E. A. Rabe und der Herr der Bücher - Norbert Wibben - E-Book

E. A. Rabe und der Herr der Bücher E-Book

Norbert Wibben

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Beschreibung

Die zwölfjährige Emma Anna Rabe wächst in einem heimeligen Zuhause auf. Nach einem Unfall verbringt sie ihr Leben in einem kalten Waisenhaus. Sie vermisst ihre Tante Anna sehr und flüchtet zeitweise in eine Traumwelt. Eine Gruppe älterer Jungs drangsaliert die anderen Insassen. Eines Tages lauern sie Emma auf. Ihr bleibt als einzigem Ausweg nur die Flucht in den obersten Stock, zu dem der Zutritt strikt verboten ist. Dort lernt sie den Herrn der Bücher kennen. Der verhindert, dass ein bösartiger Herrscher und dessen Dämon die Anderswelt Eldarkya verlassen können. Verwirrende Träume, lautes Piepen und Satzfetzen schrecken das Mädchen auf. Das mutige Kind fragt sich, wie Annas Autounfall, die Suche nach Hilfe für den Herrn der Bücher und die auf Regeln bestehende Heimleiterin zusammenpassen. Die Ereignisse im Waisenhaus vermischen sich mehr und mehr mit früher Erlebtem. Muss Emma an ihrem Verstand zweifeln?

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 334

Veröffentlichungsjahr: 2024

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E. A. Rabe

und der Herr der Bücher

Fantasy-Roman

Norbert Wibben

E. A. Rabe

und der Herr der Bücher

Für meine wunderbaren Kinder,

Danke für eure Liebe!

In Erinnerung an viele schöne Vorleseabende mit meinen Kindern verpacke ich auch diese Geschichte in den bekannten Dreizeiler:

Ein Huhn und ein Hahn – …

Halbschlaf?

Ein normaler Tag

Grayhome

Eine Zwölfjährige

Flucht!

Ein verbotener Raum

Ortswechsel

Alexander Buchbinder

Fragen

Das Notizbuch

Besuch in der Bibliothek

Suche nach Informationen

Unterricht

Vorbereitung

Ein Traum

Auf in die Bibliothek

Neue Rätsel

Verschlafen

Entscheidung

Ein neuer Versuch

Halbschlaf?

Träume?

In der Nacht

Unvorsichtigkeit

Überlegungen

Erklärung

Unruhe

Im Traum

In Grayhome

Trennungsschmerz

Unfall?

Fragen

Unerwartet

Rätsel!

Klärungsversuch

Grübeleien

Visionen oder Realität?

Eine Unterredung

Versuch

Unerwartete Realität

Wichtige Hinweise

Danksagung

Halbschlaf?

Ein Huhn und ein Hahn – die Geschichte fängt an

Mit umherirrendem Blick versucht Emma, eine Erinnerung daran aufzurufen, wo sie sein könnte.

»Warum ist mir so kalt?«, überlegt sie, sich aufrichtend. Trotz dieses Gefühls bibbert sie nicht. Sie befindet sich offenbar in einem Raum, der sie wegen der weißen Decke und der hellen Wände an das Innere eines Iglus erinnert. Dieser Eindruck entsteht, obwohl das Zimmer eine außergewöhnliche Höhe hat. Das passt nicht zu einer Schneeunterkunft. Weshalb hat sie dann unwillkürlich gedacht, dass sie sich darin befände? Liegt das daran, weil ein unbestimmtes Licht alles leicht bläulich schimmern lässt?

»Warum sollte ich mich in einem Iglu befinden«, sucht sie in der Erinnerung. »Woher weiß ich, wie es sich in dem Gebäude lebt, ohne jemals in Grönland gewesen zu sein?« Aber aus welchem Grund wäre der Gedanke sonst soeben wie eine Sternschnuppe in ihrem Kopf erschienen, überlegt sie.

Emma schließt verwirrt die Augen und versucht, durch ruhiges Überlegen herauszubekommen, wo sie sein könnte. Sollte sie sich statt in einem Schneehaus in einem Krankenhaus befinden? Dazu würden die hohen Wände und die Ecken passen, die diese bilden. Aber weshalb könnte sie dort sein, ihr geht es doch nicht schlecht, oder? Gleichzeitig interessiert es sie brennend, wer sie ist und warum sie sich in dieser unerklärlichen Situation befindet. Für einen kurzen Moment erblickt sie das Gesicht einer etwa vierzigjährigen Frau.

»Das ist Tante Anna!«, erkennt Emma sie. Ihr wird sofort warm ums Herz. »Sie ist die Schwester von Mom. Ich bin bei ihr aufgewachsen.« Sie fragt sich, warum ihre Mutter so jung gestorben ist. Sie weiß unbewusst, dass sie sich die Frage nicht zum ersten Mal stellt. »Hätte sie den Unfall nicht mit etwas mehr Glück überleben können?« Sie schüttelt die Gedanken ab, die sie bereits früher vergeblich zu beantworten versucht hatte.

Stattdessen konzentriert sie sich auf ein Wort, das jetzt erscheint.

»Sternschnuppe. – Das ist ein junger Rabe, so gesehen ein Vogelkind!«

»Genauer gesagt, ein Rabenmädchen«, vernimmt sie eine fremde Stimme in ihrem Kopf. »Du hast mich das erste Mal vor etwas längerer Zeit kennengelernt.«

Das Mädchen reißt die Augen erschrocken auf und sucht nach demjenigen, der zu ihm gesprochen hat. Seltsamerweise ist nirgends jemand zu bemerken! Woher kamen dann aber die belehrend klingenden Worte?

»Aus der Erinnerung!«, sagt sich Emma. »Ich könnte den Vogel so genannt haben, obwohl das nicht besonders gut zu passen scheint. Oder könnte das Albert Brand gewesen sein?« Sie legt die Stirn in Falten. Ihr Klassenlehrer trägt diesen Namen und unterrichtet Mathematik, Lesen und Schreiben. Heimlich, und nur für ausgesuchte Kinder, lehrt er auch Naturwissenschaften. Er würde diese Bezeichnung vermutlich kaum für den schwarzen Vogel gewählt haben, ist sie andererseits überzeugt.

Der Lehrer darf seit einigen Jahren nicht mehr sein Lieblingsfach Biologie, sondern offiziell lediglich Rechnen sowie Rechtschreibung und Lesen vermitteln. Die Heimleiterin hat die wissenschaftlichen Fächer verboten. Albert gibt sein Wissen in der Freizeit trotzdem heimlich an wenige Kinder weiter. Warum Emma Rabe zu dieser Schar Ausgewählter gehört, versteht sie nicht. Vielleicht, weil sie wissbegierig alles hinterfragt und nicht mit der ersten Erklärung einverstanden ist? Dennoch stellt sie das nicht infrage und freut sich vielmehr auf den untersagten Unterricht.

Obwohl diese Gedanken nur aus ihrer Erinnerung auftauchen, fühlt sie sich sofort sicherer und die eben noch aufsteigende Panik verschwindet.

»Es gibt für alles eine logische Begründung«, vernimmt sie Albert Brands belehrende Stimme. »Selbst wenn sie nicht spontan auf der Hand liegt oder durch eine langandauernde Suche gefunden werden kann. Sie existiert immer!«

Sie ist nahe daran, erleichtert zurückzusinken und sich auszustrecken, um wieder einzuschlafen. Halb niedergesunken schreckt sie jedoch auf und sitzt sofort erneut aufrecht im Bett.

»Wenn ich nicht weiß, wie ich hierherkomme und warum ich hier und noch dazu alleine bin, wage ich nicht zu schlafen. Das wäre trotz der niedrigen Temperatur zwar verlockend, kann aber gerade deswegen schnell tödlich enden. Womöglich ist der Grund, weshalb ich hier bin, dass ich sterben soll! Vermutlich taucht in wenigen Augenblicken ein Feind auf, der meinen Tod will! Sobald ich vor Kälte schwach bin, kann ich mich nicht ausreichend wehren.«

Emmas Herz beginnt heftig zu schlagen und Adrenalin verteilt sich blitzschnell in ihrem Körper. Dennoch befindet sie sich immer noch in einer Halbwelt zwischen Traum und Wirklichkeit. Gleichzeitig fragt sie sich, warum sie in Gefahr sein sollte. Könnte ihre Fantasie dafür die Ursache sein? Tante Anna hatte sie manches Mal als ungewöhnlich lebhaft bezeichnet, begleitet von einer großen Wissbegierde.

»Ist es nicht in jeder Geschichte so, dass ein Bösewicht nur auf die Gelegenheit wartet, den vermeintlich wehrlosen Helden eines Romans zu besiegen oder gar zu töten?«, fragt sich Emma. Sie spürt, wie sie von einer sich steigernden Unruhe ergriffen wird. »Ich mag ja vieles sein, aber sicher kein möglicher Sieger im Kampf gegen Böses! – Und woher weiß ich, wovon Erzählungen handeln?«

Das Mädchen ist nicht richtig wach. Es ist noch im Halbschlaf gefangen. Sonst würde es schnell bemerken, dass es sich keineswegs allein in dem großen Raum, einem Schlafsaal befindet. Emma wüsste gleichzeitig auch, dass sie gern liest. Vor ihrem inneren Auge erscheinen nebeneinander gereihte Bücher. »Sollte ich die gelesen haben? Sie wirken jedenfalls vertraut und ihr Anblick fast heimelig. Könnten die Worte, ebenso wie die Fragen, aus ihnen stammen?«

Im gleichen Moment scheint sie sich auf einen der alten Bände zu konzentrieren. Wie durch eine Lupe betrachtet vergrößert sich die Prägung auf dessen Buchrücken. Darauf wird eine gefiederte, nein, eine schuppige Kreatur mit einem schreckenerregenden Kopf sichtbar.

»Soll das eine Schlange sein?«, fragt sich Emma. Sie korrigiert sich sofort. »Das könnten auch ein Drache oder ein Dinosaurier sein«, ist sie überzeugt. »Wird so ein möglicher Gegner aussehen, der es auf mich abgesehen hat? – Im ersten Moment sah das Wesen aus, als könne es meine Sternschnuppe sein. – Das ist jedoch unmöglich! Die ist ein Rabenkind und besitzt ein prächtiges Federkleid!«, stellt sie mit Überzeugung fest. »Dieses Abbild scheint dagegen eher zu einer anderen, weit älteren Kreatur zu gehören.«

Vor ihren Augen taucht das junge Rabenmädchen auf. Obwohl es mit einem Kolkraben verwechselt werden könnte, ist es dennoch ein echter Rabe. Für einen Vogelkundler wäre der Unterschied sofort erkennbar, wenn er den Vogel denn zu Gesicht bekommen würde. Hinzu kommt, dass das Tier magische Kräfte besitzt.

»Sternschnuppe würde mich retten!«, ist sie überzeugt. Sollte sie trotzdem Angst haben? Oder warum sonst läuft ihr bei Betrachtung des Buchrückens ein Schauer nach dem anderen über den Rücken? Rötlich leuchtende, große Augen mit länglich senkrechten, ovalen Pupillen blicken eindeutig lauernd herüber. Sie wirken äußerst bösartig, hinterlistig und fixieren sie! Bedeuten sie Gefahr, weil sie zu einem Feind gehören?

Das Bild verblasst und ist kurz darauf verschwunden. Gleichzeitig breitet sich eine unerklärliche Ruhe aus. Zeigt das, dass sich die Situation aktuell entspannt hat?

Nein, es liegt einfach daran, dass sich das Rabenmädchen sozusagen in den Vordergrund schiebt und die mögliche Bedrohung in weite Ferne verdrängt.

Das Mädchen gleitet zufrieden zurück und beginnt einzudösen. »Meine Freundin würde nicht zulassen, dass mir Böses widerfährt«, ist es überzeugt. »Sie würde mich sogar vor Rubina Unhold beschützen, die alle kleineren Waisenkinder drangsaliert! Oder auch vor Wilhelm Barkow, der Freude daran hat, andere Kinder zu verprügeln.«

Eine keifende Stimme dringt in ihr Bewusstsein. »Rabe, träume nicht! Deine Aufgabe ist es, den Boden der Küche und der Essensausgabe zu reinigen. – Strafe muss sein!« Die Worte stammen unverkennbar von M. Andra-Gora. Das ist die Leiterin des Kinderheims, in dem sich Emma befindet. Die Frau hat sie manches Mal in ungerechter Weise bestraft. Könnte sie in diesem Augenblick in der Nähe sein?

Das Mädchen kämpft gegen die Müdigkeit an und versucht, sich erneut aufzusetzen. Dadurch hofft es, dem unwirklichen Zustand zwischen Traum und Realität zu entkommen. Ihm wird zunehmend bewusst, dass es sich in einem Schlafsaal befinden muss. Sollte es im Moment die Aufsicht über jüngere Waisen haben? In dem Fall darf es nicht einschlafen, weil sonst unweigerlich eine Bestrafung folgt, würde das entdeckt werden! Ist das vielleicht sogar soeben geschehen, und deshalb war die Stimme von M. Andra-Gora zu hören?

Emma weiß, Sternschnuppe existiert lediglich in ihrer Fantasie. Wie sollte ein erdachtes Geschöpf sie dann gegen die Ungerechtigkeiten in Grayhome beschützen können? Die Augenlider werden trotz aller Anstrengung immer schwerer und sind schließlich nicht mehr offenzuhalten.

Das Kind befindet sich weder in einem Iglu noch in einer Küche, wo es den Fliesenboden reinigen soll. Es liegt vielmehr auf einem Bettgestell in einem Schlafsaal und kuschelt sich erleichtert in die Decke, die bisher zum Teil unter ihm lag. Daraus resultierte auch die empfundene Kälte, die sie halb aufweckte.

Emma Anna Rabe, denn so lautet der komplette Name des Mädchens, muss zudem etwas Aufwühlendes geträumt haben, aus dem es nicht vollkommen wach geworden war. Wenige Momente später gleitet sie zurück in das Land der Träume. 

Ein normaler Tag

Ein Wecksignal erklingt. Emma sträubt sich im ersten Moment, zu erwachen. Tief im Innersten weiß sie, dass sie vor ihrem derzeitigen Leben nicht davonlaufen kann. Da hilft auch schlafen nicht. Sie hatte eine unruhige Nacht mit seltsamen Träumen. Gegen Morgen änderten sie sich und handelten schließlich von den glücklichen Tagen mit Tante Anna. Das Mädchen würde diese Zeit gern erneut erleben können.

Emma vernimmt Geräusche der anderen Kinder im Schlafsaal, die ebenfalls aus einer vermutlich angenehmeren Traumwelt in die harte Realität aufwachen. Sie schlägt die Augen auf und blickt sich um. Die Wände des Raums sind schmucklos und wirken steril. Lediglich die Fenster sorgen für etwas Wärme. Sie lassen den freundlichen Schein der Morgensonne hereinblinzeln.

Emma seufzt. Sie befindet sich inzwischen seit gefühlt einem Jahr in diesem Heim für Waisenkinder. Trotzdem hofft sie bei jedem Erwachen, dass das Leben bei Anna nicht vorbei sein kann. Ihre Gedanken wollen sich verselbstständigen und zurück in die glückliche Kindheit schweifen. Doch das versucht sie mit einem energischen Straffen der Schultern entschlossen zu unterbinden.

Die anderen Kinder verhalten sich teilweise wie sie. Sie kuscheln sich in ihre Decken, um noch so lange wie möglich die Wärme zu spüren. Das wird für die kommenden Stunden alles sein, was sie Angenehmes geboten bekommen. Viele ziehen bereits ihre Kleidung an und hasten hinaus zu den Sanitäranlagen.

»Ich muss mich beeilen und rechtzeitig die Morgentoilette beenden, damit ich …« Ihr Blick sucht die große Wanduhr. »Es ist etwas nach halb acht. Könnte ich vor dem Frühstück noch einen kleinen Spaziergang über das Gelände machen?«, überlegt sie kurz.

Der ehemalige Park zeigt an einigen Stellen einen schönen Anblick, der an seine frühere Pracht erinnert. Und das, obwohl die pflegenden Hände vieler geübter Gärtner fehlen.

Heute gibt es für diese Aufgabe nur noch den vom Alter gebeugten Harms. Emma muss bei den Gedanken an ihn lächeln. Sie mag diesen Mann mit dem verwitterten Gesicht. Seine Augen scheinen sie anzustrahlen, sobald sie sich mit ihm unterhält. Ob das daran liegt, dass er sonst kaum Gesellschaft hat? Die anderen Kinder folgen seiner Anleitung im Schulgarten, reden jedoch nicht mehr als nötig mit ihm. Für sie ist er lediglich ein Angestellter, der seine Aufgabe erfüllt. Warum sollten sie dann freundlich zu ihm sein? Er bekommt doch Geld für seine Arbeit, das muss reichen, meinen sie offenbar.

Anders dagegen Emma. Sie hat schnell bemerkt, dass der Mann einsam ist wie sie. Das liegt vermutlich daran, dass sie erst seit kurzer Zeit in dem Heim untergebracht und deshalb feinfühliger für derartige Empfindungen ist. Manchmal zweifelt sie, ob die Monate hier nicht vielleicht einem Traum entsprungen sind. Das wäre allerdings ein andauernder Alptraum, in dem sie von Anna getrennt ist. Der Zeitraum kommt ihr einerseits wie eine Ewigkeit vor und das Bild vom Gesicht der Tante scheint allmählich zu verblassen. Andererseits könnte sie nicht erzählen, was sie in der Zeit gemacht hat. Sollten es eher Wochen oder gar Tage als Monate sein?

Nach Annas unerwartetem Tod hatte das Jugendamt versucht, Verwandte zu finden, bei denen das Mädchen hätte unterkommen können. Das blieb ohne Erfolg, weshalb es schließlich in Grayhome landete, dem Heim für Waisen.

Der Gärtner wird von allen nur Harms genannt, wobei nicht klar ist, ob das sein Vor- oder Familienname ist. Er ist ein durch die harte Arbeit ungezählter Jahre inzwischen gebeugt gehender Mann. Er hatte bereits als Jugendlicher eine Ausbildung zur Pflege der weitläufigen Anlagen durchlaufen. Er wurde von den ursprünglichen Eigentümern Grayhomes als Einziger der vielen Bediensteten bis zuletzt beschäftigt. Der Verein, der das Gebäude und einen Teil des Geländes ersteigerte, stellte ihn dann für die Anleitung der Waisenkinder in Gartenarbeit ein.

Hin und wieder kümmert sich Harms auch um die Pflege der ehemals prachtvollen Parkanlage. Doch als Einzelkämpfer mit nur gelegentlicher Unterstützung durch die Heimkinder, beschränkt sich das lediglich darauf, die Wege von darüber wucherndem Buschwerk freizuhalten. Weißgraue, fast silberne Haare stehen ihm wirr vom Kopf, wenn er einmal seine blau-grau karierte Schirmmütze abnimmt. Das kommt jedoch nicht häufig vor. Er nutzt sie sogar im Sommer, obwohl sie aus Wolle besteht. Er trägt eine Leinenhose und hohe, derbe, braune Lederschuhe. Ein grüner Pullover ist sein Lieblingskleidungsstück und wird selten gegen einen vom gleichen Schnitt in dunkelblauer Farbe gewechselt. »Ab und an muss der schließlich gewaschen und getrocknet werden«, erklärt er dann.

Emma taucht aus ihren Gedanken auf. Sie schüttelt unbewusst den Kopf und ihre schulterlangen, mittelblonden Haare fliegen hin und her. »Jetzt hätte ich doch beinahe meine Strafe vergessen! Da bleibt keine Zeit, im Park spazieren zu gehen!«

Sie springt aus dem Bett und zieht sich hastig an. Sie überlegt nicht lange, welche Fußbekleidung sie wählen soll.

»Ich werde Gummistiefel für die Strafarbeit anziehen«, grübelt sie. »Die sind einfach praktischer bei der Gartenarbeit, die ich aufgebrummt bekommen habe.« Sie weiß, dass sich die in dem kleinen Haus des Gärtners befinden, das neben den Gartenbeeten steht. Sie haben dort beinahe schon einen Stammplatz, so oft wie sie zu Arbeiten in der freien Luft verdonnert wird.

Das Mädchen schlüpft in seine Turnschuhe mit Gummisohle und sprintet zu den Waschräumen. Es ist eines der Letzten aus dem Schlafsaal und muss sich beeilen, wenn es die Stunde Zusatzarbeit und ein hastig heruntergeschlungenes Frühstück vor dem Unterricht schaffen will.

Emma fällt fast gleichzeitig zum Anklopfen mit der Tür ins Gärtnerhaus. Der alte Mann blickt von seinem Essen auf, als er das Poltern hört. Der Blick vom Wohnbereich wird bis zur Tür durch kein Hindernis versperrt. Deshalb erkennt er seinen frühen Besuch sofort.

»Schau an!«, begrüßt Harms das Mädchen mit einem Schmunzeln. »Welchen Anschlag auf die Heimordnung hast du nun schon wieder begangen? Merkt unsere hochgeschätzte Frau Leiterin denn nicht, dass sie dir mit der Arbeit an der frischen Luft einen Gefallen tut?« Das Grinsen in dem von unzähligen Furchen durchzogenen Gesicht, scheint diese noch tiefer darin einzugraben.

Emma gibt sich keine Mühe, das Strahlen in ihrer Miene zu verbergen. Sie hat sich oft mit Harms unterhalten, weshalb der ihre Vorlieben kennt. Das sind einerseits Pflanzen und ihre Anwendungen als Heilmittel, aber auch die Erkenntnisse der Naturwissenschaft. Wegen der Blumen und Gewächse liebt sie den Aufenthalt in der Natur. Wogegen das Erkunden von wissenschaftlichen Themen das Stöbern in Büchern und folglich die Anwesenheit in Räumen erfordert. Letzteres ist in Grayhome leider stark eingeschränkt. Der Zutritt in die Bibliothek ist nur in Sonderfällen zu festen Zeiten gestattet.

Da Emma nicht sofort antwortet, fragt er kurz nach. »Willst du mich nicht an deinem neuesten Aufbegehren teilhaben lassen?«

Das Mädchen grinst den Gärtner an. »Doch, das darfst du gern erfahren. – Ich habe einem jüngeren Heimkind, genauer gesagt Paula Kram, gegen Wilhelm Barkow beigestanden. Die Kleine ist erst seit Kurzem bei uns und gerade mal sechs Jahre alt. Der bei allen bekannte Rabauke ist dagegen schon fünfzehn. Er drangsaliert andere Kinder, aber besonders häufig die Jüngsten. Er führt sich wie ein König auf und forderte von Paula, dass sie ihn bedienen und sein leeres Trinkglas mit Wasser füllen sollte.«

Emma lächelt verlegen. »Als ich ihm anbot, für die Kleine einzuspringen, hättest du mal sein zufriedenes Grinsen sehen sollen. Er ist schon seit Langem darauf aus, mich kleinzukriegen. Jetzt schien sein Traum Wirklichkeit zu werden. – Aber anstatt sein Glas mit der bereitstehenden Karaffe zu füllen, goss ich deren gesamten Inhalt über ihn aus. – Du kannst dir nicht vorstellen, wie lächerlich sein Prusten und nach Luft schnappen ausgesehen hat. Es wirkte sogar so, als würde er mit den Armen Schwimmbewegungen machen, um dem Wasser zu entkommen. Das sich einstellende hämische Gelächter aller Anwesenden tat das seine, um ihn im wahrsten Sinne des Wortes bedröppelt abziehen zu lassen.«

»Das hast du gut gemacht!«, lobt Harms ihre Aktion. »Wilhelm und seine Bande sind äußerst gemeine Burschen. Diese Abkühlung hat er mehr als verdient! Was ich nicht verstehe, weshalb dann die Strafarbeit?«

»Ich hatte übersehen, dass Mandragora … ich will natürlich unsere Heimleiterin sagen …«

»Ist schon gut, ich wusste auch so, wen du meinst. Was war mit ihr?«

»Sie kam just in dem Moment vorbei, als ich das Wasser über Wilhelm goss. Dabei hat sie wenige Spritzer abbekommen und schnappte vor Empörung fast gleichzeitig wie der Junge nach Luft. Ihr eisiger Blick hätte die Wassertropfen eigentlich sofort zu Eis gefrieren lassen müssen. Als dann noch das Gelächter einsetzte, explodierte sie, weil sie das natürlich auf sich bezog. Sie konnte kaum sprechen, formulierte aber dennoch meine Strafe.

»Rabe«, keuchte sie. »... morgen vor dem Unterricht, … eine Stunde Harms unterstützen!« Damit drehte sie sich um und rauschte mit wehendem Umhang davon.«

Der Gärtner blickt das zwölfjährige Mädchen erstaunt an. »Ich finde, da bist du ausnahmsweise sehr glimpflich davongekommen.« Das bestätigend nickt Emma. Der alte Mann schaut sie nachdenklich an. Er hat noch eine Frage, die erkennbar in ihm arbeitet. Schließlich formuliert er sie doch. »Ich sagte vorhin, mir sei bewusst, dass du mit Mandragora die Heimleiterin meinst. Ich wüsste aber gern, ob dir auch bekannt ist, wen oder was die Bezeichnung bedeutet.«

Das Mädchen zögert keinen Moment. Es weiß, Harms möchte damit ihr Pflanzenwissen überprüfen. »Als ich mich einmal besonders über die Ungerechtigkeiten der Leiterin geärgert habe, setzte ich aus ihrem Namen »M. Andra-Gora« diesen Begriff zusammen. Das geschah unbewusst, obwohl ich dieses Wort schon irgendwo gelesen haben muss. Um dessen Sinn zu verstehen, schlich ich in der Mittagspause zur Bibliothek. Ich hoffte, dass Albert Brand anwesend oder der Raum nicht abgesperrt sei. Ich hatte Glück, da die Heimleiterin vermutlich vergessen hatte, abzuschließen. In den Büchern suchte ich die Erklärung.« Emma blickt verschämt kurz zu Boden. »Ich weiß, das Lesen in den alten Wälzern ist eigentlich verboten, aber du wirst mich wohl nicht nachträglich verraten, oder?« Ihre Augen bemerken wieder aufblickend das feine Lächeln auf Harms Gesicht. Er schüttelt bestätigend den Kopf. Sie hat keine andere Reaktion erwartet und fährt dennoch erleichtert fort. »Mandragora ist die Bezeichnung für die »gemeine Alraune«, wobei der Zusatz, bezogen auf die Leiterin, nicht als »gewöhnlich«, sondern wortwörtlich als »bösartig« zu werten ist. Sofort forschte ich weiter und las, dass die Pflanze seit der Antike als Zauberpflanze geschätzt wurde. Doch Zaubern vermag die Frau hoffentlich nicht! – Obwohl ich mir da nicht sicher bin. Denn wie ist sonst zu erklären, dass die Heimleiterin innerhalb kürzester Zeit von fast jedem Verstoß gegen die Hausordnung erfährt?«

Emma blickt Harms grübelnd an und fährt dann fort. »Die sachliche Schlussfolgerung wäre, dass sie einige Kinder als Spitzel nutzt, die sie mit Versprechungen lockt. Doch wer die Spione sind, weiß außer diesen niemand.«

»Ich muss schon sagen, du bist ganz schön clever.« Der Gärtner versucht, ein breites Grinsen zu verbergen, indem er einen letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse nimmt. »Der Pflanzenname und dessen Bedeutung sind von dir richtig erläutert worden. Erkläre den Namen der Leiterin aber besser keinem der anderen Kinder gegenüber. Die Spitzel könnten ihr das zutragen!« Er erhebt sich mit Augenzwinkern und fordert Emma auf, ihr Schuhwerk gegen die bereitstehenden Stiefel zu tauschen.

»Was steht denn heute auf dem Programm?«, erkundigt sich diese, während sie lächelnd der Aufforderung folgt.

»Wir müssen die abgeernteten und aus der Erde gezogenen Buschbohnen auf den Kompost bringen. Danach wird der Boden mit dem Dreizack gegrubbert und ein Gründünger aufgebracht.«

»Welche Saat nehmen wir dafür, Lupinen?«

»Die hatte ich im letzten Jahr, dieses Mal nutze ich Senf, Gelbsenf, um genau zu sein. – Aber nun haben wir genug geredet. Wir sollten uns besser beeilen, damit du noch etwas vom Frühstück abbekommst.«

Vor sich hin grummelnd, schiebt sich Harms an dem Mädchen vorbei, um den Gründünger aus dem Schuppen zu holen.

Emma grübelt währenddessen, weshalb der Gärtner sofort wusste, dass sie vorhin die Heimleiterin meinte.

»Er hat ihren Namen offenbar schon auf gleiche Art wie ich betrachtet. Hm. Ob er wohl weiß, wofür das »M.« steht? Ich tendiere wegen ihrer Körpermaße zu dem Vornamen »Maxima«, was »die Große« bedeutet. Wobei ich das auf ihre Körperfülle und nicht auf einen wie auch immer erhabenen Geist beziehe.«

Mit einem unterdrückten Kichern folgt sie dem Gärtner nach draußen. Der Tag könnte heute doch noch gut werden, ist sie überzeugt. Die Gesellschaft des alten Mannes und die wärmenden Sonnenstrahlen bilden dazu den Anfang.

Grayhome

Emma erinnert sich, dass sie in der ersten Zeit hier im Heim Probleme hatte, sich in die Regeln und Vorschriften einzuordnen. Das lag nicht nur daran, dass sie ihre Tante vermisste, sondern auch, dass ihr deren liebevolle Zuneigung fehlte.

Hier im Waisenhaus gibt es kaum Zuwendungen. Der ein oder andere der Angestellten und Lehrer macht das heimlich. Doch mehr als ein gelegentliches Streicheln über einen Arm, beziehungsweise den Kopf, erfolgt nicht. Das geschieht zudem versteckt, da die Heimleiterin das nicht mag. Die achtet streng darauf, dass die Kinder keine Freundlichkeiten erwiesen bekommen. Das würde zu deren Verweichlichung führen, behauptet sie.

Das Mädchen folgt als Ausweg seiner Neigung, möglichst alles zu erforschen, und Wissen anzuhäufen. Dazu gehört auch, dass Emma bei jeder sich bietenden Gelegenheit nach Informationen über die Geschichte des Gebäudes sucht. Sie befragt das Küchenpersonal und den Hausmeister, aber besonders natürlich Harms. Hin und wieder schleicht sie sich zur Bibliothek, die jedoch meist verschlossen ist.

Grayhome ist der Name eines alten, ehemaligen Herrenhauses. In den vergangenen Jahrzehnten bewohnte eine Gutsherrenfamilie das Haus. Die bewirtschaftete die zugehörigen Ländereien.

Es stimmt, dass hier früher Adelige wohnten und das Haus glückliche Zeiten erlebt hat. Damals nannten es die Bewohner liebevoll »Grays Home«. Die Familie Gray herrschte viele Generationen lang über ihren Landbesitz. Auf dem errichteten sie vor zwei Jahrhunderten das Wohnhaus in der heutigen Form.

Doch seitdem ging es mit den Besitzern wirtschaftlich immer schneller bergab. Schließlich war der letzte Nachfahre dieser einst mächtigen Familie derart verarmt, dass er allen Besitz aufteilen und meistbietend versteigern ließ. Von dem Erlös stellte er die Gläubiger zufrieden. Für ihn blieb kaum etwas zum Leben übrig. Eines Tages verschwand er heimlich aus dem Land, um woanders einen Neuanfang zu wagen.

Das Gebäude war in den letzten Jahrzehnten stark heruntergekommen und wies einen erheblichen Renovierungsstau auf. Der Mindestverkaufspreis lag deshalb sehr niedrig und konnte von dem gemeinnützigen Verein »Kindeswohl« aufgebracht werden. Das Haus dient nach einer oberflächlichen Renovierung seit mittlerweile fünfundzwanzig Jahren als Unterkunft und Schule für Waisenkinder. In Anlehnung an die früher genutzte Bezeichnung wird das Waisenhaus seitdem leicht angepasst »Grayhome« genannt.

Trotz seines Gutshaus ähnlichem Aussehens und des Namens, der Vertrauen erwecken soll, wirkt es von außen betrachtet eher abweisend als einladend. Das liegt zum Großteil daran, dass das Gebäude nicht aus Sandstein oder Ziegelsteinen, sondern aus dunkelgrauem Granit errichtet worden war. Das Erscheinungsbild des Gebäudes passt durch seine Farbe ausgezeichnet zu der inzwischen genutzten Bezeichnung »Grayhome«, was »graues Heim« bedeuten kann.

Die erste Leiterin des Waisenhauses wurde von den meisten Insassen geliebt. Sie wechselte vor fünfzehn Jahren in den wohlverdienten Ruhestand und wurde schon bald schmerzlich vermisst. Der Verein »Kindeswohl« suchte lange vor diesem Termin nach einer geeigneten Person für die Aufgabe. Doch es gab kaum Bewerberinnen. Die Wahl fiel schließlich auf M. Andra-Gora.

Die Frau ist mittlerweile knapp über fünfzig. Sie besitzt auch heute noch keinerlei Eignung, um Kinder zu erziehen. Ihre Empfehlung für die Leitungsaufgabe bestand darin, dass sie einen Zusammenschluss aus Armenhäusern in vier Gemeinden leitete. Das schien für ihr Organisationstalent zu sprechen. Außerdem verlangte sie im Vergleich zu den anderen Kandidatinnen ein wesentlich geringeres Gehalt. Das gab für die Vorsitzenden des Vereins, der stets unter klammen Kassen leidet, letztlich den Ausschlag.

Die dunklen Fensteröffnungen des Gebäudes wirken auf manche der Waisen wie die blinden Augen eines Ungeheuers. Das liegt auch daran, dass sie besonders in den oberen Etagen nie geputzt werden, um Kosten zu sparen. Die jüngsten der Insassen behaupten, dass es ein furchteinflößendes Monster sei. Dabei ist nicht sicher zu erkennen, ob sie das Gemäuer oder die derzeitige Heimleiterin meinen.

Die Leiterin kennt keine Gnade bei Bestrafungen. Die sollen eine abschreckende Wirkung ausüben und Warnung für alle sein. Es wird gemunkelt, dass das nicht immer ohne bleibenden Schaden für die Kinder erfolgt. Der einzige Kommentar von M. Andra-Gora besteht darin, dass sich die Waisen das selbst zuschreiben müssten.

Nach dem Wechsel an der Spitze des Heims stellte sich schnell heraus, dass es die Kinder mit der neuen Leitung nicht schlechter hätten treffen können.

Die Leiterin ist für alle Belange der Kindererziehung äußerst ungeeignet. Sie regiert selbstherrlich über die Angestellten und Lehrer. Trotz deren Ausbildung, die sie zur Erziehung junger Menschen befähigt, duldet M. Andra-Gora von ihnen keinerlei Widerspruch. Sollte es einer der Pädagogen trotzdem wagen, Kritik an der Heimleiterin zu äußern, wird ihm direkt gekündigt. Das geschah bereits in zwei Fällen. Die erhaltenen Zeugnisse führten unweigerlich dazu, dass die betroffenen Personen in der näheren Umgebung keine neue Anstellung finden konnten.

Die Entlassenen forderten die Vorsitzenden des Vereins »Kindeswohl« anschließend mehrfach auf, die Fähigkeiten der Heimleitung zu kontrollieren. Sie schilderten Vorkommnisse, die ihrer Meinung nach die Unfähigkeit M. Andra-Goras beweisen würden. Obwohl die sofortige Überprüfung durch den Vorstand angebracht gewesen wäre, traf sich dieser lediglich zu einem Gespräch mit der Leiterin. Der Grund war, dass die Vorsitzenden die Auseinandersetzung mit der resoluten Heimleiterin scheuten. Außerdem hätten sie sich um eine neue Führung des Waisenhauses kümmern müssen, falls sich die Anschuldigungen als richtig herausstellen würden. Sie befürchteten, dass die zudem mehr Gehalt fordern würde. Deshalb war es unkomplizierter für sie, den Darstellungen der Leiterin zu folgen und nichts zu unternehmen.

Die Gekündigten klagten schließlich vor Gericht. Sie schilderten die schlimmen und untragbaren Zustände in dem Heim bis ins Detail. Damit wollten sie erreichen, dass zum Wohl der Waisenkinder eine andere Heimleitung eingesetzt werden würde. Alles, was sie vortrugen, wurde jedoch von M. Andra-Gora als üble Nachrede hingestellt. Sie sprach geschickt davon, dass sich die entlassenen Personen lediglich durch derartige Unterstellungen an ihr zu rächen beabsichtigten. Da sie den Vorstand des Vereins zudem als Zeugen für ihre kompetente Leitung anführte, war die Klage nach deren Anhörung schließlich abgewiesen worden.

Mit der Leitungsübernahme durch M. Andra-Gora gab es einige gravierende Änderungen. Seitdem werden in den unteren Jahrgängen beispielsweise nur noch Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet. Für die älteren Kinder ab zehn Jahren kommen Gartenarbeiten, Kochen und Handarbeiten sowie Arbeiten in den Stallungen eines Gestüts in der Nachbarschaft zusätzlich auf den Lehrplan. Das soll als Vorbereitung auf die später auszuübenden Berufe dienen und spart entsprechenden Aufwand im Heim. Sport, Kunst, Geschichte, Erdkunde und Naturwissenschaften wurden dagegen aus dem Lehrprogramm genommen. Im Abschlussjahrgang werden zudem Biologie, Werken und Lebensmittelkunde gelehrt. Das schont die geringen Geldmittel des Vereins, die folglich mehr Waisenkindern zugutekommen. So lautete jedenfalls die Begründung der Heimleiterin, der der Vorstand gern folgte.

Nach gemunkelten Vermutungen der Kinder ist die Ausbildung so ungewöhnlich, damit sie später als Dienstboten an Reiche oder für einfache Arbeiten in Betrieben vermittelt werden können. Die mögen es nicht, wenn diese auf ihre Rechte klopfen oder sich in Streitigkeiten mit ihnen messen. Für die Vermittlung unterwürfiger Arbeitskräfte soll die Leiterin üppige Prämien kassieren, wie sich die verbliebenen Lehrer hinter vorgehaltener Hand erzählen. Die Frau geht nach dem Prinzip vor, dass Wissen die Waisen zu Widerspruch und Unzufriedenheit verführt und deshalb so gering wie möglich weitergegeben werden darf.

M. Andra-Gora hat eine keifende und schrille Stimme, die sogar durch die dicken Wände des alten Hauses hindurch zu hören ist. Sie spricht alle Heiminsassen mit ihren Familiennamen an. Sie will nach deren Meinung dadurch verhindern, dass eine persönliche Bindung zu den Waisenkindern entsteht. Durch ihr gesamtes Verhalten, aber besonders auf Grund ihrer täglich gezeigten Bösartigkeit, käme freiwillig keines der Kinder auf die absurde Idee, eine innige Beziehung zu ihr aufzubauen.

Die Frau hat einen voluminösen Körper, dicke Arme und Beine. Darum trägt sie gern wallende, bodenlange Gewänder, die ihre unförmige Figur verdecken. Der darüber gezogene Umhang verleiht ihr das Aussehen eines umherflatternden Monsters, sobald sie etwas schneller unterwegs ist.

Könnte sie den Drang zu ungerechtfertigten Strafen besitzen, weil sie als Kind wegen ihrer Erscheinung gehänselt worden ist? Das vermutet zumindest Emma, ohne das gegenüber einem der anderen Heiminsassen zu äußern. Sie ist seit den ersten Tagen in Grayhome äußerst zurückhaltend damit, ihre Gedanken und Gefühle preiszugeben. Dazu gehört auch, ihre Meinung zu diskutierten Themen nicht kundzutun. Nach einigen zaghaften Versuchen ist ihr schnell klargeworden, dass sie unbedingt vorsichtig sein muss. Kritiken an der Leiterin werden dieser auf unbekannte Weise zugetragen und führen zu harten Strafen.

Eine Zwölfjährige

Emma Anna Rabe ist eines von etwa einhundertvierzig Waisenkindern, die in Grayhome untergebracht sind. Sie ist zwölf Jahre alt, hat eine sportlich wirkende, schlanke Gestalt, schulterlange, mittelblonde Haare und wenige um und auf der Nase verteilte Sommersprossen. Ihre blau-grauen Augen blicken oft forschend und neugierig auf ihre Umwelt. Wenn sie zurückblickt, lebt sie inzwischen mehrere Monate in dem Heim und ist stets bereit, anderen zu helfen. Wegen ihres Engagements wird sie von manchen der Kinder verlacht.

Einige der älteren Jungen haben es seit ihrem ersten Tag in Grayhome darauf abgesehen, sie nicht nur zu verspotten, sondern sogar deswegen zu verprügeln. Und das lediglich deshalb, weil sie sich für Schwächere einsetzt, sobald diese benachteiligt werden.

In Emmas Gedanken spricht ein magischer Rabe mit ihr. Das findet sie äußerst passend. Ihr Familienname lautet schließlich so. Der Vogel heißt Sternschnuppe und steht ihr in schwierigen Situationen mit Rat bei. Obwohl ihr dieses Fantasiewesen manches Mal Halt gibt, ist sie keine Träumerin. Sie ist für ihr Alter ungewöhnlich intelligent und besitzt ein Wissen, das weit über das ihrer Altersgenossen hinausragt.

Das ist dadurch erklärt, dass Emma schon immer äußerst wissbegierig ist. Sie hat ihre Eltern früh verloren und wurde von Anna Grote, ihrer Patentante und jüngeren Schwester der Mutter, aufgezogen. Die besaß eine bescheidene Auswahl naturkundlicher Bücher, die ihr verstorbener Mann, ein Lehrer für Naturwissenschaften, ihr hinterlassen hatte. Mit diesem Lesestoff legte sie den Grundstein für Emmas großes Wissen. Das konnte sie später durch Besuche einer öffentlichen Bibliothek ausbauen.

Seitdem sie im Kinderheim lebt, ist das nicht mehr so einfach möglich. Sie versucht, in der ersten Zeit heimlich in den Bücherraum zu schleichen, um dessen Bestand zu nutzen und dadurch ihren Wissenshunger zu stillen. Das gelingt jedoch nur selten, weil der Raum lediglich in Begleitung eines Lehrers, und das zu besonderen Ereignissen, zugänglich ist.

Emmas Eltern sind bei einem Autounfall gestorben. Das ist in der heutigen Zeit nicht ungewöhnlich, obwohl die Polizei keinen Grund ermitteln konnte, warum der Wagen frontal in den Gegenverkehr geraten war. Sie vermutete sogar, dass der Vater das Fahrzeug in selbstmörderischer Absicht auf die falsche Fahrbahn gelenkt haben könnte. Nach Annas vehementem Einspruch wurde diese mögliche Ursache nicht in den Polizeibericht übernommen. Sie konnte Schwester und Schwager wesentlich besser einschätzen, die keinen Grund hatten, sich das Leben zu nehmen. Dafür liebten sie ihre kleine, dreijährige Tochter zu sehr. Beruflich und privat war ebenso wenig eine Erklärung für die Selbsttötung zu finden.

Das Mädchen erinnert sich, mit acht Jahren zum ersten Mal mitbekommen zu haben, dass seine Tante Zweifel an einem »normalen« Unfallhergang hegte. Das war, als diese in der Stadtbibliothek alte Zeitungsberichte durchforschte und dazu Fragen und Antworten in einer schwarzen Kladde notierte. Weshalb Anna das machte, und woher nach der verstrichenen Zeit von inzwischen fünf Jahren die Bedenken rührten, darüber hat sie sich nie mit ihrer Nichte unterhalten.

Im Alter von zwölf Jahren wurde Emmas Leben erneut auf den Kopf gestellt. Der Unfalltod der Tante änderte alles grundlegend. Das Jugendamt konnte keine weiteren Verwandten ermitteln, die sich um die Kleine kümmern konnten oder wollten. Die liebevolle Atmosphäre in Annas Umgebung wurde von der kalten Nüchternheit des Waisenhauses abgelöst.

In die sorglose Zeit bei Anna wird Emma durch deren Notizbuch zurückversetzt, auf dessen Cover ein großes, rotes A steht. Sie liest an manchen Abenden vor dem Einschlafen in der Kladde. Doch die notierten Fragen und Antworten wollen ihr nicht verraten, welchem möglichen Geheimnis diese auf der Spur gewesen sein könnte. Sie hütet das Notizheft wie einen Schatz. Es ist schließlich die einzig gebliebene Verbindung zu einer glücklicheren Zeit, an die das Kind durch das Lesen darin erinnert wird. Die Kennzeichnung auf dem Deckblatt interpretiert sie richtig, wie sie weiß. Es ist die Abkürzung des Vornamens der Tante.

Seitdem Emma im Waisenhaus lebt, kennzeichnet sie all ihre Sachen auf ähnliche Weise. »E. A. R.« nutzt sie nicht nur für Hefte oder Bücher, sondern auch für ihre Kleidung.

Das Mädchen fragt sich an manchem Abend, was den Autounfall von Anna verursacht haben mag. Die Polizei sprach von einem Reh, dem die Tante bei viel zu hoher Geschwindigkeit auszuweichen versucht haben soll. Der Unfall geschah jedoch in einer Stadt, was die Ursache unglaubwürdig erscheinen lässt. Hinzu kommt, dass Emma stets den Eindruck hatte, dass Anna eher zu langsam als zu schnell fuhr. Das war ein logisches Verhalten, das aus dem Unfalltod von Schwester und Schwager resultierte. Als Zwölfjährige hatte sie zwar die Möglichkeit, an dem amtlich festgestellten Hergang zu zweifeln. Dass der Unfall innerhalb einer Ortschaft geschehen sein soll, bezweifelt sie nicht. Zumal sie in manchen Träumen meint, dabei gewesen zu sein. Doch wie passt ein Tier des Waldes in das Ereignis? Sie wurde außerdem nur kurz und eher oberflächlich zu dem Unfallhergang befragt. Eine weitergehende Untersuchung konnte sie trotz ihrer geäußerten Zweifel nicht erwirken. Das wurde einer Verwirrtheit, ausgelöst durch den erlittenen Verlust, zugeschrieben.

Das Mädchen fragt sich seitdem vor dem Einschlafen häufig, ob eine böse Macht für die Tode ihrer Eltern und der Tante verantwortlich sein sollte.

»Doch welchen Grund könnte es dafür geben?«, überlegt Emma.

Sie möchte vermeiden, den Bezug zur Realität zu verlieren. Womit soll sie auch begründen, vagen Verschwörungstheorien zu folgen? Sie grübelt manches Mal darüber, ob sie womöglich die Nächste aus ihrer Familie ist, die sterben wird. Vielleicht ähnlich den Angehörigen der Grays, die bis auf einen letzten Nachfahren gestorben sind. Aber was könnte in ihrem Fall das Ziel sein, das dadurch erreicht werden soll? Auf diese Frage fällt ihr keine logische Antwort ein. Es könnte auch einfach nur Pech sein. Doch davon will sie nichts wissen. Ihre Gedanken drehen sich in einer endlosen Spirale, bis sie allmählich in den Schlaf hinübergleitet.

Während des Hinüberdämmerns in die Traumwelt fragt sie sich, ob damit womöglich verhindert werden soll, dass sie eine wichtige Aufgabe gestellt bekommt? Emma erblickt im Halbschlaf einen älteren Mann, der ihr bekannt vorkommt. Ist das nicht …. der Herr, der mit Büchern zu tun hat? … Was bedeuten die Zeichen, die er macht? Es wirkt, als müsse sie ihm helfen … ihn eventuell sogar retten? Weshalb sollte sie dazu in der Lage sein? Außer ihrer Bereitschaft, Schwächeren beizustehen, besitzt sie keine ungewöhnliche Eigenschaft. Und die ist, bezogen auf einen Erwachsenen, vermutlich nicht gefordert.

Dass sie den Namen des Unbekannten nicht kennt, scheint im Halbschlaf unwesentlich zu sein.

Am kommenden Morgen erinnert sich das Mädchen nicht mehr an diese seltsamen Bilder. Die darauf bezogene Sequenz ist wie weggewischt. Sollte irgendjemand diesbezügliche Fragen stellen, würde er nur erstaunte und unverständliche Blicke ernten.

»Einen Herrn, der mit Büchern zu tun hat? Den kenne ich nicht. Wer soll das denn sein? Ein Bibliothekar vielleicht?«

Emma träumt zum ersten Mal von ihrem magischen Raben, nachdem die Polizei ihr den Tod der Tante mitgeteilt hat. Sie fragt sich seitdem manches Mal, ob der imaginäre Vogel nicht einem der vielen Kinderbücher entsprungen ist, aus denen ihr Anna oft vorgelesen hat. Doch das passende Tier, an das sie sich erinnert, hieß Abraxas.

»Woher stammt überhaupt der Name Sternschnuppe? Wer würde einen Rabenvogel mit schwarzem Gefieder so nennen?«, grübelt Emma in der ersten Zeit immer wieder ergebnislos. »Ob das wichtig zu wissen ist? Eine Schnuppe leuchtet hell an einem dunklen Sternenhimmel, das scheint als Benennung für einen Raben völlig unpassend!« Doch je mehr sie inzwischen darüber nachdenkt, desto passender findet sie die Bezeichnung. Der Grund ist, dass er ihr sozusagen in finsteren Nächten, wenn sie mit ihrem Schicksal hadert, wie ein leuchtender Fixstern Zuversicht vermittelt.

Tatsächlich stammt der Name von dem imaginären Wesen selbst. Bei seinem Erscheinen hatte sich das Rabenmädchen artig vorgestellt und dabei, wie im Mittelalter üblich, einen Kratzfuß gemacht. Obwohl das in der heutigen Zeit unübliche Gebaren seltsam erschien, hat das Mädchen das mittlerweile vergessen.

Die Zwölfjährige ist sich sicher, dass der Vogel Zauberkräfte besitzt. Sobald sie an ihn denkt, wirkt er beruhigend und überträgt Wärme auf sie. Dass sie von seinen magischen Fähigkeiten überzeugt ist, könnte daran liegen, weil ein Rabe Abraxas in der Geschichte »Die kleine Hexe« vorkommt. Und die kann zaubern, wie sich das Mädchen lächelnd erinnert. Das ist für eine junge Zauberin auch keineswegs verwunderlich.

Die von Anna auf Emmas Bitte hin immer wieder vorgelesene Erzählung, ist in jungen Jahren ihre Lieblingsgeschichte gewesen. Das erste Kapitel konnte sie als Vierjährige schon bald auswendig aufsagen. Wenn sie dabei das Buch in Händen hielt und ihren Blick geschickt auf die Seiten warf, täuschte sie dadurch vor, in dem Band zu lesen.

Das Mädchen überlegt, dass es in der Fantasie Abraxas unbewusst mit ihrem Rabenvogel verbindet. Trotz ihrer magischen Fähigkeiten hat die kleine Hexe durchaus Schwierigkeiten mit älteren Zauberinnen, wie es sich erinnert. Das liegt daran, dass sich diese deren Geboten und Vorschriften nicht unterordnen will, ähnlich wie es auf Emma im Waisenhaus zutrifft.

Hinzu kommt, dass Sternschnuppe ihr in den Träumen versichert, dass sie als Rabe Zauberkräfte besitzt.

Wie das möglich sein soll, erklärt der imaginäre Vogel nicht. Da er im Kopf des Kindes existiert, also in dessen Fantasie, müsste das die Erklärung schon aus diesem Grund kennen! Darüber hat Emma bisher nicht nachgedacht und die Behauptung ohne Begründung akzeptiert. Das zu überprüfen gab es seit Auftauchen des Tieres in ihren Gedanken keine Gelegenheit. Dass das dennoch nicht unbegründet ist, wird die Zwölfjährige zum Glück bald genug herausfinden.

Flucht!

In Grayhome herrschen strenge, darunter auch offenbar sinnlose Regeln. Eine davon ist die, dass alle Waisenkinder unabhängig vom Alter in der Zeit von ein Uhr mittags, bis um drei nachmittags einen Mittagsschlaf halten. Dazu müssen sie in den Betten ihrer jeweiligen Schlafräume liegen. Die Einhaltung wird durch Stichproben kontrolliert, die von der Heimleitung persönlich durchgeführt werden.

Die Schlafsäle sind für Mädchen und Jungen getrennt, altersmäßig aufgeteilt und mit höchstens zehn Waisen belegt. Je ein Kind eines höheren Jahrgangs wird zur Mittagsruhe als Aufsichtsperson abgeordnet, was oft als Strafe für ein Vergehen der Älteren genutzt wird. Die Aufsicht ist dafür verantwortlich, dass niemand während der angeordneten Ruhezeit den Raum verlässt, um beispielsweise zu den Toiletten zu schleichen. Denn ein Besuch der sanitären Anlagen ist strengstens untersagt!

Welcher tiefere Sinn hinter der von M. Andra-Gora eingeführten Anordnung steckt, bleibt außer ihr jedem verborgen.

Die Schlafenszeit folgt direkt auf das Mittagessen. Daher ist die Einhaltung der Regel besonders für die kleineren Kinder schwierig. Sie müssen erst noch lernen, ihre Flüssigkeitsaufnahme einzuteilen.

Die von den Sälen Richtung Sanitäranlagen führenden Flure treffen sich im Bereich des zentralen Treppenhauses. An diesem zur Überwachung der Vorschrift wichtigen Punkt, sitzt während der Ruhezeit in jeder Etage eine Mitarbeiterin der Einrichtung.