Anna Q und das Geheimnis des Haselbusches - Norbert Wibben - E-Book

Anna Q und das Geheimnis des Haselbusches E-Book

Norbert Wibben

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Beschreibung

Anna erschrickt, als sie zufällig die Statue von Augustus Back im Park des Internats genauer betrachtet. Woher kommt dessen große Ähnlichkeit mit dem unheimlichen Seid Greif aus der Anderswelt? Iain Raven und Morwenna Mulham recherchieren unter Hochdruck. Wenn sich bestätigt, dass der bösartige Cythraul mit Back verwandt ist, bedeutet es gleichzeitig, dass seine Wurzeln in dieser Welt liegen. Seit dem ersten Abenteuer in der Anderswelt sind nur wenige Wochen vergangen. Ainoa berichtet, dass sich die Ungeheuer in letzter Zeit bevorzugt auf den Inseln des Nordens aufhalten. Sie werden von dem Cythraul angeführt, der sich seltsam verhält. Warum sucht er ausgerechnet dort nach einem Übergang zwischen den Welten? Während Anna, Ainoa und Morwenna möglichen Erklärungen nachspüren, bekommt Iain Raven einen wichtigen Hinweis und verschwindet. Anna und Ainoa machen sich erneut auf die Suche in der Anderswelt, diesmal nach dem Schulleiter. Seine Spur führt über Katherin zu Minerva. Auch wenn die Schleiereule als äußerst klug gilt, wobei kann sie ihm behilflich sein?

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Seitenzahl: 350

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Anna Q

und das Geheimnis des Haselbusches

Fantasy-Roman

Norbert Wibben

Anna Q

und das Geheimnis des Haselbusches

Anna Q, Band 2

Für Monika,

ich liebe dich!

In Erinnerung an viele schöne Vorleseabende mit meinen Kindern verpacke ich auch diese Geschichte in den bekannten Dreizeiler:

Ein Huhn und ein Hahn – …

Plötzliche Erkenntnisse

Ein Picknick

Schach

Unerwarteter Besuch

Eisdrachen

Ainoas Sorgen

Eine Erleuchtung

Anreise zum Turnier

Schachwettkampf

Zusatzspiele

Fragen

Rechercheergebnisse

Auf den Inseln des Nordens

Weitere Ergebnisse

Wo ist Iain Raven?

Telefonate

Eine Beratung

In der Anderswelt

Ein erster magischer Sprung

Zurück aus der Anderswelt

Morwennas Hilfe

Der alte Wälzer

Zusammenfassung

Beginn der Suche

Wald der Riesenspinne

Strix Aluco

Troylinge!

Auf dem Berg

Der Nebelwald erscheint

Im Nebel

Trollkinder und ein Eisdrache

Meeresküste

Birken, nichts als Birken

Verirrt!

Ist ein Entkommen möglich?

Der Troll

Ein neuer Traum

Drachenangriff

Sternenbilder

Frühstück und Erklärungen

Ende der Herbstferien

Zaubersprüche

Danksagung

Plötzliche Erkenntnisse

Ein Huhn und ein Hahn – die Geschichte fängt an

Der Unterricht zieht sich heute wie ein Kaugummi. In der ersten Stunde steht Chemie auf dem Plan, was nicht zu Annas Favoriten zählt. In Muttersprache werden in der zweiten und dritten Stunde Aufsätze zu einem selbstgewählten Thema geschrieben. Das soll die Fantasie der Schüler anregen, doch Anna ist zuerst nicht ganz bei der Sache. Immer wieder driften ihre Gedanken zu den atemberaubenden Abenteuern, die sie in den letzten Tagen im Andersland erlebt hatte. Davon kann sie nicht schreiben, ohne ungläubiges Kopfschütteln zu ernten. Deshalb fällt es ihr äußerst schwer, die geforderten zwei Seiten zu füllen. Zuerst will ihr kein geeignetes Thema einfallen, und sie zerknüllt mehrere Blätter mit misslungenen Anfängen. Ausflüge in die hügelige Landschaft im Westen des Landes, oder auch in die zerklüfteten Berge des Nordens, erscheinen nur zuerst lohnend. Doch es werden langweilige Reisebeschreibungen.

Nach dem dritten misslungenen Anlauf breitet sich plötzlich ein Lächeln auf Annas Gesicht aus. Sie beginnt eifrig zu schreiben und schildert in einer kleinen Geschichte, wie sich ein Kolkrabe und eine Schleiereule einen Schlafplatz teilen. Die Eule nutzt ihn am Tag und der Rabe nachts. Erst nach mehreren Wochen bemerken die Vögel den jeweils anderen Gast, der den Unterstand auf einer Schafweide für diesen Zweck auserkoren hat. Anna greift geschickt auf erlebte Ereignisse in der Anderswelt zurück, doch sie hütet sich, den Vögeln Namen zu geben oder sich mit in die Handlung einzubeziehen. Mit Erstaunen stellt sie bei der Abgabe fest, dass es fünf engbeschriebene Seiten geworden sind.

Auf die folgende, vierte Stunde freut sie sich jedoch, da der Geschichtsunterricht ansteht. Obwohl der Schulleiter Iain Raven hauptsächlich Geschichte unterrichtet, übernimmt diese Aufgabe in den unteren Jahrgängen Professorin Jean Jorvik. Ihr Name passt äußerst gut zu ihrem Lieblingsthema: die Ausbreitung der Wikinger in England und Irland und deren Einfluss auf die anschließende Entwicklung in diesen Ländern. Jorvik war nicht nur die Bezeichnung für ihr Königreich in Nordengland, sondern auch für deren Hauptstadt. Diese Namensgleichheit hat sicher den Anstoß für die Vorliebe der Professorin gegeben, vermutet Anna und lauscht der mitreißenden Darstellung der Ereignisse, die im neunten Jahrhundert mit dem Einfall der Dänen und Norweger im Norden Englands begannen. Egal, was die Ursache war, die bildreiche Sprache fesselt alle Schüler. Auch wenn Anna wie stets den Worten der Professorin lauscht, kann sie es kaum erwarten, zum Picknick mit Robin zu kommen. Sie brennt darauf, ihm von ihren Erlebnissen in der Anderswelt zu berichten. Wie wird er wohl reagieren?

Nach einer kleinen Unterbrechung für eine Mittagspause steht Sport auf dem Plan, dann werden die Schüler in den Nachmittag und zur freien Gestaltung entsprechend ihren Neigungen entlassen. Anna stürmt als erste aus der Sporthalle und eilt durch den Park. Für das Picknick hat sie vom Frühstücksbuffet eine Banane und einen Apfel mitgenommen. Robin will etwas zu trinken mitbringen, vermutlich Rhabarber-Apfelsaft. Das ist sein Lieblingsgetränk, wie Anna inzwischen weiß.

Auf dem Weg durch die verschlungenen Parkwege werden ihre Schritte plötzlich langsamer, als ihr Blick auf eine Statue fällt. Sie ruft ein immer stärkeres Gefühl von Unwohlsein hervor, während sie sich ihr langsam nähert. Sollte es möglich sein? Die Statur des dargestellten Mannes erinnert sie vage an jemanden. Sie ist schon öfter daran vorbeigelaufen, warum zögert sie also heute und wagt es kaum, der Figur ins Antlitz zu schauen? Als sie es dann doch wagt, bestätigt sich ihre Befürchtung. Das Gesicht hat große Ähnlichkeit mit dem von Seid Greif! Und der dargestellte Mann trägt eine Brille, die der Professor Ravens ähnelt, und somit auch der, die der Fremde beim Wiedersehensfest der Elfen für Saphira getragen hatte. Eigentlich ist die Sehhilfe mit ihren runden Gläsern in dem Nickelgestell nicht außergewöhnlich, wäre da nicht der Verbindungssteg zwischen ihnen. Er bildet ein verziertes »A«, was leicht übersehen werden kann. Nur weil sich Anna gestern Nacht darüber mit Iain Raven unterhalten hatte, weiß sie, das »A« steht für »Aperio!«, dem Zauberspruch für etwas öffnen, offenbaren oder aufdecken.

Ein leichter Schauer läuft dem Mädchen über den Rücken. Es bleibt stehen und betrachtet das Gesicht der Statue. Anna schüttelt sich, schließt die Augen und öffnet sie langsam wieder. Es gibt keinen Zweifel, die große Ähnlichkeit deutet darauf hin, dass das Vorbild für diese Figur ein enger Verwandter des Fremden in der Anderswelt sein muss. Neugierig geworden schaut sie auf das Schild, auf dem ein Name angegeben ist.

Augustus Back

Gartengestalter und Schöpfer der Parkanlage.

»Ich muss dringend Iain Raven über diese Entdeckung informieren. Wenn ich mich beeile, wird Robin nicht zu lange auf mich warten müssen.« Anna wendet sich von dem Denkmal ab und rennt in die Richtung, die zum Haus des Professors führt. Ihr begegnende Schüler beachtet sie nicht besonders, weshalb sie erstaunt stehen bleibt, als sie angesprochen wird.

»Hallo Anna, wohin so eilig? Ist etwas passiert, brauchst du Hilfe?« Als sie die Schülerin anschaut, weiß sie zuerst nicht, wer das ist. Dann fällt es ihr ein.

»Nein, nein. Es ist alles ok, Britta. Ich muss mich lediglich beeilen, um nicht zu spät zu einem Treffen zu kommen.« Sie lächelt die ältere Schülerin an, die sie aus dem Schachclub kennt und hastet weiter. Wenige Minuten später sieht sie das Haus des Schulleiters. Als sie den Klopfer an der Tür betätigt und keine Reaktion erfolgt, wundert sie sich nur kurz. Ihr fällt ein, dass Iain Raven um diese Zeit vermutlich in seinem Büro im Internatsgebäude und nicht in dem Haus zu finden sein wird. Sie überlegt, ob sie dorthin gehen soll, wodurch sie unweigerlich zu spät zum Picknick kommt. Ob Robin dafür Verständnis zeigen wird, oder soll sie den Professor später informieren? Ist diese große Eile überhaupt notwendig? Sie steht vor dem eingezäunten Hühnerhof und betrachtet grübelnd das bunte Federvieh.

»Hallo Anna«, vernimmt sie plötzlich in ihrem Kopf, während ein Krächzen aus dem Geäst einer großen Linde zu ihr herüberschallt. »Was ist los mit dir? Hast du einen Geist gesehen?« Das Mädchen sucht mit ihren Blicken nach dem schwarzen Vogel und entdeckt ihn schließlich weit oben in der Baumkrone.

»Das könnte man fast sagen«, sendet sie und hofft, dass Ainoa sie hören kann. Sie weiß, dass sie hier über keine magischen Kräfte verfügt, doch ihre Verbindung zu der Elfe der Anderswelt, die in Annas Welt die Gestalt eines Kolkraben annimmt, soll laut Katherin für immer bestehen. Das hat die Elfenkönigin jedenfalls gesagt, als Anna zum ersten Mal in der Anderswelt war und dort von Ainoa mit Magie Lebensenergie übertragen bekommen hatte. Das Mädchen blickt nach oben und lächelt, als der große Vogel von dort zu ihr heruntersegelt. Im nächsten Moment hockt er auf ihrer Schulter und reibt seinen Kopf an ihrem Ohr.

»Hey, das kitzelt! Hör schon auf!« Obwohl das unfreundlich klingt, meint das Mädchen das nicht so. Das weiß der Kolkrabe offenbar, denn er hört nicht auf und kollert zusätzlich, was wie das Schnurren einer Katze wirkt.

»Was meinst du mit: »fast«, hast du eine Erscheinung gehabt?«

»So kann man es auch nennen. Du erinnerst dich sicher an diesen seltsamen Mann, der sich Seid Greif nannte. Du sagtest doch, er käme dir nicht nur verdächtig vor, sondern meintest auch, er müsse ein Mensch sein. –¬¬ Hier im Park gibt es ein Denkmal, das offenbar einen Verwandten von ihm darstellt!«

»Meinst du wirklich? Er hatte etwas Berechnendes an sich und seine Augen blickten eiskalt. Du hast ihm weder deinen richtigen noch deinen Geheimnamen genannt, weil ich dich warnte. – Zeig mir die Statue.« Sofort läuft Anna den Weg dorthin zurück. Dort angekommen klappert der Kolkrabe mit den Augendeckeln, legt den Kopf schräg und krächzt. »Es stimmt, die Figur könnte ein Duplikat von ihm sein. Was mag das bedeuten?«

»Ich wollte Professor Raven, du weißt schon, Auguste de Enaid, auf diese Statue hinweisen. Vielleicht hilft ihm das bei der Suche nach Informationen über Seid Greif. Ainoa, flieg bitte in die Luft hinauf. Ich höre Schüler näherkommen.«

Der Kolkrabe folgt der Aufforderung sofort.

»Ich warte in der Linde auf Neuigkeiten von dir«, sendet der schwarze Vogel dem Mädchen. Das nickt mehreren Schülerinnen aus ihrem Jahrgang zu, die über irgendetwas kichern. Sollten sie den von Annas Schulter wegfliegenden Raben bemerkt haben? Sie drehen sich immer wieder nach ihr um und tuscheln miteinander, selbst als sie bereits weiter fort sind. Anna bekommt davon nichts mit, da sie sich entschieden hat, zuerst Iain Raven von ihrer Beobachtung zu informieren.

Kurz darauf benutzt sie den Hintereingang des Internats. Ihr Atem geht stoßweise. In dem kühlen Flur begegnen ihr weitere Schüler. Sie achtet aber weder auf sie noch auf die Bilder an den Wänden. Sie eilt bis zur Vorderseite des großen Gebäudes und klopft an eine alte Eichentür. Auf einem Schild an der Tür steht lediglich »Schulleiter«. Sie wartet nicht, ob sie ein »Herein« hören kann. Das ist bei den dicken Türen nicht zu erwarten. Sie öffnet und blickt in einen verwaisten Vorraum. Nach dem Schließen des Eingangs durchquert sie das Zimmer und klopft an die nächste Tür.

Ein Picknick

Anna bemerkt keine Reaktion auf ihr Klopfen. War es vielleicht zu zaghaft, so dass es das Gespräch nicht übertönen konnte, das von innen zu ihr herausdringt? Die Schülerin zögert, soll sie heftiger gegen die Tür schlagen oder einfach eintreten? Die Stimmen klingen nur gedämpft durch die dicke Eichentür. Es ist unmöglich zu sagen, mit wem sich Professor Raven unterhält. Kurz entschlossen hämmert Anna mit der geballten Faust kräftig gegen das Türblatt. Sie fährt erschrocken zusammen, da das Klopfen lauter als erwartet ausfällt. Ihr rauschen die Ohren noch vom Laufen, so dass sie das sofortige Verstummen der Stimmen nicht mitbekommt.

Das: »Herein!«, vernimmt sie dagegen, da es laut und deutlich erklingt. Sie drückt die alte Messingklinke hinunter und öffnet die nach innen gehende Tür. Vorsichtig streckt sie den Kopf hinein.

»Entschuldigung, Herr Professor. Ich wollte keinen derartigen Lärm machen. Ich habe die Kraft meiner Schläge wohl unterschätzt. Oh, hallo Morwenna. Ähem, Entschuldigung, ich meine natürlich Frau Professor Mulham.« Verlegen über diesen Ausrutscher senkt das Mädchen den Blick. Doch sofort wird es aus seiner Unsicherheit gerettet.

»Hallo Anna«, begrüßt sie Iain Raven mit freundlichem Blick.

»Du darfst mich ruhig bei meinem Vornamen nennen«, beginnt fast gleichzeitig die Professorin. »Auch wenn wir jetzt nicht in unserem Schachclub sind, weiß Iain, dass ihr mich derart vertraulich ansprechen dürft, wenn wir unter uns sind. – Aber eine Frage hätte ich.« Die Bibliothekarin und Professorin für Strategie und Logik blickt das Mädchen aus ihren hellgrauen Augen durch die Brille mit den großen Gläsern streng an. Sie sitzt zusammen mit dem Schulleiter an einem großen Eichentisch, wobei sie wie stets die hagere Gestalt kerzengerade hält. »Warum versuchst du die Tür einzuschlagen? Ein leichtes Anklopfen hätte doch gereicht.« Im ersten Moment blickt Anna sie verdattert an, bis sie ein schalkhaftes Aufblitzen der Augen und Schmunzeln im Gesicht der älteren Frau zu erkennen meint. Deren früher schwarzen Haare sind schiefergrau und werden in einem Knoten auf dem Hinterkopf zusammengefasst.

»Aber«, beginnt Anna, »das habe ich doch versucht, wurde aber nicht bemerkt!« Sie ist sich nicht sicher, soll das jetzt doch eine Strafpredigt werden? Aber Morwenna lächelt sie verstehend an und Professor Raven schreitet vorsichtshalber ein.

»Lass mal gut sein, Morwenna. Vermutlich hat Anna mir etwas zu berichten vergessen, was zu den Ereignissen gehört, von denen sie heute Nacht erzählt hat.« Seine langen, weißgrauen Haare stehen wirr vom Kopf ab. Hellblaue Augen blicken kurz zur Professorin und richten sich anschließend auf das Mädchen. Die weißen, buschigen Augenbrauen scheinen fast mit dem zerzausten Eindruck der Kopfhaare konkurrieren zu wollen. Mit einer Handbewegung fordert er Anna auf, sich ebenfalls zu setzen. Doch sie lehnt ab und entschuldigt sich sofort.

»Danke. Ich möchte nicht unfreundlich sein, habe aber noch einen Termin, zu dem ich bereits zu spät komme. Ich habe tatsächlich noch eine wichtige Entdeckung gemacht, die bei der Suche nach der Identität von Seid Greif helfen könnte. Im Park steht ein Denkmal für den Errichter der Parkanlage, Augustus Back. Und ihm sieht der Mann aus der Anderswelt wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich.« Die beiden Professoren starren das Mädchen ungläubig an.

»Bist du dir ganz sicher?« Iain Raven staunt. »Morwenna und ich haben besprochen, wie wir am besten nach seiner Identität forschen können. Eine schnelle Suche im Internet führte bisher zu keinem Ergebnis. Hm. Wenn es stimmt, was du sagst, haben wir einen neuen Ansatz.«

»Es stimmt. Ainoa hat sich die Statue ebenfalls angesehen und bestätigt es.« Anna fühlt sich nicht beleidigt, weil sie ihre Aussage bekräftigen muss. »Ich verstehe nicht, wie sie etwas über diesen Seid Greif herausfinden wollen. Listen über Geheimnamen, die in der Anderswelt genutzt werden, gibt es doch sicher nicht, oder? In dem Fall wären sie vor unautorisierten Informationsabrufen sicher nicht zu schützen. Es wäre bestimmt irgendwelchen Hackerangriffen möglich, diese sensiblen Daten zu bekommen.«

»Das stimmt. Ich habe bisher die mir bekannten Informationen in verschiedene Suchmaschinen eingegeben. Dabei wurde mir der Vorschlag gemacht, ob ich statt »Seid« vielleicht »Said« meinen würde. Das ist ein im arabischen Raum üblicher Männername. Außerdem gab es Informationen über ein Fabelwesen, den Greif. Das ist ein mythisches Mischwesen mit meistens löwenartigem Leib, dem Kopf eines Adlers, mächtigem Schnabel und Flügeln. Mehr konnte ich bisher nicht herausbekommen und habe deshalb Morwenna um Mithilfe gebeten.«

»Einen Greif gibt es in der Anderswelt tatsächlich«, fügt Anna aufgeregt hinzu. »Katherin hat von ihm berichtet. Er wütet dort schlimmer als Eis- oder Feuerdrachen. Könnte es nicht sein, dass sich Seid Greif in diese Kreatur verwandelt. Sein Name würde dafürsprechen.«

Iain und Morwenna blicken anerkennend zu Anna.

»Du könntest mit dieser Vermutung richtig liegen«, der Professor wirkt hoffnungsvoll. »Wir suchen zuerst im Internet nach Verwandten von diesem Augustus Back.«

»Wenn das alles war, was du ins mitteilen wolltest, solltest du deine Verabredung nicht länger warten lassen«, lächelt Morwenna Anna wissend an. »Falls es um eine Schachpartie geht, ich lass mich heute in der Bibliothek vertreten, aber ihr könnt dort gerne spielen.«

»Wir treffen uns draußen, zum Picknick!«, erwidert das Mädchen sofort. Erst, als die Worte hinaus sind, bemerkt sie, dass sie mehr an Informationen preisgegeben hat, als sie vorhatte. Sofort kriecht eine leichte Röte ihren Hals hinauf. »Das war wirklich alles. Bis später, und viel Erfolg bei der Suche!« Anna dreht sich um und verschwindet hastig durch die Tür ins Vorzimmer. Dort atmet sie tief durch, bevor sie in den Flur hinaustritt. Auf dem Weg nach draußen ruft sie in Gedanken nach Ainoa. »Kommst du bitte dorthin, wo ich dich das erste Mal aus der Falle befreite? Ich habe eine Verabredung und bin viel zu spät.« Sie rennt durch die Flure und kümmert sich nicht um die erstaunten Blicke der anderen Schüler. Manche von ihnen schütteln den Kopf über das schlanke Mädchen mit dem schulterlangen, blonden Haar. Warum ist sie wohl wieder so in Eile?

Als Anna bei dem Haselbusch ankommt, wartet der Kolkrabe bereits auf sie. Er legt den Kopf schräg und krächzt:

»Wie soll ich dir nun helfen? Ein Wechsel in die Anderswelt und zurück könnte dir einen Zeitvorteil verschaffen. Willst du das?«

Das Krächzen versteht Anna nicht, wohl aber die Gedanken des Vogels, die dieser gleichzeitig sendet.

»Das ist nicht notwendig. Kannst du mich mit dem Portaro-Spruch zu einer bestimmten Stelle im Park bringen? Du setzt dich auf meine Schulter, ich schließe meine Augen und konzentriere mich auf die entsprechende Stelle und du bringst uns dorthin.«

»Klaro. Das geht mit Leichtigkeit. Aber hast du keine Sorge, dabei gesehen zu werden?«

»Also, hier sehe ich niemanden und dort wird bis auf Robin niemand sein. Und ihm will ich sowieso von uns berichten.«

Der Kolkrabe flattert zu ihr und klappert mit den Augendeckeln.

»Bist du sicher, dass das klug ist?«

»Ja! Bitte, mach schon!«

Im nächsten Moment flirrt die Luft neben dem Haselbusch und sofort darauf direkt auf dem Platz in der Nähe des Flusslaufs, wo der Junge wartet. Das bläuliche Gleißen der Luft lässt ihn sich die Augen reiben. Als er erneut zu der Stelle hinschaut, steht dort Anna, die einen großen, schwarzen Vogel auf der Schulter trägt.

»Hallo Anna. – Ist das … ein Rabe?« Robin staunt. »Ich war schon in Sorge, unser Picknick würde ausfallen. Ist etwas passiert? Habe ich zu lange im Sonnenschein gesessen oder hast du auch das komische Glitzern der Luft bemerkt?« Der Junge ist auf dem sonnenbeschienenen Platz von der Decke aufgesprungen und starrt das Mädchen und den Vogel an.

»Entschuldige meine Verspätung. Ich werde dir gleich den Grund sagen, wenn ich von unglaublichen Ereignissen berichte. Hm. Ich hoffe, sie sind es nicht wirklich, sonst bringt es nichts, sie zu erzählen.«

Der Junge blickt sie verwundert an.

»Du sprachst heute Morgen schon so rätselhaft. Wenn ich mich richtig erinnere, fragtest du, was ich von magischen Wesen, Zauberern und Drachen halte. – Das hat jetzt nichts mit deinen Recherchen zu tun, die dich vor Tagen in der Bibliothek vom Schachspiel abhielten?«

Ainoa legt den Kopf schräg und krächzt: »Willst du mich vorstellen, oder soll ich euch vielleicht besser allein lassen. Junge Liebe will manchmal nicht …«

»Halt deinen Schnabel«, sendet Anna empört ihre Gedanken an den frechen Vogel. Erneut breitet sich eine feine Röte auf ihrem Hals aus. »Ich beginne gleich!« Laut fährt sie an Robin gerichtet fort: »Ich sagte doch, dass ich Teil eines unglaublichen Geschehens geworden bin. Darin hatte ich es mit richtigen, feuerspuckenden Drachen zu tun.«

»Du sprachst beim Frühstück von einem Eisdrachen, dem du im Traum begegnet wärst. Spuckt der denn Feuer? – Außerdem sagtest du, Professor Raven habe dich ermahnt, dass du trotz der erlebten Abenteuer kein unterrichtsfrei bekämst. Heißt das, er kennt die Ereignisse, von denen du berichten willst?«

»Spann den Jungen doch nicht so auf die Folter!«, krächzt Ainoa.

»Mach ich doch nicht!« Dieses Mal spricht Anna aus, was sie eigentlich nur gedanklich an die Elfe senden will. Den Fehler bemerkt sie an Robins fragendem Blick.

»Entschuldige, das war für Ainoa bestimmt. – Ich beginne am besten mit dem Anfang der Ereignisse.«

»Das ist keine schlechte Idee«, keckert der Vogel krächzend.

Das beachtet Anna jedoch nicht und setzt sich mit Robin auf die Decke. Sie zerbröckelt einen der Schokokekse, die der Junge mitgebracht hat und streut die Krümel auf die Unterlage. Sie deutet darauf und sendet gedanklich: »Das ist für dich, du solltest es probieren.« Sofort folgt der Vogel der Aufforderung und hockt im nächsten Moment auf der Decke. Er legt den Kopf schrägt, klappert mit den Augendeckeln und nimmt vorsichtig einen ersten Krümel. Sofort kollert er zufrieden und schnappt sich das nächste Stück.

Das Mädchen wendet sich jetzt an den Jungen.

»Robin, ich möchte dir diesen Kolkraben vorstellen. Sein Name ist Ainoa und in Wahrheit ist er, besser gesagt, sie, eine Elfe. – Jetzt schau mich nicht so an, als ob ich verrückt geworden wäre. Es begann alles damit, als ich vor einigen Tagen in der Nacht ein Krächzen hörte. Eine Elfe, also dieser Rabe, steckte in einer Durchlauffalle, die vom Gärtner unter einem Haselbusch aufgestellt worden war.« Die nächsten zwei Stunden berichtet Anna. Sie wird nur gelegentlich vom Krächzen Ainoas unterbrochen, um eine Ungenauigkeit in dem Bericht zu korrigieren. Als das Mädchen endet, blickt es den Jungen flehend an. »Ich hoffe, du denkst jetzt nicht, ich sei verrückt geworden!« Robin schluckt mehrmals, so wie er es auch während des langen Berichts zwischendurch immer wieder gemacht hat. Dann wendet er sich zuerst an den schwarzen Vogel.

»Ich freue mich, dich kennenzulernen, Ainoa!« Dann blickt er Anna an. »Warum hast du mich nicht früher eingeweiht. Ich hätte doch mitkommen und dir, ähem, euch helfen können.« Anna fällt ein Stein vom Herzen. Robin glaubt ihr, das ist klar. Doch im gleichen Augenblick spürt sie, wie sich ihre Fäuste unwillkürlich ballen.

»Warum meinst du, dass ich deine Hilfe benötigt hätte? Wie du soeben gehört hast, haben wir Saphira nicht nur gefunden, sondern auch sicher aus dem Nebelwald nach Hause …« Hier wird das aufgebrachte Mädchen, dass sich erhoben hat, von dem Jungen unterbrochen.

»Halt! Sei nicht empört. Ich wollte keinesfalls andeuten, dass die Aufgabe mit meiner Hilfe besser oder schneller hätte gelöst werden können! Ich hätte dich nur zu gern begleitet, um die Wunder der Anderswelt mit eigenen Augen zu bestaunen. Außerdem …« Er macht eine längere Pause und blickt Anna direkt in die Augen, die sich währenddessen etwas verlegen auf die Decke setzt. »Ich verspürte im Nachhinein Sorge um dich! Mein Herz wollte bei deinem Bericht mehrfach stehenbleiben, so sehr fieberte ich um dich mit.« Die letzten Worte werden immer leiser, so dass sie kaum zu verstehen sind. Doch Anna und auch Ainoa haben ein feines Gehör.

»Ich glaube, ich lasse euch doch allein«, krächzt der Vogel.

»Das ist eine gute Idee«, sendet das Mädchen und wendet sich laut an Robin. »Auch wenn deine Sorge um mich im Nachhinein unnötig ist, freue ich mich darüber. Aber jetzt sollten wir uns beeilen, wenn wir nicht zu spät in den Speisesaal kommen wollen.« Auf das Gekrächze des Kolkraben antwortet sie so, dass der Junge es auch verstehen kann. »Danke für dein Angebot, Ainoa. Aber diesmal nutzen wir besser keine Zauberkräfte. Wir sehen uns vermutlich morgen Nachmittag. Lass es dir bis dahin gut gehen.« Der Vogel krächzt laut und schwingt sich in die Abendluft. Die Freunde packen die Decke zusammen und eilen zum Internatsgebäude.

Schach

Die Treffen des Schachclubs finden in festgelegten Abständen in der Bibliothek statt. Viele der Spielpaarungen setzen sich aus etwa gleichstarken Teilnehmern zusammen. Das sind beispielsweise Anna und Robin, Benjamin und Caitlin oder Alexander und Harald. Professor Mulham achtet aber darauf, dass die Gegner regelmäßig wechseln. Es liegt auf der Hand, dass sie damit die schwächeren Spieler fördert. Einige der Teilnehmer reagieren zuerst frustriert. Die Stärkeren fühlen sich gelangweilt, nicht genügend gefordert. Sie merken aber schnell, dass sie trotz ihrer vermeintlichen Überlegenheit genauestens aufpassen müssen, um keine Fehler zu begehen. Bei den offensichtlich Schwächeren wird nach ersten Niederlagen deren Ehrgeiz geweckt. Sie konzentrieren sich, rufen Spielzüge der Gegner aus ihrem Gedächtnis auf und kopieren sie.

»Ja, ja, ja!«, jauchzt plötzlich Finn, ein zwölfjähriger Junge mit dichten, rötlich braunen, gelockten Haaren und vielen Sommersprossen. Er besucht den zweiten Jahrgang der Schule, bildet mit der rechten Hand eine nach oben gerichtete Faust und stößt den Ellenbogen ruckartig nach unten. »Ja, ich habe ihn!« Sein Gegenüber, Alexander, kann es nicht fassen. Er, der bislang unumstrittene Champion der Schule, ist von einem der jüngsten Spieler besiegt worden!

»Ich gratuliere dir!« Auch wenn dieser Satz etwas gepresst über die Lippen des 15-jährigen Schülers mit der schwarzen Lockenpracht kommt, reicht er dem Jüngeren die Hand. Der strahlt übers ganze Gesicht.

»Danke!«, ist alles, was der erwidern kann. Sein Blick schweift in die Runde und zeigt seinen Stolz über den unerwarteten Sieg. Professor Mulham räuspert sich und bittet mit erhobenen Händen um Aufmerksamkeit.

»Ich gratuliere dir, Finn!« Sie nickt in seine Richtung, dann blickt sie dessen Gegner an. »Alexander, dir möchte ich auch meinen Glückwunsch aussprechen. Halt, ich will dich nicht auf den Arm nehmen! Ich meine es ernst! Deine Gratulation an Finn zeugt davon, dass du ein guter Verlierer sein kannst, wenn du denn mal in diese Rolle schlüpfen musst.« Das Gesicht des Jungen schwankt kurz zwischen Verärgerung und Verwunderung. Dann überzieht es ein breites Grinsen.

»Ich verstehe jetzt, warum wir starken Spieler ab und an gegen scheinbar schwächere antreten sollen, Morwenna. Es soll uns helfen, nicht überheblich und leichtsinnig zu werden. In einem Schachspiel steht der Sieger nicht von vornherein fest. Es gibt unzählige Faktoren, die dessen Ausgang beeinflussen können.«

»Richtig!«, bestätigt die Professorin. »Ich bitte euch, immer daran zu denken!« Sie macht eine längere Pause, in der die anderen Mitglieder des Schachclubs ihre Glückwünsche Richtung Finn laut oder auch nur mit Gesten kundtun. »Das gilt besonders für die folgende Überraschung, die ich für euch habe. – Wir bekommen die Möglichkeit, in zwei Wochen an einem Vergleichswettkampf gegen die Schachgruppe eines Internats einer bekannten Universitätsstadt teilzunehmen.« Plötzlich ist es vollkommen still in der Bibliothek. Weder ein Scharren der Füße noch ein gelegentliches Husten oder Räuspern ist zu hören. Alle Schüler sind baff und starren Morwenna Mulham an.

Alexander fasst sich ein Herz und beginnt: »Sind wir … ich meine … wie?«

Die Professorin lächelt in die Runde. »Ich verstehe, dass euch das überrascht. Und um auf die Fragen zu antworten: Ja, ich glaube, ihr seid so weit. Und das Wie? Wir werden mit dem Zug fahren.« In der Folge erläutert Morwenna, wie es zu der Absprache für den Wettstreit gekommen ist, als sie wegen besonderer Recherchen in dieser Stadt war. Obwohl sie den Grund nicht nennt, zumal der den anderen nichts sagen würde, wissen Anna und Robin sofort, dass sich die Nachforschungen auf Seid Greif bezogen.

In dieser berühmten Universitätsstadt ist Morwenna einer ehemaligen Studienkollegin begegnet, die ebenfalls die Schachgruppe eines Internats leitet. »Das dortige Schachteam nimmt regelmäßig an nationalen Wettkämpfen teil. Als ich bei Tee und Gebäck berichtete, dass wir im Aufbau eines derartigen Teams begriffen sind, machte sie den Vorschlag eines Vergleichswettkampfs. Es ist so, dass viele Spieler ihres Internats in der Vergangenheit nationale Sieger geworden sind. Und in der Teamwertung schaffen sie es regelmäßig unter die ersten fünf Plätze.« Die Professorin blickt in gerötete oder blasse Gesichter, die, je nach Temperament des Schülers, derart auf die Neuigkeit reagieren. »Innocent Green, das ist meine Studienkollegin, ist eigentlich eine liebenswerte Person.« In Gedanken sieht sie erneut, wie sie gemeinsam beim Tee sitzen. Ihre Kollegin hat grüne Augen, eine leicht rundliche Gestalt und ist 60 Jahre alt. Aus Eitelkeit nutzt sie nur gelegentlich eine Brille und färbt ihre Haare kastanienbraun, die zu einem unsymmetrischen Pagenkopf geschnitten sind. Sie trägt einen schwarzen Umhang, den sie rafft, um ihre etwas aus der Form geratene Figur zu kaschieren. »Ich kann verstehen, dass sie auf die Erfolge ihres Teams stolz ist. Trotzdem ärgerte mich ihre Äußerung, dass wir noch einen langen und steinigen Weg vor uns haben, wenn wir so ruhmreich wie ihre Schützlinge werden wollen. – Sie sagte, falls wir Hilfe benötigen, wäre sie gern bereit, uns einige Trainingsstunden zu gewähren. Das klang so überheblich, dass ich nicht anders konnte, als ihr quasi den Fehdehandschuh vor die Füße zu werfen. Ich erwiderte, dass es Talente in unserem Team gibt, die zwar noch keine gekürten Champions, aber jedem Vergleich gewachsen sind.« Sie schlägt kurz ihre Augen nieder. Weshalb sie derart gereizt auf das überhebliche Gebaren ihrer Bekannten reagierte, ist ihr im Nachhinein schleierhaft. Als sie aufblickt, sucht sie den Blickkontakt mit Alexander, Robin und vor allem Anna.

»Das hast du richtig gemacht, Morwenna!«, bestätigt Anna sofort. »Überheblichkeit kann ich genauso wenig ausstehen.« Bei diesen Worten schaut sie Alexander an, der kurz schuldbewusst wirkt. Beide denken an die Situation, als Anna vor Wochen den Jungen im Speisesaal zu einem Match aufforderte. Seine damalige Antwort hat sich in ihr Gedächtnis eingegraben.

»Ich trete nicht gegen Babys an! Wenn ich auf deine Forderung eingehe, ist das Spiel schneller beendet, als es dauert, die Figuren aufzustellen. Ich will vom Gegner wenigstens etwas lernen, wenn ich schon Zeit opfere. Wenn du verlierst, und das steht für mich unumstößlich fest, wirst du vermutlich zu flennen beginnen. Wie kann das wohl meine Fähigkeiten weiterbringen?«

»Du weißt, dass ich mittlerweile nicht mehr so denke!«, antwortet Alexander auf ihre nicht ausgesprochenen Gedanken. »Vielleicht hätte ich damals tatsächlich verloren, so wie heute gegen Finn. Wer kann das schon wissen.« Beide grinsen sich etwas verlegen an. In der Zwischenzeit sind sie bereits mehrfach gegeneinander angetreten, doch bisher hat es zu keinem Sieg für Anna gereicht, lediglich zu einigen Unentschieden.

»Zurück zu unserem Wettkampf!« Morwenna blickt eindringlich nacheinander alle Schüler an. »Ich möchte, dass ihr in jeder freien Minute in wechselnden Paarungen übt. Das muss nicht unbedingt in der Bibliothek sein, auch wenn ich sie von nun an täglich für euch bis abends gegen zehn offenhalte. Falls jemand für die Übungen ausfällt, springe ich ersatzweise ein. Beim Wettkampf ist das allerdings unmöglich. Je Altersstufe wird mindestens eine Partie gespielt werden, wünschenswert sind jedoch zwei. Mit entsprechender Zustimmung sind Überschneidungen der Altersstufen und ein Mehrfachantreten einzelner Spieler möglich, doch darauf können wir uns nicht verlassen. Innocent wird dem höchstens zustimmen, wenn auf unserer Seite jüngere gegen ältere Schüler auf ihrer Seite antreten, nicht umgekehrt. Sie will sich keinesfalls blamieren und wird ihre besten Spieler teilnehmen lassen. Ich fürchte, sie hat eine größere Auswahl als wir, das muss unsere Motivation ausgleichen. Außer den Alterspaarungen gibt es drei Zusatzspiele, deren Teilnehmer ausgelost werden. Das wurde von Innocent mit huldvoller Miene vorgeschlagen, damit wir vielleicht doch einen Sieg verbuchen können. – Ich HASSE diese Überheblichkeit!« Die Augen aller Schüler ruhen auf dem Gesicht der Professorin, deren Gefühlsausbruch so gar nicht zu ihr passt.

»Gibt es einen Preis, um den wir kämpfen?« Finns Frage unterbricht die Stille. Er blickt mit rotem Gesicht erst in die Runde und dann zurück zu Morwenna. »In jedem Wettkampf wird etwas ausgelobt, dass den Ehrgeiz der einzelnen Spieler antreiben soll. Bekommen wir einen Pokal, eine Urkunde – oder nur einen herablassenden Händedruck?«

»Gut, dass du danach fragst. Wir kämpfen nicht nur um die Ehre, auch wenn das für mich bereits ausreichen würde, diese hochnäsigen Universitätsstädter …« Sie hüstelt verlegen und fährt dann ruhiger fort. »Das Team aus dem Internat hat im letzten Jahr den Siegerpokal der Mannschaftswertung bei den nationalen Schachmeisterschaften gewonnen. Sollten wir die Hälfte der Spiele gewinnen, wobei die unentschieden gewerteten nicht berücksichtigt werden, bekommen wir diese Trophäe für drei Monate ausgeliehen. Außerdem will sich Innocent dann für unsere Teilnahme bei den Meisterschaften zum Ende des Jahres einsetzen, obwohl die Bewerbungsfristen dafür bereits abgelaufen sind. – Ob sie das tatsächlich machen wird, ist abzuwarten. Schließlich würde dadurch die Aussicht ihrer Mannschaft sinken, den Pokal erneut zu gewinnen.«

Unerwarteter Besuch

Der große Gong erklingt. Sein dunkler Ton dringt in alle Räume des alten Gebäudes und ruft zum Abendessen in den Speisesaal. Die wenigen Bibliotheksbesucher klappen die Bücher zu und bringen sie zu Professor Mulham, bevor sie den Leseraum verlassen. Die im abgegrenzten Bereich bisher in ihre Schachpartien vertieften Schüler blicken erwartungsvoll zu Morwenna. Hat sie erneut eine Ausnahmeregelung fürs Abendessen vereinbart, so dass sie weiterspielen können? Die Bibliothekarin kommt hinter der Abgrenzung hervor und fordert die Spieler auf, sie zu begleiten.

»Es ist den Köchinnen und ihren Helfern nicht zuzumuten, für uns jeden Abend Zusatzarbeiten nach der offiziellen Essenszeit zu leisten. Wir unterbrechen die Spiele und treffen uns in einer Stunde erneut. Also beeilt euch!« In diesem Moment erklingt der Gong zum zweiten Mal. Alle erheben sich und drängen aus der Bibliothek in den Flur, um rechtzeitig den Saal zu erreichen. Sie wissen, wer beim dritten Ton nicht dort ist, bekommt kein Essen. Anna und Robin warten, bis die Professorin die Tür verriegelt hat.

»Kann ich etwas für euch tun, ihr Lieben?« Ihr Blick ruht fragend auf deren Gesichtern. Der Junge weiß zwar, was Anna brennend interessiert, er wagt es jedoch nicht, anzufangen. Diese wiederum ist unsicher, wie sie beginnen soll. Sie hat ihren rechten Fuß mit den Zehenspitzen auf den Boden gestellt und die Hacke weist nach oben. Anna dreht ihn hin und her, wie sie es oft beim Überlegen macht. Morwenna fragt nach. »Ist es so schwierig? Ich reiß euch schon nicht den Kopf ab. Lasst uns Richtung Speisesaal gehen, damit wir dort noch etwas bekommen. – Moment, ihr wollt mir jetzt aber keine Absage für den Vergleichswettkampf erteilen? Ich rechne fest mit euch!« Die Professorin bleibt nach den ersten Schritten erschrocken stehen. Ihr tiefdunkler, blauer Umhang, der im zügigen Gehen hinter ihr her wehte, schwingt noch etwas nach.

»Nein, natürlich nicht!« Beide Schüler protestieren und setzen sich zusammen mit ihr wieder in Bewegung. Dann beginnt Anna, wobei sie verlegen seitlich zu Morwenna schaut.

»Ich habe Robin von der Anderswelt und meinen Erlebnissen dort erzählt.« Der Schulleiter Iain Raven hat ihr dringend davon abgeraten. Er befürchtet, gefährliche Wesen könnten umso leichter die Übergänge zwischen den Welten nutzen, je mehr Menschen des Diesseits darüber wissen und sich leichtfertig über diese Kreaturen unterhalten. Den Troylingen ist der Wechsel hierher einmal fast gelungen, als er selbst etwas unachtsam den Übergang zwischen den Welten nutzte.

»Du hast WAS?« Morwenna bleibt erneut stehen und starrt ungläubig auf Anna.

»Es war nicht zu vermeiden. Wir sind schließlich Freunde und ich wollte ihn nicht anlügen!«

»Aber …! Hm. Du hast selbstverständlich richtig gehandelt, ihn nicht zu belügen, aber musstest du ihm dann gleich alles erzählen?«

Erleichtert über die unerwartet milde Reaktion entgegnet Anna mutiger: »Wo hätte ich mit den Erläuterungen aufhören können? Wenn Robin mich nicht für durchgedreht halten soll, MUSS ich doch alles berichten. Nur in der Gesamtheit ist die Wahrheit erkennbar!«

»Hm. Da ist schon was dran. – Warum erzählst du mir das jetzt? Hat Ainoa dich erneut um Hilfe gebeten? Ist euch dieser Seid Greif womöglich hierher gefolgt?« Das Gesicht der Professorin wechselt von Erstaunen zu einem besorgten Ausdruck. Eine fahle Blässe unterstreicht ihre Gefühle. »In dem Fall sollten wir besser nicht zum Essen, sondern sofort zu Auguste de Enaid gehen.« An Robin gewandt erklärt sie: »Das ist der Geheimname von unserem Schulleiter Iain Raven, den er in der Anderswelt nutzt.«

»Das ist mir bekannt«, entgegnet dieser.

»Was? Woher kannst du … Ach, ich vergaß, Anna hat dir ja alles erzählt.«

Die Schülerin stellt sofort klar, weshalb sie die Professorin sprechen will. »Im Moment ist mir nichts von einer Bedrohung durch die Cythraul bekannt. Ich möchte lediglich wissen, wie der Stand der Recherchen zu Seid Greif ist. Konntest du ermitteln, ob er ein Verwandter von Augustus Back ist, von dem ein Denkmal im Park steht? Deswegen bist du doch vermutlich in der Universitätsstadt gewesen, oder?«

 »Das stimmt. Das, was ich herausbekommen habe, hilft uns leider nicht weiter. Ich schlage vor, wir reden nach dem Schach darüber. Wir sollten uns jetzt besser beeilen, wenn wir noch rechtzeitig im Speisesaal ankommen wollen.« Den erreichen sie, als gleichzeitig der Gong zum dritten Mal erklingt.

Nach den Schachübungen verlassen die Teammitglieder die Bibliothek. Als Morwenna mit Robin und Anna allein ist, schließt sie den Leseraum ab und verlässt mit ihnen das Internatsgebäude. Sie folgen den verschlungenen Wegen durch den Park, bis sie im hinteren Bereich vor dem Haus des Schulleiters stehen. Aus den seitlichen, kleinen Fenstern, dort wo sich die Wohnstube befindet, dringt gelblicher Lichtschein nach draußen. Die Professorin betätigt am Eingang den Türklopfer. Es dauert nicht lange, dann sind erst Geräusche und danach eine Stimme von innen zu hören.

»Was gibt es zu so später Stunde? Wenn es kein Notfall ist, hat es bestimmt Zeit bis morgen!« Die Stimme klingt nicht unfreundlich, die Tür wird aber nicht geöffnet. Wie bei den bisherigen Besuchen kann Anna die verschiedenen Nachtgeräusche plötzlich deutlicher vernehmen. Das Schuhu einer Eule erklingt nah und in der Ferne ein raues Krächzen. Sollte das Ainoa sein? Das Mädchen zieht die Augenbrauen hoch. Ist das ein übliches Begrüßungsszenario an der Tür dieses Hauses, das vielleicht durch irgendeinen Zauber des Professors aufgerufen wird?

»Iain, hier ist Morwenna Mulham. Bei mir befinden sich die Schüler Anna und Robin. Es ist kein Notfall, der uns herführt. Aber wir sollten Anna die Ergebnisse von unseren Recherchen mitteilen. Sie hat ein Recht darauf. Bitte öffne.« Erneut vergeht eine kleine Ewigkeit, dann rasselt ein Schlüssel und die Tür öffnet sich langsam. Ein greller Lichtschein fällt nach draußen und umhüllt die späten Besucher. Er stammt von einer Lichtkugel, die in Höhe der Hand des Professors schwebt, so dass sie leicht für eine starke Taschenlampe gehalten werden kann. Als Iain Raven sie gemustert und sich von der Wahrheit von Morwennas Äußerung überzeugt hat, schwächt er das helle Licht. Robin vermag seinen Blick nicht von der seltsamen Lichtquelle zu wenden, obwohl Anna ihm von Lichtkugeln berichtet hat. Etwas hören oder sehen, macht offenbar einen gewaltigen Unterschied.

»Warum kommt ihr zu so später Stunde und was hat der Junge hier zu suchen?« Die langen, weißen Haare stehen ihm wirr vom Kopf ab. Es wirkt so, als ob er sie sich gerade gerauft hätte.

»Ich habe Robin ALLES erzählt, Professor. Sie rieten mir zwar …«

»… das nicht zu tun, und das hat einen guten Grund!«, unterbricht Iain Raven sie. Unter den buschigen Augenbrauen sind seine Augen forschend auf das Mädchen gerichtet. Zuerst ist sein Blick ungläubig und auch ein wenig ärgerlich, weil es entgegen der Anordnung gehandelt hat. Dann glättet sich sein faltiges Gesicht und ein feines Lächeln erscheint. »Hm, ich sehe schon, auch du hattest einen guten Grund. Also kommt bitte herein! Wir sollten nicht im Freien und bei dunkler Nacht über diese Dinge reden.« Mit einladender Geste öffnet er die Tür und schließt sie, sobald sie eingetreten sind. Er eilt an ihnen vorbei und lässt den gerunzelten Blick durch seine Wohnstube streichen. »Wo sollen wir uns nur setzen? Ich habe zu so später Stunde mit keinem Besuch gerechnet«, murmelt er vor sich hin, während er beginnt, einige Bücherstapel vom Sofa auf den Boden zu stellen. Sein Blick wandert erneut umher. »Reicht das bereits? Nein. Der Stuhl dort muss auch freigemacht werden. Der Junge, wie heißt er noch …? Jedenfalls braucht er auch einen Platz.« Iain Raven vermittelt den Eindruck eines verwirrten Professors, was aber keinesfalls stimmt. Die vielen Bücher und Papiere sind in einem bestimmten System geordnet, das er durch den Platzbedarf für seine Besucher durcheinanderbringen muss. Während er vor sich hinmurmelt, versucht er gleichzeitig, sich die geänderte Position der verschiedenen Stapel einzuprägen. Ein letzter prüfender Blick, dann ist er zufrieden. »Bitte setzt euch, aber seid vorsichtig, damit ihr keinen Bücherstapel umwerft.«

Das passiert Robin beinahe, der immer noch von der Lichtkugel fasziniert ist. Die ist mittlerweile zur Zimmerdecke hinaufgeschwebt und leuchtet von dort in einem warmen, leicht gelblichen Schein auf sie herab. Mit dem Blick zur Decke gerichtet, stößt er gegen einen Bücherturm aus besonders dicken und alten Wälzern. Zum Glück reagiert er schnell und verhindert, dass der Stapel umkippt. Vor dessen Folgen graut es Iain Raven. Weitere Türme wären unweigerlich in Mitleidenschaft gezogen worden. Das dadurch verursachte Durcheinander der Bücher und Papiere würde eine wochenlange Neusortierung erfordern.

Noch bevor der Schulleiter reagieren kann, ruft Robin: »Verzeihung! Ich … war etwas abgelenkt.« Erst als alle sitzen, atmet der Professor erleichtert auf.

»Darf ich euch etwas anbieten? Einen heißen Kakao vielleicht? Danach lässt es sich wunderbar schlafen!« Er nimmt die Zustimmung offenbar als gegeben hin, denn er erhebt sich gleich wieder und eilt geschäftig in den Nachbarraum. Robin schaut Anna erstaunt an. Sein Blick scheint zu fragen, ob sich der Schulleiter bei ihren Besuchen auch derart verhalten hat. Bevor sie etwas zu erwidern vermag, äußert sich Morwenna.

»Iain lebt für seine Recherchen, die sich oft auf historische Ereignisse beziehen. Das ist nicht weiter verwunderlich, da er Geschichte in den höheren Jahrgängen lehrt. Er tauscht sich darüber oft mit Professoren berühmter Universitäten aus. Das hat er in den letzten Jahren etwas vernachlässigt, weshalb er kaum noch Besuch von außerhalb bekommt. Die Ursache liegt in seinen Forschungen zur Anderswelt, über die er nicht mit anderen spricht. Ich bin bisher eine Ausnahme, obwohl ich lediglich einmal als junges Mädchen dort gewesen bin. Seit einigen Wochen redet er auch immer wieder mit Anna, besonders deshalb, weil das Rätsel um Seid Greif gelöst werden muss.«

»Ich befürchte, dass eine große Gefahr von diesem Mann ausgeht!« Das Hereinkommen des Professors haben sie überhört. Ob seine eindringlichen Worte sie deshalb erschauern lassen, ist nicht klar. Ihre Blicke richten sich auf ihn, der auf einem Tablett vier dampfende, große Tassen trägt. Er reicht jedem eine davon, die angenehm nach heißer Schokolade und etwas Zimt duftet. »Aber jetzt trinken wir erst einmal von diesem wunderbaren Getränk. – Habe ich euch schon verraten, dass ich ein Geheimrezept dafür nutze? Hm, möglicherweise habe ich das. – Sobald sich dessen Wärme wohltuend in unseren Körpern ausbreitet, werden Morwenna und ich euch mitteilen, was wir bisher erfahren haben.«

Eisdrachen

Anna fühlt sich unbehaglich. Woher kommt nur das Gefühl, die Situation bereits einmal erlebt zu haben? Ihr Kopf ruckt nach oben. Was war das soeben für ein Schrei? Sie sucht den Himmel ab. Dort ist nichts Ungewöhnliches zu entdecken! Doch halt! In der Ferne ist knapp oberhalb des Horizonts, in dem leicht bläulichen Morgendunst ein kleiner Punkt wahrzunehmen! Verändert er seine Größe, bewegt er sich, oder warum zieht er ihre Aufmerksamkeit auf sich? Nach mehreren Augenblicken ist sie überzeugt, dass er langsam größer wird. Mit dieser erschreckenden Erkenntnis schafft sie es endlich, ihren Blick von dort in die nähere Umgebung zu richten. Hastig hält sie Ausschau nach einem Versteck, ohne eine Ahnung zu haben, wo sie in der unwirtlichen Gegend dieses Berggipfels einen nur annähernd dafür geeigneten Platz finden soll. Anna schaut zu dem dunklen Höhleneingang, aus dem sie vorhin herausgetreten ist, als ein erster, schriller Schrei in ihr Bewusstsein dringt. Könnte sie darin sicher sein? Falls sich ihre Vermutung bestätigt, dass ein Eisdrache hierher unterwegs ist, versucht sie ihr Heil besser in einer schnellen Flucht. Sie muss einen möglichst großen Abstand zu diesem Ort schaffen, bevor das Untier ihn erreicht hat. Dessen Vermögen, geringe Spuren von Wärme wahrzunehmen und so Opfern zu folgen, ist etwas, was Annas Unruhe steigert.

Ihr Blick richtet sich auf einen verzierten Elfenbogen und den Köcher mit Pfeilen, die sie mit einer Hand umklammert hält. Einen Moment überlegt sie, ob sie aus der vermeintlichen Sicherheit der Höhle einen gezielten Schuss auf die Unterseite des Drachen abgeben sollte. Ihre linke Hand beginnt unbewusst einen gefiederten Schaft herauszuziehen, um ihn auf die Sehne zu legen, als ein neuer Schrei zu ihr herüberweht.