Eine Liebe fürs ganze Leben - Viktorija Tokarjewa - E-Book

Eine Liebe fürs ganze Leben E-Book

Viktorija Tokarjewa

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Beschreibung

Wieviel wirklich große Lieben kann man in seinem Leben haben? Eine, findet Irina wenn man Glück hat. Als sie nach einer gescheiterten Ehe schon nichts mehr vom Leben erwartet, lernt sie Kjamal kennen. Kjamal ist Aserbaidschaner, jung, schön, und er riecht nach Erdbeeren. Er liebt Irina, aber heiraten kann er sie nicht.

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Viktorija Tokarjewa

Eine Liebe fürs ganze Leben

Erzählung

Aus dem Russischen von Angelika Schneider

Diogenes

1

Ihr Leben war einfach und schwierig zugleich. Wie übrigens bei allen Menschen.

Irina Iwanowna Gusko wurde in der Stadt Baku in einer einfachen russischen Familie geboren. Baku war – in den damaligen, jetzt schon so weit zurückliegenden Sowjetzeiten – eine internationale Stadt, in der alle Völker miteinander in Frieden und Brüderlichkeit lebten.

Das Leben fand in den Höfen statt.

Die kleine Irina spielte mit den Nachbarskindern: Chatschik, dem kleinen Salomon, mit Polad und David. Wenn die Mittagszeit da war, lehnten sich die Mütter und Großmütter aus den Fenstern und riefen ihre Kinder, jede mit ihrem ganz speziellen Akzent. Und das war ganz normal. Anders konnte es gar nicht sein.

Irina lief gern ans Meer und kletterte mit den Jungs auf die Bohrinsel, bis ganz nach oben. Das war gefährlich. Die Kinder konnten leicht abrutschen, hinunterfallen, in den Tod gleiten. Sie waren sich dieser Gefahr nicht bewußt. Es waren eben Kinder.

Den Eltern stand der Sinn nicht nach Irina. Sie entschied selbst, was sie den Tag über machen wollte und tat es auch. Wenn sie genug herumgesprungen war, kam sie nach Hause, und kippte fast aus den Schuhen vor Müdigkeit. Die Schuhe waren übrigens schmutzig und abgetragen. Und doch, die Kindheit ist der Anfang des Lebens, sein helles Erstrahlen. Irina liebte ihre ewig herumschreiende Mutter, ihren ewig sich prügelnden Bruder. Man liebt ja jemanden nicht wegen etwas Bestimmtem. Man liebt einfach, und fertig.

Irina war eine mittelmäßige Schülerin. Aber im Singen war sie gut. Ihre Stimme war stark und rein. Sie durfte immer vorsingen. Sie trat vor den Chor und sang den Hauptteil des Liedes, dann setzte der Chor ein und sang den Refrain. Was für ein Glück das war, sich vor alle hinzustellen und ganz allein zu singen …

Irina schloß die Schule ab und trat in das pädagogische Institut ein. Lehrerin – das war immer gut. Ein ehrenwerter Beruf, der einen ernährt.

Irina hatte mit eigenen Augen gesehen, wie aserbaidschanische Eltern den Lehrern Körbe mit Lebensmitteln angeschleppt hatten: Obst, Gemüse und selbstgeschlachtete Hühner. Die Lehrer hatten im Gegenzug die richtigen Noten vergeben. Was sollten die orientalischen Mädchen mit vertieftem Wissen? Nach der Schule würden sie sowieso heiraten und Kinder gebären. Mathematik würden sie nur dazu brauchen, um das Geld auf dem Markt abzuzählen. Und Russisch würden sie wohl gar nicht brauchen.

Irina erinnerte sich an die schmeichlerischen Blicke der Eltern und Kinder. Das war ganz nach ihrem Geschmack: Menschen in Angst und Schuldgefühlen halten. So wie Stalin das ganze Land gehalten hatte, nur in kleinerem Maßstab natürlich.

Irina wollte herrschen. Dadurch überwand sie die Komplexe aus ihrer erniedrigenden Kindheit.

Seit der Studentenzeit hatte sie nur ein einziges Kleid. Abends wusch sie es, morgens bügelte sie es. Aber sogar in diesem immer selben Kleid verliebte sich Wolodka Sidorow vom politikwissenschaftlichen Institut in sie. Sie lernten sich beim Tanzen kennen.

Bevor Wolodka sie aufforderte, schickte er seinen Freund Boris, um zu fragen, ob sie überhaupt mit ihm tanzen wolle.

Boris, ein hochgewachsener gutaussehender Kerl, ging auf Irina zu, ihr Herz klopfte wie wild. Sie war sofort bereit, in seine Arme zu fallen. Und dann stellte sich heraus, daß Boris nur fragen wollte, ob sie mit seinem Freund tanzen würde.

»Und wo ist er?« fragte Irina enttäuscht.

Da kam Wolodka, untersetzt, breitschultrig, er hatte was von einem Krebs. Na ja, ein Boris war er nicht. Aber ganz häßlich auch nicht. Wieso sollte sie nicht mit ihm tanzen? Er hätte doch gleich selbst fragen können.

Am nächsten Tag gingen sie ins Kino. Wolodka nahm im Dunkeln ihre Hand. Irina mußte aufs Klo, aber mitten in der Vorstellung aufzustehen war ihr unangenehm. So hielt sie durch, saß angespannt da, und Wolodkas Zärtlichkeiten machten ihr nicht den nötigen Eindruck.

Aber Wolodka war ausdauernd und standfest. Nichts konnte ihn von seinem eingeschlagenen Weg abbringen, und der führte zu Irina, ihrer Wärme, ihrem Geruch und ihren Geheimnissen. Er wollte sie mehr und mehr, immer tiefer, immer länger. Für immer.

Sie heirateten.

Die Mutter erzählte den Nachbarn: »Wann immer man zu ihnen kommt – sie liegen im Bett.« Und das stimmte.

Nach neun Monaten gebar Irina ein Kind. Es war ein Junge. Er war wunderhübsch, mit hellen Löckchen, wie Lenin als Baby.

Irina hatte Prüfungen, der Kleine war in der Krippe. Wenn sie ihn abholte, war er naß bis zum Kinn, er war oft erkältet und unterernährt. Ihr schwirrte der Kopf. Sie wußte nicht, wo sie zuerst anpacken sollte – Windeln oder Prüfungsunterlagen. Im Spiegel begegnete Irina ihrem grauen Gesicht mit dunklen Ringen unter den Augen. Sie hätte sich am liebsten hingelegt und an nichts mehr gedacht, wäre in einen bleiernen Schlaf gefallen.

Wolodka half ihr nicht, er hatte immer nur eins im Sinn. Irina fügte sich mit der Folgsamkeit eines Schafes, aber sogar beim Lieben dachte sie nur daran, woher sie Geld bekommen sollten, was sie für den nächsten Tag kochen mußte, wie sie nur das Examen bestehen sollte.

Man sagt, daß Mutterschaft Glück bedeutet. Es ist auch ein Glück – wenn man Geld hat und Hilfe. Wenn man alles hat und das Kind dazu.

Aber wenn man gar nichts hat als nur Verpflichtungen, dann ist man schon kein Mensch mehr, sondern ein Arbeitspferd unterm Joch.

 

Es vergingen zehn Jahre.

Wolodka arbeitete nach seinem Universitätsabschluß als leitender Angestellter in einer kleinen Fabrik. Lärm, Gepolter, betrunkene Fabrikarbeiter. Nüchtern waren sie nur bis zum Mittagessen, also bis um zwölf. Aber dann wurde es gemütlich. Und Wolodka soff mit. Aber er konnte maßhalten. Er wurde respektiert.

In der Fabrik gefiel es Wolodka. Er arbeitete überhaupt gern. Der Prozeß interessierte ihn. Das Endziel war bestimmt, und jeden Tag bewegte man sich ein bißchen mehr darauf zu.

Zu Hause war es ihm langweilig. Irina war ewig unzufrieden, ewig hatte sie zu wenig Geld. Der Sohn verlangte ständig etwas von ihm: Mal wollte er auf dem Rücken getragen werden, mal sollte man ihm etwas beibringen, dann wieder wollte er Verstecken spielen. Und Wolodka war müde. Er wollte sich lieber aufs Sofa legen und einschlafen.

Und das tat er auch. Er legte sich die Zeitung übers Gesicht – und weg war er.

Dann erschien Irina und fing an, ihn mit Fragen zu quälen, hatte ihn am Haken wie der Angler einen Fisch. Wolodka tauchte aus seiner Versenkung auf, öffnete die Augen. Er konnte doch nicht mehr heimbringen, als der Staat ihm zahlte. Er konnte auch nicht zu jemandem zu Besuch gehen, ihm war das langweilig. Er konnte nur arbeiten und schlafen. So war nun mal sein Organismus.

Widersprüche schwächen sich mit der Zeit nicht ab, sondern sie vertiefen sich. Irina ignorierte zum Zeichen ihres Protestes die ehelichen Pflichten, verweigerte Lebensnotwendiges. Und schließlich hatte Wolodka eine Geliebte – eine Armenierin. Mit haarigen Beinen, wie man Irina zugeflüstert hatte. Früher war Wolodka nach Hause gekommen, hatte gegessen und geschlafen. Und jetzt kam er, aß und ging wieder weg. Er schlief bei der Armenierin.

Es gab Streit über ein neues Thema. Früher hatte es nur zwei Themen gegeben, jetzt waren es drei.

Irina beschloß, den untreuen Ehemann aus dem Haus zu werfen, aber ihre Mutter sagte: »Spinnst du? Wer gibt denn den eigenen Ehemann in fremde Hände?«

Irina überlegte. Sie war beleidigt, daß Wolodka, der früher sie, nur sie, gewollt hatte, so schnell andere Beine und andere Augen gefunden hatte, von allem übrigen gar nicht zu reden.

Irina arbeitete in der Schule, sie unterrichtete in den unteren Klassen. Die Korrektur der Hefte fraß alle Freizeit auf.

Im Lehrerzimmer diskutierte man lebhaft ihre familiäre Situation. Irina hatte sich einer Freundin, der Geographielehrerin anvertraut, und was zwei wissen, wissen bekanntlich bald drei und dann alle. Irina ging es wie in dem Lied, in dem es heißt: Es tut mir nicht leid, daß ich von dir verlassen wurde, es tut mir nur leid, daß die Leute drüber reden …

Irina hatte das Gefühl, daß sie nackt im Lehrerzimmer stand und alle sie umkreisten und begafften. Es war beschämend, sie fröstelte und fühlte sich einsam.

Die Mehrheit des Kollektivs hielt zu Irina: Sie war eine selbständige Frau, hatte keine Affären, war eine gute Spezialistin. Bei ihr herrschte Disziplin in den Klassen wie in der Kaserne, der Lernprozeß war gewährleistet. Und das Gesetz war ebenfalls auf ihrer Seite: ein Stempel im Paß, ein Kind, eine Familie. Und diese Armenierin – wer war das schon?

Aber es gab auch welche, die der anderen die Stange hielten. Sie sagten, daß die Armenierin, wie jede orientalische Frau, sich widerspruchslos dem Manne füge, keine überflüssigen Fragen stelle, ihn um Himmels willen nicht kritisiere. Sie koche einfach gut und ordne sich unter. Na, und sie gebe sich ihm mit Begeisterung hin, lege ihre ganze Seele hinein. Und dann – das südliche Temperament. Und diese Augen – groß und samtbraun. Alle Südländer hatten schließlich schöne, große Augen. Sie malten sich die Frau in den schönsten Farben aus: schön, zierlich, gefügig, temperamentvoll … da mußte man Wolodka doch verstehen.

Irina ließ den Kopf hängen. Was sollte sie bloß tun?

Die Familie verstärken, riet man ihr freundschaftlich im Lehrerzimmer. Ein zweites Kind gebären. Ein Kind verbindet. Und dann die Alimente. Für zwei Kinder wären das dreiunddreißig Prozent. Wozu bräuchte die Armenierin einen Mann, der Alimente zahlen muß. Die Armenier verstehen sich aufs Geldzählen. Und wenn es ein Mädchen würde, würde Wolodka sowieso nirgends mehr hinverschwinden. Väter liebten doch ihre Töchter wie verrückt.

Gesagt, getan. Irina paßte den geeigneten Moment ab und wurde schwanger. Nach neun Monaten gebar sie ein Mädchen. Sie nannten sie Sneshana – abgekürzt Sneshka. Ein zärtlicher Name. Er paßte zu ihr.

Wolodka ging grübelnd umher, aber seinen Lebenswandel änderte er nicht. Nach der Arbeit kam er heim, aß und ging wieder weg. Sein Hauptleben fand bei der Armenierin statt.

»Soll ich ihn mal ein bißchen vermöbeln?« fragte Pawel, Irinas großer Bruder.

»Ich weiß nicht«, antwortete Irina versonnen.

Sie wußte wirklich nicht, was sie tun sollte. Einerseits wollte sie Wolodka verprügeln, ja sogar totschlagen, damit ihn keine andere bekäme. Aber andererseits war er ihr teuer, genau jetzt, wo er ihr entglitt. Irina erkannte in ihm plötzlich eine Menge Vorzüge: Er war kein Schönredner, war ehrlich, arbeitsam und vor allem – er war ein ganzer Kerl. Seine Männlichkeit zeigte sich in den Augen, in den breiten Schultern und in seiner Treue, wie seltsam das auch war. Er war Irina mehr als zehn Jahre treu gewesen, und jetzt war er es wohl bis ans Ende seiner Tage dieser anderen. Anscheinend war eine einzige Frau zu wenig für ein Männerleben.

Pawel verprügelte Wolodka auch ohne Erlaubnis, aus purer Eigeninitiative. So verteidigte er die Ehre seiner Schwester. Zusammen mit einem Kumpel. Sie droschen auf Wolodka ein, bis er umfiel. Dann gaben sie ihm noch mit den Stiefeln ein paar in die Schnauze. Aus vollem Herzen.

Wolodka kam nach Hause, spuckte ein paar Zähne aus und packte seine Sachen. Und verließ die Stadt. Zusammen mit der Armenierin. Er fürchtete, daß man auch ihr etwas antun könne.

Irina zog Pawel zur Rechenschaft. Er hatte alles kaputtgemacht. Das Mädchen wäre aufgewachsen, wäre Wolodka ans Herz gewachsen, vielleicht hätte er sich von der Armenierin losgerissen. Und wenn nicht, hätte er halt in zwei Haushalten gelebt. Immer noch besser, als wenn er gar nicht da war. Und jetzt? Dreißig Jahre alt und zwei Kinder. Wer wollte sie denn noch? Wer wollte schon fremde Kinder …

2

Man mußte überleben. Aber wie?

Irina gab das Kind in die Krippe und ging gleich selbst dorthin, um zu arbeiten. Ihre Arbeit in der Schule mußte sie aufgeben. In der Krippe wurden sie beide satt, und die Tochter wurde gut betreut. Und sie konnte sogar vom Mittagstisch noch etwas mit nach Hause nehmen: einen Topf Suppe, dazu Frikadellen mit Nudeln, ein Glas Kompott aus Dörrobst. Das ergab eine vollständige Mahlzeit für den Sohn Sascha – Eiweiß und Vitamine. So konnte man überleben, sie würden nicht verhungern. Und es reichte sogar für Kleidung: Sie hatte ihren Lohn plus die Alimente von Wolodka. Sie waren satt, hatten was zum Anziehen und waren manchmal sogar herausgeputzt. An Feiertagen sah Sneshana mit ihrem grünen Samtkleidchen und den Lackschuhen besser aus als alle anderen.

Aber der Mensch lebt nicht von Brot allein. Besonders wenn er jung ist.

Der Direktor des Kindergartens bemühte sich um Irina, aber er roch aus dem Mund. Man sagt, daß Menschen, die man nicht mag, für einen schlecht riechen. Und Menschen, die man mag, duften wunderbar. Das Geheimnis der gegenseitigen Anziehung liegt im Geruch. Genau wie bei den Hunden. Bloß, daß die Menschen das nicht ahnen.

Irina konnte den Direktor einfach nicht küssen. Es wurde ihr schlecht dabei.

Dann tauchte ein Witwer auf. Sie hatten sich kennengelernt, als sie beide nach Kartoffeln anstanden. Der Witwer hatte ein Kind, einen Jungen, der genauso alt war wie Sascha. Er selbst war auch noch nicht alt, so um die fünfundvierzig, und sah ganz ordentlich aus. Irina fing an, es sich zu überlegen: Er hatte eine Wohnung, brachte ein Gehalt nach Hause … Aber eines Tages sagte der Witwer folgendes: »Gib du deinen Sohn deiner Mutter. Und Sneshana kann bei uns bleiben. Wir werden zwei Kinder haben – deine Tochter und meinen Sohn. Dann ist es ausgeglichen.«

Als der Sinn des Gesagten zu Irina vordrang, und das geschah in Sekundenschnelle, hörte der Witwer für sie auf zu existieren. Das heißt, er stand zwar im Moment noch im Zimmer, aber um zur Türschwelle zu kommen, sich anzuziehen und aus der Tür zu gehen, brauchte er drei Minuten. Danach verschwand er aus ihrem Leben und aus ihrem Gedächtnis.

Sascha war damals zwölf Jahre alt. Er war hoch aufgeschossen, mit dicken Knien an den ansonsten dünnen Beinen, wie ein Elchjunges. Er lief der Mutter ständig hinterher, trug schwere Taschen, half ihr, wie ein richtiger Mann. Irina beriet sich mit Sascha wegen ihrer Frisur und Schminke. Und er gab ihr Ratschläge, etwa: »Nimm nicht den dunkellila Lippenstift, mit dem siehst du aus wie eine Wasserleiche …« Irina wischte den damals modischen dunkellila Lippenstift weg und ersetzte ihn durch ein zartes Rosa. Und tatsächlich sah sie damit jünger und natürlicher aus.

Irina liebte ihren Sohn so sehr, daß ihr das Herz davon weh tat, obwohl sie seine Mängel genau sah: Er war träge, ohne Eigeninitiative … Aber was sollen schon Tugenden und Untugenden, wenn es um die eigenen Kinder geht. Die Mängel münzte Irina sofort in Positives um: Er war träge, aber dafür kein frecher Draufgänger. Er war eben bescheiden. Und diese Draufgänger überrannten einen, wie Nashörner, die alle menschlichen Werte niedertrampelten.

Als die Tür hinter dem Witwer zufiel, fing Irina an zu weinen. Aber ihre Tränen waren klar und stark. Sie verstand, daß sie im Bezug auf die Liebe nichts mehr zu erwarten hatte, und daß sie der Kinder wegen weiterleben und diese ganz in den Vordergrund stellen mußte.

 

Sneshana kam in die erste Klasse, und Irina kehrte zum Schulunterricht zurück. Die Tochter lernte gut, sie begriff wie im Fluge. Es war klar, daß sie ein ungewöhnliches Mädchen war. Auch die anderen bemerkten das.

Irina erwartete für sich selbst schon gar nichts mehr, und genau in diesem Moment machte ihr das Schicksal ein fürstliches Geschenk. Dieses Geschenk hieß Kjamal.

Zuerst hörte Irina nur seine Stimme.

Sie saß zu Hause, korrigierte Hefte, als das Telefon klingelte. Irina nahm ab und meldete sich: »Hallo?«

»Bitte rufen Sie Dshamal ans Telefon«, bat eine Männerstimme.

»Sie sind falsch verbunden«, sagte Irina höflich und legte den Hörer auf.

Sie konzentrierte sich auf das Korrigieren der Hefte, aber schon wieder läutete das Telefon und dieselbe Stimme sagte: »Bitte geben Sie mir Dshamal …«

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, Sie sind falsch verbunden.« Irina legte auf.

Es vergingen fünf Sekunden. Wieder klingelte das Telefon.

»Hier gibt es keinen Dshamal«, sagte Irina leicht gereizt. »Welche Nummer brauchen Sie denn?«

Die angenehme Männerstimme nannte die gewünschte Telefonnummer.

»Ja, dann wählen Sie doch auch diese Nummer«, sagte Irina bestimmt.

»Entschuldigen Sie, bitte«, entgegnete die angenehme Baritonstimme.

Irina legte auf, aber sie konnte sich schon nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren. Sicher würde er gleich wieder anrufen. Und er rief an.

»Hallo!« bellte Irina.

Am anderen Ende war Schweigen. Der unglückliche Besitzer des Baritons wagte schon nicht mehr nach Dshamal zu fragen.

»Sind Sie das?« hakte Irina nach.

»Ja«, gab der Bariton ehrlich zu.

»Auf der Vermittlung verbindet man vielleicht nicht richtig«, vermutete Irina.

»Und was soll ich jetzt machen?«

»Geben Sie mir die Telefonnummer von diesem Dshamal, ich rufe ihn an und richte ihm aus, daß er Sie anrufen soll. Wie heißen Sie?«

»Kjamal.«

»Und er kennt Sie?«

»Natürlich, ich bin ja sein Bruder.«

»Gut, ich sage Dshamal, er soll Sie anrufen. Wie ist die Nummer?«

»Meine?«

»Nein, Ihre doch nicht. Wozu brauch ich denn die? Die von Dshamal natürlich.«

Kjamal diktierte. Irina schrieb mit und legte den Hörer auf.

Dann wählte sie die nötigen Ziffern. Eine Stimme war in der Leitung zu hören, die der vorherigen bis aufs Haar glich. Kjamal und Dshamal schienen tatsächlich Brüder zu sein.

»Bitte rufen Sie Ihren Bruder Kjamal an«, sagte Irina in offiziellem Ton. »Er kann Sie nicht erreichen.«

»Und wer sind Sie?« fragte Dshamal.

»Die Telefonistin.« Irina legte auf. Sie konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Sie korrigierte vier Hefte, bevor das Telefon erneut klingelte.

»Vielen Dank«, sagte Kjamal. »Jetzt ist alles in Ordnung.«

»Na, wunderbar …«

»Und wie heißen Sie?« fragte Kjamal.

»Wozu wollen Sie das wissen?« fragte Irina verständnislos.

»Nun ja … Ich habe mich an Sie gewöhnt. Sie haben eine so schöne Stimme.«

Irina lachte.

»Wie wär’s, wenn wir uns einmal sehen und zum Beispiel ins Kino gehen«, schlug Kjamal vor.

»Und wie wollen Sie mich erkennen?«

»Halten Sie eine Zeitung in der Hand.«

Der Bariton klang ungefährlich und sehr zärtlich. Und überhaupt, warum sollte sie nicht mal wieder ins Kino gehen …

»Wie alt sind Sie eigentlich?« fragte Irina.

»Sechsundzwanzig. Schon sehr alt.«

Irina ließ den Kopf hängen. Sie war zweiunddreißig. Sechs Jahre älter.

Aber sie wollte ihn ja schließlich nicht heiraten. Miteinander ins Kino gehen kann man auch mit einem Altersunterschied von sechs Jahren.

»Na gut«, willigte Irina ein. »Ich werde ein Tuch tragen, weiß mit schwarzen Pünktchen. Wenn ich Ihnen nicht gefalle, gehen Sie einfach vorbei.«

»Aber Sie gefallen mir jetzt schon«, bekannte Kjamal freimütig.

Er war ein junger naiver Kerl. Das war kein Witwer mit dem Ruß von Lebenserfahrungen.