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Britta, Emma und Luke bieten ihren Spürsinn als Detektive an. Sie feilen an einer Internetseite, drucken Visitenkarten und versuchen sogar, die Kripo zu unterstützen. Entgegen ihrer Hoffnung, aufregende Rätsel lösen zu können, erhalten sie keine Anfragen nach Hilfe. Der Kolkrabe Remus verschwindet seit dem Frühjahr über immer längere Zeiträume. Er wird von den Freunden schmerzlich vermisst. Kurz entschlossen machen sie dessen Abwesenheit zu ihrem ersten Fall. Ein junger Ägypter studiert im Austauschprogramm an der Hochschule Wismar. Er kann sich kaum auf seine Arbeit konzentrieren. Er hat Schlafprobleme und wendet sich hilfesuchend an die Freunde. Sind sie die richtige Adresse zum Lösen der Schlafstörungen? Dann wäre das der zweite Fall der Detektive. Die Ursache für Anwars Alpträume zu finden, wird nicht einfach, da der immer gleiche Traum ihn bereits seit fünfzehn Jahren quält. Zwei Mädchen und ein Junge lösen mit Mut, Kombinationsgabe und Geschick schwierige Aufgaben. Sie werden dabei sonst von einem schlauen Kolkraben unterstützt. Doch Remus besucht die Freunde immer seltener. Gelingt es den jungen Detektiven trotzdem, den neuen Anforderungen gerecht zu werden?
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Seitenzahl: 313
Veröffentlichungsjahr: 2022
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SPQR
Der Fluch der Mumie
Roman
Norbert Wibben
SPQR
Der Fluch der Mumie
SPQR, Band 4
Für meine Kinder,
in ewiger Liebe!
In Erinnerung an viele schöne Vorleseabende mit meinen Kindern verpacke ich auch diese Geschichte in den bekannten Dreizeiler:
Ein Huhn und ein Hahn – …
Verwirrende Bilder
SPQR – Detektive
Schwieriger Start
Erste Aufgabe
Wiederkehrende Bilder
Eine weitere Aufgabe?
Einfacher Fall für die Kripo
Déjà-vu?
Neuer Fall
Ein Versuch
Zwei E-Mails
Hiram Paltow
Emmas Bericht
Die Erklärung
tut-amun.eg
Eine Aussage
Warten
Angsttraum
Vergeblich
Nachricht von Hiram Paltow
Erkenntnis
Befragung
Remus
Treffen mit Anwar
Verfolgung
Abschluss
Ein Ansatz
Einladung
Lukes Suche
Brittas Recherche
Traumänderung
Ankunft in Ägypten
Emmas Recherche
Handtaschenraub
Im Kommissariat
Wiedergefunden
Die Überraschung
Im Tal der Könige
Hiram Paltows Idee
Im Archiv
Erste Erfolge
Der Durchbruch
Ende der Angstträume
Wichtige Hinweise
Danksagung
Ein Huhn und ein Hahn – die Geschichte fängt an
Wie in einem schlechten Horrorfilm eilt eine von Binden umwickelte Gestalt hinter einem Jungen her.
»Du Dieb!«, erklingt ihre, durch die Stoffe gedämpfte, Stimme. Die unheimliche Figur kommt allmählich näher. »Du hast meinen Schatz gestohlen. Gib ihn zurück. Ich werde dir überallhin folgen, bis ich dich kriege. Dann sollst du den Raub büßen!«
Der Verfolgte hat ein Alter von etwa fünf Jahren. So genau lässt sich das jedoch nicht schätzen. Sein dunkler Teint könnte ihn älter aussehen lassen als er ist. Gleichzeitig weist der darauf hin, dass er aus einer fernen Region stammt. Seine Heimat könnte ein nordafrikanisches Land, genauer gesagt, Ägypten sein.
Der Junge wendet seinen Kopf zurück und stellt erschauernd fest, dass sein Verfolger allmählich aufholt. Wie kann er ihm entkommen?
Der Wüstensand behindert ihn in seiner Flucht. Wenn er nur erst die große Düne erklommen hat, kann er auf der anderen Seite seinen beständig geringer werdenden Vorsprung hoffentlich wieder ausbauen. Doch der heiße Sand gibt in dem Moment unter seinen Füßen nach. Die Sandalen finden keinen Halt in dem pulverigen Untergrund. Er rutscht langsam und beständig zurück. Wird die Mumie ihn nun zu fassen bekommen?
»Jetzt habe ich dich!«, frohlockt diese. Im gleichen Augenblick, als deren weit vorgestreckten Hände gierig nach dem Verfolgten greifen wollen, strauchelt die monströse Gestalt und rollt, sich mehrfach überschlagend, die Sanddüne hinab. Der Junge atmet erleichtert auf und versucht sein Heil nun auf allen vieren. Auf diese Weise gelangt er mühsam, aber schließlich erfolgreich, bis zur Kuppe hinauf.
Erleichtert wirft er einen Blick zurück. Doch wohin er auch schaut, er kann nicht entdecken, wo die grässliche Mumie geblieben ist!
Am letzten Tag der Herbstferien beschließen Britta, Emma und Luke, gezielt Reklame für ihren Spürsinn zu machen.
Die Entscheidung, sich Geschäftskarten anzufertigen, fällt nicht leicht. Sie diskutieren geraume Zeit, wobei es weniger um den aufzudruckenden Text, als vielmehr um die Karte selbst geht.
»Das ist doch ein Relikt aus längst vergangenen Tagen«, äußert Emma ablehnend. »Heute werden höchstens E-Mail-Adressen getauscht oder auch die Internetadresse einer Homepage. Alles andere wirkt völlig angestaubt und unmodern!«
Sie ist im Umgang mit Computern sehr bewandert und technikbegeistert. In ihrer grauen Iris befinden sich hellblaue Pünktchen. So wie jetzt scheinen sie vor Aufregung zu leuchten und wirken wie kleine Sterne. Das Mädchen mit einigen Sommersprossen auf und um die gerade, schmale Nase herum, streicht gewohnheitsmäßig die schulterlangen, blonden Haare rechts und links hinter die Ohren. Sie blickt Luke anschließend auffordernd an. Sie geht davon aus, dass er ihr zustimmt.
Seiner Art entsprechend richtet er seine dunklen Augen abwartend zuerst auf Emma und danach auf Britta. Eine Hand fährt abwesend über sein rot-blondes, kurz geschnittenes Stoppelhaar.
»Was hast du gesagt?« Er bittet um Entschuldigung, dass er nicht so richtig zugehört hat. Das Mädchen erläutert seine Ablehnung erneut. Doch der Junge stimmt dem, anders als von ihr erwartet, nur teilweise zu. Er weist stattdessen auf Ausnahmen hin.
»Im Geschäftsleben ist es auch heute üblich, Visitenkarten auszutauschen. Das hat mir mein Vater noch gestern gesagt, als er von einem Treffen mit einem Geschäftsmann in Rostock erzählte. Wenn wir unsere detektivischen Fähigkeiten anbieten wollen, sollten wir dem gängigen Geschäftsgebaren folgen. –
Ich stimme dir zu, dass es im Zeitalter von Internet und elektronischen Kommunikationsmitteln antiquiert wirkt, diese Kärtchen zu nutzen. Wir dürfen jedoch eines nicht außer Acht lassen. Nicht jeder potenzielle Kunde ist auf dem neuesten Stand der Kommunikationstechnik, Professor. Ich denke daran, dass ein möglicher Auftrag zur Wiederbeschaffung eines entwendeten Schmuckstücks eher von älteren Damen zu erwarten ist, als von Technik geübten jungen Leuten. Und zu diesem Personenkreis passt eine Geschäftskarte durchaus. Aber es kommt noch ein Argument hinzu. Die Visitenkarten können wir an geeigneten Stellen auslegen. Sie machen dadurch zusätzlich zu einer gezielten Weitergabe Werbung für uns.«
Bei Nennung ihres Spitznamens steht Emma kurz davor, zu schmollen. Das liegt nicht an dem Namen. In Anlehnung an ihn setzt sie ans Ende einer elektronischen Nachricht oft nur ein »P«. Nein, die Ursache ist vielmehr, dass Luke zuerst nicht ganz bei der Sache war und sein anschließendes Verhalten. Sie findet es typisch, dass er Brittas Idee aufgreift. Es wirkt auf sie fast so, als wolle er der jüngeren Freundin auf jeden Fall beispringen. Er liefert bereits Argumente für ihren Vorschlag, noch bevor diese von ihr angeführt werden. Emma atmet tief ein, um gleich darauf ihren Unmut zu äußern. Doch dann überlegt sie schnell, dass ihre Reaktion aufgrund ihres Empfindens lächerlich wäre. Das könnte so ausgelegt werden, als sei sie eifersüchtig. Nüchtern abwägend gibt sie dem Freund im Grunde recht, besonders nach seinen darauffolgenden Ergänzungen.
»Auf Visitenkarten steht mittlerweile neben der Postanschrift und der Telefonnummer auch die Internet- und E-Mail-Adresse. Dadurch wird verhindert, dass sich ein neuer Kunde diese Informationen mühselig suchen muss. Und genau aus diesen Gründen nimmt mein Dad noch immer gerne diese kleinen Geschäftskärtchen an.«
»Wir sollten es unseren »Klienten« aber so leicht wie möglich machen«, lenkt Emma nach schneller Überlegung ein. Die kurz zuvor aufwallende Enttäuschung ist verflogen. »Wir drucken zusätzlich einen QR-Code mit diesen Angaben auf die Kärtchen, damit sie entsprechend einfach übernommen werden können. Langwieriges Abtippen wird dadurch überflüssig und Fehleingaben werden sicher verhindert. Besonders jüngere Kunden werden das zu schätzen wissen!«
»Das sollten wir unbedingt machen«, nimmt Britta den Vorschlag auf. In ihrem Gesicht sind unzählige Sommersprossen zu sehen. Sie hat dichte, lange, rote, gelockte Haare, die über die Schulter herabhängen. Deren Farbe bildet einen auffallenden Kontrast zu ihren grünlichen Augen. Obwohl sie die Jüngste der Freunde ist, stammt die Idee, ihren Spürsinn anzubieten, von ihr.
In der folgenden Diskussion entscheiden sie einstimmig, zusätzlich zum QR-Code das Abbild eines fliegenden Kolkraben auf die Karte zu drucken. Da SPQR eine eher ungewöhnliche Bezeichnung ist, falls der Begriff nicht dem römischen Imperium zugeordnet wird, könnte er die Neugierde möglicher Kunden wecken. Auf Nachfragen zur Bedeutung der ersten Buchstaben können sie auf ihre Nachnahmen verweisen und dass das »R« für »Rabe« steht. Dazu passend soll die Silhouette des Rabenvogels das Logo ihrer Detektei bilden. Würden sie dagegen angeben, dass es sich auf ihren Vogelfreund Remus bezieht, würde das bei manchem Erwachsenen vermutlich auf Unverständnis treffen. Im ungünstigsten Fall könnte sogar an ihrem Verstand gezweifelt und als Folge davon kein Auftrag erteilt werden.
Die Abstimmung über den Text geht wesentlich einfacher vonstatten. Da er eine breite Kundschaft ansprechen soll, einigen sie sich auf:
SPQR
Detektive
Lösung kniffliger Aufgaben.
Nach den bestandenen Abenteuern der vergangenen Monate befürchten sie, dass ihnen ihr Schulalltag an manchen Tagen trist und wenig spannend vorkommen könnte. Sie hoffen, durch aktive Reklame aufregende Aufträge zu erhalten, bei denen ihr Spürsinn gefragt ist. Das würde ihren Tagesablauf abwechslungsreicher gestalten. Dass ihre schulischen Leistungen darunter leiden werden, erwarten sie nicht. Sie freuen sich vielmehr darauf, möglichst schwierige Problemstellungen übertragen zu bekommen und selbstverständlich auch lösen zu können.
Mit Emmas Hilfe erstellen sie noch am gleichen Wochenende die Visitenkarten und drucken sie auf dickerem Papier mit Leinenstruktur.
»Die sehen richtig edel aus!«, stellt Emma zufrieden fest.
»Sie wirken also nicht angestaubt?«, fragt Britta mit einem breiten Lächeln. Den kleinen Seitenhieb auf die ursprüngliche Ablehnung ihrer Freundin kann sie sich nicht verkneifen.
»Keinesfalls«, antworten diese und Luke gleichzeitig.
Die Generierung der Homepage und der Seiten in den sozialen Medien wird hauptsächlich von den Mädchen geleistet. Der Junge wirkt dabei seltsam abwesend. Er kommentiert verschiedene Entwürfe lediglich mit Brummlauten. Auf die Frage, weshalb er nicht so recht bei der Sache ist, gesteht er, dass ihm das vorlaute Gehabe ihres Rabenfreundes fehlt.
»Remus begrüßt uns doch sonst sofort. Sobald er das Motorengeräusch meines Mofas herannahen hört, kommt er mir keckernd entgegen. Das geschieht in der letzten Zeit kaum noch. Er ist öfters für längere Zeiträume verschwunden. Gestern ließ er sich erst spät abends blicken. Ist euch seine Abwesenheit nicht aufgefallen?«
»Dass er heute nicht anwesend ist, natürlich schon«, beginnt Emma. »Das muss aber nichts Schlimmes bedeuten«, versucht sie gleich abzuschwächen. »Es ist nicht erstaunlich, dass er als kluges und lernfähiges Tier an allem möglichen Interesse zeigt. Das haben wir bereits früher festgestellt.« Sie schaut Luke forschend an.
»Darum ist es nicht verwunderlich, wenn er den Radius seines Erkundungsgebietes langsam ausweitet«, ergänzt Britta. »Das bedeutet dann gleichzeitig, dass er länger abwesend ist.«
Der Bereich, den der Vogel in den letzten Monaten durchflogen hat, erstreckt sich bis nach Wismar. Das weiß der Junge aus den vergangenen Abenteuern. Er nickt und blickt nachdenklich auf den leeren Platz am Tisch. Trotzdem sorgt er sich um den gefiederten Freund. Sonst ist das Krächzen des Kolkraben kaum zu stoppen, wodurch eine Unterhaltung so gut wie unmöglich ist. Oft hüpft er zudem neugierig von der Stuhllehne auf die Tischplatte, wo er mit schräg gelegtem Kopf von einem zum anderen hopst. Es wäre nicht das erste Mal, dass er mit dem großen Schnabel gegen den Bildschirm von Emmas Laptop klopft, wenn die Freunde ihm zu wenig Aufmerksamkeit widmen. In den vergangenen Wochen haben sie sich oft von dem schwarzen Vogel überreden lassen, draußen mit ihm zu spielen. Da sich das Tier entgegen seinem bisherigen Verhalten aktuell so rar macht, lässt Luke Böses vermuten. Sollte ihm ein Unglück zugestoßen sein? Mit Schaudern grübelt er über die vielen Möglichkeiten nach, die dem Kolkraben widerfahren könnten. Es gibt durchaus Menschen, die aus reiner Bosheit auf Rabenvögel schießen, sei es mit einem Gewehr oder einer Schleuder. Der Junge denkt an den Beginn ihrer Freundschaft zurück, als Remus bereits einmal für einige Zeit verschwunden war. Wird sich seine Abwesenheit erneut als harmlos herausstellen?
Am frühen Abend, die Mädchen sind inzwischen zuhause, ruft ihn lautes Krächzen nach draußen. Remus ist wieder daheim und Luke vergisst seine Sorgen schnell. Sie toben ausgelassen auf dem großen Grundstück herum, wobei der Kolkrabe Kapriolen in der Luft vollführt. Sie nutzen sogar das Floß, um zur Insel im See hinüberzukommen. Der Vogel liebt die Fahrt mit dem Wasserfahrzeug sehr. Er stolziert über die Holzfläche bis zur Vorderseite und sitzt mit Blick in Fahrtrichtung an der vorderen Kante. Das wirkt so, als fühle er sich als der Kapitän eines Schiffes. Dem Jungen fällt dabei die Aufgabe zu, das Gefährt vorwärts zu staken. Luke treibt das Fahrzeug zu dem kleinen Eiland hinüber, auf dem die Reste eines Mausoleums stehen, dass vor Jahrzehnten den ehemaligen Gutsbesitzern als Bestattungsstelle diente. Er denkt versonnen an die Ereignisse zurück, die zum Fund eines silbernen Geldstücks führten, das Teil eines verlorenen Schatzes war. Ob die Freunde wohl erneut eine rätselhafte Aufgabe zu lösen bekommen werden.
Luke berichtet während der Schulzeit, dass Remus noch kurz vor dem Dunkelwerden heimgekehrt war, jedoch bereits früh morgens erneut davongeflogen ist. Als sie sich am Nachmittag treffen, ist er noch nicht zurück. Die Freundinnen vertrösten den Jungen, dass der Vogel mit Sicherheit wiederkommen wird. Er ist in den vergangenen Wochen immer mal wieder über längere Zeit verschwunden, aber dann doch spätestens gegen Abend heimgekehrt, so wie gestern.
Britta, Emma und Luke widmen sich heute der Gestaltung ihrer Internetseite. Es stellt sich als unmöglich heraus, den ursprünglich gewünschten Domainnamen »SPQR – Vier Freunde« zu realisieren. Die Leerzeichen werden bei der Registrierung nicht akzeptiert. Nachdem sie diese weggelassen haben, erfahren sie, dass die Domain mit der Endung ».de« bereits vergeben ist. Deshalb probieren sie unterschiedliche Kombinationen. Die Angaben auf der Visitenkarte dienen als Basis, wobei sie darauf achten, dass der Name nicht zu lang wird. Schließlich sind sie mit »SPQR-Detektive« erfolgreich.
Nun beginnen sie voller Eifer mit der Gestaltung. Sie legen eine Hauptseite und mehrere Unterseiten an, die durch Anwahl entsprechender Buttons aufgerufen werden. Auf der Begrüßungsseite erläutern sie die Bedeutung ihres Namen, wobei »R« auch hier mit »Rabe« erklärt wird.
In einer Unterrubrik listen sie ihre bisherigen detektivischen Tätigkeiten und Erfolge in nüchternen Fakten auf. Sie überlegen lange, ob sie einen Link zu den Zeitungsartikeln im Onlinearchiv der Tageszeitung hinzufügen sollen. Dadurch wollen sie einen objektiven Bericht über ihre Aktivitäten darstellen. Nach einem Hinweis von Emma nutzen sie anstelle der Verlinkung die eingescannten Artikel. Ein Verweis zu anderen Internetseiten birgt das Risiko, dass dieser eines Tages ins Leere läuft, sollte dessen Betreiber etwas an der Struktur seines Internetauftritts verändern.
In dem rechtlich erforderlichen Impressum geben sie »Remus’ Prätorium, Gutshof 4« als Adresse an.
Auf der Homepage findet das bereits auf der Geschäftskarte als Logo genutzte Bild des Kolkraben Verwendung. Zur Erhöhung der Attraktivität wird es hier zusätzlich animiert. Beim ersten Aufrufen der Seite fliegt der Rabenvogel umher, bevor er auf einem seitlich angeordneten Ast landet und den Besucher mit klappernden Augendeckeln begrüßt. Sein großer Schnabel deutet abwechselnd auf die Button, die durch Anklicken zu den entsprechend benannten Unterseiten führen.
Die jungen Detektive beschreiben in einem kurzen Text, weshalb sie für die Lösung unterschiedlicher Rätsel geeignet sind.
Sie heben ihre Kenntnisse der römischen, englischen und skandinavischen Historie hervor. Diese ermöglichten es, den Ursprung der gefundenen Münze zu erkennen und letztlich den gesamten Silberschatz aufzuspüren.
Sie weisen auch darauf hin, dass ihnen sämtliche Teilgebiete der Naturwissenschaften geläufig sind. Dass sie damit kaum mehr als ihr schulisches Wissen anführen können, schieben sie als nicht so wichtig einfach zur Seite. Sie argumentieren schließlich keinesfalls, dass sie in ihren jungen Jahren diese Gebiete an einer Universität studiert haben, was jedem Besucher ihrer Homepage klar sein muss. Sie fügen eindeutig zutreffend hinzu, dass ihre besonderen Vorlieben und Fähigkeiten die aktuellen Informationstechniken betreffen.
Die Internetseite soll potenzielle Kunden zur Kontaktaufnahme anregen. Dafür bieten sie zwei Möglichkeiten an. Die erste ist eine E-Mail-Adresse, wie das auch auf anderen Seiten üblich ist. Zusätzlich wird ein spezielles Formular angeboten, in dem Angaben zu dem zu lösenden Problem gemacht werden können.
Nach mehreren Testläufen geht die Homepage schließlich online. Das Herzklopfen der drei Freunde ist in dem Moment größer als erwartet. Von da an heißt es abwarten und sich in Geduld üben.
Sie machen sich nicht vor, dass ihnen die Aufträge nur so zufliegen werden. Woher sollen mögliche Kunden auch von ihrer Existenz und dem Angebot wissen. Dass sie jedoch derart lange auf eine Reaktion warten müssen, hätten sie nicht gedacht. Nach Wochen vergeblichen Ausharrens zweifeln sie allmählich, dass sie auf diese Art an eine neue Aufgabe kommen. Beim Lösen eines Rätsels ein Abenteuer zu erleben, rückt in weite Ferne.
Der Jahreswechsel verläuft unerwartet mild. Mit Beginn des Februars sinken die Temperaturen zwar bis auf fünf Grad, doch Frost gibt es auch in den kommenden Wochen nicht. Ablenkung durch Schlittschuhlaufen fällt deshalb weg, obwohl sie das für diesen Winter auf dem See des Gutsgeländes beabsichtigt hatten.
Die anfängliche Aufregung über ihre Internetseite ist einer großen Enttäuschung gewichen. Emma ruft die Statistiken ihrer Homepage auf. Die Anzahl der Zugriffe ist kaum erwähnenswert. Sie überlegen, wie sie eine höhere Aufmerksamkeit auf die Seite lenken könnten. Ihr Taschengeld zu nutzen, um Anzeigen in der Tageszeitung zu platzieren, fällt weg. Sie wollen zwar ihren detektivischen Spürsinn anbieten, haben sich aber bisher keine Gedanken über ein mögliches Honorar gemacht. Das noch nicht verdiente Geld für Werbezwecke einzusetzen, entfällt aus rein wirtschaftlichen Gründen. Lukes Vater Rufus hat ihnen dargelegt, was sogar ein kleineres Inserat kostet. Somit würden sie erheblich mehr einsetzen, als sie aus aktueller Sicht jemals wieder zurückerhalten würden. Als Folge wären sie für Wochen, wenn nicht Monate völlig blank.
Sie hatten gehofft, dass auch ohne Werbung schnell Interesse an ihrem Angebot zur Lösung kniffliger Aufgaben aufflammen würde. Wie nicht anders zu erwarten, ist Britta diejenige von ihnen, die eine neue Idee hat.
»Wir sollten in den sozialen Medien für uns werben. Das kostet uns außer Zeit nichts. Davon haben wir ja mehr als genug. Es bedeutet zwar einen nicht zu verachtenden Pflegeaufwand, der aber wohl nicht so aufwändig sein wird. Wir könnten an der Stelle auch einen Link zu dem Kontaktformular platzieren. Mit etwas Glück bekommt die Seite viele »Likes« und wird geteilt, wodurch die Reichweite schnell vergrößert wird.«
Obwohl Emma sonst für neue Möglichkeiten offen ist, lehnt sie genau das in diesem Fall ab.
»Der erste Aufwand ist gering, das stimmt. Der folgende, der sich insbesondere aus der Notwendigkeit ergibt, ständig Änderungen einzupflegen, sollte uns aber davon abhalten. Es gibt kaum Schlimmeres, wie wenn sich bei einem derartigen Auftritt keine Neuerungen ergeben. Einmalig Informationen zu veröffentlichen, so wie bei der Homepage, wirkt nicht. Das ist sogar kontraproduktiv! Wir müssten täglich, eher noch mehrfach am Tag, neue Bilder und Fakten posten. Es ist am wirkungsvollsten, wenn laufend Fotos und durchaus auch kurze Filmaufnahmen der aktuellen Tätigkeiten dort erscheinen, sozusagen als Livestream. So etwas zieht Leute an und fesselt sie. Das ist uns jedoch unmöglich, wenn wir keine Aufträge vortäuschen und für deren Lösung Geschichten erfinden wollen. Und das, glaube mir, wäre unser Ende!«
Eine Scheinwelt aufzubauen, kommt für die Mädchen und den Jungen nicht infrage. Sie sind in der Zeitung als durchaus erfolgreiche Helfer der Polizei bei der Ermittlung und Wiederbeschaffung verschwundener Stücke des ehemaligen Schatzfundes genannt worden. Doch das ist im vergangenen Jahr gewesen. Seitdem gibt es keine weiteren Berichte. Woher sollten sie dann Stoff für glaubwürdige Ereignisse nehmen?
»Wir legen unsere Visitenkarten an ausgesuchten Orten aus! Ich schlage vor, damit bei der Kriminalpolizei anzufangen.« Brittas grünliche Augen leuchten. Es ist offensichtlich, sie ist von ihrer neuen Idee begeistert. »Na, was sagt ihr?«
Die Freunde nicken. Sie halten große Stücke auf Kommissar Clas Hinnerk und seine Kollegin Inge Husmann von der Kripo Wismar. Doch welchen Grund sollten die Polizeibeamten haben, die Karten auszulegen? Auch wenn sie nicht darauf hoffen, bei der Klärung eines Kriminalfalls in die Arbeit der Kriminalbeamten einbezogen zu werden, spielen sie dennoch mit diesem Gedanken. Ein verschwundener Ring, ein vergessenes Handy oder Ähnliches wären ihrer Meinung nach als Aufgabe angemessen. Die drei würden sozusagen das im vorigen Jahr von der Kripo für einige Schüler durchgeführte Praktikum fortsetzen und dadurch die Beamten entlasten. Die Kriminalkommissare nehmen wie erhofft die Karten an, machen den Freunden jedoch ansonsten keine Hoffnung.
»Falls euch bei den Ermittlungen etwas passieren sollte, würden wir uns das ein Leben lang vorwerfen, von euren Eltern und unseren Vorgesetzten ganz zu schweigen!« Die Kripobeamten haben sie wohlwollend lächelnd, aber bestimmt verabschiedet.
Weil bis zum Beginn des Frühjahrs immer noch kein Auftrag in Sicht ist, entscheiden sich die Freunde, ihre Visitenkarten in den verschiedenen Geschäften der Innenstadt zu verteilen. Sie teilen sich auf und erledigen das an einem Nachmittag, wobei der Junge die umliegenden Orte mit seinem Mofa abfährt. Rufus Quint nimmt mehrere mit in die Redaktion der Tageszeitung. Aurelia Peter, Emmas Mutter, verspricht, eine Handvoll im Sekretariat der Universität auszulegen.
Lydia Schmitt, die Mutter von Britta, arbeitet als Altenpflegerin. Sie verteilt einige Exemplare an die Bewohner ihres Pflegeheims. Gerade von denen erhoffen sich die Freunde ihren ersten Auftrag. Auch wenn manche von den älteren Menschen die Kärtchen bereits nach wenigen Minuten verständnislos anschauen werden, weil sie unter Alzheimer und ähnlichen Krankheiten leiden, könnten sie in Einzelfällen doch Hilfe benötigen. Die jungen Detektive bieten ihre Tätigkeit für die Altenheimbewohner sogar kostenlos an, aber auch das bleibt ohne Erfolg.
Seit den von Britta, Emma und Luke im vergangenen Jahr erlebten Abenteuern sind inzwischen Monate verstrichen. Die Aufregungen um die unversehrte Rückkehr von Gisbert und Jens, genauso wie über den Fund des letzten Stückes aus dem Silberschatz, sind längst vergessen, ebenso wie die Berichte in der Zeitung.
Die Freunde treffen sich trotz ihres enttäuschenden Internetauftritts täglich in ihrem Haus, das sie Remus’ Prätorium getauft haben. Doch seit Beginn des Frühjahrs häufen sich die Tage, an denen der Namensgeber nicht bis zum Einbruch der Nacht heimkehrt.
Es ist später Abend. Von dem Kolkraben ist bisher nichts zu sehen oder hören. Luke sitzt grübelnd in seinem Zimmer und ist drauf und dran, durch seinen Vater einen Aufruf in der Zeitung zu veröffentlichen. Das dafür benötigte Geld würde er gerne vom Sparbuch bereitstellen. Nach kurzem Nachdenken ist er überzeugt, dass es eine vermutlich bessere Möglichkeit gibt. Er startet seinen Computer und ruft die Homepage der jungen Detektive auf.
Luke folgt einem spontanen Einfall. Sie bieten für andere übers Internet Hilfe zur Lösung unterschiedlichster Rätsel an. Warum nutzen sie ihren Spürsinn dann nicht für die Suche nach ihrem gefiederten Freund? Der Junge ist überzeugt, dass sie Remus‘ ungewöhnlich lange Abwesenheit als erste, neue Aufgabe betrachten sollten. Da sich an externen Aufträgen immer noch nichts tut, ist er der Meinung, aus der Nachforschung nach dem Vogel einen »offiziellen« Vorgang für das Detektivteam zu machen. Er ruft mit einem verschmitzten Lächeln ihre Homepage auf und startet mit der Eingabe.
Unter dem Titel: »Kolkrabe entflogen!«, beginnt er, sein Anliegen im Kontaktformular zu beschreiben. Er fährt nach kurzer Überlegung mit erläuternden Angaben fort.
»Ein stattlicher, junger Kolkrabe wird vermisst. Der Vogel ist auf einem ehemaligen Gutsgelände aufgewachsen und seit dem letzten Sommer zu einem treuen Freund von drei Jugendlichen geworden.
Er hört auf den Namen Remus. Sein Alter wird auf zwei bis drei Jahre geschätzt. Die Farbe seines Gefieders ändert sich inzwischen von mattem Braunschwarz in Schwarz. Es glänzt, je nach Lichteinfall, metallisch grün bis Blauviolett. Sein Äußeres entspricht dem eines erwachsenen Jungvogels. Die Iris der Augen ist dunkelbraun und sein Schwanz ist keilförmig. An der Kehle hängen schmale, längliche Federn.
Das zutrauliche und kluge Tier besitzt ein ungewöhnliches Sprachtalent. Es vermag gezielt die Worte: »Hallo, Junge, Mädels, Hilfe holen, Gefahr, Hüpfen, Folge mir! Sei leise, mein Freund!«, anzuwenden.
Remus wurde zuletzt vor drei Tagen gesehen. Es ist zu befürchten, dass er gefangen oder auch verletzt worden sein könnte.«
Unter Kontaktdaten gibt er seine neue E-Mail-Adresse [email protected] an.
Luke hat mit den Eingaben gleichzeitig die Brauchbarkeit der Kontaktseite getestet. Dass keine Beschränkung der Anzahl an Zeichen für das frei formulierbare Beschreibungsfeld existiert, findet er gut. Es besteht zwar die berechtigte Gefahr, wie Emma es nannte, dass hier ganze Romane verfasst werden könnten. Wenn jedoch alle Daten in wenige Schlagworte gepresst werden müssten, würden womöglich wichtige Informationen wegfallen. Gerade unwichtig erscheinende Kleinigkeiten können den Unterschied ausmachen, ob ein Rätsel entschlüsselt werden kann oder eben nicht. Die Wichtigkeit dieser Details ist demjenigen oftmals nicht bekannt, der sie bewerten und angeben muss.
Luke nickt zufrieden und klickt auf den Sendebutton. Fast im gleichen Augenblick vernimmt er den Signalton seines Handys, der eine eingegangene E-Mail-Nachricht verkündet. Emma hat das Formular so eingerichtet, dass nach dem Klick auf »absenden« nicht nur der potenzielle Kunde eine Empfangsbestätigung bekommt, sondern zeitgleich eine entsprechende E-Mail mit den eingegebenen Daten auf jedem Handy der drei Freunde erscheint. Sie wollen unbedingt vermeiden, zu spät von einem Auftrag zu erfahren.
»Lange Reaktionszeiten sind schlecht für eine Detektei«, dozierte Emma beim Einrichten der Seite. Sie hatten vorsichtshalber das gewünschte Funktionieren überprüft, dennoch zuckt Luke beim Erhalt der Nachricht kurz zusammen. Er hatte schon nicht mehr an diese Eigenschaft des Formulars gedacht. Der Junge schaut auf das Display und kraust zuerst verwundert die Stirn. Warum bekommt er zwei Meldungen? Gleichzeitig zu der Erkenntnis, dass er in diesem Fall schließlich Auftraggeber und Detektiv ist, schießt ihm eine weitere durch den Kopf. Eine Fehlfunktion für die Übertragung der Eingaben kann also ausgeschlossen werden. Der einfache Grund, weshalb sie keine Anfragen erreichen, ist der, dass niemand das Kontaktformular nutzt! Und die Kontaktaufnahme per E-Mail ebenso wenig.
Sollte Britta mit ihrem Vorschlag recht haben, mehr Reklame auf den verschiedenen Social Media Seiten zu machen? Der Junge ist nicht davon überzeugt, zumal Emmas dagegensprechenden Argumente in seinen Augen zutreffen. Er denkt an die Liste abgeschlossener Fälle. Wenn es über Wochen keine neuen Aufgaben für die Detektive gibt, wirkt das auf mögliche Kunden wenig vertrauenerweckend. Deshalb ist er entgegen seiner ersten Auffassung der Meinung, Remus‘ Verschwinden doch als Aufgabenstellung in die Übersicht aufzunehmen. Das ist dann eben ein aktueller Fall, an dem die Freunde arbeiten.
Luke hat eine Idee. Er will durch Emma in der Gestaltung der Liste eine Änderung vornehmen lassen. Sie soll zusätzliche Statusmeldungen in die Tabelle integrieren. Er stellt sich vor, dass für ein Rätsel, beziehungsweise jeden Vorgang, zuerst eine Zeile angelegt wird. Darin wird die Aufgabe mit einem Begriff oder Schlagwort versehen. In diesem Fall ist das: »Kolkrabe entflogen«. Darunter kommt eine Reihe mit den Spalten »angefragt«, »gestartet«, »Erkenntnisse« und »abgeschlossen«. Hier wird das jeweilige Datum eingetragen, woraus indirekt die Schwierigkeit eines Auftrags abgelesen werden kann. Anschließend folgt eine dritte Zeile, in die abschließende Bemerkungen platziert werden sollen. Der neue Aufbau nimmt vor den Augen des Jungen bereits Gestalt an, da meldet sich sein Handy erneut.
Wie so oft reagiert Britta als Erste der Freundinnen. Sie nutzt den Gruppenchat ihres Messengers.
»Was ist los, Luke? Hast du nochmal einen Probelauf des Kontaktformulars gemacht?«
»Das war es natürlich auch. Ich bin aber der Auffassung, dass wir sozusagen offiziell mit der Suche nach Remus starten sollten.«
»Sorgst du dich so sehr um unseren Freund? Das verstehe ich durchaus, denn mir geht es ähnlich! Ich vermisse sein keckes und oftmals drolliges Verhalten.«
»Macht euch nicht lächerlich«, antwortet nun auch Emma. »Remus findet sich recht gut in der Welt zurecht. Das hat er in vielen Situationen bewiesen. Ihm ist es vermutlich einfach zu langweilig geworden, jetzt, wo wir keinen Fall bearbeiten. Ihr werdet es erleben, er wird quietschvergnügt auftauchen und nach uns krakeelen. Ich kann schon sein: »Hallo Mädels!«, hören.«
Das Mädchen beabsichtigt offensichtlich, mit diesen Worten nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst zu beruhigen.
»Schön wär’s«, denkt Luke. »Bis morgen. Wir sehen uns in der Schule«, sendet er zurück und schaltet sein Smartphone auf stumm. Er will versuchen, trotz seiner Sorge um den Freund, zu schlafen. Das gelingt nicht so einfach. Ihm gehen die bisher gelösten Fälle durch den Kopf, bei denen der Kolkrabe ebenfalls seinen Teil zur Lösung beigetragen hat.
Alleine drei von den vier Vorgängen beziehen sich auf den ursprünglich vor Jahrzehnten gefundenen, aber dann verschwundenen Schatz. Durch Remus‘ laute Rufe wurden sie auf das Mausoleum auf der Insel aufmerksam und konnten den viele Jahre zurückliegenden Diebstahl des Silberschatzes rekonstruieren. Das waren im Grunde genommen selbstgestellte Aufgaben. Der vierte Fall bezog sich dagegen auf das Verschwinden von Gisbert und Jens. Er ist der erste Auftrag, den sie von außen, nämlich von Ilse Lemkul erhalten hatten.
Lukes Gedanken driften in eine andere Richtung. Welches Anfangs- und Abschlussdatum ist für die einzelnen Vorgänge zu setzen, wenn die Seite, so wie vorhin überlegt, geändert wird? Soll der Tag genannt werden, an dem sie sich zum ersten Mal mit der Schatzsuche beschäftigten? Für den vierten Fall ist das einfach. Ilse Lemkul hatte sie am letzten Schultag vor den Herbstferien mit der Suche nach Jens beauftrag. Das Datum steht somit unzweifelhaft fest.
»Das ist alles unwichtig«, drängt er die Überlegungen in den Hintergrund. Viel wichtiger ist doch, wo Remus geblieben sein mag. – Soll er Kontakt zu Hiram Paltow aufnehmen? Das Tier könnte zu ihm geflogen sein. Auch wenn das nicht zutreffen sollte, hat der Leiter des Vogelparks womöglich eine Idee, wo die Freunde suchen könnten.
Der Junge schimpft mit sich, weshalb er dem Kolkraben beim letzten Fortfliegen nicht mit seinem Mofa gefolgt ist. Dann fällt ihm eine bessere, aber ebenfalls nicht genutzte Möglichkeit ein. Emma hatte den Vogel vor Monaten an das Tragen eines GPS-Tracker zu gewöhnen versucht. Die Freundin hatte lange nach einem besonders kleinen Exemplar gesucht und immer wieder mit Remus geübt. Obwohl der Tracker nur ein Gewicht von unter zwanzig Gramm besitzt und die Akkulaufzeit etwa eine Woche beträgt, sträubte sich der Kolkrabe meistens, das kleine Gerät zu akzeptieren. Es behinderte ihn keineswegs beim Fliegen, wie er beim bisher einmaligen Tragen unter Beweis gestellt hatte. Damals half gerade die Ortungsfunktion, den gefiederten Freund aus einer misslichen Lage zu befreien. Doch in den Tagen danach wollte Remus den Fremdkörper immer wieder entfernen, weshalb der Tracker seitdem ungenutzt in Remus‘ Prätorium herumliegt.
Luke schlägt sich vor die Stirn. Warum hatte er den Vogel nicht erneut an das Gerät zu gewöhnen versucht? Dann wüsste er vermutlich, wo der Vogel in diesem Augenblick steckt! Dabei wäre es egal, ob der vor Langeweile einfach nur ziellos in der Gegend herumfliegt. Das hatte Emma so ähnlich ausgedrückt. Wäre der Akku in dem Fall nicht bereits leer, bevor die Freunde den Vogel lokalisiert hätten?
Am Morgen wacht Luke völlig gerädert auf. Sein forschender Blick richtet sich sofort zum Fenster. Er springt aus dem Bett und öffnet es weit.
»Remus, komm zu mir!«, fordert er mit weithin schallender Stimme. Doch der Kolkrabe ist nirgends zu entdecken, und ein Krächzen ist auch nicht zu hören. Der Junge schließt die Fensterflügel und trottet enttäuscht erst ins Bad und dann nach unten. In der Küche wird er von seiner Mutter mit einem Morgengruß empfangen. Danach fragt sie:
»Ist er noch nicht heimgekehrt?«
Sie hat die Miene ihres Sohns richtig interpretiert. Der schüttelt den Kopf und lässt sich am Tisch auf einen Stuhl fallen.
»Ich habe kaum Lust, zur Schule zu gehen und würde stattdessen lieber nach Remus suchen.« Er spült einen ersten Bissen mit einem Schluck Orangensaft hinunter und fährt schnell fort. »Nein, keine Sorge, Mom. Ich fahre mit dem Mofa zum Gymnasium. Wir schreiben in der zweiten Stunde eine Mathearbeit, da möchte ich nicht fehlen. Obwohl ich mich vermutlich nur schlecht konzentrieren können werde. Aber möglicherweise haben Britta und Emma ja eine Idee …« Der Junge unterbricht sich und schaut schnell auf das Display seines Handys. Da er es auf lautlos gestellt hatte, hätte ihm eine Nachricht entgehen können. Doch es gibt nichts Neues. Er isst sein Brot, packt das für die Pause in seinen Rucksack und verabschiedet sich.
Draußen richtet Luke den Blick zum Himmel. Er ruft erneut nach dem Vogel, aber ebenso ohne Erfolg. Er schließt die Jacke und startet sein Mofa. Es ist Anfang April und noch empfindlich kalt, besonders auf dem Fahrzeug. Auf dem Schulhof warten die Freundinnen auf ihn. Sie beraten sich kurz, finden jedoch keinen Ansatz, wo sie mit ihrer Suche beginnen sollten. Ihnen wird kaum etwas anderes übrigbleiben, als auf den Zufall vertrauend, systematisch in der Umgebung der ehemaligen Gutsanlage nach Remus zu fahnden. Sie stimmen aber sofort zu, auf jeden Fall weitere Möglichkeiten bei Hiram Paltow zu erfragen.
Die Mathematikarbeit gelingt Luke wider Erwarten besser als gedacht. Er ist sogar zuversichtlich, keinen Fehler gemacht zu haben. Der nachfolgende Unterricht fesselt ihn erneut. Es geht in Geschichte um den Übergang von der Merowinger Ära hin zum Aufstieg der Karolinger.
Gegen Ende der Stunde vibrieren die Handys der Freunde. Sie werfen verstohlen einen kurzen Blick auf die Displays. Sie glauben zu träumen. Es gibt offenbar jemanden, der das Kontaktformular genutzt hat. Oder sollte Luke aus Versehen zweimal auf »Senden« gedrückt haben? Doch es existiert kein Grund, weshalb die E-Mails derart viel Zeit brauchen könnten, um bei ihnen anzukommen. Sie verfolgen die letzten Minuten des Geschichtsunterrichts mit nachgelassenem Interesse. Die Freunde können es kaum erwarten, in der Pause die entsprechende Nachricht aufzurufen.
»Was für ein Auftrag mag das sein?«, fragt Britta auf dem Weg nach draußen mit blitzenden, grünen Augen. »Ich tippe auf einen entwendeten Schmuck«, flüstert sie, um nicht von anderen Schülern auf dem Schulhof gehört zu werden.
»Das ist es offenbar nicht«, entgegnet Luke.
Die Freunde erreichen eine ruhige Ecke und öffnen die E-Mail mit den Formularangaben.
»Jemand ersucht uns um Hilfe …«, beginnt Emma mit einer Zusammenfassung der Anfrage.
»…, weil er von Alpträumen heimgesucht wird«, ergänzt die Freundin. »Das muss doch wohl ein Scherz sein!« Britta wirft die langen, roten Haare unwirsch nach hinten.
Seit der ersten Nacht vor vielen Jahren wiederholt sich die beängstigende Bildersequenz in unregelmäßigen Abständen. Die mit Binden umwickelte Gestalt, die den Jungen zu fassen versucht, ist schon fast vergessen, doch dann erscheint sie dem Jugendlichen erneut. Er hat sich im Internet umgeschaut und Berichte über die Grabungen im Tal der Könige gelesen. Sollten die das ausgelöst haben?
Sobald er die Worte: »Du Dieb!«, vernimmt, rieselt ein Schauer den Rücken des Schlafenden hinab. Die gedämpfte Stimme veranlasst ihn, zu stöhnen. Seine Beine bewegen sich, als wolle er davonrennen. Die unheimliche Figur nähert sich allmählich.
»Du hast meinen Schatz gestohlen. Gib ihn zurück«, erklingt die drohende Forderung. »Ich werde dir überallhin folgen! Und ich werde dich kriegen, dann sollst du den Raub büßen!«
Der Text scheint der gleiche wie zuvor zu sein. So kommt es dem jungen Mann jedenfalls vor, sobald er wach ist. Er grübelt gelegentlich darüber, ob er von der Traumsequenz in jeder Nacht gequält wird. Sein Eindruck, dass das nicht der Fall ist, liegt vermutlich daran, dass er manchmal einfach nicht träumt. Zumindest, soweit er sich nach dem Aufwachen erinnern kann.
Das Alter, des im Traum Gejagten, ist unverändert bei fünf Jahren geblieben. Das deutet darauf hin, dass ein in der Vergangenheit liegendes Ereignis der Grund für das Erscheinen dieser Bilder ist. Doch was mag das gewesen sein? Die Gegend, in der der Verfolgte vor der Mumie zu fliehen versucht, kommt dem Jugendlichen heimatlich vor. Ob das daran liegen mag, dass er sie inzwischen vielleicht doch unzählige Male gesehen hat? Oder ist die Ursache einfach darin zu sehen, dass er aus Ägypten stammt und sich die Sequenz offensichtlich in einem nordafrikanischen Land abspielt?
Der Jugendliche schließt die Augen und sieht erneut die Bildersequenz in seinem Kopf. Er stellt erschauernd fest, dass der Verfolger allmählich aufholt. Wie soll er ihm entkommen können?
Der Wüstensand behindert ihn in seiner Flucht. Wird er seinen schwindenden Vorsprung wieder ausbauen können, sobald er nur erst die große Düne erklommen hat?
Der Jugendliche sieht im Traum die nächstfolgenden Bilder voraus. Doch obwohl er dadurch die kommende Situation vorausahnt, kann er deren Verlauf nicht beeinflussen. Deshalb gibt der heiße Sand wie stets zuvor unter den Füßen des Jungen nach. Die Sandalen finden keinen Halt in dem pulverigen Untergrund. Er rutscht langsam und beständig zurück. Wird die Mumie ihn in wenigen Momenten zu fassen bekommen?
Voller Zuversicht frohlockt diese: »Jetzt habe ich dich!«
Im gleichen Augenblick, da ihre weit vorgestreckten Hände gierig nach dem Verfolgten greifen, beginnt die Gestalt jedoch zu straucheln und rollt die Sanddüne hinab. Der Junge wendet sich erleichtert ab. Er versucht sein Heil auf allen vieren und gelangt auf diese Weise mühsam, aber schließlich erfolgreich, bis zur Kuppe hinauf. Aufatmend wirft er einen Blick zurück. Doch wohin er auch schaut, die grässliche Mumie ist nirgends zu entdecken.
Sollte die Nutzung des Kontaktformulars durch Luke sozusagen einen Damm gebrochen haben? Dass innerhalb weniger Stunden eine weitere Aufgabe für die jungen Detektive eintrifft, muss jedoch Zufall sein. Wenn es denn überhaupt eine ernst gemeinte Anfrage ist.
»Welche Personenangaben sind gemacht worden?« Der Junge interessiert sich insbesondere für die sachlichen Fakten. »Sollte das ein Joke sein, wird dort vermutlich »Mister X« oder Ähnliches stehen. Oh, es wurde tatsächlich eine E-Mail-Adresse eingetragen. Ob die wohl funktionieren wird? Hier steht lediglich [email protected].«
»Ach wie witzig!« Britta zeigt ihren Ärger offen. Sie hatte gehofft, endlich eine neue Herausforderung zu erhalten. Und nun dieses! »Das ist offensichtlich ein Jux! Wir hätten in dem Formular doch auf die Angabe des Namens und des Wohnortes, sogar noch besser, auf sämtliche Daten einer Postanschrift bestehen sollen.«
»Das ist heutzutage antiquiert. Eine E-Mail-Adresse reicht zur Kontaktaufnahme völlig aus. Darüber können wir bei Bedarf alles Weitere erfragen. Außerdem könnten auch die von dir genannten Informationen durch unsinnige oder falsche Eingaben gefüllt werden. Was würde uns das helfen?«, verteidigt Emma den Aufbau des Formulars. »Je weniger eingegeben werden muss, desto einfacher kann eine Anfrage bei uns eintreffen.«
»Können wir denn herausbekommen, wer der reale Absender ist?«, versucht Britta einzulenken.
»Wir antworten an die E-Mail-Adresse«, entgegnet Luke, »und fragen nach diesen Details. Dass sich jemand mit Alpträumen an uns wendet, klingt nicht logisch. Ich würde mich wegen externer Hilfe eher an einen Arzt oder Psychologen wenden.«
Er schaut Emma fragend an, die seltsamerweise wie abwesend wirkt. Die Freundin rüttelt sie kurz an der Schulter.
»Was?«, entgegnet diese auffahrend. »Warum schüttelst du mich?«
»Hast du nicht mitbekommen, welche E-Mail-Adresse …«
»Das habe ich durchaus«, wird sie unterbrochen. »Ein Teil davon erinnerte an meine Reise mit den Eltern nach Ägypten.«
»Du meinst bestimmt Tutanchamun, den altägyptischen Herrscher«, springt Luke ihr zur Seite. »An den musste ich jedenfalls unwillkürlich denken.«
»Auf ihn scheint ein Teil der E-Mail-Adresse hinzuweisen«, stimmt Emma zu. »Obwohl »Anwarwenn« eher nicht dazu passen wird. Anwar ist zwar ein üblicher Vorname in den Ländern Nordafrikas, doch »Wenn« ist kaum ein aus der Region stammender Familienname, oder sollte das ein zusammenhängender Name sein?«
Sie verstummt und die Freunde schauen sie abwartend an. Sie hoffen, den Grund für ihre Nachdenklichkeit genannt zu bekommen. In den Weihnachtsferien war Emma mit ihren Eltern Aurelia und Siegfried nach Ägypten geflogen. Dort hatten sie die Ausgrabungsstätten im berühmten Tal der Könige besucht. Die Mutter ist Ägyptologin und der Vater Kenner der Jungsteinzeit. Sie wollten ihre Tochter durch Erfahrungen vor Ort für ihren Beruf begeistern, wie diese ihren Freunden erläutert hatte. Was mag es auf der Reise gegeben haben, dass einen Bezug zu der angegebenen E-Mail-Adresse im Kontaktformular herstellt?
Irgendeinen besonderen Grund muss es geben, weshalb Emma völlig untypisch noch immer in Gedanken versunken ist. Da ihre Freundin weiterhin grübelt, lesen Britta und Luke den erläuternden Text aus dem Formular durch.