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Der Roman handelt von der zwölfjährigen Runa. Zusammen mit ihrem Beschützer Dragon will sie die Pläne der bösen Drakonia durchkreuzen. Als nach den Drachen auch die Fürstin der Nordelfen die Unterstützung der Rebellen gegen die böse Königin verweigert, scheint nichts die dunkle Herrscherin aufhalten zu können. Das Mädchen und der Jungdrache stellen sich der gefährlichen Aufgabe. Die bewaffneten Heere Drakonias fallen aus drei Richtungen in Elduria ein, um einen Aufstand zu beenden. Gleichzeitig täuschen sie vor, dass eine alte Prophezeiung eingetreten sei. Die Strategie der Herrscherin beginnt aufzugehen. Als nächsten Schritt will sie endlich ihre langgehegte Absicht umsetzen, und die letzten Elfen töten, die im Norden leben. Sobald die Nordgebiete zu ihrem Reich gehören, befindet sie sich am Ziel ihrer Träume. Der Grenzwächter Eremon verneint eine Gefahr für die Nordelfen. Auf sein Anraten hin verweigert die Elfenfürstin Rubinia den Aufständischen in Elduria ihre Unterstützung. Doch Runa und Dragon erhalten von unerwarteter Seite Hilfe. Sie folgen einer Eingebung und machen sich auf, um in das Machtzentrum Merions zu gelangen. Auch wenn ihnen nicht klar ist, wie das gelingen kann, wollen sie jede noch so geringe Chance zur Beendigung der Kämpfe nutzen
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Seitenzahl: 351
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Elduria
Die Entscheidung
Fantasy-Roman
Norbert Wibben
Elduria
Die Entscheidung
Elduria, Band 3
Für Monika und Monika,
die besten Lektorinnen!
In Erinnerung an viele schöne Vorleseabende mit meinen Kindern verpacke ich auch diese Geschichte in den bekannten Dreizeiler:
Ein Huhn und ein Hahn – …
Übersichtskarte
Auf dem Weg nach Daheim
In Atropaias Haus
Zur Dracheninsel und neue Zauber
Geht Drakonias Plan auf?
Erneute Planänderung
Eine Wiederholung?
Igoreth und Ingbert
Bei den Nordelfen
In der Elfenfestung
Truppenbewegungen und ein Geheimnis
Enttäuschung
Täuschungen
Anwendung neuer Zauber
Auf in den Norden
In wichtiger Mission
Nordelfen
Elduria und Merion
Rubinias Tochter
In Serengard
Ein Fehlschlag
Die Rebellion
Entscheidung
Unerwartete Hilfe
Die Befreiungsaktion
Angriff auf den Norden
Ende des Aufstandes
Auf der Dracheninsel
Neue Überlegungen
Auf nach Grimgard
Creulon
Durch unterirdische Gänge
Eingekerkert!
Drachen kommen
Belagerung
Die Entscheidung
Zaubersprüche
Danksagung
Insel der Drachen und Elduria.
Ein Huhn und ein Hahn – die Geschichte fängt an
Ein kurzer Rückblick.
Runa nutzte den magischen Sprung, um Creulon und Befire in den Felsengängen Grimgards zu entkommen. Wegen der verwobenen Zauber auf dem Gebiet der Triqueta war der Ortswechsel nicht direkt bis zu ihrem Heim im Elfenwald möglich. Zusammen mit Atropaia und Dragon gelangte sie lediglich etwas außerhalb von Grimgard zu dem Wäldchen mit den verkrüppelten Kiefern. Sobald sie dort ankamen, richtete sie ihren Blick dorthin, wo sie Drakonias Festung vermutete. Die war jedoch nicht zu sehen, da die Bäume die Sicht behinderten.
»Ich muss mich dringend um Paia kümmern«, wendete sich das Mädchen an den Drachen. »Verwandle dich in einen Kolkraben und halte Ausschau, ob bereits Verfolger auf unserer Spur sind!«
Der Junge wollte zuerst widersprechen, dass er das genauso gut in seiner Drachengestalt könne. Doch dann wurde ihm klar, dass er damit nur wachsame Augen auf sich ziehen und damit ihre Position verraten würde. Als Rabenvogel fiel er dagegen nicht auf, deshalb schwang sich Dragon in der geforderten Gestalt in die Lüfte. Über gedanklichen Kontakt gab er Entwarnung.
»Bisher scheint in der Burganlage alles ruhig zu sein. Creulon wird ohne Zweifel mitbekommen haben, dass du den magischen Sprung zur Flucht genutzt hast. Den entsprechenden Spruch hast du ja auch laut genug gerufen. Das klang für mich schon fast so, als wollest du ihn herausfordern.«
»Nein, das war keineswegs der Grund. Ich war lediglich erleichtert, weil ich wusste, der Ortswechsel würde dieses Mal gelingen. – Außerdem hatte ich Angst, die Zauberkräfte anschließend verloren zu haben. Die Herausforderung galt mir selbst. – Bitte achte weiterhin auf die Umgebung. Ich muss zuerst meine Amme versorgen.«
Runa beugte sich über die Elfe, die ermattet auf dem Waldboden saß, den Rücken an den Stamm einer Kiefer gelehnt. Ihre Augen waren geschlossen, aber ihr Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig. Sollte sie eingeschlafen sein?
»Paia, wie geht es dir?«
Atropaias Augenlider hoben sich zitternd, jedoch nur für einen kurzen Moment. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Ihre schwachen Worte waren kaum zu verstehen.
»Danke, meine Kleine. Ich fühle mich zwar matt, bin aber glücklich, wieder bei dir zu sein.«
»Kann ich etwas für dich tun, soll ich dir erneut Lebensenergie übertragen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, breitete sie die Hände aus. »Beatha!«
Sofort floss ein goldenes Glitzern zur Elfe hinüber. Schon nach wenigen Momenten straffte sich die Westelfe.
»Das ist genug!«, forderte Atropaia. »Es ist wichtig, dass du darauf achtest, nicht zu viel deiner Energie abzugeben.«
Runa folgte der Aufforderung sofort. Sie wollte sich keineswegs verausgaben. Voller Erstaunen, dass sie noch Magie anwenden konnte, hatte sie lediglich nicht darauf geachtet. Sie atmete erleichtert auf, dass für sie als Halbelfe gilt, was laut Atropaias Aussage auf Elfen zutrifft. Sie kann und darf den magischen Sprung nutzen, obwohl sie noch jung ist. Hätte sie das vorher gewusst, wären Dragon und sie bestimmt schneller nach Grimgard gekommen. Doch das war schließlich nicht mehr wichtig.
Sie dachte sofort an Danrya. Warum hatte die ihr nichts davon gesagt? Weil auf dem Gebiet der Triqueta und vermutlich noch etwas darüber hinaus, Ortswechsel mittels Zauber nur über eine kurze Strecke nutzbar sind? Bei diesem Gedanken schrillten Alarmglocken, die sie jedoch vorerst ignorierte.
Wichtiger schien ihr, dass die Westelfe inzwischen voller Sorge auf eine Nachricht von ihr warten würde. Das Mädchen meinte, manchmal in dem Gangsystem unterhalb Grimgards den drängenden Ruf der Elfe gehört zu haben, konnte aber nicht darauf eingehen. Deshalb versuchte sie das nun ihrerseits. Die Verbindung gelang fast auf Anhieb. Danrya hatte jedoch wenig Zeit, da sie ihre Aufmerksamkeit auf Aidan und die aktuell stattfindende Versammlung richten musste.
»Wir sind erfolgreich gewesen«, sendete Runa hastig. »Details später.« Sie wartete keine Rückfrage ab, sondern unterbrach den Kontakt sofort wieder. Sie konzentrierte sich auf ihre Umgebung, da sie mit einer möglichen Verfolgung durch Creulon rechnen musste. Dass ihre Nachricht an die Elfe nicht präzise aussagte, ob es gelungen war, ihre Amme zu befreien, hatte sie nicht bemerkt. Deshalb grübelte Danrya in der Ferne darüber, ob das Mädchen lediglich ihr Eindringen in die Verliese Grimgards gemeint haben konnte.
Runa fühlte ihrerseits ein undefinierbares Unbehagen. Sie konzentrierte sich auf die Umgebung, um Atropaia sicher in ihr Heim zurückzubringen. Sofort schoss ihr der warnende Gedanke von vorhin durch den Kopf. Auf dem Gebiet der Triqueta sind Ortswechsel mittels Zauber nur über eine kurze Strecke möglich. Genau das wird Creulon wissen und sich beeilen, den engeren Umkreis um die Festung abzusuchen.
»Dragon, sind inzwischen Soldaten nahe der Burg zu erkennen? Nein? – Das ist äußerst verdächtig! Welche Alternativen gibt es sonst noch, um hinter uns her zu spionieren?«
»Ich sehe mehrere Vogelschwärme. Genauer gesagt sind es Krähen. Sie fliegen fächerförmig von Grimgard los, allerdings nicht aufs Meer hinaus. Einige bewegen sich auf uns zu.«
»Komm sofort herunter, wir müssen schnellstens hier weg!«
Der Kolkrabe fühlte sich automatisch versucht, herausfordernd in Richtung des nahenden Krähenschwarms zu krächzen. Er wusste, dass er dadurch Creulon auf ihre Spur führen könnte und schaffte es mit Mühe, das zu unterdrücken. Indem er stumm blieb, verhinderte der Junge, dem dunklen Zauberer einen Hinweis zu liefern. Womöglich befanden sich sogar verwandelte Magier unter den Vögeln. Solange Drakonias oberstem Hexer der erste Ort der Flucht unbekannt blieb, fehlte ihm jeder Anhaltspunkt, wohin die Verfolgten fliehen würden.
Runa nutzte den magischen Sprung erneut. Dieses Mal gelangten sie zu der Stelle auf der geraden Straße, wo ein Abzweig Richtung Kastell Drachenstein führt. Dragon zögerte, sich in den Jungen zu verwandeln. Er behielt vorläufig das Aussehen eines Kolkraben. Auch wenn nirgends Soldaten zu sehen waren, wollte er dadurch der Gefahr entgehen, erneut als Rekrut dorthin gebracht zu werden.
Sobald die Nacht hereinbrach, nahm er aber wieder die Gestalt eines Drachen an. Auf seinem Rücken legten Runa und Atropaia eine beachtliche Strecke zurück. Gegen Mitternacht landeten sie nahe einem Schafstall, um dort eine längere Pause einzulegen. Auch die scheinbar unerschöpflichen Kräfte eines Jungdrachen müssen schließlich einmal aufgefrischt werden.
Sie schliefen bis weit in den Morgen hinein. Genau genommen war es bereits kurz vor Mittag, als Atropaia vom Blöken einiger Schafe geweckt wurde. Sie blickte erstaunt um sich und benötigte geraume Zeit, um sicher zu sein, nicht zu träumen. Sie beugte sich über Runa, die sich im Heu neben sie gekuschelt hatte. Das schlafende Mädchen wirkte so erwachsen, dass sie sich fast nicht traute, ihre Wangen zu streicheln. Bei der ersten, sachten Berührung sprang dieses auf und hielt im gleichen Moment einen gespannten Elfenbogen in der Hand.
»Scht, scht. Ich bin’s nur, mein Winterkind!« Die Stimme und die oft gehörten Worte versetzten Runa kurzzeitig in die Kindheit zurück. Sie blickte verwirrt auf den Bogen und ließ ihn sinken. Im nächsten Augenblick steckte sie ihn in eine Tasche zurück, nachdem er vorher mittels Magie wieder verkleinert worden war. Ihre Augen betrachteten forschend das Antlitz der Elfe, die erholt wirkte. Die Ruhepause hatte ihr offenkundig gutgetan.
»Wie lange haben wir geschlafen?«
Die Westelfe erhob sich und warf einen Blick nach draußen.
»Ich glaube, die Sonne müsste fast den höchsten Punkt erreicht haben. Somit ist es gleich Mittagszeit.«
Trotz der leisen Worte wachte nun auch Dragon auf. Er erhob sich, um sich ausgiebig zu recken. Dass er dabei sein Schwert in der Hand hielt, wirkte theatralisch. Er hatte es vorsorglich bereitgelegt, um gewappnet zu sein, falls sie unerwünschten Besuch bekommen sollten.
Für eine Mahlzeit zauberte das Mädchen Brot, Wurst und Äpfel herbei. Zu trinken gab es Wasser. Der Junge strich sich schon bald über den Bauch. Er hatte im Gegensatz zu Atropaia Unmengen gegessen. Er reckte seine Gestalt erneut und trat mit der Waffe in der Hand vor den Schafstall. Nach einer länger dauernden Rundumsicht kam er zurück.
»Es ist gut, dass wir unwillkürlich der Route auf unserem Hinweg Richtung Grimgard gefolgt sind, nur in umgekehrter Reihenfolge. Dadurch können wir einen Stopp in Herzhagen einlegen. Ich möchte mein Versprechen einlösen.«
»Willst du zu dem versteckten Drachengrab?« Atropaia blickte ihn fragend an. »Kennst du den bestatteten Drachen?«
Dragon berichtete ihr von seiner Lehrerin, und dass es sich um einen ihrer Brüder handelt, der dort vielen Elfen und Menschen das Leben rettete. Dass der Westelfe die Hintergrundgeschichte bekannt sein musste, entging dem Jungen. Er wiederholte, was er dem Mädchen beschrieben hatte. Atropaia schmunzelte verstohlen über seinen Eifer. Sie spürte, dass er als Beschützer gerne genauso berühmt wie dieser Drache sein möchte, vorzugsweise aber ohne dessen tragisches Ende.
Bevor sie aufbrachen, veränderte Runa mit Magie ihr aller Aussehen. Dieses Mal wurden sie zu älteren Frauen, wodurch sie nicht Gefahr liefen, zwangsrekrutiert zu werden. Das hatte außerdem den Vorteil, dass ihre Geschwindigkeit zu der immer noch schnell ermüdenden Atropaia passte. Trotz der Übertragung von Lebensenergie mussten sie viele Pausen einlegen.
»Ich wundere mich, dass du inzwischen derart gewachsen bist«, wendete sich die Elfe an das Mädchen. »Ich durfte nur in unregelmäßigen Abständen nach draußen, um unter schwerster Bewachung wenige Runden im Innenhof der Festung zu laufen. In den Kerkerraum gelangte nur geringe Helligkeit durch einen Lichtschacht, so dass ich kaum Tage von Nächten unterscheiden konnte. Trotzdem schätze ich die verflossene Zeit auf einige Jahre. Ich meine, es müssen etwa vier bis fünf sein.«
Runa schüttelte den Kopf.
»Es sind tatsächlich mehr als sieben. Ich bin inzwischen zwölf!«
»Was? Nein, das glaube ich nicht! So lange soll ich eingekerkert gewesen sein? – In der ersten Zeit wurde ich täglich von diesem Owain verhört, manches Mal auch mit Folterwerkzeugen.« Sie erschauerte bei der Erinnerung daran. Sie folgten schweigend der schnurgeraden Straße, bis sie fortfuhr. »Er wollte stets wissen, wo das Kind von Raika geblieben ist. Ich weiß nicht warum, aber Drakonia hatte ihm wohl verboten, mich zu töten. Auch wenn ich sie nie zu sehen bekam, habe ich damals sie und ihren ergebenen Helfer verflucht. – Die Trennung von dir und die Ungewissheit, ob es dir gut gehen würde, schmerzten sehr. Ich warf mir vor, das Versprechen Raika gegenüber gebrochen zu haben, dich gut zu behüten.« Runa wollte einwenden, dass sie das durch die Verwandlung in eine Haselmaus gehalten hätte, weshalb sie nicht auch gefangen genommen worden war. Doch sie kam nicht dazu. Atropaia forderte sie mit erhobener Hand zum Schweigen auf und fuhr fort. »Die Verhöre ließen mit der Zeit nach. Vermutlich, weil ich mit zunehmendem Abstand zum Zeitpunkt meiner Ergreifung kaum wissen konnte, wo du dich verstecken würdest. Owain besuchte mich nur noch gelegentlich. Einige Male war er auch in Begleitung eines ihm ähnlich sehenden, hochnäsigen jungen Mannes. Die letzten Monate bekam ich lediglich ab und zu etwas Essen, meistens nur hartes Brot. Die Hofgänge fielen jedoch weg. Ich wäre vermutlich in kurzer Zeit vergessen worden, wenn du nicht gekommen wärst.«
»Hier müssen wir abbiegen«, unterbrach Dragon die Unterhaltung. »Wir befinden uns in Herzhagen!«
Sie folgten dem Seitenweg, weg von der Hauptstraße, und wanderten gemeinsam zur gen Süden ausgerichteten Bergflanke. Sie streiften durch das besonders nahrhafte Gras, das von zottigen Schafen mit schwarzen Köpfen gefressen wurde. Sogar die jungen Tiere von diesem Jahr zeigten bereits ihr dunkles Antlitz. »Das muss der Ort sein, wo der Bruder meiner Lehrerin Moira nach der Rettung der Elfen bestattet worden ist«, stellte der Junge voller Überzeugung fest. Atropaia nickte zur Bestätigung.
»Ich grüße dich von deiner Schwester«, begann Dragon, sobald sie an der Senke in der Bergflanke ankamen. »Sie ist stolz darauf, dass du die Nordelfen erfolgreich schützen konntest! Trotzdem vermisst sie dich. – Wenn du gestattest, bringe ich ihr als Andenken einen Blumengruß.« Er bückte sich und zupfte drei Stiele von frisch aufgeblühtem Wiesenschaumkraut ab. Dragon steckte die empfindlichen Blumen vorsichtig unter sein Hemd, um sie Moira zu bringen.
Der letzte magische Sprung führt zum Heim im Elfenwald, genauer gesagt, an den Rand der großen Lichtung. Runa wundert sich über den Anblick des Hauses. Der ist völlig anders, als sie ihn, von ihrem Tage zurückliegenden Aufenthalt, in Erinnerung hat. Die verkohlten Überreste, der von ihr und Dragon aus dem Gebäude geschafften und danach verbrannten Möbel, sind verschwunden. Die Eingangstür ist geschlossen und scheint mit grüner Farbe neu gestrichen worden zu sein. Gleiches trifft auf die Sprossen und Rahmen der Fenster zu. In den Glasscheiben spiegelt sich ein rötlich angehauchter Himmel, der den nahenden Abend ankündigt. Das Blumenbeet wirkt wie frisch erblüht und der Weg zum Obstgarten ist geharkt. Die Dachrinnen und die Regentonne, in die ein neues Fallrohr führt, sehen funktionsfähig aus. Erst als Runa im Inneren den bequemen Sessel und auch die über der Armlehne liegende, zusammengefaltete Wolldecke wiedererkennt, weiß sie Bescheid.
»Stimmt ja. Danrya hatte vor, zuerst das Haus in Ordnung zu bringen, bevor sie nach Elduria aufbrechen wollte. Sie muss diese Dinge aus ihrem Heim in Ochsenham geholt haben.«
Atropaias Augen leuchten. Sie freut sich, endlich wieder daheim zu sein. Trotzdem sinkt sie erschöpft in den Sessel. Die Heimreise war mehr als anstrengend, auch wenn das Mädchen mehrfach Magie nutzte. Runa zaubert einen frisch zubereiteten Pfefferminztee herbei. Das feine, prickelnde Aroma wirkt belebend. Die Elfe nimmt einen vorsichtigen Schluck und lächelt.
»Schön sieht es hier aus! Hast du unser Heim nach dem Eindringen von Owains Männern wieder hergerichtet? Ist das überhaupt möglich? Du warst doch erst fünf!«
Das Mädchen erblickt für einen kurzen Augenblick erneut die chaotische Szenerie, die hier bei ihrer überhasteten Flucht vor den Verfolgern herrschte.
»Ich versuchte damals, sofort deinen Entführern zu folgen, was mir leider nicht gelang. Vor wenigen Tagen bin ich zum ersten Mal nach sieben Jahren hier gewesen.« Es berichtet in einer Kurzfassung, was in dem langen Zeitraum geschehen ist. Runa schließt damit, dass sie die von Atropaia für sie hinterlassenen Informationen gefunden hat. Die Flucht vor den Verfolgern, das unerwartete Treffen mit Danrya und deren wertvolle Hilfe bilden den Abschluss. »Du kannst dir sicher vorstellen, dass es hier bis vor Kurzem noch anders ausgesehen hat. Deshalb wird dir vermutlich bald auffallen, dass einige deiner Einrichtungsgegenstände fehlen. – Nein, das Lob für den guten Zustand des Hauses gebührt Danrya. Sie wollte hier nach dem Rechten sehen, nachdem wir uns trennten.«
»Dann hat sie das für unsere Rückkehr vorbereitet? – Sobald ich einigermaßen erholt bin, werde ich …« Sie stellt ihre leere Tasse auf das Tischchen neben dem Sessel und hustet heftig. Sollte sie sich am Tee verschluckt haben? Andererseits hatte sie schon unterwegs immer häufiger pausieren müssen, weil sie schnell außer Atem kam. Es dauert auch dieses Mal geraume Zeit, bis sie wieder verhältnismäßig normal atmet. Ihre Stirn ist schweißbedeckt und sie versucht, ihren Zustand mit einem Lächeln zu überspielen. Sie kann jedoch nicht verhindern, ermattet in den Sessel zurückzusinken.
Runa stellte ihre Tasse mit Beginn des Hustenanfalls sofort auf den Wohnzimmertisch und hockt sich jetzt besorgt vor ihre Amme.
»Bist du krank?« Sie blickt die Elfe ängstlich an. »Dagegen gibt es doch hoffentlich einen Zauberspruch, oder nicht?«
Im gleichen Moment sieht sie erneut die Szene vor Augen, als Owain sieben Jahre zuvor ihre Paia entführt hatte. Damals sah Puschel, ihr Kaninchen, elend aus. Sie hatte die Hoffnung, dass ihre Amme es heilen könnte, doch dazu kam es nicht mehr. Atropaia wurde gefangen weggeführt und vorher war Runas Haustier von einem der Bewaffneten getötet worden. Das Mädchen schüttelt sich, um diese Erinnerung fortzuscheuchen. »Ich glaube, Danrya hat Dragon mit »Salvus« geheilt. Wird der Spruch auch dich heilen?«
»Damit ist eine Heilung möglich. Er hilft jedoch nur, wenn die Krankheit oder eine Verletzung nicht durch einen dunklen Zauber hervorgerufen worden ist. Und das könnte bei mir der Fall sein.«
Runa blickt die Elfe mit großen Augen erschrocken an. Sollte sie ihre Amme schon bald verlieren, und dieses Mal für immer? Nein! Dagegen muss sie alles zu unternehmen versuchen. Aufgeben ist keine Alternative! Sie richtet sich auf und breitet ihre Hände über die im Sessel sitzende Atropaia. Bevor sie die ihr bekannten Worte spricht, schießt ihr eine Erkenntnis durch den Kopf.
»Sie sieht wirklich elend und viel älter aus, als sie vermutlich ist. Wenn ein dunkler Fluch die Ursache sein sollte, was kann ich dann machen?«, überlegt sie.
»Probiere alle Sprüche, die positiv wirken könnten«, fordert Dragon. Das Mädchen hatte vergessen, dass der Junge noch immer in gedanklichem Kontakt zu ihm steht. Doch anders als manches vorige Mal, freut sie sich darüber. Sie nickt in seine Richtung und wendet sich erneut ihrer Amme zu. Die ist inzwischen eingeschlafen, so erschöpft ist sie von den Strapazen der Rückreise. Sie mussten oftmals eine größere Strecke wandern, um sich nicht als Zauberer zu erkennen zu geben. Creulon hätte dann womöglich einen Hinweis zugetragen bekommen können, und das wollten sie nicht riskieren. Runa hält ihre Hände nebeneinander über die im Sessel in sich zusammengesunkene Elfe.
»Salvus! Beatha!« Ob der Spruch zum Übertragen von Lebensenergie dieses Mal besser wirkt, weiß das Mädchen nicht, hofft es aber inständig. Das auf die Westelfe hinunterfließende, goldene Gleißen unterbricht es nicht so schnell. Runa will möglichst lange ihre Energie übermitteln. Es könnte sogar fast zu viel sein, denn sie taumelt und wird sofort von Dragon gestützt.
»Du musst vorsichtig mit dem letzten Spruch sein! Wenn du nicht aufpasst, fällst du in tiefe Bewusstlosigkeit. Dann vermagst du die Übertragung nicht zu stoppen und würdest als Folge davon sterben.«
Der Junge führt Runa besorgt zu einem Stuhl, auf den sie sich fallen lässt. Sie richtet ihren Blick dankbar zu ihm auf.
»Dann würdest du mich retten. Du bist schließlich mein Beschützer, dem ich inzwischen sehr oft das Leben zu verdanken habe!« Ein leichtes Lächeln spielt um ihre Lippen.
Dragon droht ihr mit erhobenem Finger.
»Ich sehe schon, dir geht es nicht so schlimm, wie es aussah. – Doch zurück zum Übertragen der Lebensenergie. Die kann nur der Zauberer stoppen, der damit begonnen hat.«
»Aber, wenn du …«
»Genau, falls ich jedoch in gedanklicher Verbindung mit dir stehen sollte, könnte ich das möglicherweise auch aufheben.«
»Richtig. Das wäre ähnlich so, wie das bei den Zauberangriffen der Hexenmeister oder dem von Creulon war.«
»Aber besser ist, wir lassen es nicht so weit kommen, dass wir das probieren müssen!«
Der Junge blickt Runa beschwörend an. Sie nickt langsam. Es sieht allerdings so aus, als ob sie ihm nicht genau zuhören würde. Das bestätigt das Mädchen auch sofort durch ihren nächsten Satz.
»Damit hast du mich auf eine Idee gebracht. Ich sollte versuchen, über eine Gedankenverbindung in Atropaias Kopf nach der Ursache für ihre Schwäche und den Husten zu suchen. Dann könnte ich in der Lage sein, den dunklen Fluch von ihr zu nehmen, wenn der die Ursache sein sollte. Denke nur an die dunkel-violetten Wolken, die wir am Rand unseres Bewusstseins aufspüren und vertreiben konnten. Ich vermute, das könnte bei ihr ähnlich aussehen.«
Runa greift nach ihrer Teetasse und nimmt einen großen Schluck. Sie will bereits aufstehen, als Dragon sie sanft zurück auf den Stuhl drückt.
»Das kannst du später oder besser noch morgen probieren. Du solltest dich vorher völlig erholen, denn auch du schaust angegriffen aus!«
Sie blickt den Jungen an. Erst nach einem Blick zu ihrer Amme hinüber nickt sie.
»Einverstanden. Da Paia tief zu schlafen scheint, könnte ich die Verbindung im Moment doch nicht herstellen. – Aber ich sollte versuchen, Danrya zu beruhigen. Möglicherweise kennt sie einen weiteren Spruch, den ich anwenden kann.«
»Das kannst du gerne machen, nachdem du dich auch etwas ausgeruht hast!«
Das Mädchen blickt den Jungen an und will empört auffahren. Doch nach wenigen Momenten besinnt es sich, dass Dragon recht hat. Es nickt und schaut ihn schelmisch an.
»Ja, Mutti!«
Fast im gleichen Augenblick fällt auch sie in tiefen Schlummer. Die Übertragung der Lebensenergie auf Atropaia hat mehr Kraft als gedacht gekostet.
Im Traum kehrt Runa in ihre ersten Jahre hier im Haus zurück. Ein zufriedenes Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Vorsichtig, um sie nicht aufzuwecken, trägt Dragon sie zum Sofa hinüber. Er bettet sie darauf und breitet eine Decke über sie.
»Danke, mein Beschützer!«, murmelt das Mädchen im Halbschlaf.
Dragon möchte seiner ehemaligen Lehrerin Moira den kleinen Strauß Blumen von der Wiese bringen, wo ihr Bruder bestattet worden ist. Er will ihr auch davon berichten, dass er zusammen mit einer Drachensucherin gegen das Böse kämpft. Das Mädchen hat ihn bei diesen Worten leicht in Verdacht, mit seinen Beschützeraktionen vor ihr glänzen zu wollen. Und das hat er ihrer Meinung nach durchaus verdient. Sie schlägt ihm vor, ihn mit dem magischen Sprung dorthin zu bringen. Dann könnte sie von den jeweiligen Situationen berichten, ohne dass das wie ein Eigenlob Dragons wirken würde. Doch der Junge schüttelt sofort vehement den Kopf.
»Das habe ich keineswegs vor. Ich bin der Ansicht, dass wir im Kampf gegen Drakonia, Owain und Creulon jede Unterstützung brauchen können. Darüber haben Danrya und ich diskutiert. Ich möchte mit Moiras Hilfe versuchen, die anderen Drachen zu überreden, mit mir nach Elduria zu kommen.«
Runa fühlt sich sofort unbehaglich, ihren Freund und Beschützer derart selbstsüchtige Absichten unterstellt zu haben. Sie sollte ihn inzwischen besser kennen!
»Entschuldige bitte, ich dachte, du seist auf ein Lob Moiras aus.«
»Pah«, lautet die einsilbige Antwort des Jungen. Er wendet sich von dem Mädchen ab und geht nach draußen. Runa folgt ihm sofort und stellt sich in seinen Weg.
»Verzeihst du mir? Das war wirklich mehr als blöd von mir. Ich möchte nicht, dass du jetzt fortfliegst, ohne dass wir uns vertragen haben. – Bitte!«
Ihrer offensichtlichen Zerknirschtheit kann Dragon nicht standhalten. Nach wenigen Sekunden zieht ein Lächeln in sein Gesicht.
»Schon vergessen«, versucht er das Thema abzuschließen. Das Mädchen lächelt dankbar zurück.
»Wie sieht übrigens der Blumenstrauß aus? Du hattest ihn unter dein Oberteil gesteckt. Hat er da nicht gelitten? Ich weiß, Wiesenschaumkraut ist sehr empfindlich und kann nicht lange ohne Wasser überstehen.«
Der Junge greift erschrocken unter sein Hemd und zieht die Blumen hervor. Die sehen mitleiderregend aus. Runa deutet auf sie und murmelt: »Renovo!« Die schlapp herabhängenden Blütendolden richten sich auf. Die vielen, hellblauen, vierblättrigen Blüten leuchten wieder so frisch, als wären sie gerade erst gepflückt worden. Das führt zu einem Argument, das sofort von ihr genutzt wird.
»Wenn du bis zur Insel fliegen willst, werden die Blumen bei deiner Ankunft dort so unschön wie eben aussehen. Das geht bei diesen Pflanzen schnell. Deshalb mache ich dir erneut den Vorschlag, dich mit dem magischen Sprung dorthin zu bringen.«
»Ich bin sehr unsicher, wie die Drachen auf der Insel reagieren, wenn ich mit einer Halbelfe dort auftauche. Das könnte durchaus gefährlich werden. Darum möchte ich das lieber nicht.«
Er lässt sich nach längerer Diskussion schließlich doch überreden. Runa versichert ihm zuvor, ihren Freund lediglich dorthin bringen und sofort von der Insel zu Atropaia zurückkehren zu wollen.
»Paia sieht zwar etwas erholt aus, aber ich möchte sie nur ungern allein lassen. Sollten unsere Verfolger hier auftauchen, was durchaus nicht unmöglich ist, wird sie sich kaum mit Magie wehren können.«
»Den Rückweg trete ich in Begleitung einiger Drachen an, falls ich sie dazu überreden kann. Wohin ich sie führen soll, kannst du mir ja gedanklich mitteilen«, fordert der Junge. Sie stellen die zuletzt unterbrochene Verbindung wieder her. »Außerdem muss ich es sofort wissen, sollten die Verfolger hier erscheinen. Versprich mir, mich in dem Fall hierher zu holen.«
»Wenn du das möchtest, gerne. Ich mache das aber von der Situation abhängig. Vielleicht werde ich vorher mit Paia flüchten. Doch das sehen wir, sobald es dazu kommen sollte.«
Dragon nickt, tritt ins Haus und verabschiedet sich von der Elfe. Dann nimmt er seine Drachengestalt an und stellt sich den Eingang zur Drachenschule vor. Runa berührt seinen Rücken und bringt ihn mit dem magischen Sprung dorthin. Sie wünscht ihm Glück und ist im nächsten Augenblick wieder zurück im Wohnraum.
Der Junge möchte in gedanklicher Verbindung mit dem Mädchen bleiben, falls es, wie er anführt, die Unterstützung durch ihren Beschützer nötig haben sollte. Doch Runa ist schon bald anderer Ansicht.
»Wenn ich Hilfe benötige, werde ich den Kontakt zu dir herstellen! Du musst dir dann lediglich den Ort anschauen, wo ich erscheinen soll. Aber bis dahin können wir die Gedankenverbindung unterbrechen. Ich möchte mich mit Paia über viele Dinge unterhalten. Das würde dich genauso ablenken, wie es bei mir der Fall wäre, sollte ich deine Diskussionen mit den anderen Drachen mitverfolgen.«
Dieser Überlegung stimmt Dragon schließlich zu. Seine Rückkehr wird mehrere Tage dauern. Auch wenn er sehr schnell zu fliegen vermag, werden die ihn hoffentlich begleitenden Kreaturen nicht alle die gleiche Geschwindigkeit wie der Jungdrache erreichen können. Außerdem rechnet das Mädchen damit, dass sie vorzugsweise in der Nacht herkommen werden, um keine ungewollte Aufmerksamkeit zu erregen. Sie könnten sonst feindlichen Zauberern gemeldet werden und müssten in dem Fall mit Angriffen rechnen.
In den nächsten Tagen berichten Runa und ihre Amme, was sie in den vergangenen sieben Jahren erlebt haben. Seitens Atropaia gibt es nicht viel zu erzählen, da sie, bis auf die Verhöre und die kurzzeitigen Hofgänge, keine Abwechslung im Kerker hatte. Deshalb fällt es dem Mädchen schwer, einen Anhaltspunkt dafür zu finden, wann die Elfe von einem Zauber getroffen sein könnte. Dass das auf ihrer Flucht geschehen sein sollte, schließt es aus.
Runa schüttelt den Kopf. Creulon hatte zu keiner Zeit an einem Verhör teilgenommen, wie Atropaia versichert. Wie und wann kann er dann einen dunklen Fluch auf sie geschleudert haben? Wenn diese Möglichkeit auszuschließen ist, würde das bedeuten, dass die Krankheit der Amme durch einen Zauberspruch geheilt werden können müsste.
Am nächsten Tag bittet sie die Elfe um die Erlaubnis, über eine Gedankenverbindung in ihre Erinnerungen eindringen zu dürfen. Obwohl es sie vermutlich sehr schmerzen wird, möchte sie ihre Mutter Raika kennenlernen. Gleiches trifft auf ihren Vater Kenneth zu. Sie weiß, dass Atropaia mit ihnen über viele Jahre befreundet gewesen ist und hofft, dass sie ihrer Bitte nachgeben wird.
Die Elfe schaut Runa lange an, bevor sie nickt.
»Mein liebes Winterkind. Bist du sicher, dass du das willst? Ich verstehe den Wunsch, sozusagen deine Wurzeln besser kennenlernen zu wollen. Trotzdem möchte ich dir raten, dabei äußerst vorsichtig zu sein. Dich erwartet nicht nur Schönes. Und auch, wenn die Bilder völlig real wirken werden, wirst du nicht in Verbindung mit ihnen treten können. Daran musst du immer denken, um dich nicht ignoriert zu fühlen. Das würde vermutlich mehr schmerzen als alles andere. Du kannst nicht jede meiner Erinnerungen betrachten, da du dazu Jahre benötigen würdest. Deshalb kann manche Sequenz einen falschen Eindruck erwecken, wenn sie aus dem Zusammenhang gerissen betrachtet wird.«
»Ach bitte, liebe Paia! Was du soeben sagtest, ist mir bewusst. – Ich kenne Raika nur aus deinen Erzählungen. Und damals war ich noch viel zu klein, um alles begreifen zu können. Ich bekäme einen etwas besseren Eindruck, sollte ich sozusagen einige Augenblicke mit Mutter und Vater verbringen können. Auch wenn das lediglich aus deiner Sicht heraus erfolgt, wäre ich dir mehr als dankbar.«
»Nun gut. Aber ich versuche, die Erinnerung zu steuern. Also greife bitte nicht in den Ablauf der Sequenzen ein. Außerdem habe ich natürlich auch nur einiges miterlebt, da wir nicht alle Tage zusammen waren. Bevor du Schlussfolgerungen aus dem ziehst, was du gleich zu sehen bekommst, sollten wir gemeinsam darüber reden. Versprichst du mir das?«
Runa nickt.
Atropaia setzt sich in den Sessel und macht es sich bequem, während das Mädchen das Sofa nutzt.
»Bereit?«, diese Frage sendet die Elfe gedanklich.
»Ja«, antwortet Runa und stellt damit die Verbindung her.
Die Reise in die Vergangenheit schmerzt sie mehr, als vorher vermutet. Es dauert anschließend längere Zeit, bis sie ihre Tränen zu stoppen vermag und das Schluchzen endet. Dieses Mal ist es Atropaia, die das Mädchen aufrichtet. Sie macht sich und ihr eine große Tasse mit Pfefferminztee und reicht dazu Ingwerplätzchen. Der prickelnde Teeduft und der würzige Geschmack des Gebäcks helfen dabei.
»Raika wollte, dass ich dir alle Zaubersprüche beibringe, die du zur Erfüllung deiner Aufgabe als Drachensucherin benötigen könntest.«
»Das ist verständlich«, antwortet das Mädchen. »Gibt es denn noch mehr, als in dem Anhang des Buches über die Insel der Drachen stehen?«
»Das kenne ich nicht. Was für eine Art ist es, möglicherweise ein Roman? Ich dachte, du wärst meiner Empfehlung gefolgt und hättest die Zauberkenntnisse von Danrya. Die Aufforderung hatte ich als Information für dich in dem Kochbuch hinterlassen.«
»Die Notizen habe ich gelesen und deine Freundin hat auch wirklich viele Sprüche mit mir geübt.«
Runa sucht nach dem Rucksack, der seit ihrer Ankunft im oberen Raum neben ihrem Bett liegt. Sie steht kurz darauf vor ihrer Amme und reicht ihr das Buch.
»Das habe ich von Kaytlin, der Wirtin vom »Fuchs und Gans« bekommen. Wie es in ihren Besitz gelangt ist, hatte sie mir nicht gesagt.«
Atropaia betrachtet den in geprägtes Leder gebundenen Band mit gekrauster Stirn, blättert zum Anhang und liest die aufgelisteten Zaubersprüche.
»Das sind ja eine Menge guter und wirksamer Zauber. Sie decken fast alles ab, wofür Magie genutzt werden kann. Doch einige Sprüche fehlen. Mir fallen sofort fünf, nein sogar sechs ein, die nicht aufgeführt sind. Sie lauten Anghofio, Anghofio totalus, Cum ri buidseachd, Detineo tempus, Miscere und Re-Potentia.«
»Aha. Und was bewirken sie?«
»Die ersten zwei und der fünfte sind Zauber, die sozusagen zum Angriff eingesetzt werden können. Sie lösen eine teilweise oder totale Amnesie aus oder verwirren einen Gegner für eine begrenzte Zeit. Die anderen drei sind mehr defensiv beziehungsweise werden zur Heilung genutzt.«
»Dann sollten wir sie alle üben, bis ich sie beherrsche, meinst du nicht auch?«
»Selbstverständlich. Raika hatte eine ähnlich Einstellung zu Zauberei wie du, wie ich aus deinen Erzählungen herausgehört habe. Sie war eher darum bemüht, einem Gegner nicht zu schaden, wenn sich das irgendwie machen ließ. Deshalb wird dir »Cum ri buidseachd« nützlich sein. Der Spruch dient dazu, einem dunklen Fluch zu widerstehen oder ihn aufzuheben. Das kann in einer Auseinandersetzung mit gegnerischen Zauberern hilfreich sein.«
»Aber …«
»Genau. Das ist der Spruch, den deine Mutter zu spät aufrief, als Creulon einen Todesfluch auf sie schleuderte. Sie hatte diesen finsteren Zauberer nicht bemerkt, der in einem Versteck lauerte. Sie schaffte es nur teilweise, ihn zu aktivieren. Dann schleppte sie sich zu mir zurück. Um unseren Unterschlupf nicht preiszugeben, nahm sie nicht den direkten Weg. Raika schlug zuerst Finten und nutzte wegen zunehmender Schwäche den magischen Sprung erst, als das fast zu spät war. Sobald sie hier ankam, versuchte ich mit dem gleichen Spruch, den Fluch von ihr zu vertreiben. Das war nicht mehr möglich, da inzwischen zu viel Zeit verstrichen war. Ich begann deshalb, ihre Erschöpfung mit »Re-Potentia« aufzuheben, was nur teilweise gelang. Wie du weißt, starb sie kurz nach deiner Geburt. Sie entdeckte das Mal eines Drachensuchers auf deinem linken Unterarm und bat mich, dich in allen Zaubersprüchen zu unterweisen. Sie sah offenbar voraus, dass du jede Hilfe benötigen würdest, um die dir zufallende Aufgabe zu erfüllen. Sie küsste deine Stirn und gab dir deinen Namen, bevor sie ihre Augen für immer schloss.«
Die einkehrende Pause wird durch Runa erst unterbrochen, nachdem geraume Zeit vergangen ist. Sie schluckt mehrfach, um die erneut aufsteigenden Tränen zu verhindern.
»Das war die letzte Szene, die du mir gezeigt hast.«
»Genau.«
»Danke!«
Stille kehrt ein. Das Mädchen lässt sich die Bilder erneut durch den Kopf gehen und überlegt, welche Bedeutung den Zaubersprüchen beikommt, die Atropaia ihr soeben genannt hat.
Sie schluckt einen Kloß hinunter, der sich in ihrem Hals gebildet hat und räuspert sich, bevor sie fragt: »Warum hat Mutter den Schutz gegen dunkle Flüche nicht aufgerufen, bevor sie zu Vaters …«
»Das hätte sie tun sollen, stimmt! Sie hatte aber nicht damit gerechnet, dass dort ein böser Magier auf sie lauern könnte. Außerdem fasste sie den Entschluss, den Ort aufzusuchen, erst kurz zuvor. Sie folgte einem spontanen Einfall. Sie wollte Kenneth offenbar an seinem Grab mitteilen, dass deine Geburt bevorstehen würde. – Eine schwangere Frau handelt nicht immer rational, so wie Raika in dem Fall. Sie hätte in meiner Begleitung dorthin gehen sollen oder erst, nachdem du geboren worden bist. – Doch das ist sozusagen Schnee von gestern.«
»Lag damals eigentlich Schnee? Nennst du mich darum manchmal »Winterkind«?«
»Das ist richtig. Raika sprach oft davon, dass Winterkinder etwas ganz Besonderes sind. Deshalb war sie froh, dass deine Geburt zu der Jahreszeit stattfinden sollte. Als sie das Mal des Drachensuchers sah, lächelte sie und meinte, darin den Hinweis zu erkennen, dass die Herrschaft des Bösen schon bald gebrochen werden könnte. Sie war dabei nicht auf Rache für den Tod von Kenneth aus. Sie freute sich vielmehr, dass zukünftig allen Wesen Gerechtigkeit widerfahren würde, obwohl dazu voraussichtlich eine letzte große Auseinandersetzung notwendig sein würde. Darum auch ihre Bitte, dich bestmöglich in Zauberei auszubilden. Sie wollte sichergehen, dass du optimal gewappnet in den Kampf gehen würdest.«
»Du nanntest noch einen sechsten Zauberspruch. Den hast du bisher nicht erläutert.«
»Richtig. Er lautet »Detineo tempus«. Einmal ausgesprochen friert er jedes Lebewesen im Umkreis zeitlich ein. Davon ausgenommen sind der Magier, der ihn anwendet, und alle Geschöpfe, die beim Aufrufen des Zaubers einen körperlichen Kontakt zu diesem haben. Der Zauberer kann für eine befristete Dauer agieren, ohne dass die Verzauberten das verhindern könnten. Die Zeitdauer und die Größe der eingeschlossenen Umgebung hängen von der Kraft des Magiers ab. Das ist in meinen Augen ein äußerst nützlicher Spruch!«
Drakonia besitzt ein überschäumendes Temperament. Sie reagiert immer dann besonders cholerisch, wenn sie eine gegen sie gerichtete Aktion entdeckt. Sobald sie diese zu ihren Gunsten vereiteln kann, fühlt sie sich wie elektrisiert und sprudelt nur so vor Ideen, wie ihre Gegner bestraft werden sollen. Bei der Verfolgung und Durchsetzung ihrer Gedanken lässt sie keinen Widerspruch zu und braust in dem Fall entsprechend schnell auf.
Ihre treuesten und besten Berater sind der erste Heerführer, der gleichzeitig Anführer der Leibgarde ist, und manches Mal auch der Oberste ihrer Zauberer. Obwohl sie dem das nicht oft deutlich zeigt, sondern eher bemüht ist, das zu verbergen. Bereits beim kleinsten Anzeichen, dass Creulon ihr nicht zustimmen könnte, wird sie wütend. Sie ist stets voller Energie und Tatendrang, was in ihren ruhelosen Wanderungen im Audienzsaal zum Ausdruck kommt. Nur selten fühlt sie sich elend und niedergeschlagen. Das ist letztmalig der Fall gewesen, noch bevor sie zur Königin gekrönt worden ist. Damals dauerte es länger als erwartet, bis ihre Brüder durch gedungene Meuchelmörder umgebracht und ihr Thronanspruch für Außenstehende, die das nicht wussten, rechtens wurde.
Aber in jeder der verschiedenen Stimmungen behandelt sie ihre Untergebenen stets gleich schlecht. Was sie damit bezweckt, ist dem obersten Magier nicht klar. Ob sie dadurch lediglich ihre Macht demonstrieren will? Das kann jedoch schnell zu ihrer Niederlage führen, sollte sie den Bogen überspannen.
Creulon, der seit dem Entkommen der Gefangenen mehr als vierundzwanzig Stunden nach diesen geforscht hat, wird es heiß und kalt. Bei dem Gedanken, dieser Frau die Flucht der Elfe mitteilen zu müssen, bildet sich kalter Schweiß auf seiner Stirn. Das ist völlig untypisch für den starken und selbstbewussten Magier und veranlasst ihn, nach der Ursache zu forschen. Die unvermeidlichen Beleidigungen der Königin kann er mit stoischer Geduld ertragen, eine mögliche Herabstufung seiner Position dagegen nicht. Könnte das der Grund sein?
Seine Hand zittert nur kurz, dann hat er sich und seine Gefühle wieder unter Kontrolle. Sollte Drakonia es zu arg treiben, will er den seit langem gehegten Plan ausführen, und Elduria von Merion abspalten und zu seinem Herrschaftsbereich erklären. Ob er Drakonia zur eigenen Sicherheit möglicherweise angreifen muss, hängt von den Reaktionen der Königin in der zu erwartenden Auseinandersetzung ab. Zu bedenken ist, dass sie über einen Armreif verfügen könnte. Das hatte sie am Tag zuvor unwillkürlich mit einem Griff der rechten Hand an ihr linkes Handgelenk preisgegeben. Durch diese Bewegung wurde Creulon schlagartig klar, weshalb er sich in Gegenwart der Herrscherin manchmal ungewöhnlich schwach fühlt.
»Sie besitzt einen magischen Armreif!«
Diese Erkenntnis blitzte bei der verräterischen Armbewegung der Königin in seinem Hirn auf. Es gibt nur wenige dieser die Magie verstärkenden Artefakte. Elfen hatten sie einst gefertigt und an die oberen fünf Menschenzauberer gegeben, damit deren Zauberkräfte gesteigert wurden. Ob Drakonia derartige Kräfte besitzt, die vergrößert werden können, vermag er nicht zu beurteilen. Sie trägt den Armreif möglicherweise lediglich, weil er eine Trophäe darstellt. Unabhängig davon spürt er vermutlich die Macht, die von dem Reif ausgeht.
Creulon denkt an die Situation, die sich gestern im Beisein von Igoreth abspielte. Er ballt beide Fäuste. Der Hexenmeister hatte berichtet, dass offenbar ein Aufstand in Elduria ausgebrochen sei. Darüber lagen ihm keine Nachrichten vor, was er auch unumwunden zugab. Der Blick des anderen Magiers ruhte beobachtend auf ihm und der Königin. Das machte diesen äußerst verdächtig. Spielte er möglicherweise mit dem Gedanken, Creulon als höchster Zauberer Drakonias abzulösen? Sollte die Information das ermöglichen und war womöglich lediglich zu diesem Zweck ausgedacht worden? Doch für so durchtrieben hält er diesen Hexenmeister nicht, der stets alle Eventualitäten überdenkt. Die Königin war der Erklärung ihres obersten Zauberers gefolgt. Sie beauftragte ihn, zur Sicherung Grimgards eine magische Schutzkuppel über die Festung zu errichten, um auf mögliche Angriffe vorbereitet zu sein. Der Magier blickt grimmig.
»Die wird sie nicht bekommen, wenn sie mich zu arg beschimpft. Dieses Mal sollte sie lieber vorsichtig mit ihren Äußerungen sein.«
Creulon steht bei diesen Gedanken vor der Tür zum Audienzsaal und nickt dem Diener zu, sie zu öffnen. Er hat sich schon halb und halb entschlossen, nur die notwendigen Details von der Flucht Atropaias zu berichten. Je weniger er sagt, desto kleiner ist die Angriffsfläche für Beschuldigungen gegen ihn. Die Tür ist offen und er tritt ein, ohne die Königin sofort zu sehen. Dafür ruht sein Blick auf einem ihm bekannt erscheinenden Rücken. Sollte Owain bereits von seinem Sonderauftrag zurückgekehrt sein? Er stellt sich neben den Heerführer und richtet seine Augen auf Drakonia. Die steht vor dem großen Fenster oberhalb der Meeresbucht und blickt auf das wild tobende Wasser. Sein Blick streift nur kurz Owains Gesicht, dann räuspert er sich.
»Meine Königin, ich habe schlechte …«
Weiter kommt er nicht. Er wird von der freudig klingenden Stimme der Herrscherin unterbrochen.
»Da bist du ja. Ich habe soeben nach dir geschickt. Bevor du etwas sagst, lass meinen obersten Heerführer berichten, wie der Sonderauftrag verlaufen ist.«
»Ich fasse mich kurz, mit eurer Erlaubnis, Hoheit.« Da diese nickt, fährt Owain fort. »Die Jagd auf Elfen in Merion lief nicht ins Leere. Drei Nordelfen, die auf Kundschaft im Land unterwegs waren, konnten mit silbernen Netzen gefangen und in einen Kerker auf Elfenstein gebracht werden. Ich habe sie, die nachträglich erteilte königliche Genehmigung vorausgesetzt, an Igoreth übergeben. Der wird alles tun, um ihre Absichten zu erforschen. Sie werden gefoltert. Falls das nicht reichen sollte, werden sie nacheinander umgebracht. Vielleicht bringt das den letzten Elf zum Reden, was ich jedoch nicht glaube. Freigelassen wird der keinesfalls. Der Hexenmeister will versuchen, seinen Widerstand durch Hunger so weit zu schwächen, dass ihm das Eindringen in dessen Geist doch noch gelingt. – Die Suche in den südlichen und westlichen Teilen unseres Landes blieben dagegen erfolglos.
Als Nächstes wollen wir das Suchgebiet auf Elduria ausdehnen. Die Männer warten am Rand des Waldes auf mich, in dessen Innerem ich vor Jahren die Elfe Atropaia fangen konnte.«
Creulon denkt sofort: »Dir gelang es aber nicht Runa, die Tochter von Raika und Kenneth, zu fassen. Dein Versagen hat vermutlich meinen heutigen Misserfolg verursacht!« Das äußert er jedoch nicht laut, da es wie ein Versuch zum Abwälzen seines Misslingens klingen würde.
Drakonia strahlt über den Erfolg ihres Plans. Sie lobt Owain und durchmisst mit großen Schritten den Raum.
»Es hört sich so an, dass unsere Absichten wie erhofft verlaufen. Es trifft sich gut, dass deine Männer noch nicht nach Elduria vorgedrungen sind. Wir werden vorher den neuen Plan umsetzen, mit dem wir den Menschen das Wahrwerden der alten Prophezeiung vorspiegeln wollen.«
Owain ist nicht anwesend gewesen, als die Herrscherin dieses Vorhaben mit Creulon besprochen hatte. Deshalb erläutert sie nun das Vorhaben. Der oberste Heerführer nickt.
»Das ist eine vorzügliche Idee«, lobt dieser.
Auch wenn Drakonia bereits vorher davon überzeugt war, blitzen ihre Augen vor Freude. Sie bleibt mit einem Lächeln im Gesicht vor dem Zauberer stehen und betrachtet ihn nachdenklich.
»Mein oberster Magier, du bist dieses Mal schneller als erwartet hier aufgetaucht. Den Boten hatte ich erst wenige Augenblicke zuvor losgeschickt, um in der Festung und den darunter liegenden Gängen nach dir zu suchen. – Wie ist übrigens gestern das Verhör verlaufen, hast du Danryas Absichten ermitteln können?«
Creulon ist sich bewusst, die folgenden Worte mit Bedacht und wohl überlegt formulieren zu müssen. Er beginnt langsam.
»Sobald ich in Befires Reich zurück war, stellte ich fest, dass es noch jemand dort hineingeschafft hatte. Wie er den Drachen überlisten konnte, ist mir schleierhaft. Die Möwe war befreit worden und …« Der Zauberer schluckt einen Kloß hinunter, bevor er weitersprechen kann. »Der Eindringling hatte den Felsengang mit den Kerkerzellen durchsucht. Befire und ich rückten aus beiden Richtungen in den Gang vor. Der Fremde muss auf die seit Jahren dort inhaftierte Elfe gestoßen sein. Die hat er mitgenommen, als er vor uns floh.«
»Wie ist das möglich?«
»Er nutzte den magischen Sprung. Also muss es entweder ein menschlicher Zauberer oder eine Elfe gewesen sein.«
In diesem Moment mischt sich Owain ein.
»Du sagtest, der Eindringling hat eine seit Jahren dort eingekerkerte Elfe befreit. Meinst du damit Atropaia?«
»Obwohl ich bei keiner ihrer Vernehmungen durch dich dabei war, weiß ich, dass sie es sein muss. In den anderen Kerkerzellen gab es keinen weiteren, lebenden Gefangenen.«
Er wartet auf den Unmut der Königin. Was ist mit ihr los? Sonst wäre sie ihm nach den ersten Worten vor Wut schäumend dicht gegenübergetreten. Doch jetzt wendet sie sich ab und durchmisst den Raum erneut mit großen Schritten.
»Berichte, was du unternommen hast!«
Creulon staunt über die harmlose Aufforderung. Er hatte erwartet, dass sie lospoltern würde.