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Beryl erschrickt, als ihre Schüler nach draußen stürmen und im Schnee toben. Obwohl nur wenig Schnee auf dem Boden liegt, fliegen bereits die ersten Schneebälle. SCHNEE! Seit Jahrzehnten hat es im Elfenwald nur eine Jahreszeit gegeben: Frühling! Aber nicht nur in der Anderswelt scheint das Wetter verrücktzuspielen. Annas Vater Aedan hat vom Rückgang des Eises in den Polarregionen berichtet. Ist der heftige Wintereinbruch ein Beweis für den Klimawandel, aber anders als erwartet? Anna bekommt zum 12. Geburtstag vom Vater eine Kette mit Anhänger geschenkt. Sie gehörte einst ihrer Mutter. Von den Abenteuern im Andersland berichtet sie ihm nicht. Sie befürchtet, er könne ihr die Reisen dorthin verbieten. Obwohl dort gerade auf ein kleines Mädchen große Gefahren lauern, hätte er das nicht, sondern Anna von einer unbekannten Seite ihrer Mutter Lapis berichtet. Hoch im Norden der Anderswelt wächst die Eis- und Schneedecke zu ungeahnten Dimensionen heran und breitet sich unaufhaltsam aus. Ainoa bitte Anna um Hilfe. Gemeinsam suchen sie nach der Ursache für die ständig zunehmende Ausdehnung des Eises. Dabei erfährt das Mädchen Erstaunliches.
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Seitenzahl: 353
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Anna Q
und das Erbe der Elfe
Fantasy-Roman
Norbert Wibben
Anna Q
und das Erbe der Elfe
Anna Q, Band 3
Für Fritz und Manuela sowie Hans und Mechtild,
best friends ever!
In Erinnerung an viele schöne Vorleseabende mit meinen Kindern verpacke ich auch diese Geschichte in den bekannten Dreizeiler:
Ein Huhn und ein Hahn – …
Ein Portal
Wintereinbruch
Unerwartetes Treffen
Auf zum Vergleichswettkampf
Ein Rätsel
Ergebnis des Vergleichswettkampfs
Siegfrieds Wohnung
Eine Erklärung
Schnee im Elfenwald
Eine weitere Erklärung
Drakene jarl
Ein Traum
Auf in den Norden
Hoch im Norden
Reisegefährten
In der Herberge
Gefahr!
Eine unerwartete Begegnung
Elfenfestung
Ein Drachenei
Dracheneier
Der Jungdrache
Erster Tag
Eine schmerzhafte Trennung
Notlandung
Eine veränderte Insel
Die Erklärung?
Überlegungen
Seltsames Licht
Schutzzeichen
Vorbereitungen
Auf der nördlichen Insel
Die Eismaschine
Ein Vorschlag
Der Torbogen
Ein Versuch
Iain Raven
Ein Schachwettkampf
Zaubersprüche
Danksagung
Ein Huhn und ein Hahn – die Geschichte fängt an
Ein frischer Wind bläst Siegfried Back ins Gesicht. Sein dunkler Umhang bauscht sich, zerrt heftig an der Gestalt des düster blickenden Mannes. Das Kleidungsstück kann ihn nicht gegen den kalten Regen schützen, das besorgt ein Zauberspruch. Ein weiterer verhindert, dass das Auftreffen des Wassers auf den Schutzschirm diesen andauernd zum Aufleuchten bringt. Lediglich ein guter Beobachter würde bemerken, dass weder die Haare des Mannes noch der Stoff seiner Kleidung nass werden. Das hätte zu Unverständnis und unzähligen Spekulationen geführt oder abergläubische Reaktionen hervorgerufen.
Der Cythraul besucht zum wiederholten Mal den größeren der auf der Insel vorhandenen zwei Steinkreise. Gedankenverloren meint er, seine Mutter an der Seite zu haben. Siegfried horcht mit freudigem Lächeln auf, sollte das soeben ihre Stimme gewesen sein? Sein Kopf fährt hoch und die Augen suchen nach ihr. Dort, zwischen diesen zwei Steinplatten ist doch etwas! Stammt der Schatten von ihr, den er zu sehen glaubt? Siegfried hastet dorthin, wird jedoch vom Blöken eines Schafes empfangen. Er wischt sich über die Augen und versucht, vernünftig zu bleiben.
»Mutter ist seit Jahren tot. Sie wurde in der Universitätsstadt begraben, da kann sie unmöglich hier herumlaufen.« Diese Gedanken sagt sich Siegfried immer wieder. Er schüttelt das Gefühl ab, ihr Geist könne ihm einen Streich spielen. »Das ist absolut unmöglich!«
Er vermutete bisher, der Steinkreis sei ein besonderer Ort. Er meinte sogar, bei jedem neuen Besuch, starke Kraftlinien zu spüren. Sie müssen von magischen Kräften stammen, die ihm bei der Rückkehr in seine Welt helfen werden. Doch bisher waren alle Versuche vergeblich. Ob das doch an den fehlenden Haselbüschen liegt?
Der Cythraul beschließt nach unzähligen vergeblichen Versuchen, auf dieser Insel einen Weg, eine Art Übergangsportal zwischen den Welten entstehen zu lassen. Dabei werden die Notizen Iain Ravens über die Schaffung des Zauberwaldes nützlich sein. Wenn dem Schulleiter eines Internats gelungen ist, etwas derart Verzwicktes zu verwirklichen, muss es ihm doch ebenso möglich sein. Dann müsste er zukünftig nicht erst nach Haselbüschen oder anderen magischen Orten suchen.
Seid Greif hat auch schon genaue Vorstellungen davon, wie dieser erste Stein zur Erreichung der Herrschaft in zwei Welten aussehen soll. Es jedoch in der Nähe eines der Steinkreise zu errichten, wäre nicht klug. Sie gelten als mystische Stätten und werden sogar hier in der Anderswelt von Menschen und Elfen besucht. Sie könnten versucht sein, das Portal zu verändern oder es gar zu zerstören. Er weiß, dass gerade Menschen manchmal derartige Dinge tun, ohne einen Grund dafür zu haben. Das hat er selbst schon unzählige Mal getan! Nein, der Aufstellungsort muss für die Allgemeinheit unzugänglich sein!
Sein Blick schweift suchend umher, als der Regen plötzlich aufhört. Die Sonne bricht durch die vorhin noch geschlossene Wolkendecke und erhellt einen Berg. Von einer Stelle in seiner zerklüfteten Flanke wird das Licht reflektiert und weckt das Interesse des Cythrauls. Er nutzt den magischen Sprung und betrachtet den Ort aus der Nähe. Was er sieht, gefällt ihm derart gut, dass er sich den Platz genauestens einprägt. Dadurch wird es ihm möglich, jederzeit und fast im Schlaf, die Stelle wiederzufinden. Das ist wichtig, denn hier will er das Übergangsportals errichten. Sofort macht er sich mit Hilfe der Kladde Iain Ravens ans Werk.
Er murmelt Zaubersprüche, die die Luft knistern lassen. Blitze zucken über den grauen Himmel und Donner grollen. Doch all das stört den Zauberer nicht. Er fährt konzentriert mit den Beschwörungen fort. Wenn sein Werk geschafft und die gewünschte Funktion aktiviert ist, will er sofort zurück in seine Welt wechseln. Auf derselben Stelle der gleichen Insel wird er ein identisches Portal errichten, um den Weg auch in Gegenrichtung nutzen zu können. Siegfried arbeitet konzentriert, lässt sich weder vom wieder einsetzenden Regen noch von zunehmender Dunkelheit stören. Um Mitternacht unterbricht er die Arbeit, um einige Stunden auszuruhen.
»Wenn mir ein Fehler unterläuft, bleibe ich womöglich zwischen den Welten hängen. Ich muss hellwach sein, wenn ich die nächsten Zauberformeln nutze!« Es widerstrebt ihm zwar, die Arbeit zu unterbrechen, aber sicher ist sicher! Um sich von dem großen Werk abzulenken, nimmt er Kontakt zu einem seiner Helfer auf.
»Tan Heliwr. Ich werde endlich den Übergang in meine Heimat schaffen. Ein Wechsel zwischen den Welten ist vermutlich schon bald möglich. Dann werdet ihr mir bei der Realisierung eines neuen Plans helfen. Informiere alle Drachen, dass sie sich bereithalten herbeizueilen, sobald ich sie rufe!«
»Seid Greif, mein Herr und Meister! Ich folge eurem Befehl! Ihr seid schon so gut wie sicher der Herrscher beider Bereiche.« Die Stimme des Feuerdrachen trieft vor Unterwürfigkeit. Davon lässt sich Siegfried nicht täuschen. Er weiß, was er an dem Verbündeten hat, aber auch, wie gefährlich ihm diese Kreatur werden kann, wenn er einen Moment nicht aufpasst.
»Ganz so weit sind wir noch nicht, aber bald.«
Schneeflocken und Hagelkörner erscheinen vor seinem geistigen Auge, wirbeln durcheinander und türmen sich zu immer höheren Gebilden auf.
Beryl ist für die üblichen Verhältnisse der Elfen sehr jung, um die Aufgabe einer Ausbilderin und Lehrerin der Kinder zu übernehmen. Sie hat schwarze, lange Haare, die sie geflochten und um den Kopf gelegt trägt. Das Blau von Beryls Augen ist anders als bei den meisten ihrer Artgenossen nicht tief dunkel, sondern wasserhell. Sie ist eine von den Kindern geachtete Autorität. Der unerwartete Schnee hat nur kurzfristig, dafür umso heftiger, die sonst bei allen Elfen ausgeprägte Selbstbeherrschung außer Kraft gesetzt.
Beryl ist selten unsicher, wie sie sich verhalten soll, sie urteilt und reagiert schnell. Sie lässt die Schüler sich austoben, dann steht die Lehrerin mit wenigen Schritten zwischen den Fronten der sich mit Schnee bekämpfenden Parteien und hebt energisch beide Arme. Sie fordert mit ruhiger Stimme von den Anführern der Gruppen, dass unter deren Aufsicht die Kinder in die Schulräume zurückkehren und sich dort aufwärmen sollen.
»Ich will nur kurz zu unserer Königin. Ich muss ihr dringend eine Beobachtung mitteilen. Ich bin gleich zurück und verlasse mich auf euch, dass ihr bis dahin keinen Unsinn macht!« Einige Schüler ziehen maulige Schnuten, doch ohne laut zu protestieren. Wohingegen die Kleineren unter ihnen froh aufblicken. Deren Kleidung zeugt mit mehreren feuchten Stellen davon, dass sie von den Schneebällen der Gegner oft getroffen wurden. Obwohl es deren Trägern dementsprechend kalt sein muss, hätten sie noch nicht aufgegeben, um nicht als Weichlinge zu gelten. Die Hände aller sind mittlerweile blass-weiß und werden an einzelnen Stellen dunkelrot, somit ist das Aufwärmen in den Schulräumen inzwischen dringend angezeigt. Die Anführer geben kurze Befehle, dann setzen sich die zwei Gruppen in Bewegung. Beryl nickt zufrieden, doch die dunkle Wolke auf ihrer Stirn verschwindet dadurch nicht. Sie betrachtet verwundert die Schneedecke, die inzwischen eine handbreit hoch liegt. Die Luft flirrt bläulich, dann ist die Lehrerin verschwunden.
Zur gleichen Zeit im Internat Cinnt caisteal, das von den Schülern CC abgekürzt wird. Seit zwei Wochen türmen sich ungewöhnlich große Schneemassen in dieser Region des Landes. Das drei Tage dauernde Schneetreiben führte zu Schneeverwehungen auf allen Straßen, somit auch auf der vom nächsten Ort zur Schule. Die Verbindung dorthin konnte erst vor zwei Tagen wiederhergestellt werden. Im Park sind die Wege schneller geräumt worden. Der stets grummelige Hausmeister hätte das nicht allein schaffen können, weshalb ihm in den ersten Tagen nach dem Schneefall während der Sportstunden Schüler der oberen Jahrgänge mitgeholfen haben.
Anna schaut aus ihrem Fenster auf das verzauberte Parkgelände. Dicke Schneemützen bedecken die meisten Bäume, aber ebenso Säulen, Pfosten und sogar die Spitzen der Stäbe im Eisengitter, das das Schulgelände umschließt. In der Schneedecke sind Spuren unterschiedlicher Tiere zu erkennen. Sie stammen vornehmlich von kleineren Vögeln, aber auch von Mäusen, die sich auf der Suche nach Nahrung der Gefahr aussetzen, von Greifvögeln geschnappt zu werden. Annas Blick sucht den Haselbusch, unter dem sie im Sommer erstmalig mit Ainoa ins Andersland gereist ist. Dort laufen sternförmig viele Spuren zusammen.
»Es ist kaum zu glauben, aber das war bereits im letzten Jahr!« Sie erinnert sich noch gut an die aufregenden Ereignisse, als sie dort zusammen nach der Tochter der Elfenkönigin suchten und sie schließlich aus dem Nebelwald befreien konnten. Sofort denkt sie auch an das zweite Mal, als sie im Herbst in diesem verzauberten Wald nach Iain Raven, den Schulleiter, suchten. Sie verpassten ihn und wären beinahe von einem Bergtroll gefressen oder von Wölfen geschnappt worden. »Ich bin sicher, die grauen Raubtiere wurden von Siegfried Back geschickt, um Elfen zu fangen, die in den Nebelwald verschlagen werden.« Zu diesem Schluss sind nicht nur Anna und Ainoa gekommen, sondern ebenfalls der Schulleiter, Morwenna Mulham und die Elfenkönigin Katherin. »Zum Glück sind wir entkommen, bevor Seid Greif, wie sich Siegfried Back dort nennt, uns erwischen konnte.« Das Mädchen schüttelt sich. Ein eisiger Schauer rieselt ihr den Rücken hinunter. Allein der Gedanke an den Cythraul führt dazu, dass sich ihre Nackenhaare aufstellen. Sie schüttelt sich noch einmal und versucht energisch, sich auf etwas anderes zu konzentrieren.
Als sie an den Besuch ihres Vaters denkt, ändert sich ihr Gesichtsausdruck. Die düsteren Wolken werden von hellen Sonnenstrahlen vertrieben. Aedan Qwentiz war zu Weihnachten überraschend im Internat aufgetaucht. Er hatte bis zum Jahresanfang Urlaub und sich in einem Gasthof im nahen Ort eingemietet. Die gemeinsame Woche verging wie im Flug. Der Vater zeigte viele Bilder vom Nordlicht, die atemberaubend schön und mystisch wirkten. Er berichtete aber auch vom Schmelzen des polaren Eises und dem Rückgang vieler Gletscher.
»Wenn sich der Umgang des Menschen mit Natur und Umwelt nicht ändert, wird es nur noch wenige Jahrzehnte dauern, bis Grönland eisfrei sein wird. Am Südpol gibt es ebenso Hinweise auf den Rückgang des Eises. Das globale Wetter wird sich gravierend ändern, stärker als bisher schon. Abgesehen vom Steigen des Meeresspiegels mit seinen Folgen für alle Küstenregionen, wird die Änderung des Klimas die schlimmsten Auswirkungen haben. Beides wird zu Hungersnöten und Massenfluchten, mit daraus resultierenden Kämpfen um die zur Verfügung stehenden Ressourcen führen.« Trotz dieser verheerenden Prognose reiste Aedan mit Zuversicht zu den Forschungen zurück. Er ist davon überzeugt, nicht nur die eigene Regierung, sondern die Herrscher aller Länder mit seinen Ergebnissen von der Notwendigkeit überzeugen zu können, endlich gemeinsam wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Anna lächelt ob dieses kindlichen Vertrauens, das ihr Vater in den logischen Menschenverstand aller Staatenlenker setzt. Sie hofft, nicht zuletzt für sich, dass er recht behält.
Annas Gedanken wandern zu Robin. Sie weiß noch genau, mit welch sorgenvoller Miene er sich für die Weihnachtsferien von ihr verabschiedete.
»Nutze die Ferien nicht wie im Herbst, um mit Ainoa Abenteuer zu bestehen. Halt, das ist Quatsch. Ich wollte sagen: Gerate nicht wieder in Gefahren. Wenn es doch dazu kommen sollte, überwindest du sie hoffentlich. – Irgendwie ist das völlig verdreht. – Ich mache mir einfach Sorgen! Pass gut auf dich auf.« Den folgenden Satz: »Und halte dich von der Elfe fern!«, hat sie fast überhört, da er nur geflüstert worden war. Sofort protestierte sie:
»Ainoa ist meine beste Freundin! Sie würde mich nie bewusst in Gefahr bringen.« Sie wollte sich bereits empört abwenden, als Robin sie verlegen lächelnd festhielt.
»Entschuldige, das wollte ich damit nicht sagen. Ich glaube, wenn du in Ruhe nachdenkst, weißt du, was ich meine. – Auch wenn du während der Feiertage fast allein hier sein wirst, wünsche ich dir schöne Weihnachtstage.« Dann umarmte der Junge das Mädchen. Obwohl das nur wenige Augenblicke dauerte, und der einfahrende Zug viele Blicke auf sich zog, war es in der Menschenmenge am Bahnhof für alle sichtbar. Eine verräterische Röte stieg an Robins Hals hoch. Anna bewunderte ihn in diesem Augenblick für den Mut, das in der Öffentlichkeit zu tun. Versöhnt und ein wenig verschämt lächelte sie zurück.
»Ich wünsche dir auch schöne Weihnachten!« Dann stieg der Junge in den Wagen. Das Mädchen winkte kurz darauf dem fortfahrenden Zug hinterher.
Fast das erste, nach dem sich Robin nach seiner Rückkehr aus den Ferien erkundigte, war, welche neuen Abenteuer Anna und Ainoa bestanden hätten. Obwohl die Frage flapsig klingen sollte, konnte das Mädchen die Angst erkennen, die ganz hinten, tief in den Augen des Jungen lauerte.
»Er macht sich wirklich Sorgen um mich!«, schoss es Anna durch den Kopf, als sie schon auffahren wollte. Ihre Antwort fiel wegen dieser Erkenntnis anders als ursprünglich beabsichtigt aus.
»Ich freue mich auch, dich gesund vor mir zu sehen!« Sie lacht über sein verdutztes Gesicht kurz auf. »Mein Vater hat mich besucht. Da hatte ich keine Zeit für Abenteuer! Und auch danach bin ich brav gewesen. Ainoa hat mich nicht verführt.« Es dauerte etwas, bis Robin sich entspannte und erleichtert aufatmete. Sie verabredeten sich zum Schachspiel um drei.
Ende Januar begann dann dieser ungewöhnlich heftige Schneefall mit anhaltendem Frost, wodurch die weiße Pracht den Kindern über viele Tage erhalten blieb. Die Schüler verhielten sich die ersten Tage anders als sonst. Sie verbrachten möglichst viel Zeit draußen, um Schneeballschlachten auszuführen, auf entsprechend hergerichteten Plätzen Schlittschuh zu laufen oder Iglus zu bauen. Auf der großen Rasenfläche direkt im Anschluss vom Internatsgebäude zum Park hin, entstand dadurch eine kleine Eskimosiedlung. Die unterschiedlich großen Schneemänner, die dazwischen aufgestellt worden sind, scheinen fehl am Platz zu sein. Sie wirken mit den dunklen Augen und den riesigen Mündern aus Kohlestücken und den krummen, roten Möhrennasen fast wie Bergtrolle, schießt es Anna durch den Kopf, als ihr Blick zum ersten Mal auf die modellierten Gestalten fällt. Im Dunkeln wirken sie aber auf viele Schüler bedrohlich, obwohl sie nie einem Troll begegnet sind. Besonders Wagemutige aus Robins Klasse brüsteten sich an einem Abend in der Öffentlichkeit des Speisesaals damit, eine Nacht in den Iglus verbringen zu wollen. Von den ursprünglich fünf Jungen blieben schließlich drei übrig, die das Vorhaben ausführten. Von da an waren sie für eine Woche der Schwarm vieler Mädchen der unteren Jahrgänge.
Nach zwei Wochen mit Schnee und Eis kommt allen der dicke Überzug schon fast normal vor. Bei den beständig eisigen Temperaturen haben die Aktivitäten draußen nachgelassen. Inzwischen brüten die Schüler lieber im Warmen über Aufsätzen, Referaten und Ausarbeitungen. Viele nutzen die Bibliothek, um notwendige Informationen in den Büchern zu recherchieren.
Anna dreht sich vom Fenster weg und betrachtet ein Bild ihres Vaters, das über ihrem Schreibtisch an der Wand hängt.
»Du hast recht mit der Wetteränderung. Ich kann mich an keinen Winter erinnern, in dem bei uns so hoher Schnee für eine derart lange Zeit gelegen hätte. Ist das ein Signal, das uns zum letzten Mal mahnen will?« Anna weiß, darauf wird sie keine Antwort erhalten. Sie seufzt tief. »Pass auf dich auf, Dad!« Dann dreht sie sich um und verlässt ihr Zimmer. Auf dem Weg zum Treffen des Schachteams begegnen ihr Schüler. Sie tauschen manchmal nur einen schnellen Blick, nicken sich zu oder wechseln ein paar kurze Worte, doch Anna hört kaum richtig hin. Sie ist mit den Gedanken bei etwas anderem.
Anfang Dezember schickte Innocent Green eine Nachricht an Morwenna Mulham. Sie ist nicht nur Bibliothekarin und Lehrerin für Logik und Strategie, sondern gleichzeitig die Gründerin des Schachclubs am CC. Innocent ist die Professorin eines Internats einer berühmten Universitätsstadt und wie Morwenna Leiterin eines Schachclubs. Anna sieht die Frau mit der leicht rundlichen Gestalt vor sich, wie sie der schlanken und sich geradehaltenden Morwenna den Pokal übergibt, den sie mit dem Unentschieden im Vergleichswettkampf beider Teams gewonnen hatten. Die Nachricht Innocents sorgte für Enttäuschung unter den Schachspielern. Sie hatte beim Wettkampf versprochen, sich für die nachträgliche Zulassung des Schachteams vom CC für die nationalen Meisterschaften zum Ende des Jahres einzusetzen, obwohl die Bewerbungsfristen dafür bereits abgelaufen waren. Der Antrag war genau wie der telefonische Versuch abgewiesen worden.
Innocent hatte als Alternative einen erneuten Vergleich beider Teams vorgeschlagen und als möglichen Termin Anfang des neuen Jahres genannt. Auf den Wettkampf bereitet sich das Team intensiv vor. Sie wissen, Innocent wird dieses Mal ihre besten Spieler antreten lassen, die nicht unbedingt die vom ersten Vergleich sind. Deshalb trainieren Morwenna und die Teammitglieder härter als je zuvor. Statt körperlicher Aktivitäten im Schnee haben sie sich zu ihren üblichen Übungsstunden im abgetrennten Bereich des Lesesaals getroffen. Durch den Erfolg beim ersten Wettkampf angeregt, haben sich weitere Schüler zum Team gemeldet. Ein Mehrfachantreten eines Spielers ist somit nicht mehr erforderlich. Anna findet das schade. Sie hat in den drei Partien, die sie bestreiten durfte, wichtige Erfahrungen gesammelt.
Vor der Tür zur Bibliothek atmet sie einmal tief durch, dann drückt sie die große Messingklinke hinunter und öffnet die alte Eichentür.
»Hey Anna. Was meinst du, wie lange hält diese Eiszeit wohl noch an? Ende kommender Woche müssen wir mit dem Zug fahren, um zum Wettkampf zu gelangen. Hoffentlich kommen wir durch, sonst sieht es womöglich aus, als ob wir kneifen wollten.« Bevor Anna etwas erwidern kann, verschafft sich Morwenna Mulham Gehör. Die leisen Gespräche verstummen schlagartig.
»Hört mir bitte zu. Wir haben nur noch wenige Tage, dann geht es zum Vergleich mit Innocents Team. Ich gehe davon aus, dass die Züge trotz des Schnees pünktlich sein werden. Uns bleiben acht Tage. Morgen in einer Woche fahren wir. Ich möchte, dass wir bis dahin intensiv trainieren, möglichst mit wechselnden Gegnern.« Ihr Blick wandert zu Anna und Robin, aber ebenso zu Alexander und Caitlin, die wie üblich gegeneinander antreten wollen. »Ihr wisst, wie wichtig es ist, mit neuen Situationen konfrontiert zu werden, um unvorhersehbare Schwierigkeiten meistern zu können.« Ihr Blick ruht auf Finn, dessen Gesicht mit den vielen Sommersprossen sich zu einem Grinsen verzieht. Er hatte im Herbst völlig unerwartet den Schulchampion Alexander besiegt. »Setzt euch also in neuen Paarungen zusammen!« Als ob sie nur auf diese Gelegenheit gewartet hätte, ruft ein Mädchen:
»Ich fordere Robin. Er soll mein Gegner sein.« Von den Lesepulten erklingt ein vielstimmiges »Psst«. Alle Schachspieler drehen sich in Richtung der Stimme und sehen das entschlossene Gesicht von Roya Robson. Die Schülerin wirft ihre langen, rotblonden, glatten Haaren theatralisch mit beiden Händen nach hinten und bahnt sich den Weg zum Tisch, an dem Robin neben Anna steht. Die Dreizehnjährige ist seit dem erfolgreichen Vergleichswettkampf ebenfalls Mitglied im Schachclub. Sie besucht den gleichen Jahrgang wie der Junge und strahlt ihn an. Mit einer Bewegung des Kopfes zur Seite wendet sie sich kurz und herablassend an Anna. »Du hast doch nichts dagegen, oder?« Gleichzeitig setzt sie sich auf einen der Stühle und sieht danach Robin auffordernd an, es ihr gleichzutun. Der schnappt verblüfft einmal nach Luft, blickt beide Mädchen abwechselnd an und zuckt mit den Schultern. Er fühlt sich offensichtlich von der forschen Art der Klassenkameradin überfordert. Zum Glück hilft Anna ihm aus der Patsche.
»Wir spielen später gegeneinander, einverstanden?« Seine Augen ruhen groß und fragend auf ihr. Doch das Mädchen lächelt ihn abwartend mit neutralem Gesichtsausdruck an. Der Junge fühlt sich erleichtert und nickt zur Bestätigung.
Während Robin sich an den Tisch setzt, dreht sich Anna schnell um. Sie verkneift sich mit Mühe einen bissigen Kommentar zu Royas Benehmen und hält nach einem Gegner Ausschau. Sie merkt nicht, wie Ihre geballten Fäuste verkrampfen. Die Glühbirne einer Deckenleuchte über ihr flackert mehrfach, um dann mit lautem Knall zu zerplatzen. Sie fährt erschrocken zusammen und presst die Lippen aufeinander, um das reflexartige Aufrufen einer Schutzglocke zu verhindern. Wenn die anderen Schüler mitbekommen würden, wie sie etwas murmelt und anschließend von einem goldenen Flirren umgeben ist, wird sie sofort zum Sonderling. Ihre ersten Wochen im Internat sind schwierig gewesen. Sie war als Einzelkind in der Obhut von Vater und Großmutter aufgewachsen und den Umgang mit Gleichaltrigen außerhalb schulischer Aktivitäten nicht gewohnt. Sie fühlte sich einige Zeit ausgegrenzt, bis sie Anschluss im Schachteam fand. Dessen Gründung durch die Bibliothekarin hat ihr den Weg in die Schülergemeinschaft geebnet. Da sie durch die Besuche in der Anderswelt inzwischen über erhebliche Zauberkräfte verfügt, muss sie aufpassen, sie nicht unbedacht anzuwenden.
»Anna?«, wird sie von der Stimme Morwennas aus ihrer Grübelei gerissen. »Du hast keinen Spielpartner gefunden, willst du gegen mich antreten?« Die Bibliothekarin schaut sie mit hellgrauen Augen durch die großen Gläser ihrer Brille an. Der Gesichtsausdruck wird fragend, als ihr Blick zur Lampe hinauf und dann zum Mädchen zurückwandert. »Komm mit zu meinem Platz auf der anderen Seite der Theke. Dort können wir spielen, nachdem ich die Glühbirne gewechselt habe. – Hast du mit deren Ausfall etwas zu tun?«
»Was sagst du?« Anna dreht sich um und blickt zur Deckenleuchte. »Das habe ich nicht mitbekommen. Ich weiß nicht. Ich habe mich vorhin etwas geärgert. Vielleicht …? Denkbar wäre es, obwohl ich versucht habe, mich zusammenzunehmen.«
»Du solltest deine Zauberfähigkeiten unbedingt besser unterdrücken. Vielleicht kann Ainoa dir zeigen, wie das möglich ist.« Auf einem kleinen Tisch mit Schachbrett sind die Figuren bereits aufgestellt. Die Bibliothekarin deutet auf einen der beiden Stühle. »Ich denke, du bist heute mit der Eröffnung dran. Ich komme gleich.« Sie bückt sich und holt unter der Theke eine Ersatzbirne für die Leuchte hervor. Nach einem Blick zur Decke schüttelt sie den Kopf und legt sie dann doch neben dem Computerbildschirm ab. Sie setzt sich Anna gegenüber. »Das ist mir doch zu riskant. Den Wechsel soll der Hausmeister machen. Außerdem besteht keine Dringlichkeit, die Helligkeit wird durch den Ausfall nur unwesentlich verschlechtert. Und jetzt wollen wir mit dem Spiel beginnen.« Anna nickt, nimmt einen Springer und setzt ihn vor die Bauernreihe.
Wellen klatschen gegen Felsbrocken und Gischt spritzt hoch. Schreie von Seevögeln schallen durch die Luft, während sie scheinbar wild durcheinanderfliegen. Einige von ihnen stürzen sich kopfüber ins Wasser. Kurze Zeit später tauchen die Tiere wieder auf und erheben sich mit ihrer Beute im Schnabel aus dem Nass. Ein schriller Schrei erklingt, ohne die Seevögel aufzuschrecken. Der wolkenverhangene, graue Himmel wird kurz darauf von einem Schatten verdunkelt, der sich schnell landeinwärts bewegt. Hagel prasselt aus den Wolken und eine breite weiße Spur zeigt die Zugrichtung des Schemens an. Genauso unerklärlich wie der engbegrenzte, eisige Niederschlag ist, was gleichzeitig am Boden geschieht. Unter dem Schatten gefriert das Wasser schlagartig. Sogar Seevögel erstarren und fallen vom Himmel, um auf die plötzlich vorhandene dicke Eisschicht zu treffen. Am Strand bilden sich große, bizarre Eiskristalle, deren gefährlich wirkende Spitzen in unterschiedliche Richtungen zeigen. Weiter im Landesinneren gefrieren Tiere, Gräser, Sträucher und ebenso Bäume. Auf einer etwa zwanzig Meter breiten Spur erstarrt jedes Leben, erlischt von einem Moment auf den anderen. Parallel dazu sinkt die Temperatur und rutscht weit unter den Gefrierpunkt. Die dicke Eisschicht auf dem Wasser zerbricht zwar in große Schollen, nachdem die Wellen sie mehrfach anheben und fallen lassen, doch sofort bildet sich eine neue Eisschicht. Erste Wasservögel schreien ihr Erstaunen über das seltsame Verhalten der Natur in die Welt hinaus. Feine weiße Rauchfahnen schlüpfen dabei aus ihren weit geöffneten Schnäbeln. Dann folgen die Tiere ihrem Drang nach Nahrungsbeschaffung und stürzen wie Pfeile vom Himmel. Das Wasser neben den Eisflächen brodelt, als ob es kochen würde, dabei wird das lediglich durch die abtauchenden Vögel verursacht.
Anna setzt sich im Bett auf und reibt den Schlaf aus den Augen. Was war das denn jetzt für ein Traum? Überziehen die Drachen auf Geheiß von Seid Greif das Andersland mit Schnee und Eis? Will er dadurch die Elfenkönigin zwingen, ihm den Übergang zwischen den Welten zu ermöglichen? Das Mädchen seufzt enttäuscht und streicht die schulterlangen, blonden Haare rechts und links hinter die Ohren. Es hat vergessen, den Test zu machen, ob die geträumte Sequenz hellgesehen ist. Sie war zu sehr von dem seltsamen Geschehen gefangen. Annas Gedanken wandern zu ihrem Vater. Ob sich das Wetter in Grönland auch geändert haben mag?
Sie lächelt, als sie sich an seinen Besuch erinnert. Anna war vom Schulleiter Iain Raven ins Büro gerufen worden, wo Aedan unerwartet und breit grinsend vor ihr stand. Er hatte vorher keine Nachricht geschickt, da er sie überraschen wollte.
»Hallo, meine Maus«, begrüßte er sie wie üblich. Die nächsten Sätze hat sie nicht mitbekommen. Sie war quasi in seine Arme geflogen und umklammerte ihn derart, als wolle sie ihn nie mehr freigeben. »Was ist los? Warum zitterst du so heftig?« Der Vater klang besorgt und Anna nahm sich zusammen. Sie bedankte sich bei Iain Raven und führte Aedan hinüber ins Mädchenhaus und in ihr Zimmer. Auf dem Weg dorthin überlegte sie, was sie ihm von ihren Erlebnissen in der Anderswelt mitteilen sollte. Schließlich entschied sie, besser nichts von den bestandenen Abenteuern zu erzählen. Sie weiß, Eltern machen zu leicht aus einer Fliege einen Elefanten und sie will nicht, dass er sich um sie sorgt. Sollte er ihr glauben, dass sie das Erzählte nicht nur geträumt hat, wird er von ihr das Versprechen fordern, der Anderswelt fernzubleiben. Davon ist sie überzeugt. Zumal dort große Gefahren auf ein kleines Mädchen lauern, von denen sie dann frisch berichtet haben würde. Was Anna nicht weiß, Aedan hätte ihren Bericht als Anlass genommen, sie über eine bisher unbekannte Seite ihrer Mutter Lapis zu informieren. So war er kurz davor, von ihrem fürsorglichen Wesen, aber auch von Heimweh und unerklärlichen Phänomenen in ihrem Umfeld zu erzählen. Doch das unterblieb und wurde mit einem schweren, lautlosen Seufzer auf später verschoben. Aedan war der Auffassung, Anna müsse erst erwachsen, zumindest aber ein paar Jahre älter werden.
Weihnachten feierten alle im Speisesaal des Internats. Der Raum war mit viel Grün und rotem Krepp geschmückt worden. Es gab ein üppiges Büffet, das auch für den folgenden Tag reichte. Die wenigen Schüler und Lehrer gestalteten zusammen mit dem Küchenpersonal einen gemütlichen Abend. Sie sangen einige Lieder und lasen sich abwechselnd Märchen oder kleine Weihnachtsgeschichten vor.
Zwischen Weihnachten und Sylvester wurde Anna zwölf Jahre alt. Mit ernstem Gesicht überreichte Aedan sein Geschenk.
»Dies ist die Kette, die Lapis bei deiner Geburt trug. Wie du weißt, starb sie kurz darauf. Sie hat den Schmuck immer getragen, bis kurz vor ihrem Tod. – Sie reichte ihn mir als Erbe für dich und ich finde, du bist mit zwölf Jahren jetzt alt genug, um ihn zu würdigen.« Die Tränen in Vaters Augenwinkeln zeugten davon, wie sehr ihm Annas Mutter fehlt. Verstohlen versuchte er, sie fortzuwischen. Das Mädchen war sprachlos und streichelte kurz dessen Handrücken. In dem Moment war Aedan erneut kurz davor, über die Eigenarten seiner großen Liebe Lapis zu erzählen. Dieses Mal hinderte ihn ein erstaunter Ausspruch Annas daran.
»Das Schmuckstück ist wunderschön! Ich habe es nie zuvor gesehen. Oma hat es mir nicht gezeigt, kannte sie es nicht?«
»Doch«, antwortete er sofort, »von ihr hatte Lapis die Kette ursprünglich bekommen, als sie etwa so alt wie du jetzt war. Und deshalb sollte sie so lange wohlverwahrt und behütet werden, bis du diesen Geburtstag feierst. Großmutter könnte dir vermutlich viel über den Anhänger berichten. Zumindest, welche Bedeutung er hat. – So liegt es nun an mir, zu erzählen, was ich darüber weiß. Aber sei nicht enttäuscht, das möchte ich noch etwas verschieben.« Aedan musste sich mehrfach räuspern und offensichtlich einen großen Kloß hinunterschlucken, so sehr wühlte ihn die Erinnerung an Lapis auf.
Im Bett sitzend hebt Anna eine Hand und betastet die Kette, die sie seit dem Geburtstag um ihren Hals trägt. Sie fühlt sich warm an und ist aus sehr stabilen, aber trotzdem feinen Kettengliedern gefertigt. Das Material ist Silber, aus dem auch der Anhänger besteht. Der stellt einen dreizackigen Stern dar. Mittig darin ist ein wasserheller, blauer Stein eingearbeitet, der einen makellosen Facettenschliff besitzt. »Das in der Mitte ist kein Diamant, sondern ein Aquamarin, die Variante eines Beryls. Wenn du in einen Spiegel schaust, wirst du sehen, dass er den hellblauen Pünktchen in deiner Iris gleicht. Die Augen von Lapis waren von einem leuchtenden Blau, passend zu ihrem Namen. Das ist die Kurzform …«
»… von Lapislazuli. Das weiß ich doch!« Anna stupste ihn dabei mit einer Hand an. Aedan ließ sich durch den Einwand nicht irritieren.
»Über den Anhänger erfuhr ich von deiner Großmutter Rätselhaftes. Eine derartige Form hatte ich bisher bei keinem Schmuckstück gesehen. Deshalb bat ich einen Juwelier um eine zusätzliche Bewertung. Der alte Mann deutete damals an, dass es ein verwunschenes Amulett sei, was ich als Versuch wertete, mir die Kette abzuschwatzen.«
Anna erinnert sich, wie ihr beim Anblick dieses Sternchens, denn der Anhänger hat lediglich die Größe von wenigen Zentimetern, ein angenehmes Kribbeln über den Rücken rieselte. Als sie es berührte, tauchten Bilder vor ihren Augen auf, die seltsam bekannt anmuteten. Sie wechselten allerdings sehr schnell und schienen in keinem Zusammenhang zueinander zu stehen. Sie blitzten spotartig auf und wurden von dem nächsten verdrängt. Anna versteht noch immer nicht, was ein riesiges Nest auf einem schroffen Berggrat mit einer düster wirkenden Burg, einer Szene aus einem Kampfgetümmel und ein bläuliches Ei, in dessen Schale sich zackige Risse zeigen, miteinander zu tun haben könnten. Eins steht aber unumstößlich fest, dies Erinnerungsstück an ihre Mutter will Anna nie mehr ablegen.
Morwenna hat in den vergangenen Tagen die aktuelle Spielstärke aller Schüler bewertet und die Spieler festgelegt, die in der jeweiligen Jahrgangsstufe im Wettkampf antreten sollen. Das Team besteht inzwischen aus mehr Mitgliedern, als für den Vergleich notwendig sind. Dessen ungeachtet begleiten alle die ausgewählten Vertreter der Schule, damit nicht nur fremde Zuschauer bei den Spielen anwesend sind. Morwenna weiß, wie wichtig mentale Unterstützung sein kann.
Ein Grinsen stiehlt sich auf Annas Gesicht, als sie erneut Royas schrille Stimme vernimmt. Sie ist sicher, das Mädchen wird sich nicht scheuen, Robin lautstark zu unterstützen. Vielleicht feuert sie aber nicht nur ihn, sondern auch andere des Teams an, obwohl das bei einem Schachturnier völlig unpassend ist. Zuschauer sollen die Spieler nicht von ihrer Strategie ablenken. Bei zu großer Unruhe können die jeweiligen Personen des Raumes verwiesen werden. Diese Aufgabe obliegt Innocent Green und Morwenna Mulham.
Anna wirft einen Blick zur Bibliothekarin, die mit unbewegtem Gesicht dem Geplapper Royas zuhört, die laut und für alle hörbar, eine Prognose für Robins Spiel abgibt, ohne dessen Gegner zu kennen.
»Es steht außer Frage, wer in dem Match gewinnen wird. Auch wenn ICH natürlich kein Maßstab bin, habe ich doch die unvergleichliche Vari… Variosi… den Einfallsreichtum Robins kennengelernt. Daher kann ich voller Bewunderung feststellen, dass er seinen Gegner in kürzester Zeit vom Spielfeld fegen wird.«
»So so. Nach nur zwei Spielen kannst du das. Was bist du doch für ein Schachgenie«, denkt Anna. Bevor Roya noch mehr derartigen Unsinn von sich geben kann, erklingt von vielen Stellen lautstark Protest.
»Kannst du endlich mal still sein?«
»Wir versuchen, uns zu konzentrieren!«
»Im Gegensatz zu dir treten wir morgen gegen wahre Champions an.«
Anna, die Robin gegenübersitzt, bemerkt, wie ihm eine dunkle Röte den Hals hinaufkriecht. Ihm ist Royas Benehmen offenbar peinlich. Gleichzeitig wird er kleiner, da er seinen Kopf verlegen zwischen die Schultern hinabzieht und nach draußen schaut. Neben ihnen haben Alexander und Caitlin Platz genommen, weshalb Roya sich schmollend einen weiter entfernt suchen musste. Wegen der letzten Kommentare schweigt sie einige Zeit. Je nach Veranlagung gehen die Teammitglieder im Geist frühere Spiele durch, nutzen Reiseschachspiele, lesen oder schauen einfach nach draußen.
Eine weiße, überzuckerte Landschaft zieht schnell vorbei. An vielen Stellen sind die Bahngleise mit Schneefräsen freigelegt worden, so dass der Zug scheinbar durch Eisröhren fährt. Wenn der Blick in die Ferne möglich ist, meist in Bereichen von Brücken über Flüssen, sind Rauchfahnen zu erkennen, die schmal und senkrecht aus den Schornsteinen bewohnter Häuser nach oben in den grauen Himmel steigen. Anna überlegt mit zusammengekniffenen Augenbrauen, ob heute noch mehr Schnee zu erwarten ist. Als ob Robin ihre Gedanken gehört hätte, antwortet er.
»Wenn wir dem Wetterbericht glauben wollen, wird es heute keinen weiteren Niederschlag geben. Obwohl ich das bezweifele, so zugezogen wie der Himmel ist, haben die Wetterfrösche in den letzten Wochen erstaunlich oft recht behalten.«
Anna erinnert sich gut daran, wie alle vor über drei Wochen ungläubig der Wetterprognose lauschten. Sie dachte dabei an die Ergebnisse ihres Vaters und schüttelte vehement den Kopf.
»Die Forschungsergebnisse sagen etwas anderes. Wenn es hier doch Schnee geben sollte, wird er nur kurze Zeit liegenbleiben. Die Erderwärmung lässt zwar das Wetter verrücktspielen, aber einen Temperatursturz wird es sicher nicht geben!«, war ihre Erwiderung an Robin gewesen. Doch bereits am kommenden Tag wurde sie von den Tatsachen völlig überrascht.
»Sollen wir eine Partie Schach spielen?« Robin nimmt sein Reiseschach aus dem Rucksack und blickt sie fragend an.
»Gern!«
Sofort öffnet er den kleinen Kasten. Gemeinsam stecken sie die Figuren mit ihren Stiften in die Löcher, als es unerwartet völlig dunkel wird. Das Bild eines Drachen blitzt in Annas Kopf auf. Der Lindwurm hat sich auf einem Eisberg zusammengerollt. Bevor das Mädchen erkennt, ob es ein Eis- oder Feuerdrache ist, ändert sich die Szene. Eine gewaltige Burgmauer ragt kurzzeitig vor ihr auf, dann ist das Licht im Wagon stärker und überstrahlt das Bild. Anna runzelt verwundert die Stirn, während ihre rechte Hand automatisch zum Anhänger an der Kette fährt. Die trägt sie seit ihrem Geburtstag um den Hals. Erneut verblasst die Umgebung, um dafür ein großes Ei zu zeigen, das bläulich gemustert ist. Ein Riss zeigt sich in der Schale und etwas Silbergraues drängt nach draußen. Bevor sie erkennen kann, welches Wesen sich aus der Enge befreien will, wird sie von Robins besorgten Worten in die Gegenwart gerufen.
»… ist los mit dir? Du siehst blass aus und wirkst abwesend.«
»Mir … es ist nichts«, winkt Anna ab. Das Mädchen mit der jungenhaften Figur und einigen Sommersprossen auf und um die gerade, schmale Nase herum, lächelt. Der Junge beugt sich zu ihr vor, um ihr von anderen ungehört ins Ohr zu flüstern.
»Hat Ainoa soeben versucht, dir etwas mitzuteilen?« Da Robin von Annas Abenteuern in der Anderswelt weiß, kennt er auch ihre enge Verbindung zu dieser Elfe, die in der diesseitigen Welt stets als Kolkrabe auftritt. Das Mädchen schüttelt den Kopf.
»Ich habe schon vor einiger Zeit vergeblich versucht, sie zu kontaktieren. Doch das war nicht jetzt. Ich befürchtete, einen Migräneanfall zu bekommen, doch das trifft zum Glück nicht zu.« Den letzten Satz spricht sie lauter, damit Alexander und Caitlin eine Erklärung für ihr seltsames Verhalten bekommen.
»Könntest du in dem Fall morgen spielen?« Die besorgte Frage des anderen Mädchen zeigt, wie wichtig Annas Teilnahme an dem Wettkampf eingeschätzt wird. »Du weißt, wir zählen auf den Punkt, den du hoffentlich erkämpfst!«
»Wenn mir das misslingt, wirst du ihn für uns holen«, versucht Anna zu flachsen. »Nein, im Ernst. Ich habe seit dem Sommer erstaunlicherweise keinen Migräneanfall mehr gehabt. Ich werde morgen spielen.« Sie lächelt die fürsorgliche Vertrauensschülerin, dann Alexander und danach Robin an. »Und jetzt lass mich wählen, zeig deine Hände. Ich nehme die linke.« Der Junge öffnet sie und präsentiert einen weißen Bauern.
»Du eröffnest«, ist sein Kommentar, während er Anna einen kritischen Blick zuwirft. Sollte sie doch den Anfang einer Kopfschmerzattacke spüren? Dann sind Ruhe und Dunkelheit das Wichtigste.
»Mir geht es wirklich gut!«, entgegnet das Mädchen und macht seinen ersten Zug. Erneut blitzt ein Bild vor ihm auf.
In einem Nest auf einem schroffen Berggrat erkennt es erneut das Ei, dann ist es verschwunden. Anna schüttelt den Kopf und versucht, sich ganz auf das Match zu konzentrieren. Die Umgebung verschwindet scheinbar und nur das Spiel zählt. Die gegnerischen Figuren wachsen und sie verliert ihre Größe. Das ist ein Trick, den ihr Ainoa beigebracht hat. Dadurch kann sie alles um sich herum ausblenden und effektiver das Spiel bestimmen. Sofort steht sie auf dem Spielfeld, diesmal als Springer, der einen gegnerischen Bauern vom Feld schlägt.
In der Universitätsstadt werden sie wie im Herbst von Innocent am Bahnhof abgeholt. Die Fahrt durch die Stadt dauert dieses Mal doppelt so lange, obwohl weniger Verkehr herrscht. Die Ursache ist, dass die Straßen zwar geräumt, dafür an vielen Stellen aber nur einspurig befahrbar sind. Die Schneeberge an den Straßenrändern versperren nicht nur die freie Sicht auf die imposanten Gebäude, sie behindern in Kreuzungsbereichen auch den fließenden Verkehr. Beim Internat angekommen, verlassen sie den Bus und hasten auf das Bauwerk zu. Das imposante Gebäude ist aus rotem Backstein errichtet und besitzt eine beeindruckende Anzahl kleiner und großer Giebel, doch dafür haben die Schüler heute keinen Blick übrig. Sie wollen den schneidend kalten Wind hinter sich lassen und schnell ins Warme. Innen folgen sie der vorangehenden Innocent Green durch verwinkelte Gänge und über eine Treppe in einen Raum, den sie vom letzten Wettkampf her kennen. Er wird als kleiner Speisesaal genutzt. Dort ist für sie ein Abendessen als Büffet vorbereitet worden. Alle bis auf die beiden Teamleiterinnen setzen sich. Innocent Green begrüßt das Schachteam und heißt die Schüler, aber insbesondere ihre liebe Freundin und ehemalige Studienkollegin, willkommen. Anders als beim ersten Mal wirkt es heute ehrlich gemeint. Sofort bedankt sich Morwenna für die Einladung.
»Ich wünsche uns allen ein spannendes Wochenende und faire Kämpfe.« Dann fügt sie mit einem Grinsen hinzu, das über das ganze Gesicht zieht: »Vermutlich hast du diesmal deine Spieler intensiver vorbereitet. Hoffentlich schaffen wir trotzdem den einen oder anderen Sieg. Falls es nicht dazu reicht, haben wir wenigstens einen schönen Winterausflug gemacht.« Im ersten Moment schaut Innocent irritiert zu Morwenna, dann ist zu sehen, wie ihr die Erinnerung an fast die gleichen Worte kommt, die sie im Herbst herablassend an das gegnerische Team richtete. Sie senkt den Blick und wendet sich dann an Morwenna.
»Meine Begrüßung im Herbst ist völlig unpassend gewesen. Ich möchte mich nachträglich dafür entschuldigen. Aber jetzt genug der Worte, greift zu.« Mit verlegenem Lächeln tritt sie zurück und setzt sich, um den Gästen den Vortritt zu lassen.
Im Anschluss an das Essen führt Innocent alle in den Clubraum des Schachteams. Er ist sehr großzügig ausgestattet und in großen Vitrinen sind die gewonnenen Pokale ausgestellt. Hier warten die Spieler, gegen die sie antreten werden. Abschätzende Blicke fliegen hin und her, bevor sich die gegnerischen Jungen und Mädchen begrüßen. Anna sind vom letzten Vergleich die meisten bekannt, doch ihr damaliger Kontrahent Ciaran befindet sich nicht unter ihnen. Ihren suchenden Blick hat Britta offenbar bemerkt.
»Mein Cousin nimmt diesmal nicht teil, er liegt mit einer schweren Erkältung auf der Krankenstation.«
»Das tut mir ehrlich leid. Ich hätte mich gerne erneut mit ihm gemessen.« Brittas Blick ist nicht zu interpretieren. Sollte Anna das ernst meinen, vielleicht, weil sie einmal gegen ihn gewonnen und verloren hat? Dadurch könnte sich das Unentschieden in den Sieg einer Seite ändern. Die Vertrauensschülerin weiß nicht, dass dessen Sieg lediglich durch die Anwendung psychischer Tricks gewonnen worden war. Doch dafür hatte sich Ciaran nachträglich entschuldigt. Anna wäre gern erneut gegen den Jungen angetreten, der eigentlich gut spielt.