der Troubadour aus einem bekannten Zeichentrickfilm.

Die Mädchen und jungen Frauen aus Bakowka kamen, um ihn zu bestaunen. Sie brachten ihm Erdbeeren und schwarze Johannisbeeren. Während er das Geld abzählte, ließen sie ihn nicht aus den Augen. Dann gingen sie davon und träumten von ihm. Hinter dem Rücken des schönen jungen Mannes stand drohend seine Frau, doch man beachtete sie gar nicht.

Die Mädchen aus Bakowka konnten sich keinerlei Chancen ausrechnen, aber das war doch egal … Das Träumen kann einem niemand verbieten.

 

{10}Dann zogen die wilden neunziger Jahre ins Land. Ihr grausames Echo hallte auch bis in unser Dörfchen.

Der Troubadour verkauf‌te sein Haus mitsamt der Schwiegermutter. Das Haus gehörte der Schwiegermutter, aber man machte ihnen ein so gutes Angebot, dass der Troubadour nicht nein sagen konnte. Für die Schwiegermutter mieteten sie ein Zimmer in Bakowka, und in das Haus, in das vertraute Nest, zogen fremde Leute ein.

Der Sozialismus brach krachend zusammen und mit ihm die menschliche Moral. Die Moral wurde durch Geld ersetzt. Die Summe, die man dem Troubadour geboten hatte, war offenbar unwiderstehlich gewesen. Und warten, bis die Schwiegermutter tot war, konnte er auch nicht. Der Käufer hätte in der Zwischenzeit abspringen können.

Und ich? Was konnte ich tun? Zum Troubadour gehen und fragen: »Schämst du dich eigentlich gar nicht?« Er hätte mir geantwortet: »Und was geht Sie das an?«

Und in der Tat, was ging es mich an.

Es wäre an seiner Frau gewesen, die Schwiegermutter zu verteidigen. Aber die Tochter stellte sich auf die Seite ihres Mannes. Sie dachte genau wie er: »Wir bringen sie ja nicht um. Wir siedeln sie im Dorf an, in einem Holzhaus, ökologisch, sauber, {11}direkt neben der Datschensiedlung, zehn Minuten zu Fuß.«

In der zweiten Hälf‌te des Holzhauses lebte eine gewisse Ljuska. Ljuska hielt Hühner und eine Kuh. Das verhieß doch gute Ernährung, Gesundheit und Langlebigkeit.

 

Ljuska kam einmal in der Woche zu mir, immer am Mittwoch. Sie brachte ihre Waren mit. Ihre Lebensmittel waren die allerfrischesten, und der Preis war der Qualität angemessen.

Ljuska stahl nicht und betrog nicht, versuchte nicht, einem was abzuluchsen. Sie sprach ein bisschen laut, aber das war zu ertragen.

»Ich sage immer die Wahrheit!«, rief sie.

Und sie packte irgendeine Wahrheit aus, die niemand brauchte. Nicht einmal Ljuska.

Man sagte, dass Ljuska in ihrer Jugend eine attraktive Frau gewesen war. Jetzt war es unmöglich, sich das vorzustellen: Sie hatte blaurot verfärbte Wangen, und im Mund war nur noch ein einziger Zahn übrig.

Ljuskas Vater war ein Trinker gewesen. Er war früh gestorben und hatte Ljuska mit dem Erbe seiner schweren Krankheit allein gelassen.

Mit sechsundzwanzig betrank sich auch Ljuska ständig. Im Dorf sah sie nie jemand nüchtern.

{12}Irgendwo auf dem Markt lernte sie Wolodka kennen, er war ebenfalls Alkoholiker. Wie alt er war, blieb unklar, vielleicht dreißig, vielleicht auch schon fünfzig.

Ljuska und Wolodka trafen sich jeden Abend und betranken sich zusammen. Das war doch viel lustiger als allein. Wolodka war ein gutmütiger Mann, er war musikalisch, er spielte gut Mundharmonika, wirklich gut. Dazu hatte er lange Wimpern und schöne kräf‌tige Finger.

»Mein ausschweifender Hirsch, du mein Bitterer, die Tränen versengen meine Augen wie der Wind. Lacht nicht, ihr Menschen, über mich, dass ich ihm folge, diesem Kerl.«

Diese Zeilen hatte Ljuska selbst gedichtet, so weit war es gekommen mit ihr. Ihre Seele war wie ein Segel, erfüllt vom Meereswind, der sie antrieb, und unter diesem Segel, auf diesem Boot der Liebe, wurde Ljuska schwanger. Der junge Organismus hatte die Spermien im Nu eingefangen.

Ljuska ließ eine Abtreibung machen, aber zwei Monate später war sie schon wieder schwanger. Da begriff sie: Die Natur bestand darauf. Gott sagte: »Ljuska, weigere dich nicht, nimm, solange man dir gibt.«

Ljuska beschloss, das Kind zur Welt zu bringen. Und das war keine einfache Entscheidung. Das {13}bedeutete, einen Entzug zu machen, nichts mehr zu trinken, sonst würde das Kind geistig behindert geboren.

Wolodka unterstützte Ljuska unerwarteterweise, er beschloss, ebenfalls mit dem Trinken aufzuhören und das Kind auf seinen Namen registrieren zu lassen. Ja, nicht nur das, er würde Ljuska heiraten und mit ihr eine normale Familie gründen, alles wäre wie bei anständigen Leuten.

 

Als Erstes kauf‌ten sie ein Bett. Früher hatten sie nur eine Matratze auf dem Boden gehabt. Ein Bett, das war doch gleich was ganz anderes. Dazu besorgten sie sich Leintücher, eine Bettdecke und Kissen. Vor dem Schlafengehen wuschen sie sich, zogen sich einen Schlafanzug an. Alles Dinge, die für andere Leute normal und alltäglich waren, doch für Ljuska und Wolodka waren sie ein echtes Ereignis, das reinste Märchen aus Tausendundeiner Nacht.

Der Alkoholismus verflüchtigte sich nicht einfach so. Zu sagen, dass sie trinken wollten, hieße gar nichts sagen. Sie wollten nicht nur trinken, sie verzehrten sich danach. Ihr Organismus stöhnte und ächzte, er schrie nach Alkohol. Ljuska ballte manchmal ihre Hand zur Faust und drückte so fest zu, dass später die Abdrücke ihrer Nägel in den Handflächen zu sehen waren. Beide sanken in {14}die schwärzeste Depression und gingen fast darin unter. Dabei wäre die Rettung so nah gewesen: ein Glas und fertig. Die Welt wäre wieder in allen Farben erstrahlt.

In ihrem Inneren brannte und schrie alles. Sie dachten sogar an Selbstmord. Lieber nichts fühlen als diese Qualen, dieses Verbrennen, diese Sehnsucht … Aber sie waren zu zweit. Und sie unterstützten sich gegenseitig. Um genauer zu sein, sie waren zu dritt. Und dieser Dritte, hilf‌los und von ihnen abhängig, dieser dritte Mensch in Ljuskas Schoß war der wichtigste, war derjenige, der alles bestimmte. Er befahl: Nein! Und damit blieb es bei nein.

Als die Zeit um war, kam ein völlig gesundes Mädchen zur Welt, es war zweiundfünfzig Zentimeter lang und wog dreieinhalb Kilo. Alles war, wie es sein sollte. Sie nannten sie Ljudmila wie die Mutter – Ljuska ist eine Verkleinerungsform von Ljudmila. Wolodka liebte seine Ljuska und wollte diesen Namen so oft als möglich hören. Sollte das Haus mit diesem Namen in verschiedensten Varianten erfüllt sein: Ljusa, Ljudmila, Mila …

Wolodka fand einen Job als Monteur für Wasserleitungen in einem Erholungsheim. Er konnte das, er hatte eine Spezialausbildung an einer technischen Hochschule absolviert. Außerdem musste {15}er ja Geld verdienen. Sie waren jetzt eine dreiköpfige Familie.

Wolodka war ganze Tage lang außer Haus, Ljuska war Tag und Nacht mit dem Kind beschäf‌tigt, sie hatte nicht einmal Zeit, sich zu kämmen. Das frühere Leben erschien ihr wie ein Paradies: Freiheit, keinerlei Verantwortung und eine Flasche mitten auf dem Tisch, kalt, mit Kondenswassertropfen an der Außenseite, die perlmuttfarben und hellblau schimmerte, frisch aus dem Kühlschrank. Der erste Schluck bewässerte das Innere wie Regen die ausgetrocknete Erde. Regen, der Pilze wachsen lässt, Sonne und Feuchtigkeit. Und dazu Wolodka, seine heißen Hände und seine von der Leidenschaft eiskalten Lippen.

Aber jetzt gab es nur die kleine Milotschka, ihr winziges Gesichtchen, ihr Geschrei und ihre Bedürf‌tigkeit.

Wolodka arbeitete, so viel er konnte. Wann immer man ihn rief, kam er auch in unsere Siedlung. Aber die Reichen trennen sich nur ungern von ihrem Geld: je reicher, desto geldgieriger. Dazu krochen sie ihm noch in die Seele, wollten mit ihm befreundet sein. Und warum? Nur um weniger zu bezahlen. Von Freunden kann man doch nicht viel Geld nehmen …

Die Freunde von früher wollten Wolodka von {16}seinem Weg abbringen, aber er blieb standhaft. Manchmal kam es ihm vor, als hinge er über einem Abgrund und hielte sich nur noch mit den Händen fest. Die Hände trugen alles Gewicht des Körpers, und die Schultergelenke würden es nicht aushalten, würden jeden Moment aus ihren Gelenkpfannen herausspringen. Es wäre so viel leichter gewesen, die verkrampf‌ten Finger einfach zu lösen und in den Abgrund hinunterzusegeln. Aber Wolodka hielt sich mit letzten Kräf‌ten fest. Er war nicht allein. Hinter ihm standen die zwei Ljudmilas, und er würde sie nicht verraten.

Wolodka kehrte nach Hause zurück. Er ging unter die Dusche. Er sah fern.

Dann legten sie sich schlafen, umarmten sich. Ljuska gab sich ihrem Mann hin, ungeachtet ihrer Müdigkeit: Nimm mich, ich brauche selbst nichts, alles gehört dir.

 

Milotschka wuchs und gedieh jeden Tag mehr. Die erste Blüte erlebte sie mit drei Monaten: Aus der runzligen Knospe war ein glatter Säugling geworden. Mit einem halben Jahr lernte sie laut zu lachen. Und mit einem Jahr war sie schlicht eine Schönheit. So war das Opfer doch nicht umsonst gewesen. Nicht umsonst all die körperlichen und seelischen Qualen. Alles wurde doppelt und {17}dreifach zurückgegeben. Da war eine Tochter. Ein Sinn des Lebens. Die Erfüllung des Hauptgedankens der Natur.

Worin bestand dieser Sinn? In der Fortpflanzung. Ljuska und Wolodka hatten nicht umsonst gelebt. Sie hinterließen einen Teil von sich selbst.

Ob es nach dem Tod tatsächlich ein Paradies und eine Hölle gibt, weiß man nicht. Aber im jetzigen Leben gab es sie. Die Hölle – das war der Entzug. Das Paradies – das war das Lächeln des eigenen Kindes.

 

Ich war immer seltener in Moskau. Immer öf‌ter blieb ich auf der Datscha.

Ich hatte meine eigene kleine Welt: eine Katze, einen Hund, eine Krähe und das Eichhörnchen Emma.

Das Eichhörnchen kam zweimal in der Woche zu mir, und ich bereicherte seinen Vorrat an Nüssen. Emma setzte sich auf die Hinterpfoten, und mit den Vorderpfoten hielt sie die Nuss an ihr Mäulchen. Ihre Backen bewegten sich dabei hef‌tig.

Emma folgte mit den Augen sorgsam dem Hund und der Katze, und wenn sie sich regten, dann sauste sie den Stamm der Tanne hinauf wie der Wind.

Die Krähe stahl Trockenfutter aus dem {18}Hundenapf. Der Hund, Foma, rannte zu seiner Schüssel, um der Krähe gehörig eins zu verpassen: Aber da war sie schon auf den Baumwipfel geflogen, und der herbeigesprungene Foma begriff nicht, wie die Krähe da hinaufgekommen war. Eben noch war sie doch unten. Wie machte sie das bloß?

Er bellte aufgeregt, die Schnauze nach oben gerichtet. Wenn man sein Gebell in Menschensprache übersetzen wollte, würde das so klingen: »Warte du nur, bald brauchst du wieder was zu fressen, bald kommst du wieder …«

 

Eines Tages rief eine Freundin an und bat mich, einen Verwandten von ihr zu empfangen. Der Verwandte erschien – er wirbelte nicht viel Staub auf. Sein Aussehen war statistisches Mittelmaß. Er hatte ein kluges Gesicht und trug einen Anzug aus Krimplen. Krimplen war ein knitterfreier synthetischer Stoff aus der Sowjetzeit. Man wusch ihn und brauchte ihn nicht zu bügeln, sondern konnte ihn einfach nass auf einen Bügel hängen. Es machte den Eindruck, als hätte den Anzug dieses Mannes nie jemand gewaschen. Ein abgestandener, stickiger Geruch ging von ihm aus. Offensichtlich lebten die Mikroben dort schon lange in Familien zusammen und führten ein wunderbares Leben: Sie hatten Nahrung zuhauf, gingen spazieren und vermehrten sich.

{19}Ich erriet, dass sich um den Verwandten niemand kümmerte. Vielleicht war er nicht verheiratet, vielleicht war er ein alter Junggeselle oder ein Witwer, wer konnte das wissen …

Nach der Perestroika gab es Männer, die sich metrosexuell nannten und die sich pflegten wie Frauen: Sie gingen zur Maniküre und Pediküre, besuchten teure Friseursalons. Wieso auch nicht … Der Verwandte gehörte definitiv nicht zu den metrosexuellen Männern, aber das machte ja nichts. Er würde eine Weile da sein und dann wieder gehen. Er würde ja nicht für immer bleiben.

Ich bot ihm einen Tee an. Er willigte gern ein.

»Ich habe ein Problem«, fing der Verwandte an. »Ich will eine Datscha kaufen. Stehen bei Ihnen in der Siedlung vielleicht Datschen zum Verkauf?«

»Nur selten, aber ab und zu kommt das schon vor«, antwortete ich.

»Was kosten sie? Nur so ungefähr?«

»Ungefähr eine Million …«

»Rubel?«

»Dollar.«

»Dollar?« Die Augen des Verwandten wurden groß wie Wagenräder. »So viel habe ich nicht. Ich kann höchstens an die zehntausend Dollar aufbringen.«

{20}»Dann kaufen Sie doch eines der alten Holzhäuser im Nachbardorf, eine Isba«, schlug ich vor. »Dafür reicht Ihr Geld.«

»Meinen Sie?«

»Ja, wieso nicht? Der Himmel ist genau derselbe, und die Luft ist ebenfalls dieselbe wie hier in der Siedlung. Und nebendran sind der Wald und ein Flüsschen.«

»Und das Kontingent für fremde Zugezogene?«

»Was für ein Kontingent denn? In unserer Siedlung sitzen alle hinter drei Meter hohen Zäunen. Die sehen Sie nie.«

»Ach wirklich?«, fragte der Verwandte gedankenverloren. »In der Tat, warum soll man mehr bezahlen, als es unbedingt sein muss. Und kann man sich da mal was ansehen?«

Wir gingen nach Bakowka.

»Ich will meine Frau hierherbringen«, vertraute mir der Verwandte an. »Sie kann nicht mehr gehen, ihre Beine versagen den Dienst. Das Alter.«

»Wie alt ist sie denn?«

»Achtzig.«

»Und Sie?«, fragte ich erstaunt.

»Ich bin sechzig.«

Ich war neugierig geworden, wollte eine Frage stellen, aber die Frage wäre unanständig gewesen. Also hielt ich mich zurück.

{21}Der Gedanke ist anscheinend materiell, denn der Verwandte erahnte meine Frage.

»Ich habe meine Stiefmutter geheiratet«, sagte er.

»Wie das denn?«

»Mein Vater war Professor, er hat meine Mutter verlassen und hat seine Assistentin geheiratet. Und ich habe mich dann in sie verliebt.«

»Das ist ja das reinste Shakespeare-Drama«, sagte ich. »Eine Tragödie. Gab es denn um Sie herum keine Mädchen in Ihrem Alter?«

»Die gab es, natürlich. Aber die habe ich gar nicht gesehen.«

»Und wie leben Sie?«

»Wie die Wölfe.«

»Das heißt …«, sagte ich verständnislos.

»Sexuelle Aktivität einmal im Jahr, und den Rest des Jahres lieben wir uns aus vollem Herzen.«

»Und jetzt?«

»Es ändert sich nichts. Es gibt kein Alter. Es gibt nur die Krankheiten. Nelly tun die Gelenke weh. Arthrose.«

»Jetzt kann man Gelenke ersetzen.«

»Sie will nicht. Ihr Herz könnte die Narkose womöglich nicht überstehen. Und ich habe auch Angst. Besser, sie sitzt im Rollstuhl und ist an der frischen Luft. Sie soll hier Luft schnappen, und ich {22}besuche sie, wenn ich freihabe. Ich bin ja noch berufstätig.«

»Und woher wissen Sie das mit den Wölfen?«, fragte ich neugierig.

»Das habe ich gelesen. Sie machen sich keine Vorstellung, was für eine moralische Gesellschaft das ist, so ein Wolfsrudel. Und was da los ist, wenn ein Rudelmitglied stirbt. Das ist wirklich ein Shakespeare-Drama: Geheul, bittere Schluchzer, es ist herzzerreißend.«

Am Ende der Straße tauchte Ljuska auf.

»Vek!«, rief sie. »Brauchst du Eier?«

»Ja, klar.«

Ljuska sauste wegen der Eier in ihr Haus.

»Was heißt ›Vek‹?«, fragte der Verwandte.

»Das heißt Vika. Das bin ich.«

Ljuska brachte die Eier in einer Schüssel.

»Sie sind ganz frisch«, sagte sie. »Aber Katka Zwonarjewa verkauft welche aus dem Laden. Sie kauft sie im Geschäft und gibt sie für ihre eigenen aus. Ich sage ihr ins Gesicht: ›Katka, hast du kein Gewissen?‹ Und sie zu mir: ›Dafür sind meine billiger als deine.‹ Diese Pharisäerin, diese verdammte …«

»Weißt du vielleicht, ob hier jemand eine Isba verkauft?«

»Katka will ihre verkaufen.«

{23}»Für wie viel?«

»Sie will zehntausend. Aber sie gibt sie auch für sieben.«

»Woher weißt du das?«

»Ich kenne Katka. Sie ist innerlich verfault. Aber ihr Haus ist gut, es ist trocken, ich sage die Wahrheit, Vek. Wenn das Haus gut ist, dann sage ich das auch.«

»Und wieso verkauft sie es?«, fragte der Verwandte.

»Na, von hier kommt man schlecht weg. Bis zum Bus sind es fünf Kilometer. Ohne Auto ist man hier verloren. Ganz wie in Amerika.«

»Woher wissen Sie das mit Amerika?«, fragte der Verwandte verwundert.

»Und wer ist das?«, fragte Ljuska, wobei sie mit dem Finger auf den Verwandten zeigte. »Dein Liebhaber?«

»Ich will ein Haus kaufen«, erklärte der Verwandte.

»Zehn Prozent sind für mich«, befand Ljuska.

»Einverstanden«, sagte der Verwandte sofort.

Wenn Ljuska das Haus auf sieben herunterhandelte, dann hätte er immer noch drei gespart. So hätten alle was davon.

 

{24}Alles Weitere geschah dann ohne mich.

Das Haus wurde verkauft, der Verwandte brachte seine Nelly im eigenen Shiguli her. Er heuerte Ljuska als Zugehfrau an. Sie sollte dreimal die Woche kommen, für Nelly kochen, putzen und das Geschirr abwaschen. Währenddessen ließ Ljuska ihre Tochter Milotschka bei Nelly sitzen. Sie war inzwischen schon fünf Jahre alt. Nelly lehrte Milotschka, richtig am Tisch zu sitzen und anständig zu essen. Sie las ihr aus Kinderbüchern vor, und sie tilgte aus ihrer Rede sämtliche Mutterflüche.

 

Die Zeit verging, viel geschah, Gutes und Schlechtes.

Ich brach mir ein Bein, was eine kleine Operation nötig machte. Die Knochen mussten mit einer Metallplatte verstärkt werden, und diese Platte musste mit Schrauben befestigt werden. Es gab damals bei uns weder Metallplatten noch medizinische Schrauben, sie wurden in unserem Land nicht hergestellt. So waren die Zeiten. Alles Alte wurde zerstört, aber Neues wurde nicht aufgebaut. Schrauben gab es nur in der Schreinerei, um etwa Möbel zusammenzuschrauben. Aber diese Schrauben taugten nicht, sie waren zu grob gefertigt, splitterten. Splitter führten dazu, dass sich der Knochen zurückbildete. Knochen, so stellte sich {25}heraus, waren auch lebendig. Ich musste in die Schweiz reisen, denn das Bein ist ein äußerst wichtiger Teil des Körpers.

Ich war fast zwei Monate lang nicht auf der Datscha. Ljuska vermisste mich und wartete auf mich, denn ich war eine ihrer besten Kundinnen. Ihr ›Business‹ litt unter meiner Abwesenheit.

Aber dann kam ich zurück, und das ›Business‹ blühte wieder auf. Ich brauchte Milchprodukte, brauchte Kalzium.

»Vek!«, schrie Ljuska, als sie ins Haus kam. »Bei uns in Bakowka tratschen die Weiber über dich: ›Die hat sich in der Schweiz operieren lassen … Das muss man sich mal überlegen …‹ Ich sage: ›Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich auch hinfahren. Aber ihr habt die Möglichkeit nicht, drum sitzt ihr auf eurem Arsch in eurer Küche. Und ihr habt nichts von der Welt gesehen und nie was Süßeres gegessen als Karotten.‹ Ich bin für die Wahrheit, Vek … Ich habe ihnen das gradeheraus ins Gesicht gesagt. Die sind doch bloß neidisch, verdammt …«

»Weswegen denn neidisch? Wegen eines gebrochenen Beins?«

»Sie sind neidisch auf deine Berühmtheit. Die Schweiz, das ist nicht Bakowka …«

»Meinst du nicht, dass es besser ist, mit einem {26}gesunden Bein in Bakowka zu sitzen, als mit einem gebrochenen in der Schweiz im Krankenhaus zu liegen?«

Ljuska überlegte. Dann seufzte sie schwer und sagte: »Ich muss dir die Eier für teurer verkaufen …«

Ich fragte erst gar nicht, warum. Es war auch so klar: Sie brauchte Geld.

»Wie geht es Nelly dort im Haus?«, fragte ich.

»Sie trocknet langsam aus«, antwortete Ljuska. »Wird wie eine Ballerina. Eine reine Seele ist die.«

»Und ihr Mann, kommt er sie besuchen?«

»Na klar. Er bringt ihr Blumen mit. Kein Geld, aber er gibt welches für Rosen aus. Und am dritten Tag verwelken sie und stinken wie er selbst.«

»Wasch doch mal seinen Anzug«, meinte ich.

»Er will ja nicht. Der geniert sich, oder was weiß ich … Aber vielleicht hat er auch nichts anderes anzuziehen. Keine Ahnung …«

»Grüß Wolodka von mir«, sagte ich.

Ljuska verzog die Lippen, aber sie erwiderte nichts. Sie nahm den Gruß nicht an.

Zu den schlechten Nachrichten gehörte, dass Wolodka wieder angefangen hatte zu trinken. Er zerstörte sich selbst. Er vertrank alles, die Möbel, den Fernseher, das Bett, ja sogar den Parkettboden in der Diele. Er hatte die Bretter einzeln {27}herausgerissen und sie verkauft. ›Du ausschweifender Hirsch, du mein Bitterer, die Tränen versengen meine Augen wie der Wind …‹

Ljuska fing an zu weinen.

Ich schwieg. Was konnte man dazu schon sagen …

 

Die schlechten Neuigkeiten schwappten vom Dorf in unsere Siedlung über.

In unserer Siedlung wohnten viele Reiche, aber auch Arme. Es gab Berühmtheiten und Witwen von Berühmtheiten. Die Reichen wohnten hier immer nur für kürzere Zeit, obwohl es in der Siedlung allen Komfort gab: Gas, Licht, Wasser und Telefon.

Die Armen vermieteten ihre Häuser. Die Miete war hier teuer, daher konnten sich das nur finanzkräf‌tige Leute leisten, die neuen Russen, oder, wie die Franzosen sagen, die nouveaux riches, die erst vor kurzem zu Geld gekommen waren.

Das Haus neben meinem hatte ein gewisser Vladik gemietet. Abends dröhnte bei ihm Musik aus den Fenstern, man hörte Gelächter. Es war lustig. Man sagte, dass er auf dem Markt alle Fäden in der Hand hielte.

Ich sah diesen Vladik ab und zu. Er war elegant wie Prinz Charles, aber er spuckte auf den Boden.

{28}Mir war aufgefallen, dass die Leiharbeiter, die hier im Sommer auf dem Bau arbeiteten, auch auf den Boden spuckten. Die Intelligenzija spuckte niemals aus. Was für einen Grund das wohl hatte?

Vielleicht sammelte sich Schleim, wenn man nach dem Trinken wieder nüchtern wurde. Vielleicht war es aber auch eine Geste der Selbstbestätigung: Ich spucke auf alles, pah. Es blieb unklar. Ich hätte gern gefragt, aber ich genierte mich. Es war eine unanständige Frage. Und was machte es schon für einen Unterschied?

Vladik sprach mit Katka-der-Pharisäerin wegen der Milch, und sie brachte ihm jeden Donnerstag eine Dreiliterkanne ins Haus.

Eines Donnerstags ging Katka wie üblich durch die Gartenpforte und erblickte zwei Leichen: Es waren Vladik und sein Chauffeur. Beide lagen mit dem Gesicht zur Erde, in der Haltung eines Sprinters.

Die Miliz stellte fest, dass der Killer wohl durch den Zaun gekrochen war und Vladik auf dem Grundstück aufgelauert hatte. Vladik war erst spät, um drei Uhr nachts, heimgekommen. Er war aus dem Auto gestiegen, und der Killer hatte ihm in den Rücken geschossen.

Der junge Chauffeur war weggelaufen, er schaff‌te es fast bis zur Gartenpforte, aber da holte {29}ihn die Kugel ein. Er fiel direkt vor der Pforte zu Boden. Dort stieß Katka auf ihn. Sie erstarrte für einen Moment zu Eis, dann ließ sie die Kanne mit der Milch fallen und stürzte auf den Weg hinaus. Sie rannte zum Polizeiposten, wo der Kommandant saß.

Katka rannte aus Leibeskräf‌ten, aber ihr riesiger Busen – BH-Größe 95E – behinderte sie.

Später fragte ich Ljuska: »Aber was war der Grund? Warum haben sie Vladik umgebracht?«

»Das haben sie mir nicht mitgeteilt«, sagte Ljuska trocken.

»Warum bloß? Wegen Geld?«

»Worum wohl sonst?«, fragte Ljuska verwundert. »Natürlich wegen Geld.«

»Aber deswegen töten? Ist ein Leben nicht mehr wert als Geld?«

»Er ist sicher gewarnt worden«, meinte Ljuska. »Er wusste, womit er rechnen musste.«

»Er dachte bestimmt, es würde sich schon alles regeln. Sie würden das nicht wagen.«

»Die haben auch keine Angst gehabt, den Listjew umzubringen, wieso also nicht Vladik? Wer vermisst den denn schon?«

»Seine Mutter«, sagte ich.

»So, das war’s. Ich hab noch zu tun …«

Ich hatte bemerkt, dass Ljuska in der {30}letzten Zeit entschiedener geworden war. Sie hatte Wolodka aus dem Haus gejagt. Er schlief jetzt in der Schlosserei. Abends sammelte er im Park die leeren Flaschen ein.

Die kriminellen neunziger Jahre zogen ins Land. Ein Menschenleben war gar nichts mehr wert. Der Tod fuhr seine Ernte ein.

Die sehnige Olga ging mit düsterem Gesicht in der Siedlung herum. Man hatte ihren Sohn in Moskau umgebracht.

Wer? Warum? Es war unmöglich, es herauszubekommen. Alle Spuren führten ins Nichts. Niemand wollte mit Olga sprechen. Wohin sie sich auch wandte, keiner hörte ihr zu. Man sah durch sie hindurch, als wäre sie ein Gespenst.

Olga schleppte sich zum berühmtesten Mann der Datschensiedlung. Er war unser ganzer Stolz, unser Trumpf im Kartenspiel. Er ließ Olga eintreten, hörte ihr mit wohlwollender Miene zu.

Olga bat unseren Trumpf, mit seinen Beziehungen zum Obergeneral durchzudringen. Dieser General sollte die Sache aufklären und die Schuldigen bestrafen oder wenigstens ihr, der Mutter, alles erklären.

Der Trumpf im Spiel äußerte Mitgefühl, nickte, versprach etwas, aber er telefonierte nirgendwohin. Er konnte seine Beziehungen zu dem General nur {31}ein einziges Mal im Leben nutzen. So waren die Spielregeln. Und dieses eine einzige Mal wollte er für sich selbst in Reserve haben. Er wollte sich diese Möglichkeit offenhalten. Wer konnte schon wissen, was im Leben noch alles geschehen würde …

Die Sache verlief im Sand. Olga erfuhr nichts. Ich erriet beschämt: In Moskau war eine ›Stunde des Kommandanten‹ losgebrochen, eine Art Bartholomäusnacht. Sie wurde bald darauf wieder unterbunden, ein paar Tage später schon. Aber in diesen wenigen Tagen tobte in Moskau der Mob. Narrenfreiheit für Banditen und Bullen. Es blitzten die niedersten Instinkte auf, alles war erlaubt. Und im Nachhinein war wirklich nicht mehr festzustellen: wer, warum und weshalb.

Wegen nichts und wieder nichts war er umgekommen. So war das.

 

Bei dem Verwandten meiner Freundin, Nellys Mann, brach ein Magengeschwür durch. Er rief lange nicht den Krankenwagen, hoff‌te, es würde auch so vorbeigehen. Aber es ging nicht vorbei. Die Ambulanz brachte ihn in das erstbeste Krankenhaus, dort operierte ihn der erstbeste diensthabende Arzt, und der Verwandte starb in der Morgendämmerung wohlversorgt, ganz, wie es sich gehörte.

{32}Nelly blieb allein zurück.

Wie sie diese Nachricht aufnahm, weiß ich nicht, aber ich kann es mir denken. Nelly war zwanzig Jahre älter als ihr Mann und hätte zuerst sterben sollen. Und was war passiert? Sie war nun allein, hilf‌los, unbeweglich und hatte nicht einmal jemanden, der ihr Medizin bringen konnte.

Ljuska tröstete sie auf ihre Art. Sie sagte: »Nelly, das musste doch irgendwann passieren.«

»Aber viel später«, entgegnete Nelly. »Erst in zehn Jahren, frühestens.«

»Zehn Jahre vorher, zehn Jahre nachher, das ist doch eine Kleinigkeit …«

»Und ich? Ich bin jetzt ganz allein.«

»Na und? Ich bin auch allein.«

»Was für ein Unglück …« Nelly bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Wer sagt denn, dass der Mensch unbedingt glücklich sein muss? Sie hatten doch Glück. Der Hintern saß im Fett. Man hat Sie Ihr ganzes Leben lang geliebt, erst der eine, dann der andere …«

Eine Woche später kam ein Nef‌fe mit seiner Freundin und einem Notar angereist. Der Notar musste das Haus auf den Nef‌fen überschreiben.

Der Notar legte die Dokumente zurecht und machte ein Kreuzchen an der Stelle, wo man unterschreiben musste.

{33}»Und, habt ihr mir meine Medizin mitgebracht?«, fragte Nelly.

»Ach, das haben wir ganz vergessen«, sagte die Freundin beschämt.

»Aber den Notar habt ihr nicht vergessen«, bemerkte Ljuska trocken.

»Na, schließlich ist Nelly schon in den Neunzigern«, erinnerte der Nef‌fe. »Sie stirbt vielleicht, und dann gibt es kein Testament, keine Verfügung über den Nachlass. Wer soll dann das Haus bekommen?«

›Ich‹, dachte Ljuska, aber sie ließ nichts verlauten.

 

Und so ging es dann weiter. Nelly saß ohne Medizin und ohne Geld da, traurig und still.

Ljuska kam jeden Tag zu ihr und brachte ihr Essen. Sie teilte, wie man so sagt, ihren letzten Bissen mit ihr. Nelly aß wenig, aber gar nichts essen konnte sie ja auch nicht.

Der Nef‌fe hätte ihr regelmäßig ihre Rente bringen sollen, er hatte eine Vollmacht, aber auch diese bescheidene Rente floss in die Taschen des Nef‌fen.

Ljuska organisierte ein Auto, lud Nelly hinein, und sie fuhren zusammen nach Moskau, zur Sparkasse. Die Vollmacht wurde auf Ljuskas Namen geändert, sie füllten alle dafür nötigen Papiere {34}aus. Die Rente holte nun Ljuska einmal im Monat. Die bescheidene Rente plus die Lebensmittel, die Ljuska verkauf‌te, davon konnten die beiden leben.

 

Wolodka ernährte sich selbst: Er sammelte Flaschen ein und gab sie an der Altglassammelstelle ab, dazu kam noch sein Gehalt als Mechaniker …

Wolodka nahm ab. Er sah älter aus, als er war, ein junger Greis, es war offensichtlich, dass der Mann sich gehenließ. Er hatte keinerlei Interessen mehr außer der Flasche.