Leise Musik hinter der Wand - Viktorija Tokarjewa - E-Book

Leise Musik hinter der Wand E-Book

Viktorija Tokarjewa

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Beschreibung

Wer sagt denn, dass es eine echte Liebe nur einmal im Leben geben kann? Irgendjemand hatte das gesagt. Aber er hatte sich geirrt. Ob Agent beim KGB oder Dissident, Ada liebt in einem Mann immer nur den Menschen. Die Geschichte einer Frau, die nie aufhört, an das Glück zu glauben. "

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Seitenzahl: 152

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Viktorija Tokarjewa

Leise Musikhinter der Wand

Roman

Aus dem Russischen vonAngelika Schneider

Originaltitel: ›Tichaja muzika za stenoj‹

Die deutsche Erstausgabe erschien 2013

im Diogenes Verlag

Umschlagillustration von Charles Mozley

Copyright © Charles Mozley Estate Trust

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 06861 8 (1.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60305 7

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Als Ariadna das Licht der Welt erblickte, war ihre Mutter Lisa zwanzig, ihre Großmutter fünfundvierzig und ihr Großvater fünfundsechzig Jahre alt.

Alle liebten einander: Der Großvater und die Großmutter waren ganz vernarrt ineinander, sie setzten sämtliche Hoffnungen ihres Herzens auf ihre Tochter Lisa, und alle im Chor begrüßten und liebten sie das neugeborene kleine Mädchen Ariadna. Ariadna, so hatte auch die Mutter des Großvaters geheißen, die Gräfin Ariadna Scheremetjewa.

Die Sache war die, dass Großvater und Großmutter zu den ›Ewiggestrigen‹ gehörten. Ihre Vorfahren waren aus einem weitverzweigten, reichen und kultivierten Adelsgeschlecht hervorgegangen. Dieses Geschlecht hätte wohl noch lange weiter blühen und gedeihen können, doch die Revolution des Jahres 1917 hatte dem ein Ende gesetzt.

Der Großvater verbarg seine Herkunft sorgsam. Er war, gezwungenermaßen, Konformist. In jenen Jahren die Wahrheit zu bekennen, hätte unweigerlich geheißen, das Leben zu verlieren. Und das Leben ist mehr als die Wahrheit. Das Leben lässt die Wahrheit [6] erst entstehen. Wenn du das Leben selbst verlierst, wer braucht dann noch deine Wahrheit? Wahrheit ist nur ein Wort, das Leben aber ist von Gott gegeben, und nur Gott allein darf es für null und nichtig erklären. So jedenfalls dachte der Großvater. Und sowieso lebte er am liebsten unabhängig von Gesellschaftsordnungen und deren Begriffen von Gerechtigkeit.

In seiner Jugend hatte der Großvater gesungen: ›Gott, schütze den Zaren‹, als Erwachsener musste er singen: ›Wir stammen alle aus dem Volke‹. Aber was war schon dabei? Der Großvater hatte ein gutes Gehör und eine schöne Stimme und wurde sogar zum Vorsänger bestimmt.

Die Eltern der Großmutter waren Großgrundbesitzer gewesen. Nach der Revolution sagte die Großmutter immer, dass sie Landwirte waren. Das war gelogen, aber nicht ganz. Ein gut ausgebildeter Großgrundbesitzer kannte sich mit Landwirtschaft aus, und so waren sie, in gewissem Maße, tatsächlich Landwirte. Den Familiennamen Scheremetjew verkürzten sie um ein Drittel, so entstand der Name Schermet. Ein guter Name, der in den Arbeiter- und Bauernstaat passte.

Ariadna wurde auf den Nachnamen Schermet eingetragen, da der biologische Vater nicht anwesend war.

[7] Es hatte ihn natürlich einmal gegeben, aber man hatte ihn, da er aus dem einfachen Volk war, aus der Familie gedrängt.

Der Vater hieß Alik. Jedes Mal, wenn sie sich zu Tisch setzten, hatte Alik den Platz des Großvaters eingenommen. Die Großmutter hatte sich darüber aufgeregt und gesagt: »Setzen Sie sich auf Ihren Platz«, worauf Alik verwundert die Brauen hochgezogen und gefragt hatte: »Ist es denn nicht völlig egal, wo man sich hinhockt?«

Die Großmutter hatte schwer aufgeseufzt. Ihr war klar geworden, dass es in Aliks Familie keinerlei Traditionen gab und dass Alik selbst ohne anständige Herkunft, sozusagen ohne Stammbaum, war. Anständig essen konnte er auch nicht. Er wusste mit dem Besteck nicht richtig umzugehen und verschlang das Essen derart schnell, als hätte er Angst, dass man es ihm wegnähme. Zudem trank er den Tee aus der Untertasse, ja er schlürfte ihn geradezu wie aus einer Pfütze.

Alik ging gern in die Sauna, doch danach zog er ein ungewaschenes Hemd über, das stets nach Schweiß roch. Die Großmutter packte ihm ein sauberes, gebügeltes Hemd ein. Aber Alik tat es leid, so viel Schönheit zu beschmutzen und zu zerknittern, und so zog er doch das alte Hemd wieder an. Er war nämlich ein bescheidener Mensch. Jedoch die [8] Scheremetjews schätzten ihn nicht, und Lisa hatte ihre eigene Stimme noch nicht entdeckt. Natürlich hatte sie eine, aber die war noch zu schwach entwickelt, sie ging unter im lautstarken Lamento der Großmutter. Die war und blieb eben eine Gräfin.

Alik passte wirklich nicht zu seiner Frau. Sie waren einfach zu verschieden. Adas Mutter Lisa begann eine Karriere als Sängerin, sie liebte die Bühne, den vollen Saal, den Applaus und die Komplimente. Sie war ein öffentlicher Mensch. Und Adas Vater hasste all das. Er wollte nur in seiner Garage stehen und ein Regal zusammenschreinern. Äußerlichkeiten interessierten ihn überhaupt nicht. Aber Lisa konnte nicht bloß für sich selbst singen. Sie sang für andere. Nur dadurch lebte sie.

Ihre gemeinsame Eisscholle bekam immer mehr Risse, und schließlich trieben sie in verschiedene Richtungen auf den Ozean des Lebens hinaus. Lisa seufzte leicht auf, als wäre ihr ein schwerer Sack von der Schulter gefallen. Im Gegensatz zur Mutter litt Ada unter der Trennung. Sie liebte ihren Vater. Und auch der Vater liebte sein Töchterchen zärtlich und voller Hingabe. Die beiden hatten viel gemeinsam. Es gab wohl eine gemeinsame Prägeform.

Lisa hatte eine Singstimme wie ein Engel. Wenn sie sang, weinte die Großmutter. Sie konnte die [9] Tränen der Liebe und des Entzückens nicht zurückhalten. Alle erwarteten nun, dass Ariadna, abgekürzt Ada, eines Tages ebenfalls singen würde. Aber Ada hatte wohl einfach kein Ohr dafür. Sie heulte eher wie eine Sirene.

Ada wuchs in einer unvollständigen Familie auf, ohne Vater. Doch wer eine solche Großmutter hatte, dem fehlte ein Vater nun wirklich nicht.

Die Großmutter kümmerte sich um die Ausbildung, die Erziehung und die Ernährung. Sie brachte Ada ›gute Manieren‹ bei: richtig sitzen, den Rücken gerade halten, beim Essen den Mund schließen, Erwachsene nicht unterbrechen, keine Fragen stellen, nicht ungefragt von sich erzählen, das Gegenüber nicht für dümmer halten als sich selbst, nicht mit jedem Dahergelaufenen aus einer Schüssel essen, mit anderen Worten: Abstand halten. Ada sollte sich an der Mode orientieren, aber sich nicht lächerlich machen, und vor allem keine offensichtlich billigen Sachen tragen.

Die Großmutter ihrerseits trug an den Fingern die Familienbrillanten, die sie nie ablegte. Man könnte sie ja stehlen. Ihre Hände waren ständig im Wasser, mal wusch sie Kleidung, mal putzte sie Gemüse. Die Hände waren irgendwann nicht mehr gepflegt, die Finger waren aufgedunsen vom Wasser und vom Alter, aber die Brillanten veränderten [10] sich nicht und schossen immer noch mit blauen Funken um sich. Im vollen Licht funkelten sie in allen Farben des Regenbogens, denn sie waren von lupenreiner Qualität.

Die Großmutter kümmerte sich um Adas Ausbildung, sie sprach mit den Lehrerinnen, überließ nichts dem Zufall. Einmal sah sie, dass Ada im Zeugnis einen Einser im Singen hatte. Wie sollte man denn das verstehen? Ada konnte keine Melodie halten, verfehlte jeden Ton – und plötzlich eine Eins im Singen. Das war Laschheit und Ungerechtigkeit in einem. Es war genauso ungerecht und falsch, wie wenn Ada in Allgemeinwissen eine Fünf bekommen hätte. Dieser Einser könnte das Verständnis des Kindes, was seine Möglichkeiten und Grenzen anbetraf, völlig aus dem Lot bringen.

Die Großmutter ging also zur Musiklehrerin und fragte nach: »Wieso haben Sie meiner Enkelin eine Eins gegeben?«

Die offensichtlich sehr in die Jahre gekommene Lehrerin verdrehte gequält die Augen und erklärte: »Diese Kinder führen sich alle dermaßen schrecklich auf in der Stunde. Sie springen über die Bänke, schreien herum. Nur Ihre Ada sitzt brav da und schweigt.«

Das hieß also, die Eins war nicht fürs Singen, sondern fürs Schweigen. Fürs Stillsein. Für die [11] Bescheidenheit. Fürs richtige Betragen. Die ganze Klasse quälte die schwache alte Frau und machte sich über sie lustig. Und das taktvolle kleine Mädchen hatte Mitgefühl mit ihr. Mitgefühl war ein kostbarer Zug, genauso wie Mitleid und Anteilnahme. Einen fremden Menschen spüren wie sich selbst, so dass eine Verbindung entsteht. Das kann man nicht andressieren. Damit muss man geboren sein.

Die Großmutter bestand feinfühlig auf der Note Vier. Das war keine Fünf oder Sechs, aber doch wenigstens keine Eins.

Die Lehrerin zuckte bedauernd mit den wenigen Wimpern.

›Warum arbeitet sie überhaupt noch?‹, fragte sich die Großmutter, hütete sich aber, es laut zu sagen. Um sie herum gab es inzwischen so viele unerklärliche ›Warums‹.

Lisa, Adas Mama, bekam nach dem Konservatorium im Bolschoi-Theater eine Stelle. Das Theater lag nicht weit von ihrer Wohnung entfernt, man konnte zu Fuß hingehen und den öffentlichen Verkehr meiden.

Die kleine Ada liebte das Bolschoi mit all seinem Prunk, dem vielen roten Samt und dem Gold. Außerdem gefiel ihr die Pracht der musikalischen [12] Ausstattung: ein ganzer Graben voller Musiker, dazu eine ganze Bühne voller Sänger, und alle musizierten zusammen, durchschnitten den Raum mit den höchsten Tönen. Und erst das Publikum, das, festlich gekleidet und sorgfältig frisiert, mit Wohlwollen lauschte. In der Pause sprangen die Leute nicht einfach durcheinander, sondern erhoben sich lautlos, bewegten sich würdig und setzten sich später anständig wieder hin.

Ada erstarrte in angespannter Stille, gemeinsam mit dem ganzen Publikum. Sie war ein Teil dieses Saales, ein Teil dieser menschlichen Gemeinschaft, und diese Teilhabe erfüllte sie mit Sinn und Stolz. Vielleicht hatte sie wirklich kein gutes Gehör, aber dafür hatte sie einen festen Platz in diesem Saal für die Auserwählten. Erste Reihe, Sitz Nummer sechs.

Ada lief ins Bolschoi-Theater wie zu sich nach Hause. Alle Frauen an der Theaterkasse kannten sie und ließen sie einfach durch. Sie setzte sich in ihre erste Reihe, dort waren immer freie Plätze. Anders, als man denken könnte, gilt die erste Reihe im Theater nicht als die beste. Es ist zu nah an der Bühne.

Eines Tages kam Ada in ihren Filzstiefeln ins Theater gelaufen. Draußen war Tauwetter. Die Filzstiefel waren durchnässt, und sie hinterließen auf dem Teppichboden des Bolschois feuchte, dunkle Spuren.

[13] Das pompöse Bolschoi-Theater, rot-golden, mit Zarenloge – und plötzlich Filzstiefel und Schmutzspuren auf den Teppichen. Aber das war noch nicht alles.

Ada saß die ganze Oper Aida lang mit nassen Füßen da, erkältete sich und erkrankte an Angina mit anschließenden Herzproblemen. Die Herzprobleme hießen Rheumakarditis. Die Herzklappen hatten sich leicht deformiert. Beim Abhören konnte man ein irritierendes kleines Geräusch erkennen.

Die Großmutter kam schier um den Verstand, verwünschte sich für den dreimal verfluchten Tag, an dem sie die Enkelin bei Temperaturen um den Nullpunkt in Filzstiefeln aus dem Haus gelassen hatte. Jetzt hatte das Kind Herzprobleme, und das Herz ist schließlich das allerwichtigste Organ, es ist zum Leben unverzichtbar. Das Herz lässt das Blut durch den Körper fließen, und das Herz ist es schließlich auch, was einen lieben lässt.

Ada wurde vom Sport befreit. Ihre Mutter und Großmutter begluckten sie, erlaubten ihr nichts zu tragen, das schwerer war als zwei Kilogramm. Nur der Großvater war sorglos und dachte: ›Macht nichts, das wächst sich aus.‹

Und es wuchs sich tatsächlich aus.

Das Herzgeräusch blieb, aber es war beim [14] Abhören kaum noch zu vernehmen. Der Herzfehler war kompensiert, er störte bei gar nichts mehr.

Ada entwickelte sich zu einer leicht entflammbaren jungen Dame. Sie verliebte sich ständig, und jedes Mal war es für immer. Mit zwanzig huschte sie aufs Standesamt und heiratete einen Medizinstudenten, einen gewissen Ossja, mit Nachnamen Moros. So wurde sie Ariadna Moros. Das war auch nicht schlecht, obwohl Ariadna Scheremetjewa natürlich besser geklungen hätte.

Ossja spezialisierte sich auf den Mastdarm, er war zukünftiger Urologe. Die Verdauung war die Grundlage aller Lebensaktivität. Ein kranker Mastdarm strich einem alle Freuden des Lebens rot durch, manchmal sogar den Sinn des Lebens. Deshalb war das Wichtigste am Menschen nicht das Gesicht, sondern ein ganz anderer Körperteil – fand jedenfalls Ossja.

Ossja installierte in der Wohnung ein Bidet. Hygiene war die Grundlage der Gesundheit. Die Muslime erkrankten zehnmal seltener am Mastdarm. Und warum? Weil sie Wasser benutzten, anstatt Toilettenpapier.

Adas Freundin Mirka fragte boshaft: »Ja, ist das denn eine Freude, den lieben langen Arbeitstag anderen Menschen in den Hintern zu schauen? Wenn er doch wenigstens Gynäkologe geworden wäre.«

[15] »Wieso wäre das besser?«, fragte Ada.

»Dann würde er in die Pforte der Liebe schauen. Würde Kinder in Empfang nehmen.«

»Man gebärt einmal im Leben, na gut, vielleicht zweimal. Aber den Darm entleert man jeden Tag.«

Darauf konnte man nur schwer etwas entgegnen. Mirka verstummte. Sie beneidete Ada in allen Bereichen, und manchmal weinte sie sogar vor Neid. Sie weinte offen, ohne sich zu verstecken. Sie saß da, das Kinn aufgestützt, und wischte sich die Tränen mit ihren schlanken, nach oben gebogenen Fingern von den Wangen. Ada fühlte mit ihr, aber sie konnte ihr einfach nicht helfen. Sie konnte ja ihren Mann Ossja nicht hergeben, der so klug und tüchtig war. Ada schätzte ihren Ossja sehr hoch ein, und genau wie Tschechows Herzchen teilte sie alle seine Prinzipien. Und die waren: keinerlei Geld von den Eltern annehmen, alles selbst verdienen. Geld bedeutete Freiheit. Armut war erniedrigend. Und weiter: Die persönlichen Interessen standen höher als die gesellschaftlichen.

In den siebziger Jahren hatte man genau das Umgekehrte propagiert – das Gesellschaftliche ist wichtiger als das Persönliche –, und im Endeffekt gelang weder das eine noch das andere. Ossja ergab sich nicht dieser Sklavenideologie. Er hatte seinen eigenen Standpunkt entwickelt.

[16] Als nach fünfzehn Jahren die Perestroika kam, sprang Ossja mit Leichtigkeit auf diesen Zug auf. Er musste sich gar nicht erst umstellen und damit Zeit verlieren. Ossja war zielstrebig und eröffnete eine Privatklinik, doch das geschah alles erst später. Damals aber…

Damals kratzten sie all ihr Geld zusammen und brachten kaum die Einlage für eine Genossenschaftswohnung auf. Ihre Hauptmahlzeit bestand aus etwas Fleisch und sehr viel Kartoffeln oder Frikadellen mit Makkaroni. An Feiertagen gab es Kohlrouladen und ›Salat Olivier‹.

Ada studierte an der Staatlichen Universität Moskau, an der Philosophischen Fakultät. Dort studierten alle diejenigen, die noch nicht wussten, was sie später mal machen wollten. So bekamen sie fürs Erste eine akademische Ausbildung, und danach würde man schon sehen. Vielleicht würden sie dann Schriftsteller oder Lehrer oder Redakteure bei einer Zeitung.

Ada hatte keine klar ausgeprägten Talente, außer dem Talent zu gefallen. Sie gefiel allen ohne Ausnahme: den Jungen und den Alten, den Klugen und den Dummen, den Katzen und den Hunden, den Militärs und den Bürokraten.

Ada hatte auch keine besonderen Neigungen. Sie wollte lieben und geliebt werden und mehr nicht.

[17] Das ärgerte die Großmutter. Sie hatte davon geträumt, eine außergewöhnliche Persönlichkeit, eine Führernatur aufzuziehen. Ganz anders der Großvater. Er dachte so: Wenn ein Mensch morgens aufsteht und gute Laune hat, dann ist es ein gelungener Mensch. Die Fähigkeit, sich über jeden Tag zu freuen, das war der Sinn des Lebens. Das war von Gott gegeben, und alles andere kam von den Menschen und war darum weit weniger wichtig. Und die Gabe zu lieben – auch das war schließlich ein Talent. Das konnten nicht alle.

Außerdem: Ada war bezaubernd und wunderschön. Das Zauberhafte – das war ein seelisches Talent. Und die Schönheit – das war ein Talent der Natur. Mehr als nur eine Generation von Scheremetjews hatte sich abgemüht und aussortiert, um solch ein Exemplar zu erschaffen. Was wollte man da mehr?

Manchmal kam es Ada so vor, als ob sie Ossja zu wenig liebe, und dann erging sie sich in Liebesbeschwörungen, als wolle sie die unzulänglichen Gefühle mit Worten ausgleichen.

Ossja nahm ihre Bekenntnisse in sich auf, aber ohne besondere Erregung. Man konnte doch nicht ein Leben lang erbeben wie beim ersten Mal. Ossja lauschte schweigend und wohlwollend. Sie liebte ihn? Wie schön.

[18] »Und du?«, fragte Ada.

»Ich dich auch«, sagte Ossja, aber ohne Biss.

Das war langweilig. Doch was sollte man da machen?

Anna Karenina hat diesen Übergang von der Leidenschaft zu einem ganz anderen Niveau nicht ausgehalten. Sie hat sich unter den Zug geworfen. Ada dagegen wurde schwanger und gebar einen Jungen.

Die Geburt blieb ihr in ekelhafter Erinnerung: Blut, unerträgliche Schmerzen, Angst – und das alles in einem kasernenartigen Gebäude, mit gleichgültigen Ärzten, quasselnden Krankenschwestern. Aber dafür verließ sie die Geburtsklinik nicht allein, sondern mit einem Söhnchen. Ossja trug das kostbare Bündel auf den Armen, gefolgt von einer ganzen Schar Verwandter.

Ossjas Verwandtschaft war vollzählig angetreten. Schließlich war da ein Stammhalter geboren worden. Sie hatten sogar schon einen Namen für ihn parat: Judas.

»Machen Sie Witze?«, fragte Lisas Mutter.

»Keineswegs«, antwortete Ossjas Vater.

»Judas war doch der, der Christus verraten hat«, erinnerte ihn die Großmutter.

»Judas wurde von der orthodoxen Kirche längst rehabilitiert«, entgegnete die Verwandtschaft. [19] »Außerdem hat er seine Tat zutiefst bereut und sich an einer Espe erhängt.«

»Man wird das Kind in der Schule verspotten«, wandte Lisa erschrocken ein.

»Bis der Junge groß ist und in die Schule kommt, wird es solche Mistkerle gar nicht mehr geben«, erklärte Ossjas Vater zuversichtlich.

»Mistkerle gab es früher, gibt es heute und wird es immer geben«, seufzte Ossjas Mutter. »Wieso also dem Kind das Leben schwermachen? Leute, die ihm das Leben schwermachen wollen, wird es auch ohne uns genug geben.«

»Dann soll er Mark heißen«, schlug Adas kompromissfreudiger Großvater vor. »Das ist ein schöner Name und ein internationaler dazu.«

Und dabei blieb es: Mark Ossipowitsch. Das klang nicht schlecht.

Marks erstes Lebensjahr stellte sich als schwierig heraus. Es war sogar das allerschwierigste Jahr – in Adas Leben. Für eine Kinderfrau hatten sie kein Geld, und Kinderfrauen gab es offiziell damals auch noch gar nicht. Private bezahlte Lohnarbeit kam erst in den neunziger Jahren auf, nach dem Zerfall der Sowjetunion. In den siebziger Jahren musste man alles aus eigener Kraft schaffen.

Der Junge schlief schlecht, er wachte alle zwei Stunden auf. Ada schlief wie ein Soldat auf Wache. [20] Immer wenn sie gerade in das süße Vergessen gesunken war, begann das Kind zu schreien und riss sie aus dem Schlaf.

Auch tagsüber gelang es ihr nicht zu schlafen, Ossja war schon berufstätig und mehr als acht Stunden außer Haus. Ihre Mutter sang in der Oper: Proben, Aufführungen, ein ›Privatleben‹ mit der ersten Geige namens Fima. Fima versprach, sich von seiner Frau zu trennen, aber er ging es langsam an, nach dem Motto: ›Bloß nichts überstürzen.‹

Die Großmutter konnte schlecht laufen, die Knie taten ihr weh. Und wozu war der Großvater schon zu gebrauchen? Höchstens dazu, mit dem Jungen im Kinderwagen spazieren zu gehen, und auch das nur einmal pro Woche. Schließlich konnte sie ja nicht täglich mit dem Säugling quer durch Moskau fahren.

Ada wartete auf Ossja, um ihm das Kind zu übergeben und endlich ein bisschen zu schlafen. Aber Ossja aß eilig und wollte danach gleich irgendwo ›hinwuseln‹ – ein Ausdruck ihrer Freundin Mirka –, was hieß, davonflitzen, wie eine Küchenschabe, die es geschafft hat, unter der Handfläche hervorzukrabbeln.

Ossja liebte seinen kleinen Sohn, doch er wollte auch ein eigenes Leben haben, medizinische Fachliteratur lesen, fernsehen und – Himmel noch mal – [21]