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Kerzen spenden flackernd Licht. Auf dem wuchtigen Stuhl vor einem Schreibtisch sitzt eine Frau mit langen, schwarzen Haaren. Sie ist in das Studium eines alten Buches vertieft. Plötzlich erscheint ein triumphierendes Lächeln auf ihrem Gesicht. Diese Szene erinnert Raban an etwas, aber an was? Er denkt "Bewegen." Jetzt ist es ihm möglich, um die Frau herumzugehen. Sie bemerkt ihn nicht, obwohl er direkt in ihre Augen blickt. Grünliche, sternförmige Einsprenkelungen scheinen darin zu leuchten. "Morgana" blitzt der Name der Magierin in Rabans Kopf auf. In diesem Moment erklingt ein schriller, verzweifelter Schrei. Raban sitzt senkrecht im Bett, die Augen schreckgeweitet. Sein Herz rast und kalter Schweiß steht auf seiner Stirn. Hat diese dunkle Magierin womöglich einen Weg aus der Vergangenheit in die Gegenwart gefunden? Und wie passt der unheimlich klingende Aufschrei in die hellgesehene Sequenz? Hängt der mit dem Zustand von Kenneth zusammen? Wer den Schrei ausgestoßen hat, wird in Gefahr sein!
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Seitenzahl: 372
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Raban und Röiven
Insel der Elfen
Fantasy Roman
Norbert Wibben
Raban und Röiven
Insel der Elfen
Raban und Röiven, Band 5
Für Andrea und Karin
Schön, dass es euch gibt!
In Erinnerung an viele schöne Vorleseabende mit meinen Kindern verpacke ich auch diese Geschichte in den bekannten Dreizeiler:
Ein Huhn und ein Hahn – …
Frühsommer
Rückkehr aus Munegard
Insel der Elfen
Röivens Familie
Fortsetzung eines Ausflugs
Ein Mord
Röivens Sorgen
Ein Hilferuf
Neuanfang
Unerwarteter Besuch
Ein verwirrter Zauberer
Eine Drohung
Hekate ruft
Wanderers Zuflucht
Das Krankenzimmer in Serengard
Ein unerwarteter Erfolg
Beratung mit Amelia
Suche nach Kendra
Eine Verschwörung
Suche nach Raban
Im Inneren der Insel
Eine grausige Entdeckung
Ileas Idee
Vermutungen
Zurück in die Hauptstadt
Ein Überfall
Sorcha und Ilea
Röivens Versuch
Grübeleien
Ein Rückfall
Ein Durchbruch
Ausbruchsversuch
Dunkle Pläne
Informationen
Im Fairwingviertel
Ungewissheit
Zurück auf der Insel
Morgana?
Ein außergewöhnliches Geschenk
In Mynyddcaer
Suche nach Damian
Verzweiflung
Eine Spur
Die Silbermine
Heimkehr
>Epilog
Zaubersprüche
Danksagung
Ein Huhn und ein Hahn – die Geschichte fängt an
Die Sommerferien begannen dieses Jahr früh. Raban verbringt die erste Woche zusammen mit Eltern und Großvater im Westen des Landes am Meer. Brendan, Rabans Dad, überraschte alle damit, dass er eine Suite im Hotel Munegard gemietet hatte, für eine ganze Woche! Der Junge erinnert sich noch gut daran, wie ungläubig Ciana, seine Mom, ihren Mann ansah, als dieser die Buchung als Geschenk zum Hochzeitstag nannte.
»Das können wir uns doch nicht leisten«, hatte sie halb vorwurfsvoll, halb freudig überrascht geäußert, »eine ganze Woche in einem Hotel! Noch dazu in der Hochsaison!«
»Doch, das leisten wir uns. Du sollst einmal richtig ausspannen und von vorne bis hinten bedient werden. Und im Sommer ist es dort am schönsten, habe ich gehört.«
»Werden wir denn für Raban noch ein Zustellbett in unser Doppelzimmer bekommen. Er ist dann doch bereits 16 Jahre alt. Ist das nicht nur bis zum zwölften Geburtstag eines Kindes möglich?«
»Aber Mom. Ich bin doch kein kleines Kind mehr. Ich kann die Woche auch allein bleiben oder zusammen mit Röiven verbringen. Macht ihr euch mal ein paar schöne Tage«, war der Einspruch des Jungen gewesen. Doch sein Vater hatte gleich korrigierend geantwortet:
»Nichts da. Ich habe auch kein Doppelzimmer, sondern eine Suite gebucht, die drei Schlafzimmer hat. Der Junge wird sein Bett in einem eigenen Raum haben und ein weiterer ist für Finnegan, deinen Dad!« Als sie das hörte, schnappte Ciana sichtlich nach Luft, die sie sich mit der Hand zufächelte. Es dauerte lange, bis sie ihre Sprache wiederfand.
»Du hast WAS? Eine ganze Suite … in einem Hotel … für eine Woche gebucht?«
»Genau. Für uns Vier und mit Vollpension!«
Ciana musste mehrmals schlucken, während sie Brendan immer noch ungläubig anstarrte. Dann wandte sie sich an Raban:
»Ist dein Dad möglicherweise krank? Kennst du einen Zauberspruch, um ihn wieder normal werden zu lassen?«
»Ich bin keineswegs krank!«, hatte ihr Mann da geantwortet. »Ich dachte, es würde dir gefallen, in einer ehemaligen Burganlage, die als Hotel genutzt wird, bedient zu werden. Damit du richtig ausspannen kannst und rundherum verwöhnt wirst. Dort hast du Zeit, Bücher zu lesen, den Wellnessbereich mit Schwimmbad und Massage zu nutzen oder mit mir zusammen ausgedehnte Spaziergänge zu machen. Deinem Dad und Raban wird es dort sicher auch gut gefallen. Die Anlage liegt auf einer steilen Klippe oberhalb einer Meeresbucht und ist sehr berühmt.«
»Du hast noch nicht gesagt, wo sich das Hotel befindet«, hatte Raban eingeworfen. »Woher weißt du, dass es mir dort gefallen wird?«
»Davon bin ich überzeugt. Du hast es schon einmal kennengelernt und uns einiges darüber berichtet. Es liegt an der Westküste und heißt Munegard.«
Als Brendan das sagte, war Raban für einen Moment sprachlos. Damit hatte er nicht gerechnet. Die Festungsanlage gehörte ursprünglich einem der Zauberer des Mondes. Die waren sehr böse und wurden deshalb Dubharan, die Dunklen oder Schatten, genannt. Vor über 100 Jahren, als alle Zauberer ihre Magie verloren, wurden die Dubharan für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen. Die Burganlage wurde verkauft und der Gewinn zur Entschädigung und Wiedergutmachung eines Teils der bösen Taten eingesetzt. Munegard wurde über viele Jahre erfolgreich als Hotel genutzt, bis es im letzten Jahr von Gavin, einem Nachfahren der Dubharan, widerrechtlich in Besitz genommen worden war. Dieser Urenkel hatte zusammen mit seiner Cousine Morgana die Übertragung von Zauberkräften von gefangenen Raben erpresst. Bei den Gedanken an Morgana läuft Raban jedes Mal ein Schauer über den Rücken.
»Ja, ich kenne die Anlage. Dort wurde Sorcha, die Oberste der Elfen, von den dunklen Zauberern im letzten Jahr gefangen gehalten, bis Röiven und ich sie befreien konnten.« Der Junge schüttelt sich kurz. Die neu erstarkten, dunklen Zauberer hatten mit ihren Zauberkräften die Macht im Land übernommen und gemeinsam mit ihren Anhängern viele Gräueltaten begangen. Zusammen mit seinem Freund, dem Kolkraben Röiven, und Sorcha war es Raban schließlich mit viel Glück gelungen, die Zauberer zu besiegen. Die rechtmäßige Regierung hatte bis dahin nur aus dem Untergrund Widerstand leisten können, wobei Brendan sie tatkräftig unterstützte. Der Regierung und ihren regulären Truppen gelang es schließlich nach größeren Kämpfen, die Anhänger der dunklen Zauberer aus ihren widerrechtlich eingenommenen Ämtern und Positionen zu entfernen.
»Dann wird es dir sicher gefallen, die Anlage zu erforschen, ohne feindliche Zauberer fürchten zu müssen«, versuchte Brendan seinen Sohn aufzumuntern, dessen abwesenden Blick er fast richtig deutete. Sofort fragte Ciana erschrocken:
»Gibt es denn jetzt noch böse Magier? Raban, sag schon.«
»N… nein«, entgegnete dieser etwas abwesend. Er erinnerte sich daran, dass die bösen Zauberer durch die Zerstörung der Figur der Hekate, die ihnen als Zeitportal gedient hatte, in der Vergangenheit gefangen wurden. Raban hofft immer, wenn er kurz an die durch und durch böse Zauberin Morgana denkt, dass das auch so bleibt.
»Es ist ja lieb von dir, Brendan, uns derart verwöhnen zu wollen, aber wie sollen wir das bezahlen?«
»Soll ich die Buchung denn rückgängig machen, falls das überhaupt geht?«, fragte dieser lächelnd zurück. Bevor Ciana das womöglich fordern sollte, fuhr er schnell fort: »Keine Angst. Ich habe einen großzügigen Sonderbonus bekommen. Dieser war als »Anerkennung für die erfolgreiche Unterstützung der Wissenschaftler bei der Untersuchung der Zeichen im Steinkreis« bezeichnet worden, wird aber wohl eher als Aufmunterung für das weitere Stillschweigen über die Geschehnisse gedacht sein. Und darüber, was tatsächlich dahintersteckt.« Den letzten Satz sagte er nur für Raban hörbar, dem er dabei kurz zuzwinkerte. Im Gegensatz zu seiner Mutter war der Sohn von Brendan im vergangenen Herbst in alles eingeweiht worden. Außerdem war es Raban gewesen, der dem Vater wichtige Informationen über Duncan, den bösen Zauberer, gegeben hatte.
Die Woche im Hotel Munegard verflog schneller, als sich der Junge das zu Beginn vorstellen konnte. Er erwartete anfangs, plötzlich Gavin, Morgana oder Oskar gegenüberzustehen, sobald er bei der Erkundung der Anlage um eine Ecke, in einen Gang bog oder einen zuvor verschlossenen Raum betrat. Sehr schlimm war es, als er die Kellerräume besichtigte. Das Herz schlug rasend und pumpte das Blut durch die Adern, während sich die Härchen überall auf der Haut, besonders aber im Nacken, aufrichteten. Er war jedes Mal erleichtert, wenn sich seine unterschwellige Angst als unbegründet erwies. Trotzdem besichtigte er alle Räume und Winkel, die ihm zugänglich waren. Auf dem Außengelände bekam er diese Angstattacken nicht. Dort fühlte er sich sofort wohl und nicht jeden Moment unbewusst bedroht.
Jetzt steht er dort am Rand der hohen Klippen und betrachtet das sturmgepeitschte Meer. Raban hört dem Brausen des Windes und den Schreien der Möwen in der Bucht zu. Seinen Blick richtet er in die Tiefe, wo die Wellen gegen Felsen gischten und Wasser mit dumpfem Krachen nach oben spritzt.
»Morgen fahren wir nach Hause und übermorgen besuche ich dich, wenn ich darf«, sendet Raban an Ilea, mit der er gerade gedanklich Kontakt aufgenommen hat. Sobald er ihre Stimme hört, durchströmt ihn ein angenehmes Glücksgefühl.
»Ich freue mich. Wann wirst du kommen?«
»Ich dachte, so gegen neun in eurem Wohnzimmer zu sein. Warne schon mal deine Mom vor, damit ich sie nicht erschrecke.«
»Das mach ich. – Was werden wir unternehmen?«
»Ähem. Ich dachte, die Reise vom Herbst zu den Plätzen fortzusetzen, wo Röiven und ich in unserem ersten Abenteuer waren. – Wow, ich bemerke gerade, das war ja nahezu vor zwei Jahren.«
»Ich begleite dich gerne. Außerdem haben wir dann ein kleines Jubiläum.«
»Wie, was haben wir?«
»Wir kennen uns dann fast zwei Jahre! Ich freue mich auf unseren Ausflug.«
»Ich mich auch. Bis dann.«
»Bis dann.« Damit unterbrechen sie die Verbindung.
Es vergehen mehrere Minuten, in denen der Junge das Gesicht Ileas deutlich vor sich sieht. Ihr offenes Lächeln irritierte ihn in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft oft, raubte ihm quasi den Atem und verunsicherte ihn derart, dass er stotterte. Bei dem Gedanken daran durchströmt ihn ein warmes Gefühl und gleichzeitig erzeugt es ein Kribbeln in seinem Bauch.
Raban versucht nun, eine Verbindung zu Röiven zu bekommen, was aber nicht klappt. Der Junge hat es schon seit mehreren Tagen und immer zu verschiedenen Zeiten versucht, doch stets vergeblich. Er grübelt und macht sich derart große Sorgen, dass er drauf und dran ist, den schwarzen Vogel im geheimen Wald zu suchen. Plötzlich schlägt er sich mit der flachen Hand vor die Stirn.
»So viel zu dem oft gehörten Spruch von meinem Freund, dass Minerva mit meiner Klugheit Recht habe. Ich bin ja so etwas von begriffsstutzig und dumm! Röiven und seine Partnerin Zoe haben doch im Frühjahr fünf Eier ausgebrütet, so dass sie jetzt genug mit Aufzucht und Fütterung von diesen hungrigen Schnäbeln zu tun haben. Wenn ich daran denke, wie besorgt mein Freund im letzten Jahr um sein erstes Kind, seine Tochter Ainoa war, wird er bei fünf Kindern kaum wissen, wo ihm der Kopf steht. – Ich sollte ihn zusammen mit Ilea besuchen. Die jungen Fithich müssten sicher schon ihre ersten Flüge unternehmen, da können wir sie gebührend bewundern.«
Raban nickt und lächelt im tosenden und brausenden Wind. Er grüßt andere Gäste des Hotels, die ebenfalls den schönen Sommertag bei einem Spaziergang genießen. Den Rest des Tages wandert er zusammen mit seinem Opa durch die Natur.
Der letzte Abend im Hotel Munegard wird von einem üppigen Abendessen gekrönt. Nach der ausgiebigen Wanderung mit seinem Opa hat Raban großen Appetit. Auch wenn er versucht, bei diesem Buffet nicht zu viel zu essen, will er doch jede der verschiedenen Speisen zumindest probieren. Als er mit Eltern und Großvater den Restaurantbereich verlässt, sind sie derart pappsatt, dass sie noch einen ausgedehnten Spaziergang unternehmen. Sofort schlafen gehen wollen sie nicht, da es einerseits ihr letzter Abend ist, es sich andererseits mit vollem Magen auch nicht gut schläft.
Aus der Meeresbucht ist dichter Nebel heraufgezogen, so dass die blinkenden Sterne der wolkenlosen Sommernacht ihn nicht durchdringen können. Da sie offenbar allein unterwegs sind, erhellt Raban mit »Solus« ihren Weg. So verhindert er, trotz des im Nebel nur milchigen Lichts der heraufbeschworenen Lichtkugel, der Abbruchkante über der Meeresbucht zu nahe zu kommen. Der aufgezogene Dunst deutet auf einen Wetterwechsel hin, der sich schon bald bestätigt. Plötzlich werden die Spaziergänger durch heftige, ablandige Windböen überrascht. Sie unterstützen sich gegenseitig und stemmen sich vornübergebeugt gegen den Wind, der sie Richtung Abbruchkante drückt. Raban ist versucht, sie mit »Portaro« zurück in die Suite zu bringen, als nun heftig einsetzender Regen den Nebel auflöst. Jetzt ist zu erkennen, dass sie sich gegen den Wind behaupten und langsam dem Hotel nähern. Trotz der ungewollten Erfrischung lachen die Vier und kämpfen sich gegen den mittlerweile herrschenden Sturm zum Hotel zurück. Da es inzwischen sehr spät geworden ist, gehen sie erschöpft und zufrieden ins Bett.
Das umfangreiche Essen zeigt jedoch Nachwirkungen. Es liegt noch schwer im Magen. In der Nacht träumt Raban, dass Ilea von Duncan entführt wird, um sich die Unterstützung des Jungen im Kampf gegen Kenneth zu erpressen. Plötzlich erscheint Aedan. Der Feuervogel fährt mit schrillen Schreien und ausgestreckten Krallen auf den Darkwing nieder. In Rabans Kopf entsteht eine Frage: Duncan wurde doch von Röiven getötet, oder etwa nicht? Ist das jetzt ein Traum oder eine hellgesehene Sequenz? Der Junge wälzt sich unruhig in seinem Bett und erwacht. Er setzt sich erschrocken auf. Sein Herz pocht schnell. Bewusst langsam ein- und ausatmend beruhigt sich Raban wieder. Er weiß, Duncan wurde in der Residenzstadt auf Eilean na sìthichean, der Insel der Elfen, durch einen Blitz Röivens getötet. Der Junge legt sich erneut hin und zieht die Bettdecke über seine Schultern. Obwohl es Sommer und warm im Zimmer ist, fröstelt es ihn. Er verspürt das Bedürfnis nach mehr Wärme.
»Was ist, wenn das Abenteuer vom letzten Herbst, in dem ich den Fairwing Kenneth kennenlernte, noch nicht beendet ist? Kenneth folgte dem Darkwing Duncan auf dessen Gedankenspur. Duncan war nicht nur ein böser Zauberer, sondern auch ein Gestaltwandler, der zur Unterstützung gefährliche Raubtiere herbeizauberte. Gut, dass der Halbelfe Kenneth auch ein Gestaltwandler ist und seinen Feuervogel heraufbeschwören konnte, so dass sie die letzte Auseinandersetzung mit dem bösen Zauberer doch noch gewinnen konnten.« Mit diesen Gedanken schlummert Raban ein, ohne erneut zu träumen.
Am kommenden Morgen genießen Ciana, Brendan, Finnegan und Raban das üppige Frühstücksbuffet. Sie müssen ihre Suite erst gegen elf Uhr verlassen und haben somit keine Eile.
»Ich werde das hier vermissen«, äußert sich Rabans Mutter immer wieder. »Deine Überraschung ist eine super Idee gewesen, Brendan!«
»Das finde ich auch«, bedankt sich der Großvater. »Ich habe die Zeit mit euch genossen.«
»Sollen wir das im nächsten Jahr wiederholen?«, fragt Brendan und schaut alle gespannt an.
»Ach, das wäre schon toll«, beginnt Ciana, »aber wir können es uns zu Hause genauso gemütlich machen, wenn alle ihren Teil dazu beitragen.« Während sie das äußert, schaut sie trotzdem wehmütig drein. Sie weiß, dass der Urlaub in einem Hotel doch etwas anderes ist, selbst wenn sie zu Hause tatsächlich von allen unterstützt wird.
»Warten wir mal ab, ob es im nächsten Jahr wieder eine Sonderzahlung gibt, dann werden wir das wiederholen, versprochen!«
»Falls ihr mich wieder mitnehmen möchtet, werde ich meinen Teil der Kosten übernehmen, dann muss die Sonderzahlung nicht ganz so groß sein. Was meint ihr?«
Alle schauen Finnegan an.
»Selbstverständlich nehmen wir dich mit!«, antwortet Brendan.
»Und du sollst von deiner kleinen Rente nichts dazu zahlen. Wir haben dich einfach gerne bei uns«, ergänzt Ciana.
Raban fügt hinzu:
»Ich kann zu der Bezahlung nichts sagen, aber ich habe dich sehr gerne dabei.«
Da sie mit dem Auto zum Hotel gefahren sind, wie fast alle anderen Gäste auch, nutzen sie dieses, um nach Hause zurückzukehren. Raban ist zwar ungeduldig, schnell dorthin zu kommen, doch andererseits sieht er auf der Reise so wesentlich mehr von der Landschaft, als wenn er den magischen Sprung nutzen würde. Er bewundert das gewellte Land und immer wieder spektakuläre Ausblicke in Täler, wenn sie von einem Bergrücken hinunterschauen. Die schmalen Straßen sind oft von Weißdornhecken gesäumt und folgen den Geländegegebenheiten. Hierdurch ergeben sich manchmal beträchtliche Steigungen oder Gefälle. Der Junge hält unwillkürlich den Atem an, wenn ihnen plötzlich ein anderes Auto entgegenkommt. Das passiert natürlich immer an der engsten Stelle und in oder nach einer Kurve, so dass die Aufmerksamkeit seines Vaters stets gefordert ist. Besonders beunruhigend ist es, wenn diese Begegnung auf einer Brücke stattfindet, die ebenfalls schmal ist und zur Mitte hin ansteigt und so das entgegenkommende Fahrzeug verbirgt. Es passiert ihnen trotz dieser engen Straßen kein Unfall, da Brendan, genau wie die anderen Autofahrer auch, sehr defensiv fährt. Am späten Vormittag überqueren sie ein Hochmoor, auf dem Nebelschwaden ihre Sicht zwar behindern, dieses aber gespenstisch und unheimlich wirken lässt. Vereinzelt sehen sie Schafe oder struppige Ponys auftauchen, die hier wild leben. Feinste Wassertröpfchen lassen die Zweige dunkler Ginsterbüsche seltsam glitzern und zaubern kleine, silberne Perlenketten auf Spinnenweben. Sie rasten an einem Bach, der sich etwas abseits von der Autostraße unter einer alten Brücke, die aus riesigen Steinplatten gebildet wird, rauschend weiter schlängelt. Nach Verlassen des Moorgebietes ist der Nebel seltsamerweise verschwunden, so, als ob sie ein verzaubertes Gebiet hinter sich gelassen hätten. Die Sonne lacht nun von einem strahlend blauen Himmel herab.
Es ist Spätnachmittag, als sie zu Hause ankommen. Brendan muss am kommenden Montag, also in vier Tagen, wieder zur Arbeit. Raban möchte am nächsten Tag einen Ausflug mit Ilea unternehmen und auch mindestens eine Woche im geheimen Wald, bei seinem Freund Röiven, verbringen, wenn dieser denn Zeit erübrigen kann. Daher wird Finnegan nicht in sein Haus zurückkehren, sondern Ciana noch einige Zeit Gesellschaft leisten.
Rabans Mom betreut seit Anfang des Jahres, genauer gesagt, seit Ende der Weihnachtsferien, Kinder in der Grundschule. Sie bastelt und spielt mit denen, die nicht nach Hause können, weil ihre Eltern noch arbeiten. Zeitweise hilft sie auch bei den Hausaufgaben, was ihr aber nicht so gut gefällt wie das Spielen. Da jetzt Sommerferien sind, hat sie auch frei und freut sich, dass ihr Vater bleiben wird.
Raban hilft dem Großvater die Sachen nach oben in sein Zimmer zu bringen, das er in seiner Abwesenheit bewohnen kann.
Danach versucht Raban erneut, Kontakt zu seinem Freund zu bekommen.
»Röiven, melde dich! Wo steckst du? RÖIVEN!«
»W… was ist? Brennt es irgendwo?«, knarzt die unerwartete Antwort in seinem Kopf. »Du musst nicht so schreien, ich versteh dich auch, wenn du normal redest!«
»Schön wär’s. Ich versuche seit über einer Woche, dich zu erreichen. Was war denn los?«
»Ach, du warst das? – Nein, das war nur Spaß. Ich habe dich tatsächlich nicht gehört. Ich bin voll im Stress. Kinder aufzuziehen ist wirklich anstrengend. Wenn sie nicht nach Futter schreien, muss ich trotzdem weitersuchen, damit ich auch einen Happen zu schlucken bekomme.«
»Aber das kennst du doch. Ainoa war …«
»Ainoa war viel einfacher großzuziehen. Fünf Schnäbel, die gleichzeitig gefüllt werden wollen, das ist schon erheblich schwerer. Wenn endlich der Abend anbricht, schaffe ich es manchmal nur mit Mühe, mich auf einem Ast festzuhalten, wenn ich dort vor Erschöpfung einnicke.«
»Mittlerweile müssten eure Kinder doch schon fliegen können, da sollte das Füttern doch einfacher sein.«
»Das ist zwar richtig, dafür muss ich meine Augen aber an fünf Stellen gleichzeitig haben. Du kannst dir nicht vorstellen, auf was für Ideen die jungen Fithich kommen. Ich schaffe es kaum, sie vor Unheil zu bewahren.«
»Du hast doch Hilfe, Zoe ist doch sicher nicht untätig. Und könnte Ainoa nicht auch …«
»Die zieht mit einem großen Trupp anderer Fithich durchs Land. Sie kommt uns eher selten besuchen. Es ist auch nicht üblich, dass sich Geschwister aus dem Vorjahr mit um die Aufzucht kümmern. Zoe hilft mir natürlich, aber sie meint, wie schon bei unserer ersten Tochter, dass ich zu vorsichtig bin. Sie ist immer so vertrauensvoll. Aber ich – ich weiß, was alles passieren kann. Wenn ich allein an meine Eltern denke …« Hier bricht der Kolkrabe ab. Der Junge gibt ihm etwas Zeit. Er weiß, dass sein Freund von seiner Großmutter aufgezogen wurde, nachdem die Eltern gestorben waren. Doch dann fragt Raban zögernd:
»Darf ich dich bald besuchen, vielleicht morgen oder übermorgen? Ich würde gerne einen Blick auf deine Kinder werfen. Ich bringe Ilea auch mit.«
»Du willst WAS auf meine Kinder werfen? – Halt, das war sicher wieder nur so ein Ausdruck von euch Menschen, stimmt’s?«
»Jo, jepp! Ich, also wir, möchten sie gerne sehen.«
»Das freut mich und Zoe sicher auch. Ich werde es ihr gleich sagen. Und die Kinder muss ich ermahnen, besonders artig zu sein.«
»Hey, mein Freund. Lass die Kinder sich so geben … ich will sagen, ermahne deine Kinder nicht. Ich möchte sie so sehen, wie sie sind. – Und wann können wir kommen?«
»Also, morgen ist schon gut. Wir treffen uns unter der Linde. Aber kommt nicht zu früh.«
»Ist die Mittagszeit recht? Ich bringe auch Schokolade mit, die du vermutlich dringend zur Stärkung benötigst.«
»Hey, Superidee. Vielleicht solltest du gleich mit dem Aufgang der Sonne erscheinen. Ich bin morgens immer so schwach. Möglicherweise findest du mich sogar unter dem Baum, vor Erschöpfung hinuntergefallen. Krch.«
»Du Angeber. Wir kommen mittags. Bis dahin.«
Jetzt beendet Raban die Verbindung. Er ist erleichtert, seinen Freund endlich erreicht zu haben. Es geht dem Kolkraben offenbar auch gut, da er sich unverändert aufführt, sowohl bei der Aufzucht der Kinder, als auch bei der gespielten Theatralik, wenn es um die heißgeliebten Schokostückchen geht.
Im vergangenen Herbst.
Die magischen Sprüche von Sorcha und Kenneth haben Kendras Genesung beschleunigt, trotzdem bedarf sie noch einige Tage der Ruhe. Nachdem der Fairwing dem Wunsch Kendras folgend sie mitgenommen hatte, als er Sorcha, Raban und Röiven in den geheimen Wald der Elfen zurückbrachte, hatten sie einen Tag im Wald und in der Elfenfestung Serengard verbracht. Als sie zurück auf Eilean na sìthichean sind, möchte Kenneth ihre Betreuung und Pflege in zuverlässige Hände geben. Da Kendra weder Mutter noch andere Angehörige hat, die das übernehmen könnten, soll Amelia, die Wirtin des Gasthauses »Wanderers Zuflucht«, das im Viertel der Fairwings steht, diese Aufgabe erfüllen. Kendra bezweifelt, dass eine königliche Jägerin, die von der Herrin des Gasthauses bisher erst zweimal gesehen wurde, von ihr gepflegt werden wird. Doch Kenneth ist anderer Meinung. Er hat auch kaum den ersten Satz seiner diesbezüglichen Frage gestellt, als die resolute Frau ihm bereits über den Mund fährt:
»Bring das arme Kind ruhig zu mir. Ich werde es wieder auf die Beine …« Hier hält sie erschrocken inne, weil ihr Blick auf das bleiche Antlitz der schönen, jungen Frau fällt, die bisher von der Gestalt des Mannes verdeckt wurde. »Was? Da steht sie ja schon. Typisch Mann. Lässt der unvernünftige Bursche das verletzte Mädchen hierher laufen, anstatt ein Transportgefährt oder auch nur sein Pferd zu nutzen.« Die Wirtin unterbricht sich, drängt Kenneth zur Seite, der verblüfft kein Wort der Erwiderung äußert und will die Hände Kendras ergreifen. Dann zögert sie und wischt sich erschrocken ihre Hände an der blütenweißen Schürze ab. Erst jetzt lächelt Amelia wieder und nimmt die der Frau in ihre und zieht sie in die Gaststube herein. »Komm schon, mein liebes Kind. Wir haben oben ein Gästezimmer mit einem schönen, weichen Bett. Dort ist es ruhig und du kannst dich erholen, ohne von unliebsamen Besuchern belästigt zu werden.« Ihr Blick ist dabei drohend auf den Mann gerichtet.
»Kenneth ist aber kein un… und er hätte mich auf Feuerstern, seinem Pferd hergebracht, wenn er nicht den magischen Sprung nutzen könnte«, versucht Kendra, die Wirtin aufzuklären, während Kenneth sofort warnend einen Finger vor seine Lippen hält. Doch die Frauen beachten ihn nicht.
»Na, na, Kindchen. Das ist ja auch wohl das Mindeste, was dieser Mann für dich tun konnte. – Ähem, sein Pferd kenne ich, aber was ist ein magischer Sprung?«
»Er hat mich mit Zauberkraft …« Hier wird sie schnell und energisch von Kenneth unterbrochen.
»Ruhig! Das ist nichts für öffentliche Plätze. Auch wenn in diesem Gastraum nur ehrliche Fairwings Zutritt haben, könnten Lauscher etwas von unserem Gespräch mitbekommen.« Seine Stimme ist eindringlich, auch wenn er nicht laut spricht und sein Blick sucht forschend die wenigen Fenster im Gastraum ab.
»Entschuldigung!«, flüstern Amelia und Kendra erschrocken.
»Ist schon gut. So laut wart ihr jetzt nicht und Fremde habe ich nicht entdeckt. Lasst uns nach oben gehen, dort können wir uns weiter unterhalten. – Außerdem muss ich das Zimmer begutachten, ob es für eine königliche Jägerin angemessen ist!« Die Wirtin will empört auffahren und stemmt bereits ihre Hände in die Seiten, als sie ein feines Grinsen auf seinem Gesicht entdeckt.
»Soweit ich »Wanderers Zuflucht« bisher kennengelernt habe, wird das Zimmer sicher mehr als genügen!«, hält Kendra dagegen und lächelt die andere Frau gewinnend an, während sie den Gastraum durchqueren. »Außerdem fühle ich mich hier sicher und geborgen.« Ohne ein weiteres Wort nutzen sie in dem anschließenden Flur die Stiege nach oben. Der dunkle Schatten, der durch den kleinen Spalt der Außentür zu sehen ist, ist Kenneth entgangen. Das plötzliche Zufallen der Tür fällt ihnen leider ebenso wenig auf.
Das Gästezimmer ist für ein Wirtshaus mehr als luxuriös eingerichtet. Kendra bedankt sich bei der Wirtin, die sich nach unten begibt, um eine kräftigende Brühe bei ihrem Mann in Auftrag zu geben.
»Unsere Spezialhühnersuppe wird dich bald wieder auf die Beine bringen«, sagt Amelia zurückblickend, um die Tür dann leise hinter sich zu schließen.
Die Jägerin berät sich nun mit Kenneth, wie es weitergehen soll. Sie will sich vom Dienst bei den Jägern für ein Jahr beurlauben lassen, um das begonnene Werk ihrer Mutter fortzuführen. Das Anwesen, das jetzt ihr gehört, soll wiederaufgebaut werden, darum will sie sich vor Ort kümmern. Kenneth besteht darauf, dass sie eine Woche in der Obhut der Wirtsleute bleibt, danach will er sie abholen und sicher zu dem Anwesen geleiten.
Ob Kendra nach ihrem Jahr Pause wieder als königliche Jägerin arbeiten möchte, hat sie noch nicht entschieden. Nach dem Tod des Königs ist das Volk der Darkwings jetzt ohne Herrscher. Der durch Duncan getötete Monarch hat zwar Verwandte, sogar einen Bruder, aber keine Kinder. Ein neuer Herrscher wird durch die Vertreter der obersten Adligen gewählt werden müssen, da Seitenlinien von der Thronfolge ausgeschlossen sind. Es gibt viele ehrgeizige Männer und Frauen unter den Aristokraten der Darkwings, die auf diese Position hoffen, aber es würde Kendra nicht gefallen, bei allen von ihnen königliche Jägerin zu sein. Je nach Ergebnis der Wahl, die frühestens nach einem halben Jahr stattfinden kann, so lauten die alten Gesetze, wird feststehen, wer der neue Monarch sein wird. Am ersten Jahrestag des Todes des bisherigen Königs wird der neue dann seine Herrschaft antreten. Wenn das Jahr ihrer Beurlaubung vorbei ist, wird Kendra also entscheiden können, wie ihr zukünftiges Leben aussehen soll.
Kenneth will weiter durch das Land ziehen und Menschen bei der Bewältigung ihrer Probleme helfen. Je nach Situation hilft er nicht nur Fairwings, sondern auch Darkwings. Er macht seine Hilfe nicht davon abhängig, zu welchem der beiden Völker der Bedürftige gehört. Entscheidend ist, ob dieser Mensch offen und ehrlich ist.
Bevor sie sich trennen, möchte der Fairwing der ehemaligen Jägerin helfen, ihre benötigten Habseligkeiten in das Gasthaus zu holen. Gerade, als Kenneth das sagt, wird sachte an die Zimmertür geklopft.
Auf Kendras: »Herein!«, tritt die vom Treppensteigen etwas schnaufende Wirtin mit einem Tablett, auf dem eine dampfende Schüssel steht und einige Scheiben Brot liegen, ein.
»Hier hast du etwas Kräftigendes, mein Kind. Wir wollen doch mal sehen, ob wir dich nicht schnell wiederherstellen können. Ich habe gehört, du wolltest diesen Mörder, den widerwärtigen Magier, mit deinem Schwert richten, was der mit einem auf dich geschleuderten, grässlichen Zauber verhinderte. Der Fluch hat dich derart geschwächt, dass du stundenlang zwischen Leben und Tod schwebtest. Du sollst auch Unmengen deines Blutes verloren haben. Konnte dich dieser junge Mann«, dabei ruht ihr flammender Blick kurz auf dem Fairwing, »denn nicht von einem derart unbedachten Vorhaben abhalten? Ich hätte da mehr Umsicht von ihm …«
»Kenneth wusste nicht, was ich vorhatte. Er war in dem Augenblick ja gar nicht anwesend«, versucht die junge Frau, ihn in Schutz zu nehmen. Amelia stellt das Tablett aufgeregt auf den Tisch, an dem die beiden sitzen, hört aber nicht richtig zu.
»WAS? Er hat dich alleine in seine Nähe gehen lassen? Das schlägt doch dem Fass den Boden aus. Das hätte ich nicht gedacht.« Sie schüttelt den Kopf und stemmt ihre Hände in die Hüften. Ihre Augen blitzen drohend.
»Die Suppe duftet aber toll. Schmeckt sie auch wohl so lecker? Ich sollte sie aber besser nicht kalt werden lassen, oder?« Mit diesem Ablenkungsmanöver schafft es die Jägerin tatsächlich, die aufgebrachte Frau kurzzeitig auf andere Gedanken zu bringen. Sofort leuchten ihre Augen.
»Die Suppe muss am besten heiß gegessen werden. Die Brotscheiben sind mit Butter bestrichen, die solltest du dazu essen. Das wird dir neue Kraft geben.« Plötzlich stutzt sie und will zwei von den vier Schnitten wegnehmen.
»Eigentlich sollte dieser Nichtsnutz sie bekommen, aber jetzt nehme ich sie doch wohl besser …«
»Halt. Kenneth ist kein Nichtsnutz. Er hat mich gerettet. Er wusste ja nicht, wo ich war und was ich vorhatte. Soweit ich weiß, kam er erst dazu, als ich den dummen Versuch schon unternommen hatte.«
»Das stimmt. Ich muss mich zwar nicht vor dir rechtfertigen«, dabei blickt er die soeben noch aufgebrachte Frau mit einem jungenhaften Blick an, »will dich aber aufklären. Ich glaube, das Geschehen ist stark verfälscht worden. Der Zauberer Duncan hatte sich mit einem Schutzzauber umgeben, den Kendra mit ihrem Schwert niemals hätte durchdringen können. Als sie es trotzdem versuchte, wurde sie heftig zurückgeschleudert und verlor beim Aufprall auf den Boden ihr Bewusstsein. Vorher muss sie allerdings bereits durch ein fehlgeleitetes Geschoss oder durch das Streifen eines Blitzes am Oberschenkel verwundet worden sein. Aus dieser Verletzung hatte sie schon sehr viel Blut verloren, bevor sie den Zauberer angriff. Die Elfe Sorcha und ich haben die Wunde mit Heilzauber geschlossen und ihr neue Lebensenergie übertragen.« Jetzt schweigt Kenneth. Er blickt die Wirtin etwas verlegen an. Normalerweise berichtet er nicht von dem, was ihn oder seine Taten gut aussehen lassen.
»Was? Eine Elfe war auch bei dem Kampf dabei? Wo ist sie jetzt? Ich würde sie gern kennenlernen. Ich dachte, Elfen gibt es nur in Geschichten. – Entschuldige bitte, Kenneth. Ich hätte wissen müssen, dass das von mir unterstellte Betragen nicht zu dir passt. Wie kann ich das nur wiedergutmachen?« Sie schaut ihn verlegen an und ringt ihre Hände.
»Indem du die zwei Brotscheiben hierlässt, meine liebe Amelia«, erwidert der Fairwing lachend. Sofort entspannt sich die Wirtin und beginnt erleichtert zu lächeln. Sie reicht ihm die Scheiben.
»Also, Elfen gibt es wirklich?«
»Ja. Außerdem hast du sie doch gesehen, als wir vorgestern hier zusammen in der kleinen Stube saßen. Kendra und ich haben sie, den Jungen Raban und den Kolkraben Röiven bereits wieder in ihre Heimat gebracht.«
»Kannst du mir von Elfen erzählen. Wie sind sie denn so?«
»Das kann Kendra übernehmen, wenn sie möchte. In der kommenden Woche werdet ihr vermutlich genug Zeit dazu haben. Und denke daran, du sollst ihr nichts von meinen Untaten berichten. Ich will, dass sie mich weiter für einen glorreichen Helden hält.« Er droht der älteren Frau mit erhobenem Zeigefinger, kann ein Grinsen aber nicht unterdrücken.
»Was für Untaten? Und wer ist ein ruhmreicher Held?«, fragt Kendra, ihn gespielt erstaunt anblickend.
»Na ich. Das ist doch wohl selbstverständlich. Schließlich habe ich doch die Prinzessin vor einem Monster gerettet.«
Jetzt lachen beide, umarmen und küssen sich. Die Wirtin fällt etwas zögernd in das Lachen ein. Sie hat nicht alles verstanden, will sich aber später von Kendra genauestens informieren lassen.
»Wir werden gleich noch einige von Kendras Sachen holen. Natürlich erst, wenn sie aufgegessen hat«, ergänzt Kenneth schnell, weil sich Amelia auf ihrem Weg aus dem Zimmer erneut zu ihnen umdreht. »Keine Sorge, wir werden langsam gehen, damit sie sich nicht überanstrengt.«
Als die beiden das Viertel in der Residenzstadt verlassen, in dem nur Fairwings wohnen, fällt ihnen die Gestalt in einem dunklen Mantel nicht auf, die ihnen verstohlen und vorsichtig folgt. Wäre Kenneth allein unterwegs und nicht durch das Gespräch mit der jungen Frau an seiner Seite abgelenkt, hätte der Mann keinen Erfolg mit der Verfolgung gehabt. Er wäre sofort entdeckt worden.
Ob alles, was nun folgt, dann anders verlaufen würde? Vermutlich nicht, aber das ist ja jetzt unerheblich!
Der Verfolger hat dunkles, strähniges Haar, das, genau wie sein Gesicht, unter der Kapuze eines weiten, schwarzen Umhangs verborgen ist. Er schafft es sogar, bis dicht an das Paar heranzukommen und einige Gesprächsfetzen aufzuschnappen. Dabei erfährt er, dass die Frau eine königliche Jägerin ist. Erstaunt stoppt er und wird prompt von einem anderen angerempelt, der ihm wohl zu dicht folgte.
»Hey. Warum bleibst du einfach stehen?«, fährt der sofort auf. »Das hätte … Oh, Verzeihung. Ich bitte untertänigst um Entschuldigung. Ihre Hoheit!« Mit diesen Worten macht der Mann eine Verbeugung vor dem Mann, dessen Gesicht er unter der Kapuze, die etwas verrutscht ist, erkannt hat und bewegt sich gebückt rückwärts.
Der Angerempelte winkt ungeduldig mit der Hand, zieht die Kapuze über den Kopf und dreht sich um. Er sucht, wo Kenneth und seine Begleitung geblieben sind. Kurz darauf hat er sie wieder im Blick und beschleunigt den Schritt, um sie einzuholen. Währenddessen grübelt er über die Bedeutung des Gehörten nach.
»Kenneth wird von einer königlichen Jägerin begleitet. Darum kam mir das Gesicht der Frau auch so bekannt vor. Und sie ist sogar eine Anführerin der Jäger. Ob der Fairwing ein Auge auf diese Frau geworfen hat? Er lässt sie wirklich keine Sekunde aus den Augen. Hm. Und was hat das zu bedeuten, dass er zusammen mit ihr einen magischen Sprung ausgeführt hat. Sollte Kenneth über Zauberkräfte verfügen? Das wäre eine wichtige Neuigkeit. – Der getötete Duncan konnte zaubern und hat den Beweis geliefert, wie gefährlich und gleichzeitig fast unüberwindbar ein Zauberer sein kann. Wenn kein anderer Magier stärker ist, hat dieser nichts und niemanden zu fürchten.« Der Dunkle ist durch seine Gedanken abgelenkt und verliert dadurch die beiden aus den Augen. Laut fluchend eilt er in verschiedene Richtungen, doch ohne Erfolg. Er bleibt enttäuscht stehen. Wohin soll er sich jetzt wenden? Zurück zu »Wanderers Zuflucht« im Viertel der Fairwings und dort auf sie warten, falls sie wieder zurückkommen sollten? – Was hat eine Anführerin der königlichen Jäger dort überhaupt verloren? – Oder zu dem Quartier der Jäger? Ja, dort könnten sie hingegangen sein. Der Dunkle schlägt die entsprechende Richtung ein und betritt die Burganlage, die innerhalb der Residenzstadt eine eigene Festung bildet. Er lächelt hämisch bei dem Gedanken, dass diese trutzige und wehrhafte Anlage Duncan nicht hindern konnte, den König zu töten. Ja, ja. Zauberei ist schon etwas sehr Gutes, wenn man der ist, der sie anwenden kann! Der Verfolger steht in Gedanken und in Zukunftsplänen versunken lange ohne Erfolg im Innenhof der Anlage und beobachtet die Aufräumarbeiten, doch Kenneth und Kendra sieht er heute nicht mehr.
Die sind vor dem Zugang zur Burg abgebogen, um, parallel zum Burggraben laufend, zu dem Haus zu gelangen, in dem Kendra wohnt. Es ist ein großes, zweistöckiges Stadthaus, das offensichtlich bessere Zeiten erlebt hat. Der an einigen Stellen abgeplatzte Putz müsste dringend ausgebessert und die Fassade anschließend neu gestrichen werden. Die dadurch sichtbar gewordenen roten Backsteine wirken unter dem abgeplatzten, grauen Mörtel eher schäbig. Trotzdem weist das Haus insgesamt auf den ehemaligen Reichtum seines Erbauers hin. Da Kendra dort nur zur Miete wohnt und als königliche Jägerin sehr oft im Land unterwegs ist, stört sie das nicht besonders. Sie hat die Wohnung gemietet, nachdem ihr Vater gestorben war und ihre Mutter zu ihrem elterlichen Anwesen wegzog, wo sie von Duncan und seiner Bande getötet wurde. Da die Wohnung besonders günstig zum Quartier der Jäger gelegen ist, muss sie nicht Tür an Tür mit anderen in einer Gemeinschaftsunterkunft verbringen, sondern hat mehr Privatsphäre und kann gleichzeitig innerhalb kürzester Zeit verfügbar sein. Der Vermieter wohnt in der unteren Etage und betrachtet den Fairwing argwöhnisch, doch er kommentiert dessen Kommen nicht. Umso erstaunter ist er, als er angesprochen wird.
»Kendra wird für etwa ein Jahr nicht hier sein. Ihre Wohnung will sie aber behalten. Ist das in Ordnung?«
»Ähem. Ja klar. Sie ist auch bisher oft für längere Zeit abwesend gewesen. Als Angehörige der Jäger muss sie das wohl auch. Ein Jahr ist aber schon etwas anderes, da ist die Miete im Voraus fällig.« Der Mann hat zwar ein offenes und ehrliches Gesicht, trotzdem wird sein Blick lauernd. Er scheint zu überlegen, was die hübsche Frau und dieser Mann wohl vorhaben.
»Wieviel?«, fragt Kenneth deshalb kurz angebunden.
»Drei, oder sagen wir vier Goldstücke. Dafür schaue ich auch hin und wieder nach dem Rechten.«
»Drei. Und keine Besuche in der Wohnung! Lass es dir nicht einfallen, die Zimmer zwischenzeitlich anderweitig zu nutzen. Es kann sein, dass Kendra innerhalb des Jahres die Unterkunft unangemeldet aufsucht.«
»Drei und ein halbes. Die Wohnung bleibt unangetastet, versprochen.«
»Einverstanden!« Damit zückt der Fairwing seinen Geldbeutel und entnimmt ihm das geforderte Geld. Kendra versucht vergeblich, ihn zurückzuhalten, sagt aber im Beisein des Vermieters nichts. Sie steigen die Treppe ins Obergeschoss hinauf, in dem sich drei Wohneinheiten befinden. In ihrer Wohnung hält sie sich aber nicht mehr zurück.
»Was fällt dir ein? Das ist meine Wohnung und …« Hier wird sie unterbrochen, weil Kenneth sie umarmt und lange küsst. Sie wehrt sich nicht. Als der Kuss endet, atmet sie heftig.
»Das ändert nichts. Es ist meine Wohnung.«
»Wenn du ein Jahr Urlaub hast, bekommst du kein Geld. Wie willst du sie dann bezahlen? Ich kann es mir andererseits leisten und gebe es gerne.«
»Ich könnte einige Sachen verkaufen, um die Miete zu bezahlen. Und das werde ich auch und dir das Geld dann erstatten.« Ihr Blick ist hart und herablassend, so wie zu Beginn ihrer Bekanntschaft, als sie auszogen, um Duncan zu fangen. »Unabhängig davon würde eine Jahresmiete nur zwei und ein halbes Goldstück kosten«, lächelt sie ihn an. »Darum bekommst du auch nur diesen Betrag von mir.« Sie grinst ihn an und lässt sich gerne erneut küssen.
»Danke!«, ergänzt sie dann ihre unterbrochene Rede. Anschließend packen sie die Dinge zusammen, die sie vorläufig in dem Gasthaus benötigt. Dann wechseln sie mit dem magischen Sprung in Kendras Gastzimmer.
»Du hast Fairwingblut und damit auch das der Elfen des Westens in dir«, beginnt Kenneth im Zimmer. Beide haben es sich auf den zwei Stühlen am Tisch gemütlich gemacht, nachdem die Frau ihre Sachen, darunter auch ihre Waffen, verstaut hat.
»Das habe ich dir gesagt«, bestätigt Kendra. »Warum?«
»Ich werde in den nächsten Wochen meine bisherige Gewohnheit wiederaufnehmen und Bedürftigen beistehen. Auch wenn du nicht direkt zaubern kannst, könntest du eine feine Spur der Zauberkräfte geerbt haben. Vielleicht ist es möglich, dass wir uns deshalb über geistigen Kontakt verständigen können. Es würde mich sehr beruhigen, wenn du mich bei einer drohenden Gefahr sofort an deine Seite rufen könntest. Ich glaube zwar nicht, dass es hier bei den Wirtsleuten eine Gefährdung für dich geben wird, doch vielleicht später, wenn du dich auf deinem Anwesen befindest.«
»Geistigen Kontakt herstellen. Wow, wie geht das denn?«
Kenneth erläutert ihr nun, wie das funktioniert, und übt den Rest des Tages mit ihr. Schließlich gelingt es Kendra, einen Ton in Kenneths Kopf hervorzurufen.
Der Fairwing ist zwar etwas enttäuscht, dass keine richtige Verständigung möglich ist, doch der Ton kann immerhin als Warnsignal dienen. Die königliche Jägerin bezweifelt, dass ihr in der Einsamkeit des Anwesens Gefahr drohen könnte. Sie versteht schließlich, mit Waffen umzugehen und kann sich notfalls wehren. Doch da es ihn beruhigt, versichert sie, ihn über das Warnsignal herbeizurufen, falls sie irgendwie in Gefahr geraten sollte oder seine Hilfe benötigt. Nach einer erneuten Umarmung und einem nicht enden wollenden Kuss, verlässt Kenneth sie. Er wird sie in einer Woche wiedersehen, doch die Zeit bis dahin erscheint ihm jetzt schon zu lang.
»Hallo Raban«, wird der Junge bei seinem Erscheinen von Ilea begrüßt, die ihn sofort stürmisch umarmt.
»W… was ist los?«, stottert er verlegen. Ist Leana nicht im Wohnzimmer? Das wäre ja peinlich! Während er schnell nach Ileas Mutter Ausschau hält, löst das Mädchen die Umarmung und haucht ihm noch kurz einen Kuss auf die Wange. Die Mutter hat der mittlerweile sechzehnjährige Junge nicht entdeckt, trotzdem steigt eine leichte Röte seinen Hals hinauf.
»Was ist das denn für … nun ja, für ein unerwarteter Empfang. Nicht, dass mir das nicht gefallen hat«, fügt er schnell hinzu. »Aber damit habe ich nicht gerechnet.«
Helle, blaue Augen mit kleinen, grauen Einsprenkelungen strahlen ihn an. Auf und um Ileas gerader Nase sind vereinzelt schwache Sommersprossen sichtbar.
»Ich freue mich so, einen ganzen Tag mit dir allein zu verbringen.«
»Da sollte ich dich möglichst jeden Tag zu einem Ausflug oder Ähnlichem abholen.«
»Das wäre himmlisch«, lächelt sie ihn an. Sie tritt erneut ganz nah an Raban heran und küsst den verdutzten Jungen schnell auf den Mund. Als er sie umarmen und festhalten will, ist sie schon wieder lachend zurückgewichen. Er will nun seinerseits näher an sie herantreten, da hält er mitten in der Bewegung inne. Er hört Schritte im Flur. Jetzt kommt Ileas Mutter herein.
»Hey. Da habe ich doch wohl richtig gehört. Raban! Schön, dass du gekommen bist. Das ist auch kein Moment zu früh. Ilea konnte deine Ankunft kaum noch …«
»Mom! Bitte!«, unterbricht das Mädchen sie schnell, woraufhin Leana lächelt. Obwohl sie vermutlich etwas anderes sagen wollte, um ihre Tochter zu necken, fährt sie geschickt fort:
»Ilea hat mir gestern noch einmal von eurem Ausflug im Herbst berichtet, den ihr so unerwartet abbrechen musstet. Sie freut sich schon sehr, die damals nicht mehr besuchten Plätze zu sehen. Sie ist entsprechend gespannt und wartete voller Ungeduld auf deine Ankunft.«
»Ich … ich freue mich, dass ich sie auf diesen Ausflug mitnehmen darf. Feindliche Zauberer gibt es ja jetzt nicht mehr, so dass ich Ilea wohlbehütet zurückbringen werde.«
»Davon bin ich überzeugt. Habt ihr genug zum Essen dabei, oder kann ich euch noch etwas mitgeben?«
Raban hat seinen Rucksack, in dem sich Leckereien für ein Picknick befinden, bei der stürmischen Umarmung durch Ilea auf den Boden fallen lassen. Jetzt hebt er ihn auf und hält ihn erneut an einem Riemen über einer Schulter.
»Ähem. Nein, Danke. Meine Mom hat schon viel zu viel eingepackt.«
»Na dann. Verbringt einen schönen Tag.«
»Das werden wir!«, entgegnet Ilea und umfasst den freien Arm Rabans mit beiden Händen. Den Jungen durchläuft ein freudiger Schauer. Bevor die erneut aufsteigende Röte auf seinem Hals erkennbar werden kann, nickt er Leana kurz zu, dann flirrt die Luft.
»Hallo Raban und hallo Ilea«, werden die beiden kurz nach ihrer Ankunft am Eingang zum geheimen Wald von einem der Wächter empfangen. Sie grüßen freundlich zurück, um dann sofort zu Röivens und Zoes Lieblingsbaum im Wald der Elfen des Nordens zu wechseln. Die große Linde steht auf einer mit Wildblumen übersäten Wiese. Das Gelände steigt sanft in Richtung der Elfenfestung Serengard an. Der Junge und das Mädchen stehen unter der gewaltigen Krone und schauen nach oben. Dort befindet sich das Nest der Kolkraben, das jetzt aber nicht mehr benötigt wird.
»Papa, wer sind die beiden?«, krächzt es in diesem Augenblick über ihnen.
»Ist das der angekündigte Besuch?« Das war eindeutig eine andere Stimme, obwohl sie fast genauso knarzte. Mehrere dunkle Schatten kommen aus der Krone nach unten gesaust, wobei eine weitere Stimme krakeelt:
»Ich habe sie zuerst gesehen! Lasst mich vor.«
»Ist doch egal, wir begrüßen sie alle gemeinsam!«
»Jetzt ist es aber genug. RUHE!« Das war eindeutig Röiven, ist sich Raban sicher. Im nächsten Moment sitzen sieben prachtvolle Kolkraben nebeneinander auf dem untersten Ast des Baumes, auf dem früher oft nur einer hockte. Obwohl Platz genug ist, scheinen besonders die fünf Vögel in der Mitte einander den Platz streitig machen zu wollen. Sie wackeln mal hierhin, dann wieder dorthin, so, wie sich Kinder manchmal schubsen.
Röiven beginnt gerade mit: »Ich freue mich …«, als der schwarze Vogel in der Mitte nach hinten vom Ast fällt. Kurz zuvor sind die beiden an seiner Seite zu ihm herübergerückt, wodurch er wohl vom Platz katapultiert wurde.
»Ihr blöden …«, beginnt der junge Vogel, während er seinen Sturz geschickt abfängt und schnell wieder an Höhe gewinnt. »Das sollt ihr büßen!« Jetzt fliegt er mit vollem Schwung den beiden Verursachern in den Rücken, wodurch sie nach vorne vom Ast fallen.
»Das ist unfair.«
»Von hinten in den Rücken stoßen, ist gegen die Regel!«
»Welche Regel?«, keckert der Rabe zurück, der jetzt seinen ursprünglichen Platz wieder einnimmt.
Die bisher auf dem Ast verbliebenen Raben drehen ihre Köpfe hastig in alle Richtungen. Sie rechnen offenbar damit, dass sich der Tumult ausdehnen wird. Das geschieht aber nicht. Einer dieser Vögel, es ist Zoe, wie Raban an ihrem weißen Fleck auf der Brust erkennt, sitzt ruhig auf ihrem Platz. Sie klappt ihre Augendeckel mehrmals auf und zu, um dann mit scharfer Stimme:
»Jetzt ist es GENUG!«, zu rufen. »Hockt euch nebeneinander und begrüßt artig unsere Freunde!« Dieser Aufforderung folgen die Kolkraben schnellstens. Sie sitzen nun ruhig und ohne einen Rempler still auf dem Ast.
Röiven hüstelt kurz und beginnt erneut:
»Ich freue mich, euch meine Kinder vorstellen zu können. Wie ihr bereits feststellen konntet, sind sie echte Fithich.«
»Jo!«
»Jepp!«
»Klaro!«
»Was du nicht sagst!«
»Sicher das!«, krähen die jungen Vögel zur Bestätigung.
Raban kann sich einen Scherz nicht verkneifen und entgegnet:
»Angenehm. Ihr habt aber seltsame Namen für Fithich. Meiner lautet Raban und das Mädchen hier heißt Ilea.«
Sofort setzt lautes Protestgekreische ein.
»Das war nur zur Bestätigung!«
»So heißen wir doch nicht.«
»Du bist wohl auf Krawall aus.«
»Den kannst du haben!«
»Hier bin ich schon, nimm dich in …«
»RUHE!«, fährt jetzt Röiven dazwischen, bevor sie sich vom Ast erheben können. »Wenn ihr Streit sucht oder nicht wisst, wohin mit euren Kräften, dann nehmt euch einen Schwarm Dohlen oder das andere Lumpenpack, die Elstern, vor. Die haben es verdient und gegen die könnt ihr gewinnen, gegenüber meinem Freund benehmt ihr euch aber vernünftig. Verstanden?«
»Jo!«
»Jepp!«
»Klaro!«
»Wir sind ja nicht schwerhörig!«