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Marwin, der Wirt aus "Wanderers Zuflucht", rührt mit gerunzelter Stirn in dem großen Topf und hat ein ungutes Gefühl. Etwas stimmte mit den Fremden nicht. Es hat mit dem Gesicht des einen zu tun. Das schwarze, buschige Haar, seine dunklen Augen unter dichten Brauen und die Mundpartie erinnern ihn an ... Es liegt ihm auf der Zunge. Marwin meint, es im nächsten Moment sagen zu können, doch noch kommt er nicht auf die Lösung. Was ist es nur, was ihm ein derart heftiges Unbehagen bereitet? Eine dichte Menschenmenge blitzt vor seinem Auge auf. Eine Gestalt, die direkt vor ihm läuft, dreht sich kurz zu ihm um, nachdem er gegen sie gestolpert ist ... Ein Diebstahl im Museum der Hauptstadt versetzt Raban in Angst. Wer stahl das Artefakt aus der ägyptischen Sonderausstellung, und welche Absicht steckt dahinter? Der Versuch, das mit Hilfe einer heimlichen Zeitreise herauszubekommen, schlägt fehl. Als Raban herausfindet, dass ein weiteres Artefakt in der Ausstellung gestohlen wurde, reist er mit Röiven zur Insel der Elfen. Kenneth muss schnellstens informiert werden. Eines ist sicher: Dort lauert eine neue Gefahr.
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Seitenzahl: 379
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Raban und Röiven
Raub ägyptischer Artefakte
Fantasy Roman
Norbert Wibben
Raban und Röiven
Raub ägyptischer Artefakte
Raban und Röiven, Band 6
Für einen besonderen Menschen:
Dich, lieber Leser!
In Erinnerung an viele schöne Vorleseabende mit meinen Kindern verpacke ich auch diese Geschichte in den bekannten Dreizeiler:
Ein Huhn und ein Hahn – …
Prolog
Ein Herbstmorgen
Finnegan
Aufregung
Das Totenbuch
Überlegungen
Im geheimen Wald
Traumwelt oder Hellsehen?
Einen Tag zuvor
Ein unerwarteter Gast
Seltsame Ereignisse
Marwin erinnert sich
Finnegan und Raban
Das Horusauge
Dunkle Ahnungen
Wanderers Zuflucht
Kenneth’ Überlegungen
Suche in der Einöde
Rabans Sorge
Auf Spurensuche
Vermutungen
Ein Traum
Wichtige Auskünfte
Die Bestätigung
Beratung in Serengard
Beruhigende Nachrichten
Kontaktversuche
Gunilla
Die Verfolger
Verschwörer
Gwydion
Überraschung
Vorbereitungen
Ein Überfall?
Bericht der königlichen Jäger
Dunkle Absichten
Ein Versuch
Die Aktivierung
Rabans Bericht
Gefahren der Nacht
In der Residenz
Ausgeflogen
Dean und Cyril
In der Ruine
Rettung der Jägerinnen
Epilog
Zaubersprüche
Danksagung
Ein Huhn und ein Hahn – die Geschichte fängt an
»Hast du einige Stückchen Schokolade für mich? Ich fühle mich richtig schwach!« Ich sehe den Kolkraben Röiven zuerst mit herausgedrückter Brust herumstolzieren, bevor er bei diesen Worten offenbar völlig entkräftet zu Boden sinkt. Er drehte den Kopf in meine Richtung, klapperte mit seinen Augendeckeln und krächzt schwach: »Weißt du, wo Raban so lange bleibt?«
»Er kommt gleich wieder«, antworte ich, worauf er sich prompt aufrichtet.
»Wo ist er, wann erscheint er denn? Ich warte schon so lange auf meinen Freund.« Dabei hüpft er aufgeregt umher und krakeelt immer wieder: »Raban, wo bist du?«
Ich kann mein Lachen kaum unterdrücken, was ihn vermutlich tödlich beleidigt hätte, und berichte ihm die Neuigkeit:
»Es wird für Raban und Röiven ein neues Abenteuer geben!«
»Wow! Wie heißt es? Wann geht es los? Sind mein Freund und ich wieder ein unschlagbares Team? – Na klar, etwas anderes ist nicht zulässig, oder doch? – Nun sag schon … und hattest du mir keine Schokostücke versprochen?«
»Warte etwas, die ersten Seiten sind fertig und weitere bilden sich bereits in meinem Kopf. Der Titel wird voraussichtlich »Das Horusauge« oder »Raub ägyptischer Artefakte« lauten.«
»Hey, das klingt aufregend. – Es hätte mich auch gewundert, wenn Raban und ich nach nur fünf Abenteuern von der Bühne verschwinden müssten. – Oh, sagst du mir noch, wer Horus ist und was es mit dem Auge auf sich hat? Ägyptische Artefakte kenne ich auch nicht! Jo, das muss ich wissen, wenn Raban und ich es damit zu tun bekommen.«
Obwohl er noch mehrere Versuche unternimmt, mir Informationen zu entlocken, verrate ich nichts. Schließlich wendet er sich mit einem verdrießlichen »Pö« ab und dreht mir den Rücken zu …
Du, lieber Leser, hast jetzt die Möglichkeit, in die neueste Geschichte über die beiden magischen Freunde einzutauchen. Viel Vergnügen!
»Ich habe geträumt«, wird ihm schließlich bewusst. »Es sind Ferien und ich bin bei Großvater.« Trotzdem bildet sich kalter Schweiß auf seiner Stirn und er beginnt zu zittern. Das Gesicht der ihn höhnisch angrinsenden Morgana verblasst nur langsam. Sie drohte damit, alle Kinder des Landes zu töten. Beginnen wollte sie mit ihm und Ilea. Endlich öffnet Raban die Augen, in denen sich Tränen sammeln und über seine Wangen laufen. »Ich … ich habe soeben gesehen, dass diese böse Magierin einen Schulbus voller Kinder mit einem Fluch verunglücken ließ. Einfach so, um ihre Macht zu demonstrieren! Es … war grauenvoll!« Er wischt mit den Händen die Tränen fort und atmet mehrmals tief ein und aus, was ihn wie erhofft ruhiger werden lässt. Er weiß noch, dass er bereits tief Luft geholt hatte, um in das brennende Fahrzeug einzudringen. Er wollte versuchen, die Kinder irgendwie zu retten. Außerdem meinte er, das entsetzte Gesicht eines Mädchens gesehen zu haben, kurz vor Beginn des Flammeninfernos. Das könnte Ilea gewesen sein.
»Hey, mein Freund. Was ist los mit dir? Du wolltest ins Feuer springen?« Ein besorgtes Krächzen dringt in seine Gedanken.
»Röiven?! – Nein. Ich habe nur geträumt. In der Sequenz wollte ich Kindern in einem Bus helfen, den Morgana verunglücken und in Flammen aufgehen ließ.«
»Warum träumst du von dieser dunklen Zauberin? Sie ist doch gestorben. Eine mögliche Gefahr durch sie ist für immer vorbei, oder täusche ich mich? – Weshalb …? Halt, du hättest einen großen Schwall Wasser auf den Bus schicken sollen! Du kennst den notwendigen Zauberspruch und hast ihn mehr als einmal genutzt, warum dann jetzt nicht?«
»Ich war einfach zu entsetzt und konnte nicht klar denken. Außerdem war es ein Traum, da ist es letztlich egal. – Und Morgana bleibt hoffentlich für immer dort, wo sie sich in ihrer Wut selbst tötete: In dem geheimen Gang in der Burg der Fairwings, auf der Insel der Elfen. Auch wenn du Ilea dabei helfen musstest, den Todesfluch auf die dunkle Zauberin zurückzuwerfen, funktionierte das zu unserem Glück! Trotzdem träume ich hin und wieder von ihr, was immer sehr unangenehm ist. – Ich habe in der Zeitung einen Artikel über einen verunglückten Bus gelesen, in dem durch das ausgebrochene Feuer mehrere Kinder und der Fahrer gestorben sind.«
»Der Bericht der Zeitung führte dazu, dass du im Traum versuchtest, den Verunglückten zu helfen. Stimmt’s?« Der Kolkrabe Röiven weiß, wie mitfühlend sein Freund Raban mit anderen ist, egal ob Mensch oder Tier. Dass er sogar im Traum deren Not miterlebt, ist mehr, als ihm gut erscheint. Der Vogel weiß, Menschen sind oft nicht nur gegenüber Tieren grausam, sondern auch gegeneinander. Ganz besonders schlimm verhalten sich die dunklen Magier. Er hat es zusammen mit seinem Freund erleben müssen, als die Dubharan zum wiederholten Mal nach der Herrschaft im Land strebten. Röiven hofft, wie sein Freund, dass sie es nie wieder mit Morgana, der bösesten aller dunklen Zauberer, zu tun bekommen. Raban hat offenbar Alpträume wegen ihr. Er überlistete sie vor einem Jahr, so dass sie seit einer Zeitreise in der Vergangenheit bleiben musste. Damals befürchteten beide, sie könne irgendeinen Weg in die Gegenwart finden. Sie wussten, sie würde darauf brennen, Rache an den Freunden zu nehmen, besonders aber an dem Jungen. Ein böser Zauberer auf der Insel der Elfen hatte zur Erreichung seiner ehrgeizigen Pläne Morgana aus der Vergangenheit befreit, die in der Burg der Fairwings versuchte, Ilea zu töten. Die Sorge Rabans, durch irgendeinen Umstand könne es der dunklen Magierin erneut gelingen, einen Versuch zur Rache zu unternehmen, ist somit nicht auszuschließen.
»Raban«, beginnt der Rabe langsam, »was hältst du davon, wenn wir uns für einige Tage aus eurer Zivilsa... Na, du weißt schon. … aus dem normalen Leben der Menschen mit Fernsehberichten und Zeitungen zurückziehen? Dann könnten wir wie früher Abenteuer erleben. Auch wenn es keine bösen Magier … Ups, das wollte ich eigentlich nicht sagen. Wir finden sicher eine interessante Aufgabe, für deren Lösung unser Wissen und Können gefragt ist.« Es ist offensichtlich, der Kolkrabe will den Jungen auf andere Gedanken bringen.
»Ich hatte überlegt, Mom und Dad zu begleiten. Vater erfüllt wieder einen Geheimauftrag, wobei er diesmal Mutter mitgenommen hat. Ich musste in den Ferien zu Großvater. Obwohl ich gern hier bin, könnten meine Fähigkeiten für Dad durchaus hilfreich sein. Ich vermute, er soll klären, warum es immer wieder zu mysteriösen Verkehrsunfällen mit vielen Toten kommt. Wenn ich Zauberkräfte gegen die Urheber einsetzen würde, wäre das ähnlich wie im Kampf mit den Dubharan.«
Seine Hand fährt prüfend zum linken Handgelenk. Darum befindet sich ein bronzener, fingerbreiter und schlichter Reif mit einem eingeprägten Sonnensymbol. Er wirkt bei einem Jungen etwas seltsam. Sobald Raban Ferien hat, trägt er ihn, da der seine Zauberkräfte verstärkt. Er lächelt, als er sofort an Ilea denkt, die ihm dieses Artefakt schenkte, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Das Bild des Mädchens erscheint in seiner Erinnerung. Sie streicht das mittelblonde Haar hinter die Ohren und strahlt ihn an. Er mag sie sehr und sie ihn offenbar auch.
Die Luft flirrt neben Rabans Bett und schon sitzt der schwarze Vogel auf dem Tischchen. Er legt den Kopf schräg und klappert mit den Augendeckeln. Dann knarzt er:
»Im Prinzip hast du recht. Weißt du aber sicher, wer die wahren Übeltäter für die Unglücke sind? Wenn du mögliche Verdächtige mit Zaubersprüchen ausforschen, also in ihre Gedanken eindringen willst, kann ich das nicht gutheißen! Ich denke, du solltest die Klärung deinem Vater überlassen. Der macht auf mich einen sehr umsichtigen Eindruck.«
»Zu dem Schluss bin ich auch gekommen, als ich mit meinen Eltern darüber diskutiert habe. Trotzdem berühren mich die Berichte, und es brennt mir sozusagen unter den Fingernägeln, auch etwas zu unternehmen.«
»Deine Finger … brennen? Ich sehe doch nichts!« Röiven klappert mit den Augendeckeln und dreht seinen Kopf in Richtung von Rabans Händen. Der lacht.
»Keine Sorge! Meine Finger oder die Nägel brennen nicht wirklich!«
»Das ist gut! – War das …?«
»Richtig, das war nur so eine Redewendung von uns Menschen.« Die Freunde schauen sich längere Zeit im Licht des beginnenden Morgens an, das zum Fenster hereinfällt. Dann sprechen sie gleichzeitig.
»Von wo habe ich dich hergeholt?«
»Was ist nun, sollen wir einen Ausflug unternehmen?« Sie grinsen sich an, wenn ein großer, schwarzer Vogel überhaupt dazu fähig ist. Trotzdem kennt Raban den verschmitzten Gesichtsausdruck seines Freundes und fordert ihn nun auf.
»Bitte sag schon. Wo warst du, als du dich in meine Gedanken geschlichen hast und zu mir gekommen bist?«
»Ich habe WAS? So nennst du das, wenn ich dir zu helfen versuche? Pö!« Der Rabe dreht sich beleidigt um. »Geschlichen! Ha!«
»Röiven, mein Freund. Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich … ich habe mich nur etwas unglücklich ausgedrückt! Ich meinte: Wo warst du, bevor du zu mir geeilt bist, um mir zu helfen?«
»Meinst du das ernst?« Der Rabe dreht seinen Kopf so weit, bis er das Gesicht des Jungen erkennen kann. Dieser versucht, ein Lachen zu unterdrücken, was dem schwarzen Vogel zum Glück entgeht. Das Zucken von Rabans Lippen bemerkt er nicht, oder übersieht er es geflissentlich?
»Das ist mein voller Ernst. Also, wo warst du?«
»Wo soll ich schon gewesen sein? Bei Zoe im geheimen Wald. Ich konnte nicht schlafen, weil ich mir mal wieder Sorgen um meine Kinder mache. Sie haben sich einem Trupp junger Fithiche angeschlossen und ziehen durchs Land. Ich wollte dich gedanklich kontaktieren und bekam dabei zufällig deine Nöte mit. Was denkst du nun über meinen Vorschlag? – Sollen wir Minerva aufsuchen? Vielleicht kennt sie eine Aufgabe für so ein eingespieltes Team, wie wir es sind.« Während der krächzenden Rede hat Röiven sich seinem Freund wieder ganz zugedreht. Er klappert mit den Augendeckeln und legt den Kopf schräg.
»Es tut mir leid«, beginnt Raban, »aber ich habe Finnegan, meinem Großvater versprochen, mit ihm das Museum in der Hauptstadt zu besuchen. Er liebt es genauso sehr, wie die Reise mit dem magischen Sprung dorthin. – Jetzt schau nicht so enttäuscht, ich komme in den nächsten Tagen bestimmt auf deinen Vorschlag zurück, vielleicht schon morgen oder übermorgen. – Großvater, möchte mir dort die Ausstellungen zu den verschiedenen Epochen der Menschheit zeigen. Er hofft, mich von den Gedanken an meine Eltern abzulenken. Er meint, dass ich im Museum besser verstehen lerne, warum Menschen in verschiedenen Kulturen manchmal unterschiedlich reagieren.«
Röiven sträubt die Kopffedern. »Meinst du damit auch, warum immer wieder wenige Menschen viele andere unterdrücken?« Er senkt die krächzende Stimme. »Das wissen wir doch längst. Wir haben es im Kampf gegen die Dubharan erlebt. Es geht immer um Macht und Reichtum und wie man sich das sichern kann.« Große, dunkle Augen blicken in die blauen des Jungen.
»Nein, darum geht es bei dem Besuch nicht. Großvater will mir die verschiedenen Kulturen der Menschen zeigen. Außerdem will ich dort nachforschen, welche Mythen es zu deren Zeiten gab.«
»Das hört sich kompliziert an!« Röiven gibt mehrmals kollernde Laute von sich, während Raban nickt.
»Ich denke, das ist es auch. Deshalb kann es vermutlich länger als einen oder zwei Tage dauern, bis wir gemeinsam etwas unternehmen können.«
»Ha. Da haben wir’s. Du willst dich lieber mit den alten Kult... Kulturen und den My... Dingsbums beschäftigen! Meine Kinder haben mich verlassen … und jetzt du auch noch.«
»Röiven! Ich lass dich nicht allein! Ich habe Finnegan mein Versprechen gegeben, ihn zu begleiten. Soll ich ihn enttäuschen?«
Der Rabe setzt mehrfach zu Sprechen an. Dann knarzt er leise:
»Nein, natürlich nicht!«
»Danke, mein Freund.«
»Na gut. Wir sehen uns!« Die Luft flirrt und Raban blickt, erstaunt über das schnelle Verschwinden, dorthin, wo der Kolkrabe soeben noch hockte.
»Röiven, du bist sauer, stimmt’s?«, sendet er gedanklich.
»Nö! Ich bin nur aufgebrochen, weil ich mich etwas im Land umsehen möchte. Vielleicht finde ich meine Kinder, bis du Zeit für uns hast.«
»Ich glaube, du schmollst doch.«
Von dem Kolkraben erfolgt keine weitere Antwort. Raban weiß, der Freund wird ihm durch seinen typischen Optimismus schon bald nicht mehr zürnen. Spätestens dann, wenn er sich überzeugt hat, dass es seinen Kindern gut geht, wird er sich wieder bei Raban melden. Bis dahin will er Finnegan in das Museum begleiten und abwarten, was er Neues zu den Kulturen der Ägypter, Griechen, Römer und Wikinger erfahren wird. Zur ersten gibt es seit mehreren Wochen sogar eine Sonderausstellung, in der Leihgaben aus dem größten ägyptischen Museum präsentiert werden. Bisher wurden darüber kaum Informationen bekannt. Raban ist sehr gespannt.
»Ich muss im Weidenweg nachsehen, wie es ihr geht!« Er kleidet sich in fliegender Hast an und wirft einen Blick aus dem Fenster. Das macht er eher automatisch, doch sofort bleibt er stehen. Auch wenn er hier hoch im Norden des Landes ist, wo der Morgen etwas später als im Süden beginnt, kennt er den Grund, warum er keine Verbindung zu dem Mädchen bekommt. Zuhause und im Weidenweg, wo Ilea mit ihrer Mutter Leana wohnt, ist es noch früh am Tag. Vermutlich schläft sie! Raban steht unschlüssig am Fenster und schlägt sich nach kurzem Grübeln die flache Hand vor die Stirn. »Dort hätte ich lange nach ihr suchen können. Sie ist mit ihrer Mutter während der Ferien im geheimen Wald.« Der Junge weiß, Ilea muss sich noch von den Ereignissen im Sommer erholen. Besonders der Angriff Morganas, den sie glücklicherweise mit Röivens Hilfe abwehren konnte, bedrückt sie sehr. Es hilft nichts, dass es in dem Moment darum ging, ob sie oder die dunkle Magierin sterben würde. Ihr Verstand sagt, genau wie alle, die von dem Ereignis wissen, dass sie sich keinen Vorwurf machen muss. Trotzdem erlebt sie immer wieder den Augenblick, als die Zauberin durch den von ihr zurückgeworfenen Fluch stirbt. Rabans Gedanken gleiten kurz zu diesem Ereignis zurück, dann klärt sich sein Blick. Er bemerkt, was draußen geschieht.
Die Blätter der Bäume beginnen, wie immer im Herbst, ihre Farbe zu ändern, doch noch sitzen sie fest an den Zweigen. Ein rotes Eichhörnchen huscht flink über den Boden und verschwindet in dem dichten Geäst eines Haselbusches. Bereits nach kurzer Zeit erscheint es wieder, diesmal mit einer Haselnuss im Maul. Es schaut sich suchend um, macht ein paar schnelle Sprünge und wechselt dann die Richtung. Es wirkt auf den Jungen so, als ob das Tier überlegt, wo es die Nuss am besten verstecken soll. Der buschige Schwanz wird dabei hin und her bewegt. Es sieht so aus, als ob er anzeigen würde, wie das flinke Tierchen, die Vor- und Nachteile zweier Möglichkeiten gegeneinander abwägt. Raban steht mittlerweile dicht am Fenster und beobachtet, dass die Frucht jetzt in einem großen Blumenkübel versteckt wird. Das Eichhörnchen ist gerade fertig, als es erschrocken fortstürmt.
Im ersten Moment meint der Junge, seinen Freund Röiven zu sehen, doch dann erkennt er, dass der schwarze Vogel kleiner ist. Geschickt landet die Dohle auf dem Rand des Blumenkübels. Sie macht einen Schritt vorwärts, senkt den Kopf und beginnt mit dem Schnabel nach der Nuss zu wühlen. Erdbrocken fliegen nach rechts und links, dann erklingt ein triumphierendes Krächzen. Im nächsten Moment richtet sich die Dohle auf. Raban sieht die vom Eichhörnchen sorgsam versteckte Frucht in ihrem Schnabel, bevor sich der schlaue Vogel vom Topfrand abstößt und davonfliegt.
»Du musst besser aufpassen, wenn du Dohlen in der Nähe bemerkst«, denkt er, womit er das Eichhörnchen meint. Der schwarze Vogel wird die Nuss schnell aufbekommen, das weiß er. Er lässt sie vermutlich aus größerer Höhe zu Boden fallen, oder er schleudert sie gegen einen Stein. In der kurzen Zeitspanne, die die Dohle damit beschäftigt ist, kann der kleine Vierbeiner verschiedene andere Verstecke erfolgreich für den Wintervorrat nutzen.
Auch wenn Finnegan sich nicht über das plötzliche Erscheinen seines Enkels wundern würde, wenn dieser den magischen Sprung nutzt, wendet Raban ihn im Haus nicht an. Er öffnet die Zimmertür und setzt auf der Treppe vorsichtig die Füße nur auf die Stellen, die ihn nicht durch plötzliches Knarren verraten. Er hat sich entschlossen, das Frühstück vorzubereiten, und will seinen Großvater vorher nicht wecken. Umso erstaunter ist er, als er am Fuß der Treppe den Duft nach frischem, heißen Kakao wahrnimmt. Er öffnet die Tür zur Küche und bleibt auf der Schwelle stehen.
»Guten Morgen Opa!«, unterbricht er den Mann, der leise vor sich hin summend, geschäftig umherläuft. Sofort dreht sich dieser um.
»Den wünsch ich dir auch, Raban.« Sein forschender Blick ruht zuerst auf der Schulter des Jungen und richtet sich dann in den Flur. »Wo ist denn dein Freund geblieben? Will er nicht mit uns frühstücken?« Die hochgezogenen Augenbrauen und das Grinsen auf seinem Gesicht deuten sein Erstaunen an. »Kommt er gleich noch, oder spielt er mir einen Streich?« Finnegan dreht sich schnell um und lässt den Blick durch die kleine Küche wandern.
»Röiven war nur kurz bei mir. Haben wir dich mit unserer Unterhaltung geweckt?«
»Nein, keine Sorge. In meinem Alter liegt man oft wach im Bett. Dabei geht einem Verschiedenes durch den Kopf. Ich habe das Knarzen von deinem Freund natürlich gehört, aber ich war bereits wach.«
»Zurück zu deiner Frage: Röiven macht sich mal wieder Sorgen um seine Kinder. Wenn er sie nicht ständig sieht, ist er unruhig und kann nicht richtig schlafen. Deshalb war er auch schon so früh bei mir. Er hoffte, mich zu einem Ausflug überreden zu können.«
»Und, hat er das?« Der alte Mann schaut ihn fragend an.
»Natürlich nicht. Ich habe dir doch versprochen …«
»Das ist schön und gut, aber einen Freund in der Not soll man nicht warten lassen.«
»Ich hatte dir aber bereits zugesagt, dich ins Museum zu begleiten. Als ich diesen Grund nannte, hat er das sofort verstanden und akzeptiert. Wir treffen uns stattdessen in ein paar Tagen.«
»Bist du sicher? Wir können unseren Ausflug auch verschieben.« Trotz dieser Worte erkennt Raban eine kleine Spur von Enttäuschung in Finnegans Augen.
»Kommt nicht in Frage. Röiven ist nicht wirklich in Not. Die Sorgen, die er hat, macht er sich selbst. Wenn ich Zoe darauf ansprechen würde, könnte sie mir das bestätigen. – Kann ich dir noch etwas beim Frühstück zubereiten helfen?« Doch der Tisch ist schon fertig gedeckt und der Großvater gießt heißen Kakao aus einem Krug in die bereitstehenden Becher.
Nach dem Essen hilft Raban beim Aufräumen, dann wechseln sie ins Wohnzimmer. Finnegan fordert den Jungen auf, sich in einen der Sessel zu setzen. Er nimmt ihm gegenüber Platz.
»Jetzt zu unserem Ausflug ins Museum. Wir haben dort in der Vergangenheit zweimal etwas zu den Griechen und ihrer Kultur, aber auch über ihre Mythen erfahren. Ich erinnere mich noch sehr gut an Medusa und Perseus.« Seine Augen blitzen, als er offenbar an die Statue denken muss, in die sich der böse Zauberer Baran verwandelt hatte, als ein auf Raban gerichteter Fluch auf ihn zurückgeworfen wurde. Auf Finnegans Rat hin, hatte der Junge den versteinerten Magier vor dem Museum platziert. Die Angestellten hatten die Figur als Schenkung eines unbekannten Gönners angesehen und sie in die Ausstellung über griechische Mythen und Götter integriert.
Raban denkt sofort auch wieder an Hekate. Die Figur der dreigestaltigen Göttin war von Morgana genutzt worden, um in der Zeit zu reisen. Damian hatte seinerseits im Sommer mit Hilfe dieses Artefaktes die böse Zauberin aus der Vergangenheit zurückgeholt. Voller Unbehagen schüttelt er sich. Sein Traum droht ihn erneut gefangen zu nehmen.
»Was meinst du, sollen wir uns die Welt der Römer näher anschauen? Sie waren ein mächtiges Volk, das ein großes Imperium errichtete. Viele ihrer Errungenschaften nutzen wir noch heute. Sie waren Meister im Wegebau. Viele der von ihnen angelegten Straßen werden seit ihrem Bau bis heute genutzt, genauso, wie die von ihnen gegründeten Städte. Jahrhunderte später kamen dann Wikinger, die oft zu Unrecht nur als grausame, blutrünstige Krieger beschrieben werden. Sie machten große Eroberungen, bei denen sie mit Feuer und Schwert gegen ihre Feinde kämpften. Aber sie waren auch Familienmenschen und nutzten Grundlagen der Demokratie, in denen, ungewöhnlich für die damalige Zeit, Frauen zu ihrem Recht kamen.«
Mit leuchtenden Augen wartet Finnegan auf die Wahl seines Enkels.
»Wir haben in der Schule schon einiges über Ägypter, Griechen, Römer, Kelten, Germanen, Sachsen und Wikinger durchgenommen. Das war aber sicher nur ein Kratzen an der Oberfläche. Wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich gern mehr über die Ägypter erfahren. Ich weiß, dass sie Pyramiden bauten, in denen sich ihre Herrscher bestatten ließen. Sie errichteten große Tempel, die mit Statuen ihrer Götter ausgestattet wurden. Am meisten interessieren mich die verschiedenen Gottheiten und die dahintersteckende Mythologie. – Gibt es bei ihnen eine der Hekate vergleichbare Gestalt?« Bei dieser Frage kribbelt die Kopfhaut des Jungen. Er macht sich wegen Morgana Sorgen. Warum sollte sie nicht wiederbelebt werden, so, wie sie auch aus der Vergangenheit in die Gegenwart gelangen konnte? Nur weil sie von ihrem eigenen Todesfluch getroffen wurde, muss das nicht bedeuten, dass sie durch keinen dunklen Zauber zu neuem Leben gelangen kann. Warum sonst sollte er erneut von ihr träumen? Das hat bestimmt etwas zu bedeuten, ist er überzeugt!
»Das ist eine gute Wahl!«, reißt Finnegan ihn aus seinen Gedanken. »Gerade die Welt der Ägypter ist sehr rätselhaft und liegt weit zurück. Ich will doch mal schauen, welche Bücher ich über sie besitze.« Rabans Großvater nennt eine kleine, aber sehr gute Bibliothek sein Eigen. Er steht auf und tritt vor die gefüllten Regale. »Isis und Osiris, hm. Anubis, ja. Horus und Seth, hm, hm.« Das Murmeln des alten Mannes wird für Raban unverständlich. Das stört ihn nicht. Er freut sich vielmehr, dass die Wahl seinen Opa offensichtlich begeistert. Während dieser mittlerweile drei Bücher aus den Fächern genommen hat, driften die Gedanken des Jungen in einen Traum hinüber. Er vernimmt wie im Sommer einen schrillen, verzweifelten Schrei. Sein Herz rast und kalter Schweiß steht auf seiner Stirn. Hat die dunkle Magierin Morgana tatsächlich einen Weg aus dem Totenreich zu den Lebenden gefunden? Passt der unheimlich klingende Aufschrei zu dem Traum vom Morgen?
Raban sitzt auf dem Boden im Arbeitszimmer in Mynyddcaer. Er erkennt es sofort. Im Brennraum des Kamins sind sorgsam geschichtete Holzscheite zu sehen und ein Vorrat davon befindet sich davor. Er vernimmt ein Geräusch und bemerkt, wie sich die Zimmertür öffnet. Der Junge will vorsichtshalber Röiven ermahnen, sich auf seiner Schulter ruhig zu verhalten, doch der ist nicht da! Ein Frösteln läuft ihm über den Rücken und die feinen Härchen im Nacken richten sich auf. Die Tür ist bereits einen Spalt breit offen. Kommt dort gleich Morgana herein, so wie damals, als er ihr in die Vergangenheit folgte? Der Junge erhebt sich vorsichtig. Schnell blickt er an sich hinab, um zu kontrollieren, ob der Tarnumhang ihn zuverlässig einhüllt. Sein Herz rast. Da fühlt er sich an der Schulter gepackt.
»Mein Junge, was ist los?« Raban fährt hoch und reißt die Augen weit auf. Erleichtert blickt er in das besorgte Gesicht seines Großvaters.
»Wa... was ist?«
»Sag du es mir. Ich suchte nach Büchern über die Ägypter, als ich dein Stöhnen hörte. Du musst Schlimmes geträumt haben, denn du hast Schweiß auf der Stirn. Ich schüttelte dich heftig, trotzdem konnte ich dich zuerst nicht wecken. Was war das für ein Traum?«
»Ein Traum? Ja hoffentlich. – Es war eine Sequenz, die ich im vorigen Jahr erlebte, als ich eine Zeitreise … Ich hatte dir davon erzählt. Aber Morgana, mit der ich es zu tun hatte, wurde im Sommer durch ihren eigenen Fluch getötet. Deshalb wundert es mich, dass ich die Bilder wieder vor mir sehe. – Heute Morgen habe ich ihr Gesicht ebenfalls gesehen. Gibt … gibt es eine Möglichkeit, das Totenreich zu verlassen? Wenn nicht aus eigener Kraft, dann vielleicht, wenn jemand anderes eine dunkle Beschwörung spricht oder so ähnlich?«
»Kommt daher dein Interesse für Ägypten?«
»Das stimmt. Die Ägypter hatten doch einen besonderen Totenkult. Weißt du etwas darüber?«
»Blickst du da durch? Warum gibt es bei denen so viele Götter, die auch noch unterschiedliche Eigenschaften haben?«
Finnegan schaut mit gekrauster Stirn zurück.
»Das ist wirklich schwierig. Die in diesem Buch aufgelisteten Götter sind sogar nur die wichtigsten. Daneben gibt es noch weitere und auch unzählige Dämonen. Ihre Möglichkeiten sind teilweise nur mit Hintergrundwissen der ägyptischen Kultur und Glaubensvorstellung zu verstehen. Ich vermute, wir könnten uns monatelang mit dem Studium aller erreichbaren Informationen beschäftigen, ohne das von dir Gewünschte herauszufinden. Eine Unterweisung durch einen oder mehrere Gelehrte, ich meine Professoren, wäre vermutlich hilfreich, wenn nicht sogar notwendig.«
Raban blickt ihn enttäuscht an. Er kennt außer Harald Ansaepluma keinen Professor. Dieser ist jedoch ein Fachmann für Tiere. Die Gedanken des Jungen schweifen kurz in das Jahr zurück, als er ihn kennenlernte. Das war, als der böse Zauberer Baran versuchte, alle Kolkraben im Land zu töten. Er lernte damals seinen Freund Röiven kennen, der ihn mit zu Minerva nahm. Von dieser weisen Eule bekamen sie den Auftrag, den bösen Zauberer zu stoppen. Ob die Eule ihm vielleicht weiterhelfen könnte? Das ist durchaus möglich, hofft Raban. Er greift zu den anderen Büchern, die sein Großvater herausgesucht hat. Er öffnet sie und schaut in die Inhaltsverzeichnisse, doch ohne ein Kapitel darin zu lesen.
»Ich hatte mir das viel einfacher vorgestellt. – In der Schule haben wir im Geschichtsunterricht die Gottheiten besprochen, die bei den Römern und Griechen zwar unterschiedliche Namen tragen, aber gleiche Eigenschaften besitzen. Ich hoffte …«
»..., dass es Vergleichbares von Griechen und Ägyptern gibt«, ergänzt Finnegan den verstummten Jungen. »Ich glaube, danach suchst du in meinen Büchern vergeblich. Falls es eine derartige Gegenüberstellung überhaupt geben sollte, dann vielleicht im Museum. – Dort bekommen wir zumindest einen Eindruck der weltlichen Vorstellung und des Totenkults der alten Ägypter.«
Raban steht mit einem Seufzer auf und legt die Bücher auf den Tisch.
»Was meinst du, sollen wir jetzt den Ausflug in die Hauptstadt machen? Ich schlage vor, dass wir den magischen Sprung dorthin nutzen, wo wir schon mehrmals unseren Besuch begonnen haben. Dort werden wir hoffentlich nicht auffallen!« Beide ziehen eine Jacke über, dann legt Finnegan mit leuchtenden Augen eine Hand auf Rabans Arm. Er schaut kurz auf seine Armbanduhr.
»Das Museum hat bereits geöffnet. Könnten zu dieser Zeit nicht zu viele Menschen dort sein, die sich über unser plötzliches Erscheinen wundern werden?« Raban zuckt kurz mit den Schultern. Auszuschließen ist das nicht, aber die Stelle, an der sie ankommen werden, ist etwas geschützt. Bevor er »Portaro« sprechen kann, lässt Finnegan seinen Arm los und verlässt das Wohnzimmer. Aus dem Flur ist das Drehen eines Schlüssels im Türschloss zu vernehmen, dann kommt der Großvater zurück. »Ich musste nur noch die Haustür verschließen. Ich hatte sie heute Morgen geöffnet, um einen Blick auf den Himmel zu werfen. Auch wenn wir mittels Zauber reisen, interessiert mich das Wetter doch.«
»Aber die Hauptstadt ist ziemlich weit entfernt. Was nützt dir da hier ein Blick auf den Himmel und die Wolken?«
»Natürlich nichts. Es ist nur so eine Angewohnheit. Aber jetzt können wir, wenn es dir recht ist.«
Schon flirrt die Luft.
Das Gleißen lässt nach und sie stehen hinter einer Telefonzelle in der Nähe zum Eingang des Museums. Der Junge schaut sich vorsichtshalber um, bevor sie auf den Weg treten, der im hellen Sonnenschein liegt. Ihre Ankunft ist nicht bemerkt worden! Vereinzelte Spinnfäden ziehen sich über die Büsche am Wegrand und glitzern hell. Finnegan fasst nach Rabans Hand und zieht ihn eilig mit sich. Der Junge lächelt über seinen Opa, der es offensichtlich nicht erwarten kann, ins Museum zu kommen. Nach den ersten Schritten zögert er und bremst den alten Mann. Er spürt ein Kribbeln im Nacken. Raban hält an, dreht sich um und lässt seinen forschenden Blick umherschweifen. Obwohl weit und breit niemand zu sehen ist, der ihm verdächtig vorkommt, ruft er um sich und Finnegan mit »Sgiath« und »Protego« schnell einen magischen Schutz auf. Eine Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand schließt er als Bedrohung aus, zumal sie sich entfernen. Radfahrer kommen auf sie zu und fahren vorbei. Der Weg wird offenbar als Abkürzung zwischen zwei vielbefahrenen Hauptstraßen genutzt, und trifft vor ihnen wieder auf eine Autostraße. Die dort vorbeirauschenden Autos ziehen noch schneller vorbei, kommen also auch nicht in Betracht, da sie sich vor ihm befanden, als er das seltsame Gefühl hatte. Auch jetzt meint er, einen Blick auf sich gerichtet zu spüren. Ganz langsam dreht sich der Junge um die eigene Achse, wobei die Augen die direkte und weitere Umgebung durchforschen. Seine Lippen murmeln »Aperio«, um eine versteckte magische Gefahr erkennen zu können. Finnegan folgt dem Benehmen des Enkels und blickt ebenfalls um sich.
»Spürst du eine Gefahr?«, flüstert er.
»Ja!«, antwortet Raban ebenso leise. »Etwas stimmt hier nicht. Ich kann jedoch nicht erkennen, was es ist!«
Mit einem Krächzen, das fast lachend klingt, erhebt sich eine Krähe aus einer Baumkrone und fliegt fort. Gleichzeitig bricht völlig unerwartet ein Chaos aus. Laute Alarmsirenen heulen und grelles Licht schießt auf die beiden zu. Sie bücken sich erschrocken und hasten vom Weg zurück hinter die Telefonzelle. Waren das Feuerkugeln? Raban mag es nicht glauben.
»Bring uns zurück, nutz deine Zauberkräfte!«, fordert Finnegan aufgeregt, während der Junge noch zögert.
»Das ist kein Angriff auf uns. Irgendetwas scheint im Museum passiert zu sein! Schau nur. Das Licht kommt von mehreren Alarmleuchten an der Fassade und vom Dach, die ihre gelben Strahlen rundum aussenden.« Erleichtert stimmt der Großvater seinem Enkel zu. Etwas grinsend über ihre seltsame Reaktion verlassen sie ihr Versteck. Es ist eindeutig ein Alarmsignal, dessen an- und abschwellender Ton mit heftiger Lautstärke die Aufmerksamkeit aller Passanten auf sich zieht. Autos und Fahrradfahrer halten auf der Straße, auf die der Weg führt. Alle starren verwundert zu dem Gebäude.
»Wir sollten nachschauen, was dort los ist«, fordert Raban und zieht Finnegan mit sich. Nach wenigen Minuten stehen sie vor den großen gläsernen Eingangstüren zum »Anthropologischen Museum«. Der Schriftzug ist gegen das immer wieder aufblitzende Licht der Warnleuchten kaum zu lesen. Sie wollen eine Glastür öffnen und hineingehen, doch beide sind verschlossen. Bei der Berührung des Türgriffs leuchtet die Schutzglocke kurz auf, bevor Raban sie schnell aufhebt. Das wird zum Glück von den vielen Menschen um sie herum in dem immer wieder aufflammenden Alarmlicht nicht weiter beachtet. Zusammen mit ihnen schauen sie verwundert in den Eingangsbereich. Die Öffnungszeit wurde doch nicht geändert? Nein, das ist nicht der Grund, erkennt der Junge mit einem Blick auf die entsprechende Tafel. Also muss es mit dem Alarm zusammenhängen!
Erneut spürt Raban ein Gefühl, wie es auftritt, wenn man angestarrt wird. Hastig dreht er sich um. Doch er schaut nur in die Gesichter anderer Menschen, die wie er nach der Ursache für den Alarm forschen. Jetzt erklingen näherkommende Signale von Einsatzfahrzeugen der Polizei. Auf der verstopften Straße kommen sie jedoch nicht weiter. Türen werden aufgerissen und erste Uniformierte beginnen, den Stau aufzulösen. Pfiffe schrillen durch die Luft und befehlsgewohnte Stimmen geben Anweisungen. Vereinzelte Autohupen antworten. Nur langsam gelingt es den erfahrenen Ordnungshütern, den Verkehrsstau aufzulösen. Sie müssen Straßensperren errichtet haben, da sich keine weiteren Fahrzeuge nähern. Das Blaulicht huscht geisterhaft über die Fassade des Museums und mischt sich mit dem gelben. Als Raban heftig am Arm ergriffen und zur Seite gezogen wird, fährt er mit einem Abwehrzauber auf den Lippen herum. Den Spruch verschluckt er hastig, trotzdem schaut ihn der Polizist fragend an.
»Na, mein Kleiner, hast du etwas zu sagen? Hattest du ein Schimpfwort auf den Lippen?«
»Oh. Nein. Ich wollte Opa nur fragen, warum er mich so herumreißt.« Sein Blick wirkt unschuldig und richtet sich auf Finnegan, der auf der anderen Seite von einem zweiten Polizisten festgehalten wird.
»Lassen sie meinen Enkel los!«, fordert der mit energischer Stimme. »Wir wollen ins Museum und haben nichts gemacht.«
»Wir wollen auch hinein!«
»Was ist denn passiert?«
Stimmen klingen durcheinander. Es ist offensichtlich, die Menschenmenge will ins Museum, in dem etwas passiert sein muss. Sonst gäbe es nicht das Großaufgebot der Polizei! Mittlerweile haben sich zehn von ihnen bis an die Eingangstüren gedrängt. Sie schieben die Menschen zurück.
»Das Museum ist ein Tatort!«, beginnt der Beamte, der nach einem letzten forschenden Blick Raban endlich freigibt. »Es bleibt auf unbestimmte Zeit geschlossen. Und jetzt lassen sie uns unsere Arbeit machen.« Vermummte in weißen Schutzanzügen schieben sich nach vorn. Das Geräusch einer sich öffnenden Verriegelung veranlasst die Polizisten, die Menschen noch weiter zurück und zur Seite zu drängen. Die Beamten in ihren Schutzanzügen verschwinden zuerst durch die Türen, dann folgen mehrere Menschen in Zivil, die von den Polizisten mit einem Kopfnicken gegrüßt werden. Zum Schluss folgen vier der uniformierten Beamten, die anderen bleiben draußen und beginnen, weitläufig Absperrband zu spannen, zuerst um den Eingangsbereich, dann um das gesamte Gebäude. Anschließend stellen sie sich breitbeinig vor die Absperrung, das Gesicht den Schaulustigen zugewandt.
»Geht weiter, Leute. Hier gibt es nichts zu sehen«, fordern sie immer wieder. Tatsächlich wird es vielen der Schaulustigen auf Dauer zu langweilig. Sie beginnen sich zu zerstreuen. Die Alarmsirene verstummt mit einem klagenden Laut und auch die Lichter erlöschen. Jetzt künden nur noch die Polizisten und das Absperrband davon, dass hier etwas Außergewöhnliches passiert ist.
»... die bisherigen Ergebnisse. In der ägyptischen Ausstellung sind ein Sarkophag geöffnet und die Bandagen der darin liegenden Mumie unsachgemäß entfernt worden. Die Experten sagen, die einbalsamierte Leiche habe wie durch ein Wunder keinen Schaden genommen. Unabhängig davon muss die Jahrtausende alte Umhüllung durch Fachleute wiederhergestellt werden. Walid Neithphys, ein Professor der Ägyptologie an der Universität der Hauptstadt, informierte uns, dass das mehrere Tage Arbeit bedeute. Außerdem machte er darauf aufmerksam, dass offenbar nur eine Grabbeigabe fehlt, deren Wert lediglich archäologisch von Bedeutung sei. Der materielle Wert ist eher gering, da es sich lediglich um Papyrusblätter und nicht um Artefakte aus Gold handle. Er nannte es ein Totenbuch, das höchstens für Privatsammler von Interesse sein könnte! Wer für diese Tat verantwortlich ist, können unsere Kriminalisten noch nicht sagen. Die Ermittlungen zielen in verschiedene Richtungen. – Eine Aufforderung geht an die Besucher, die zu dem Zeitpunkt im Museum waren: Sollten sie den oder die Täter beobachtet haben, melden sie sich umgehend. Außerdem bitten wir um Hinweise darauf, wie eine schwarze Vogelfeder neben den Sarkophag gelangt ist. Sie könnte von einer Dohle, Krähe oder einem Raben stammen. Möglicherweise war sie als Schmuck an einem Hut oder Mantelkragen befestigt und ist zufällig herabgefallen. Falls sie darüber etwas wissen, melden sie sich. Hinweise werden von jeder Polizeidienststelle entgegengenommen. Vielen Dank!«
Der Junge schaut seinen Großvater an. Bei der Nennung des verschwundenen Totenbuchs läuft ihm ein kalter Schauer über den Rücken.
»Wofür brauchen Tote ein Buch, oder sollten darin Familienangehörige verzeichnet sein, die bereits gestorben sind?« Raban blickt Finnegan mit großen Augen an. »Aber was es auch sein mag, es ist bestimmt von Bedeutung, sonst wäre es dem Verstorbenen nicht mitgegeben worden.«
»Leider haben sie keine Bilder von der Mumie gezeigt«, entgegnet der alte Mann gedankenverloren, ohne auf die Frage einzugehen. Ihn beschäftigt etwas anderes. »Sie sagten auch nicht, welche Mumie derart geschändet worden ist.«
»Gibt es denn mehr als eine im Museum?«
»Soweit ich weiß, befinden sich dort mehrere, die in ihren aus Kalkstein gefertigten Sarkophagen ruhen. Die sind innen und außen mit Malereien verziert. Beispiele hast du sicher in meinen Büchern gesehen. Im Rahmen der aktuellen Sonderausstellung wurden von einer ägyptischen Universität zwei besonders reich verzierte ausgeliehen. Sollte einer dieser beiden geöffnet worden sein, ist der Imageschaden für unser Museum größer als alles andere.« Finnegan schüttelt den Kopf. »Und dann soll nur ein Totenbuch geraubt worden sein? Das kann und will ich nicht glauben.« Raban wartet etwas, bis sich sein Großvater beruhigt, dann wiederholt er seine Frage. Diesmal erhält er eine Antwort. »Ich bin kein Fachmann, also kein Ägyptologe, versuche aber trotzdem eine Erklärung. Wenn im alten Ägypten der Gottkönig oder einer der hohen Beamten starb, wurden sie in für sie errichteten Pyramiden bestattet, die innen mit mächtigen Sprüchen ausgemalt waren. Diese halfen ihnen auf ihrem Weg in der Anderswelt, und um schließlich vor dem Totengericht zu bestehen, damit sich ihre Seele im Jenseits mit dem einbalsamierten Körper wieder vereinen konnte. Das war die Voraussetzung für ein ewiges Leben. Später nutzten auch weniger hochstehende Bürger diese Sprüche. Doch sie wurden nicht wie bisher auf die Wände einer Pyramide, oder zumindest auf einen Sarg gemalt. Sie nutzten eine mehrere Meter lange, mit den verschiedenen Sprüchen beschriebene Papyrusrolle. Sie wurde unter den Kopf des Verstorbenen gelegt oder auch als einzelne Blätter in die Bandagen der Mumie eingewickelt. Diese Rolle und auch die Papyrusblätter werden als Totenbuch bezeichnet, das eine Sammlung von fast 200 Zaubersprüchen enthalten kann.« Raban rieselt erneut ein Schauer über den Rücken.
»Warum weiß ich das nicht? Sorcha hat mir doch das gesamte Wissen der Elfen verliehen. Kennen sich Elfen nicht mit den Zauberkräften der Ägypter aus?«
»Das weiß ich nicht. Du solltest sie danach fragen. – Und ob diese Zaubersprüche derart mächtig wie die der Elfen, Raben oder auch deine sind, kann ich genauso wenig sagen. Sie waren in der religiösen Anschauung der Ägypter aber sehr wichtig. Das Totenbuch zeigte dem Verstorbenen den Weg durch die Unterwelt, auch wenn er kein König war. Er konnte mit Hilfe der darin notierten Sprüche Gefahren überwinden, die in der Totenwelt auf ihn lauerten. Und vor dem Totengericht des Osiris half das Totenbuch, die richtigen Worte zu sprechen, damit die Seele mit dem Körper wiedervereinigt werden konnte.«
»Warum stiehlt jemand eine derartige Papyrusrolle? Sollte es ein Dieb sein, der an Ägyptologie interessiert ist?« Raban wiegt abwägend den Kopf. »Kennst du mögliche Fragen, die vor diesem Totengericht behandelt werden?«
»Es geht im Grunde darum, ob der Verstorbene ein guter Mensch gewesen ist, oder ob er beispielsweise anderen Leid zugefügt oder Zwang angetan hat. Die Sprüche sollen ihm helfen, diese Anhörung zu überstehen. Gelingt ihm das nicht, wird er zum zweiten und endgültigen Mal sterben.«
»Das scheinen mir keine wirklichen Zauber zu sein.«
»Sie sind nicht mit deinen Kräften zu vergleichen, trotzdem glaubten die Ägypter, mit Hilfe dieser Sprüche vor dem Gericht bestehen zu können, auch wenn sie nicht so gelebt hatten, wie es gefordert wurde. Sie konnten damit Osiris, einen ihrer höchsten Götter, überlisten.«
»Hm. Trotzdem erkenne ich keinen Grund, warum heutzutage jemand Interesse daran haben sollte.«
»Ich auch nicht!«, bestätigt Finnegan. »Hast du mitbekommen, wann das Museum wieder geöffnet wird?«
»Davon hat der Sprecher nichts gesagt. Wir sollten es einfach morgen versuchen. Mit meinen magischen Fähigkeiten ist das kein Aufwand.«
»Einverstanden. Ich freue mich. – Was hast du jetzt vor?«
»Ich werde in deinen Büchern über Ägypten lesen. Vielleicht erfahre ich darin mehr über die seltsamen Anschauungen dieser Menschen.«
Die nächsten Stunden sitzt Raban in einem bequemen Sessel und liest mit roten Ohren vom Kampf zwischen den Götterbrüdern Seth und Osiris. Atemlos verfolgt er, wie der neidische Bruder den rechtmäßigen Herrscher Osiris überlistet und in einer mit Blei umhüllten Kiste im Nil versenkt, aus der ihm ein Entkommen unmöglich ist. Dessen Frau, die Göttin Isis, bringt im Geheimen einen Sohn zur Welt, der vor Seth verborgen, bei den Menschen aufwächst. Nach langer Suche gelingt es Isis, den Leib von Osiris zu finden und nach Ägypten zu bringen. Durch mächtige Zaubersprüche holt sie ihn wieder ins Leben zurück.
Doch ihr Mann wird erneut von seinem Bruder Seth getötet, der ihn erschlägt, zerstückelt und die Teile in ganz Ägypten verteilt. Isis irrt durch das Land, um die Leichenteile ihres Mannes zu finden und wieder zusammenzusetzen. Das gelingt ihr auch, lediglich ein Körperteil ist nicht aufzuspüren, da es von einem Krokodil gefressen wurde. Isis versucht, das fehlende Stück durch eine Holzkopie zu ersetzen. Doch dadurch schlägt die Wiedererweckung fehl, weshalb Osiris zum Herrscher über das Totenreich wird.
Raban hält mit angehaltenem Atem inne. Isis vermochte also, Tote wiederzuerwecken! Ist darin eine Ähnlichkeit zu den Eigenschaften der Hekate zu sehen? Er schnappt sich das erste Buch mit der Liste der Götter. Darin wird Isis als eine mütterliche Göttin, die Göttin der Genesung, des Schutzes und der Magie beschrieben. Mit Bezug zum Osiris-Mythos wird sie auch als Totengottheit und die Göttin der Wiederbelebung verehrt. Das passt nicht ganz zu den Merkmalen der Hekate, stellt Raban erleichtert fest.
Dann liest er etwas über die Funktion des Totenbuches, die Finnegan nicht nannte und ihn erneut stutzen lässt. Er stolpert beim Weiterlesen nur kurz darüber, dass ein Verstorbener um magische Unterstützung durch Isis bittet, wenn er vor dem Totengericht steht. Wesentlich wichtiger erscheint ihm aber, dass die magischen Sprüche helfen, am Tage die Welt der Lebenden zu besuchen. Deshalb heißt das Totenbuch bei den alten Ägyptern »Buch vom Herausgehen am Tage«. Abends konnte die Seele mit Hilfe des Buches dann wieder mit der Sonnenbarke des Re durch die Unterwelt reisen.
Raban versucht, sich zu konzentrieren. Er schließt die Augen. Heißt das dann, dass mit Hilfe des Totenbuches ein Verstorbener das Diesseits besuchen kann? Bezieht sich das nur auf die Seele des Toten, oder auch auf den mit ihr vereinigten Körper? Und welche Kräfte hat dieser Gestorbene dann hier? Erst nur verschwommen, aber dann immer schärfer, erblickt er das Bild der bösen Zauberin Morgana. Ihre dunklen Augen scheinen ihn hypnotisieren zu wollen. Dann ändert sich ihr Aussehen. Sie ist soeben noch eine großgewachsene Frau, eingehüllt in ihren dunklen Überwurf, auf den ihr langes, schwarzes Haar niederfällt. Dann bewegt sie die Arme zusammen mit dem Umhang, was so wirkt, als ob ein großer Vogel seine Schwingen öffnen will. Fast unmerklich beginnt sie zu schrumpfen. Raban will dies bereits als gutes Zeichen deuten, da läuft ihm ein eisiger Schauer über den Rücken. Morgana ist zu einem schwarzen Vogel geworden. Es ist kein Kolkrabe, das erkennt er sofort, sondern eine Rabenkrähe, deren dunkle Augen ihn unverwandt anstarren. Mit einem herausfordernden Krächzen breitet sie die Flügel und schwingt sich in die Höhe. Ein erneuter rauer Schrei erklingt und der Vogel verschwindet. Schaukelnd sinkt eine bläulich glänzende, schwarze Feder langsam zu Boden. – Was hat das zu bedeuten? Kann Morgana im Museum gewesen sein und das Totenbuch gestohlen haben? Der Junge kann keinen klaren Gedanken fassen, nur allmählich stellt er fest, dass das Krächzen wieder lauter wird. Kommt Morgana zurück? Das Knarzen wird zu einer verständlichen Stimme.
»Was vernehme ich, du bist in deinen Gedanken immer noch bei der dunklen Magierin? Ich dachte, du wolltest mit Finnegan ins Museum. – Halt, bevor du mich wieder ausschimpfst, etwas anderes. Du glaubst gar nicht, wie anstrengend die Suche nach meinen Kindern ist. Ich vermag schon nicht mehr geradeaus zu fliegen. Ich frage dich wirklich ungern, aber … hättest du ein paar Schokobrocken für mich? Ich muss mich dringend stärken. Ich fühl mich schlapp, so richtig ausgelaugt …«
»Lass mich doch endlich zu Wort kommen. Klar bekommst du Schokolade …«
»Hey, hurra. Auf meinen Freund ist Verlass! – Wo steckst du denn? Dein Zimmer ist leer.«
Der Junge öffnet die Augen, als er leicht geschüttelt wird. Dass sie noch geschlossen waren, hatte er nicht bemerkt. Sein Großvater lächelt ihn an.