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Raban setzt sich auf das bequeme Sofa und schließt die Augen, die er sofort erschrocken aufreißt. "Das ist doch nicht möglich!", denkt er und dreht sich zum Schreibtisch. Beruhigt erblickt er dort die Figur der Hekate. "Warum habe ich ihre grünen Augen gesehen? Versuchen sie, mich in sich hineinzuziehen?" Der Junge wendet sich zurück, atmet bewusst mehrmals langsam ein und aus, bevor er vorsichtig, ganz langsam, seine Augen schließt. Noch sind sie einen kleinen Schlitz geöffnet, dann nicht mehr. Raban will schon erleichtert aufatmen, als er ein Wispern hört, das offensichtlich zu ihm herüberweht. Alarmiert öffnet er erneut die Augen und schaut sich um. Es ist jedoch alles wie vorher, nichts hat sich verändert. Widerwillig konzentriert er sich auf das Wispern. Vielleicht versteht er die Botschaft, die offenbar von der Figur gesendet wird. Raban muss herausfinden, welche Rolle die Figur der Hekate für das Erstarken der dunklen Zauberer spielt. Zusammen mit seinem Freund, dem Kolkraben Röiven, begibt er sich auf eine gefahrvolle Mission. Sind die dunklen Magier zu stoppen?
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Seitenzahl: 353
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Raban und Röiven
Die Figur der Hekate
Fantasy Roman
Norbert Wibben
Raban und Röiven
Die Figur der Hekate
Raban und Röiven, Band 3
Für Malte
Ich bin stolz auf dich und dein Engagement für junge Menschen in der Grundschule!
In Erinnerung an viele schöne Vorleseabende mit meinen Kindern verpacke ich auch diese Geschichte in den bekannten Dreizeiler:
Ein Huhn und ein Hahn – …
Sommer
In Mynyddcaer
Wütende Dubharan
Vorbereitungen für Recherchen
Besuch im Norden
Versammlung in Munegard
Wer oder was ist Hekate
Suche in Mynyddcaer
Besuch im Museum
Ein Treffen mit Sorcha
Einladung an Gavin und Morgana
Versammlung der Zauberer
Rabans Idee
Gavins Vorgaben
Die Figur der Hekate
Besuch im Weidenweg
Wichtige Erkenntnisse
Ein Ortswechsel
Morganas Bericht
Gedankenaustausch mit Röiven
Ein Zeitungsbericht
Suche nach Zoe
Suche nach Ainoa
Ereignisse im geheimen Wald
Zeitungsberichte
Unruhen im Land
Suche nach Kolkraben
Besprechung mit Ciana und Finnegan
Gemeinsames Frühstück
Zurück im Weidenweg
Sorcha und Alveradis
Eine Lagebesprechung
Ilea und Ainoa
Ein unerwarteter Angriff
Rabans Traum
Cianas Idee
In der Vergangenheit
Die Macht bröckelt
Veränderte Gegenwart
Auf Morganas Spuren
Vor 100 Jahren
Die Rückkehr
Ferienende
Das Ende der Dubharan
Zaubersprüche
Danksagung
Ein Huhn und ein Hahn – die Geschichte fängt an
Der Sommer beginnt mit vielen verregneten Tagen. Auch wenn der Frühling sehr trocken gewesen ist und nicht nur die Gärten der Menschen, sondern die gesamte Natur den Regen dringend benötigt, ist das »dauernde Schietwetter« Gesprächsstoff, egal wo Menschen sich treffen. Da es bei strömendem Regen nicht so einfach ist, sich zu unterhalten und Regenschirme auf Dauer die Feuchtigkeit auch nicht ausreichend abhalten, eilen Jung und Alt von den Geschäften zum Auto und vom Auto ins Haus oder auch umgekehrt. Auf dem Weg zur Arbeit sind viele Menschen sogar bei schönem Wetter eher wortkarg, so dass sie jetzt nur stumm aneinander vorbei eilen. Auch in den öffentlichen Verkehrsmitteln finden Gespräche zwischen ihnen nicht statt, weil nasse Umhänge, ein tropfender Regenschutz oder zusammengelegte Regenschirme sie eher auf Abstand zueinander halten. Der Regen wäscht sozusagen nicht nur die gute Laune der Menschen fort, er macht sie auch gesprächsfauler. Dafür schimpfen sie dann um so mehr, wenn sie sich im Trockenen treffen, also im Supermarkt, in größeren Orten auch in einer Einkaufspassage oder im Café und natürlich bei der Arbeit. Ihre Gesichter hellen sich dabei genauso wenig auf, wie der dunkle Himmel draußen!
Raban hat sich auf die ersten Ferientage gefreut, da er dann mit seinem Freund, dem Kolkraben Röiven, mehr Zeit verbringen wollte, als es ihm während der Schulzeit möglich ist. Doch jetzt sitzt der Junge in seinem Zimmer und schaut etwas lustlos nach draußen, wobei die Regenschlieren auf der Fensterscheibe seinen Ausblick stark behindern.
Seine Augen wandern zurück auf zwei neue, von ihm erstellte Zeichnungen. Ja, sie sind gut geworden. Er beschließt, sie zu den anderen an die Wand zu hängen. Das eine ist ein Brustbild von Zoe, der Gefährtin seines gefiederten Freundes. Das andere zeigt die Silhouette Röivens, der auf dem unteren Ast der Linde im geheimen Wald hockt.
Mittlerweile hängen hier sechs Bilder. In dem Moment, in dem er die neuen Bilder an der Wand ausgerichtet hat, vernimmt Raban ein Geräusch, das wie das Rascheln oder Reiben von Gefieder klingt. Er dreht sich schnell um.
»Puh, ist das langweilig«, vernimmt er auch schon die krächzende Stimme seines Freundes.
»Hallo Röiven. Schön dich zu sehen!«
»Hallo, mein Freund. Ich dachte, ich schau mal bei dir herein. Einfach nur so.«
»Das freut mich. Ich hatte schon überlegt, ob ich in wetterfester Kleidung einen Besuch bei dir machen sollte. Da der Regen aber in wahren Sturzbächen herunterfällt, habe ich das dann doch gelassen. – Ich habe stattdessen zwei neue Bilder gezeichnet. Wie gefallen sie dir?«
»Du hast Zoe wirklich gut dargestellt, aber wer ist der andere Fithich?«, entgegnet der Rabe mit schräg gehaltenem Kopf.
»Wer? Ja also, das sollst du sein.«
»Was? So sehe ich aus? Das ist doch nicht zu fassen. Wo ist denn mein intelligenter Gesichtsausdruck geblieben? Wenn ich mich in der Oberfläche eines Wassers anschaue, blitzt die Klugheit nur so aus meinen Augen. Hier sind nicht einmal Augen zu erkennen. Also, das solltest du korrigieren oder besser noch, es neu machen.«
»Mein Freund. Ich habe hier eine Silhouette von dir darge…«
»Was ist das denn?«, wird er krächzend unterbrochen. »Dann bin ich das also nicht? Was ist eine – Sil… Sillu…? Na, du weißt schon.«
»Wenn du mich ausreden lässt, werde ich es dir erklären.« Raban wartet einen kurzen Moment und fährt dann fort: »Wenn die natürliche Kontur, also der Umriss oder Schatten eines Körpers dargestellt wird, bezeichnet man das als Silhouette. So siehst du aus, wenn ich dich gegen das Licht betrachte, wenn du beispielsweise auf einem Ast der Linde im geheimen Wald sitzt. Augen sind dann nicht zu erkennen, wohl aber dein großer, muskulöser Körper!«, schmeichelt Raban seinem Freund.
»Meinst du das wirklich so? Hm. Ja, du könntest Recht haben. Wenn ich überlege, fällt mir keine vergleichbare Sil… Sillu… kein Schatten eines anderen Fithich ein, der so kraftvoll wirkt.«
»Dann bist du mit dem Bild einverstanden?«
»Ja, jepp, klaro!«
Der Kolkrabe schaut das Bild noch einige Zeit schweigend an, während der Junge seine Zeichenutensilien wegräumt.
Dann stutzt Raban kurz und fragt:
»Als du vorhin ankamst, sagtest du: »Puh, ist das langweilig.« War das nur so dahingesagt, oder geht es dir im Moment so, wie den vielen Fithich im vorigen Jahr, als sie im geheimen Wald Zuflucht vor Baran gefunden hatten? Sie vermissten ihr gewohntes Leben, waren ohne Beschäftigung und langweilten sich schon bald.«
Der Kolkrabe zögert, klappert mit seinen Augendeckeln und schreitet auf der Stuhllehne hin und her. Dann sprudelt er erste Worte hervor:
»Zoe und ich mögen uns sehr.« Pause. »Und Ainoa ist unsere helle Freude, unser Augenstern.« Pause. »Aber jetzt zieht unsere Tochter mit anderen jungen Fithich umher. Das ist ja ganz normal, doch ich sorge mich so sehr, dass ich am liebsten immer in ihrer Nähe sein würde.« Pause. »Aus der Ferne kann ich schließlich nicht auf sie aufpassen! Darüber gab es einen heftigen Streit, – also zwischen Zoe und mir.« Pause. »Jedenfalls hat Zoe mir das Versprechen abgenommen, unser Kind bis zum Winter – ja du hörst richtig: bis zum Winter! – unbeaufsichtigt zu lassen. Wenn Ainoa ein erwachsener Fithich werden soll, der eigenständig sein Leben meistert, dürfe ich mich nicht einmischen. Sie muss von den anderen Fithich akzeptiert werden, was nicht geschehen wird, wenn ich sie permanent umsorge. Das wäre außerdem für unsere Tochter peinlich, meint Zoe!« Pause. »Also habe ich schweren Herzens mein Versprechen gegeben. Aber jetzt fühle ich mich irgendwie leer. So, als hätte mein Leben keinen Sinn. Zumindest solange, bis es endlich Winter wird. Dann darf ich Ainoa wiedersehen.« Lange Pause. »Du kennst dich mit der Zeiteinteilung doch sicher gut aus. Wie lange dauert es noch bis zum Winter? Wie oft muss ich noch schlafen?« Aufgeregt klappert der schwarze Vogel mit seinen Augendeckeln.
»Hm. Bis zum Winter dauert es sehr lange. Du musst ungefähr noch 200 mal schlafen, also etwa zweimal so lange, wie es vom Beginn eures Nestbaus bis jetzt gedauert hat.«
Der Rabe macht einige torkelnde Schritte, als würde er als Reaktion auf diese Information umkippen.
»Was, so lange soll ich warten?« Seine Stimme ist kaum vernehmbar.
»Ich kann dich verstehen, glaube ich«, entgegnet Raban. »Ihr hattet soviel Sorge um eure Tochter, bis sie endlich schlüpfen und heranwachsen konnte. Anschließend standen die permanente Futterbeschaffung und der Aufwand beim Überlebenstraining an. All das fehlt dir jetzt.« Er legt eine Hand auf den Rücken seines Freundes und überlegt. Rabans Miene hellt sich auf, und er fährt fort: »Wir haben doch in den letzten Wochen darauf gewartet, dass Sorcha uns zu einem Treffen der Zauberer, also aller Fithich und Elfen mit magischen Fähigkeiten, ruft. Sie musste zuerst die Strapazen ihrer Gefangenschaft überwinden und wollte dann nach weiteren Elfen mit Zauberfähigkeiten forschen. Ob sie wohl damit fertig ist? Wir hatten schon vorher einige Fithich mit Zauberkräften gefunden. Dann könnte doch jetzt ein Treffen stattfinden, oder? Wenn ich mich richtig erinnere, machte Minerva die Sache dringend. Also, was meinst du, fragen wir Sorcha, wie weit sie mit ihrer Suche ist?«
»Wow. Ich sag ja immer, Minerva hatte Recht. Du bist …«
»Lass das«, unterbricht Raban seinen Freund. »Was meinst Du? Damit hättest du, aber ich natürlich auch, eine Aufgabe. Wir müssen verhindern, dass die dunklen Zauberer mächtig werden. Zumindest zwei gibt es wieder von ihnen, diesen Gavin und Morgana. Auch wenn in den letzten Wochen von keinen sonderbaren Ereignissen in den Zeitungen berichtet wurde, die ihnen zuzuschreiben wären, heißt das nicht, dass sie untätig sind. – Halt. Ich musste seit Sorchas Befreiung nicht mehr an Morgana, diese Urenkelin eines Dubharan denken. Ich hatte einmal geträumt, oder hellgesehen, wie sie verschwunden ist. Ob sie unser Land verlassen hat oder gar gestorben ist? Mir fällt ein, das hatte etwas mit einer Figur zu tun, die drei Frauen darstellt. – Ja, genau. Das war eine Darstellung der Hekate.«
»Ich erinnere mich auch an die Figur«, krächzt der Kolkrabe. »Sie stand auf dem Tisch in dem Arbeitszimmer in Mynyddcaer.«
»Richtig. Ich wollte sie damals in Sicherheit bringen, also an mich nehmen, da mir irgendetwas an der Figur komisch vorkam. In ihren Augen konnte ich das Glimmen eines grünlichen Funkens sehen. Es sah in meiner Traumsequenz so aus, als ob Morgana von einem plötzlich erscheinenden, grünlichen Lichtstrahl in die Figur gesaugt worden wäre. – In den letzten Wochen gab es viel Stress mit den letzten Prüfungen zum Schuljahresabschluss, dass ich das glatt vergessen habe. Hoffentlich war das kein Fehler! Womöglich könnte es sogar ein schlimmer Fehler sein!«
»Den können wir doch einfach korrigieren«, erwidert Röiven, während er schon auf die Schulter des Jungen geflattert ist. »Worauf wartest du noch, auf nach Mynyddcaer! Holen wir uns die Figur.«
»Halt, stopp! Ich nehme lieber meinen Haselstab mit, und wir sollten meinen Tarnumhang nutzen. Nicht, dass wir Morgana direkt in die Arme laufen. Vielleicht ist sie längst zurück und befindet sich in dem Arbeitszimmer.«
»Das wäre nicht gut, gar nicht gut«, stimmt der schwarze Vogel zu.
Raban geht zu seinem Schreibtisch und öffnet die oberste Schublade in der Mitte. Er entnimmt ihr den Umhang und den Armreif eines auserwählten Zauberers. Während der Schulzeit bewahrt er diesen dort immer auf und legt ihn nur bei Bedarf an. Es ist nur ein bronzener, fingerbreiter und schlichter Reif mit einem eingeprägten Sonnensymbol. Er wirkt am Handgelenk eines Jungen aber dennoch etwas seltsam. Den Tarnumhang hat er bisher noch nicht zu Ilea zurückgebracht. Das will er in den nächsten Tagen machen, sobald das Wetter besser wird. Dann würden sie durch die hügelige Landschaft spazieren und einen wunderbaren Tag zusammen verbringen. Raban reißt sich zusammen, um nicht ins Träumen zu kommen. Er schließt den Armreif um sein linkes Handgelenk und verspürt sofort den Wärmeimpuls, der ihm signalisiert, dass seine Zauberkräfte nun durch diesen magischen Reif um ein Vielfaches verstärkt werden. Danach breitet er den hauchdünnen Stoff vorsichtig über sich und den Raben auf seiner Schulter aus.
»So, das macht uns für Morgana unsichtbar, falls sie dort sein sollte.« Der Junge hebt seinen Haselstab an, um damit notfalls zuschlagen zu können. Er holt tief Luft, dann spricht er: »Portaro!«
Die Luft flirrt unter dem Umhang, wovon im Zimmer aber nichts bemerkt wird, da es bereits verlassen wirkt. Dann ist es das tatsächlich.
Raban und Röiven kommen hinter der kleinen Kapelle an. Es sieht hier fast so aus wie immer. Lediglich Wildkräuter wuchern jetzt überall, die früher kurz gehalten wurden. Genauso still war es bei ihrem letzten Besuch auch. Der Junge umrundet langsam das Gebäude und lugt über den Innenhof. Auch hier wachsen Wildkräuter zwischen den Steinplatten empor. Das Gebäude, das bis vor ein paar Wochen noch als Seniorenheim genutzt wurde, liegt offenbar verlassen vor ihnen.
Der Tarnumhang schützt den Jungen und den Kolkraben zwar vor fremden Blicken, den Regen hält er aber nicht ab. Es dauert nicht lange, und das kalte Nass läuft dem Jungen in den Nacken. Sein Sommershirt ist schnell durchnässt, da er nicht an Regenkleidung gedacht hat. Der schwarze Vogel hat es besser. Von dessen Gefieder perlt das Wasser ab, ohne es zu durchdringen.
Raban fröstelt und schüttelt sich. Nachdem sie nirgends Morgana oder sonst einen Menschen entdecken können, hastet er auf den Haupteingang zu. Während des kurzen Spurts über die Steinplatten spritzt Wasser in großen Lachen auf, sobald der Junge hineintritt.
»Wenn jetzt jemand hierher schaut, wird er sich sehr wundern, warum die Pfützen plötzlich aufspritzen«, denkt Raban. Um sich und seinen Freund zu schützen, spricht er schnell »Protego«, als er sich an diesen Schutzzauber erinnert. Vor dem Fenster des Arbeitszimmers, in dem er bei ihrem letzten Besuch aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen hatte, bleibt er stehen und wirft einen forschenden Blick hinein. Doch drinnen ist in dem trüben Licht nichts zu erkennen.
Raban murmelt kurz entschlossen: »Sgiath!«, um einen zusätzlichen Schutz aufzurufen. Dann spricht er: »Portaro!«
Als das Flirren der Luft vorbei ist, steht der Junge regungslos neben dem Kamin. Er hält den Atem an und blickt sich forschend um. Hat sich hier seit ihrem letzten Besuch etwas verändert?
Halt! Was ist das für ein Geräusch? Er hört vor Aufregung das Blut in den Ohren rauschen. Sein Herz beginnt zu rasen. Was passiert, wenn Morgana sie entdeckt? Rabans Blick fliegt hierhin und dorthin, aber er kann niemanden entdecken. Zum Glückt taucht die dunkelhaarige, große Frau, mit den seltsam gefärbten Augen, nirgends auf. Er atmet bewusst langsam ein und aus, um sich zu beruhigen. Doch das Geräusch ist erneut zu hören.
»Was ist das? Es kommt mir bekannt vor, so ein kurzer, heller Ton.«
»Ich sehe etwas, was du nicht siehst«, schrecken ihn die Gedanken seines Freundes auf. Er fährt richtig zusammen und hebt bereits seinen Haselstock, um damit einen möglichen Angriff abzuwehren.
»Hey, bleib ruhig«, keckert der Rabe nun laut krächzend.
»Still! Was fällt dir ein, so einen Lärm zu machen? Wenn Morgana hier lauert, ergeht es uns schlecht«, fordert der Junge gedanklich.
»Aber hier ist doch niemand. Du sorgst dich unnötig, wirklich!« Die Antwort des Vogels erfolgt nun wieder gedanklich, auch wenn er sich offensichtlich sicher ist, mit seinem Freund in diesem Raum allein zu sein. »Und wie ist das, willst du nun meine Frage beantworten? Was sehe ich, das du nicht zu bemerken scheinst?«
Raban schaut sich erneut in dem Dämmerlicht um, aber ohne seinen Platz zu verlassen. Der Kamin ist zu sehen und ein alter Arbeitstisch, vor dem ein ebenso betagter Stuhl steht. In dem Kamin befinden sich die Reste auseinandergefallener Holzscheite, die bei ihrem letzten Besuch noch etwas wohlige Wärme in diesem alten Gemäuer erzeugt hatten.
Er schüttelt verwundert seinen Kopf. War seit ihrer Anwesenheit damals niemand hier, also auch nicht Morgana? Die beiden alten Kerzenhalter auf dem Arbeitstisch sehen aus wie damals. Es wurden keine neuen Kerzen hineingesteckt. Erneut blickt Raban in alle Zimmerecken. Sollte dort etwas sein, was Röiven bemerkt hat? In diesem Moment erklingt wieder der helle Ton.
Diesmal kann Raban ihn lokalisieren und richtet seinen Blick nach unten.
»Hast du es endlich bemerkt?«, keckert laut lachend der Kolkrabe.
»Äh, du meinst? Von hier kam das Geräusch?« Verwirrt schaut der Junge nach unten. Raban fröstelt etwas und seine Arme, seinen ganzen Körper durchläuft ein kaum merkliches Zittern. Die leichten Sommersachen sind vom Regen völlig durchnässt und lassen den Jungen frieren. In diesem Moment geschieht es. Ein Wassertropfen löst sich am gebeugten Arm des Jungen und tropft von dort in eine große Wasserlache, die sich mittlerweile auf dem Boden gebildet hat. Ein helles »Pitsch«, ist zu hören, als der Tropfen schwer auf dem Boden aufschlägt.
»Richtig. Du, besser gesagt, das tropfende Wasser aus deiner Kleidung hat die Töne hervorgerufen.«
»Also das ist doch … Aber es ist wirklich nicht warm hier und meine Klamotten sind völlig durchnässt. Vor lauter Anspannung habe ich das nicht bemerkt und die Geräusche falsch zugeordnet.« Aufatmend wirft der Junge noch einmal seinen forschenden Blick überall hin. Als er jetzt sogar Spinnweben an vielen Stellen sieht, ist er überzeugt, mit Röiven allein hier zu sein. Es ist eindeutig, dieser Raum wurde seit längerer Zeit nicht genutzt. Raban zieht den Tarnumhang herab und faltet ihn zu einem kleinen Päckchen. Ein leichter Druck lässt das restliche Wasser heraustropfen, dann steckt der Junge ihn in seine Hosentasche.
Da es in dem Raum seit Wochen kein wärmendes Feuer gegeben hat, ist es in dem alten Gemäuer richtig kalt. Mit »Incendere« entzündet der Junge die Holzreste im Kamin. Sofort strahlt etwas Wärme in den Raum. Weil sie nur hier sind, um die kleine Keramik zu holen, ist es nicht nötig, weiteres Holz nachzulegen, zumal Raban hier nirgends einen Vorrat entdecken kann.
Er blickt zum Arbeitstisch, unter dem noch immer ein Karton steht, aus dem unterschiedliche Gegenstände hervorschauen. Kristallvasen, Tonfiguren, ein verbeulter Kupferkessel, einige Bücher und eine Messingsichel sind zu erkennen. Ja, hier ist tatsächlich niemand gewesen, die Sachen lagen damals genauso herum. Der Junge stöbert nun in den Dingen, die auf dem Tisch liegen, während Röiven zu einem Stuhl hinüberfliegt, auf dessen Lehne er sich niederhockt. Interessiert verfolgt er die Suche des Jungen, der schnell die kleine Keramik findet, die drei, Rücken an Rücken stehende Frauen darstellt.
Sobald Raban sie in der Hand hält, löst sie erneut einen leichten Schauer aus, der ihm über den Rücken läuft. Genauso wie vor einigen Wochen. Raban betrachtet sie genauer. In den Augen der Figur erkennt er winzige, grüne Funken. Das verhaltene Leuchten ist immer noch vorhanden, was auch immer das bedeuten mag. Die Härchen in seinem Nacken richten sich auf, und sein Herz beginnt schneller zu schlagen. Ein eiskalter Finger streicht über seinen Rücken, dem ein feines Kribbeln folgt und bis zum Kopf hinauf läuft. Entsetzt stellt er die Figur auf den Tisch zurück. Sein Unbehagen verschwindet so schnell, wie es gekommen ist. Was bedeutet das, welche Kraft ist mit dieser Darstellung der Hekate verbunden?
Raban erinnert sich, den Namen dieser Darstellung im Museum in der Hauptstadt herausbekommen zu haben. Die Bedeutung der Hekate hat er zwischenzeitlich aber noch nicht recherchiert. Das muss er dringend nachholen!
Raban lässt mit »Solus« eine Leuchtkugel erscheinen, um alle Gegenstände auf dem Arbeitstisch besser betrachten zu können. Er schaut sich die Deckblätter der aufgeschlagenen Bücher an. Richtig, er erinnert sich. Er hatte sie in Barans Zimmer gesehen: »Magische Artefakte und deren Anwendung« und »Die Anwendung schwarzer Magie im Mittelalter«.
Im ersten Buch liegt noch immer der Holzstab, der vermutlich ein Zauberstab sein könnte. Erneut betrachtet der Junge die Oberfläche des dunklen Holzes. Der Stab ist im Griffbereich mit Schnitzereien verziert. Die Maserung des Holzes glänzt leicht. Er rollt den kurzen Stab zwischen den Fingern. Er vernimmt jetzt ein feines Wispern. Das ist also ein echter Zauberstab, den Morgana wahrscheinlich zur Verstärkung ihrer magischen Kräfte einsetzen wollte. Doch warum hat sie ihn hiergelassen? Dort, wo der Stab im Buch steckte, liest er erneut die Anleitung, mit deren Hilfe Baran die Büste der Medusa zum Leben erweckt haben muss.
»Wenn Morgana etwas mit der Figur der Hekate vorhatte, ist es besser, wenn ich sie an mich nehme«, überlegt Raban. »Ich werde auch diese Bücher und ihren Zauberstab mitnehmen. Falls sie hier wieder auftaucht, soll sie diese Gegenstände nicht nutzen können!«
»Jo. Jepp. Das ist besser so!«, stimmt Röiven zu.
Der Junge steckt den Zauberstab in eine Hosentasche, schließt beide Bücher und legt sie aufeinander. Während er das tut, scheint das grünliche Glimmen in den Augen der Hekate zu wachsen. Nimmt es tatsächlich zu? Raban ergreift die Figur vorsichtig mit zwei Fingern und betrachtet sie genauer. Erneut beschleunigt sich bei der ersten Berührung sein Herzschlag. Die bisher kleinen Lichtfunken sind tatsächlich größer geworden. Das grüne Leuchten scheint ihn zu hypnotisieren. Raban meint, zusätzlich ein feines Wispern zu hören. Als er außerdem eine leichte Vibration auf der Oberfläche spürt, stellt er die seltsame Gestalt erschrocken zurück.
»Was ist los?«, fragt Röiven sofort. »Du bist ja richtig blass geworden. Stimmt etwas nicht?«
»Ich weiß nicht. Die Figur ist mir unheimlich. Ich habe dir doch von meinem Traum erzählt, in dem Morgana durch ein helles, grünes Licht in die Figur gesaugt worden ist. Das glimmende Grün nimmt zu, sobald ich die Figur in der Hand halte. Außerdem habe ich eine Stimme gehört. Ich konnte aber nicht verstehen, ob und was das für Worte waren. Es ist fast, als ob Leben in der Figur steckt. Sie begann dann auch noch zu vibrieren.«
»Was erzählst du da? Wie soll das denn möglich sein? Für mich hat sich nichts am Aussehen der Figur geändert.«
»Ja, sie sieht jetzt völlig normal aus. Aber als ich sie in der Hand hielt, war es so. – Wie soll ich die Hekate dann mitnehmen? Ich muss sie sicher aufbewahren. Falls ein Zauber darauf liegen sollte, wie kann ich mich davor schützen?«
»Ich weiß etwas, was du auch weißt!«, neckt der große Vogel. »Du bist doch sonst schnell von Begriff. Na –?«, keckert der Rabe. »Da hilft Silber, es unterbindet doch jeden Zauber!«
»Stimmt. Wie konnte ich das nur vergessen? – Aber woher bekomme ich … Ha! Ich weiß schon. Warte einen Moment, ich bin gleich wieder hier.«
Die Luft flirrt, noch bevor der Kolkrabe etwas erwidern kann.
»Wow. Manchmal ist Raban sehr schnell, ein anderes Mal aber weniger. Wo er jetzt wohl hin ist?«, grübelt der schwarze Vogel noch, als der Junge bereits wieder erscheint. Nachdem das Gleißen verschwunden ist, fragt der Rabe: »Was willst du denn mit dem Vogelkäfig? Hast du den aus dem Kellerraum geholt, in dem Zoe und die anderen Fithich gefangen gehalten worden sind?«
»Genau. Jetzt muss ich dir wohl auf die Sprünge helfen. Morgana hatte die ersten Käfige doch gegen neue ausgetauscht, die mit Silberdraht umflochten sind. Dies ist einer davon.«
»Ja, jepp, gute Idee«, stimmt der Kolkrabe zu. »Natürlich wusste ich, dass dort geeignete Behälter zu finden sind. Ich wollte dir die Freude nicht nehmen, alleine darauf zu kommen. Hä hä hä«, keckert der Vogel.
»Ja, ist schon gut. Deine Intelligenz ist meiner heute weit überlegen. Auch wenn deine klugen Augen auf meinem neuesten Bild von dir nicht zu sehen sind. Du weißt schon, die Silhouette …«
»Dafür ist aber mein kräftiger …«, beginnt der Rabe, als auch schon beide in lautes Gelächter ausbrechen.
Es dauert etwas, bis sie sich wieder gefangen haben.
»Jetzt sollten wir schnell von hier verschwinden, damit ich mir trockene Klamotten anziehen kann. Ich bekomme sonst noch einen Sommerschnupfen.«
»Ich verstehe nicht, warum du deine Kleidung nicht schon getrocknet hast«, entgegnet der Kolkrabe krächzend.
»Dafür reichte das Feuer der wenigen Reste im Kamin doch nicht«, erwidert der Junge. Röiven hält seinen Kopf schräg und klappert mit den Augendeckeln. Auffordernd sagt der Vogel nur ein Wort:
»Nun?«
»Ähem. Du hast Recht«, stutzt Raban und schlägt sich eine Hand vor die Stirn. »Ich bin heute wohl nicht in Form. Wofür kann ich zaubern? – Renovo!«
Ein leichtes Flimmern erscheint, dann sind nicht nur die Wasserpfützen auf dem Fußboden verschwunden, auch die Kleidung des Jungen ist trocken. Seine Haare liegen wie frisch gekämmt auf dem Kopf und sind auch nicht mehr nass. Raban schaut verlegen zu seinem Freund: »Danke! Darauf hätte ich auch früher kommen können.«
»Kein Problem. Hab ich doch gern gemacht.«
Der Junge nimmt nun die Figur der Hekate und meint, erneut das Vibrieren zu spüren, bevor er sie schnell im Käfig loslässt. Das grüne Leuchten ist auch bereits stärker geworden. Als er die Käfigtür schließt, reduziert es sich, bis nur noch kleine Punkte glimmen. Jetzt klemmt er sich die beiden Bücher unter den Arm, nimmt den Käfig hoch und blickt sich noch einmal prüfend um. Als Röiven sich auf seine Schulter setzt, flirrt die Luft.
Der Raum ist verlassen.
Wenige Wochen zuvor in Munegard.
»So eine Sauerei! Verflucht! Elende Schlamperei! Wie konnte die Elfe entkommen?«, schäumt Gavin vor Wut. »Hast du etwa ihre silbernen Fesseln gelöst? Vielleicht, um dich bei ihr einzuschmeicheln?« Seine Augen schleudern Blitze in Richtung des verdattert dastehenden Oskars. Dieser ist gerade von einem Kontrollbesuch in Sorchas Gefängniszelle zurückgekommen. Die Tür hatte er wie immer verschlossen vorgefunden, aber der Raum war leer. Die in der Mauer verankerte Kette, mit der die Gefangene zusätzlich am Verlassen des Raumes gehindert werden sollte, war gesprengt worden. In der ersten Aufregung hatte Oskar den Raum durchsucht, in der verzweifelten Hoffnung, die Elfe doch noch irgendwo zu entdecken, obwohl es für sie dort kein Versteck gab. Erfolglos rannte er zu Gavin zurück, um zu berichten.
Jetzt schluckt und schluckt Oskar nervös. Er ringt seine Hände und versucht vergeblich, zu Wort zu kommen. Als Gavin endlich aufhört, sinnlose Verwünschungen auszusprechen oder ihn zu beschuldigen, holt er tief Luft und sprudelt los.
»Warum sollte ich so eine Dummheit begehen? Wer hat denn die Elfe überwältigt? Das war ICH. DU verfügst bereits über Zauberkräfte, hat das etwa das Entkommen der Elfe verhindert? Nein! Wer erleidet einen Verlust? ICH, da ich Zauberkräfte von der Elfe erlangen wollte, was jetzt unmöglich ist. Wer hätte also einen Grund, sich zu empören? ICH. Aber tue ich das? NEIN! Es ist eines wahren Zauberer des Mondes unwürdig, sich derart aufzuregen und haltlose Beschuldigungen auszustoßen. Und du willst sogar unser zukünftiger Anführer sein? Ein wirklicher Führer poltert nicht einfach los, ohne vorher sorgfältig die Fakten zu prüfen. Um dann gezielt zu überlegen, was in der Situation angemessen ist, das Problem zu lösen. Wir sind doch nur zu zweit hier. Ich habe der Elfe NICHT zur Flucht verholfen, weder bewusst noch unabsichtlich. Aber du warst zuletzt bei ihr. Bist du sicher, dass für dich das Gleiche zutrifft?« Nach dieser langen Rede schweigt Oskar. Seine Lippen sind zusammengekniffen und seine Augen blicken forschend in Gavins Gesicht. Zuckt dort vielleicht ein verräterischer Muskel?
»Du kleiner, unverschäm…«, beginnt der Zauberer, um dann doch innezuhalten. Aufgewühlt eilt er mit langen Schritten durch den Raum, den er als sein Lieblingszimmer betrachtet. Hier gibt es Bücherregale und einen alten Schreibtisch. Wenn Gavin die Geschichte über Eila gelesen hätte, wüsste er, dass dies die Bibliothek Bearachs war, der der letzte Anführer der Dubharan vor 100 Jahren gewesen ist.
Nachdem er sich etwas beruhigt hat, beginnt er erneut: »Ich habe keine ihrer Fesseln gelöst! Sie war außerdem schon sehr geschwächt. Selbst ich hätte die Ketten nicht sprengen können. Jedenfalls nicht ohne Hilfsmittel oder Zauberei. Hm. Sollte ihr Befreier ungesehen hier eingedrungen sein? Und wenn das so ist, wer könnte das gewesen sein?«
»Ob das vielleicht Morgana …«, beginnt Oskar zaghaft, wird aber sofort unwirsch von Gavin unterbrochen.
»Nein. Warum sollte Morgana so etwas tun? Außerdem ist sie meine Cousine, der ich – vertraue.« Erst wollte er »völlig vertraue« sagen, schwächte das dann aber doch ab. Auch wenn sie vom gleichen Blut sind, wer kann schon sagen, aus welchem Grund sie möglicherweise diese unsinnige Tat durchführen sollte. Aber wenn das für sie einen Vorteil bedeuten würde, wäre das vielleicht … Hier wird er in seinen Grübeleien unterbrochen.
Oskar hat sein kurzes Stocken nicht bemerkt und fragt: »Wenn wir Morgana also ausschließen können, muss das eine andere Elfe mit Zauberkräften gewesen sein. Aber woher wusste diese, dass wir eine von ihnen hier gefangen halten? Oder sollte …?«
Jetzt schweigt Oskar und grübelt, als Gavin sofort nachhakt.
»Was meinst du mit: »oder sollte …?« Hast du eine Idee?«
Oskar will ihm den Verdacht, der plötzlich in seinem Kopf aufblitzte, nicht mitteilen. Er hatte Gavin nichts davon gesagt, dass er vor wenigen Tagen in den geheimen Wald eingedrungen war und ihn einige der Elfen verfolgt hatten. Sollten sie ihn weiter als bis zum Auto verfolgt haben, sogar bis hierher? Auch wenn er das für unwahrscheinlich hält, will er das dem Zauberer lieber nicht erzählen, um sich nicht dessen Spott auszusetzen.
Laut bietet er geschickt eine andere Möglichkeit an: »Wir hatten doch die Raben und ihre Nester geraubt. Sollte uns einer von ihnen beobachtet und die Elfe aus Rache befreit haben?« Ihm kommt diese Möglichkeit wenig plausibel vor, doch anders weiß er die Situation nicht zu retten.
Erstaunt blickt er nun in Gavins Gesicht, als dieser entgegnet: »Du bist gar nicht so … Ich will sagen, du besitzt zwar keine Zauberkräfte, aber dafür offenbar einen klaren Verstand. Ich stimme dir zu, das wäre eine Möglichkeit. Ich weiß zwar nicht, wie ein normaler Rabe das anstellen sollte, aber vielleicht war das einer, der zaubern kann. Ja, so wird es gewesen sein.« Obwohl er diese Möglichkeit bereits als bewiesen betrachtet, läuft er noch einige Zeit grübelnd in seinem Zimmer auf und ab.
Die beiden Nachkommen der Dubharan wissen nicht, dass sie zum Teil mit dieser Vermutung Recht haben. Der Kolkrabe Röiven hat Raban geholfen, Sorcha zu befreien. Doch es geschah nicht aus Rache, sondern aus Freundschaft zur Elfe und zum Wohl aller guten Menschen und Elfen.
»Reisen mit dem magischen Sprung hat seine guten Seiten«, beginnt Raban, als sie zurück in seinem Zimmer sind. Er deponiert die Bücher auf seinem Schreibtisch und stellt den Vogelkäfig darauf. Den Zauberstab legt er zusammen mit dem Tarnumhang in die oberste Schublade in der Mitte. Dann fährt er fort: »Es ist nicht nur, dass das sagenhaft schnell geht, man bleibt dabei auch noch völlig trocken.«
»Jedenfalls dann, wenn man nicht außerhalb eines Gebäudes im strömenden Regen ankommt«, keckert Röiven und flattert zum Tischchen neben dem Bett des Jungen. Dort hockt er sich hin und legt seinen Kopf schräg.
»Wie wäre es mit einer kleinen Stärkung? Du hast doch sicher noch etwas Schokolade. Die täte jetzt wirklich gut!« Der schwarze Vogel klappert mit seinen Augendeckeln und blickt erwartungsvoll zu seinem Freund.
»Bevor du zu Schauspielern beginnst, wie schwach du nach unserem kurzen Ausflug nach Mynyddcaer bist«, lacht der Junge, »werde ich schnell das von dir geschätzte Stärkungsmittel holen.« Er geht zu seinem Schreibtisch hinüber und entnimmt dessen mittlerer Schublade eine Tafel Schokolade, die er sofort auspackt und in einzelne Brocken zerteilt. Zuerst legt er für Röiven mehrere davon auf das Tischchen und steckt sich dann selbst eins in den Mund. Der Kolkrabe schnappt sich sofort das erste Stück, dem schnell das nächste folgt. Es dauert nicht lange, dann ist die komplette Tafel verputzt.
»Das war wirklich gut, aber auch notwendig«, kommentiert der Rabe die Leckerei.
»Das freut mich. Dir geht es also wieder besser, und du bist im Vollbesitz deiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten?«
Der Vogel beäugt den Jungen misstrauisch.
»Was soll diese seltsame Einleitung? Auch wenn ich körperlich mal etwas geschwächt bin, so wie gerade eben noch, sind meine geistigen Fähigkeiten immer auf der Höhe! Keine Frage! Pö!« Röiven dreht sich empört etwas vom Jungen weg und schaut demonstrativ zum Fenster hinaus. Da der Regen unvermindert vom Himmel fällt, läuft das Wasser immer noch über die Scheibe und behindert den Blick nach draußen.
»Ich wollte dich nicht beleidigen, mein Freund«, versucht Raban den Vogel zu beruhigen. »Bei dem Regen kannst du dort nicht viel sehen, also schau mich an, bitte. Ich will dir erklären, weshalb ich mich so ausdrückte. – Komm schon, Röiven!«
Der große Vogel dreht seinen Kopf ganz langsam vom Fenster weg, um sich dann mit einem Satz schnell zum Jungen umzudrehen.
»Ich bin nicht beleidigt! Wir sind doch Freunde. Ich musste mich beim Überlegen nur konzentrieren, was mir besser gelingt, wenn ich sozusagen nichts sehe. Darum habe ich zum Fenster geschaut. Hätte ich die Augen geschlossen, hättest du denken können, ich sei eingeschlafen.« Dann keckert der Rabe laut lachend: »Hey, das war Spaß. Ich wollte dich nur ein bisschen necken, weil du so komisch zu Reden angefangen hattest.«
»Du bist ja ein richtiger Schelm. Immer zu einem Jux bereit. – Aber jetzt zurück zu meinem Anliegen.«
»Zu was? Anliegen? Du drückst dich heute aber richtig gestelzt aus«, giggelt der Rabe.
»Das wollte ich nicht. Ich weiß auch nicht. Vielleicht sind das Nachwirkungen von dem grünen Licht aus den Augen der Figur, oder vielleicht von deren Gewisper? – Doch lassen wir das. Ich muss dringend mehr über die Figur oder über die Bedeutung der Hekate herausbekommen. Dafür muss ich vielleicht wieder den Schulcomputer nutzen, um im Internet zu recherchieren.« Hier unterbricht ihn der Rabe:
»Ich soll doch wohl nicht wieder Wache auf dem Baum vor der Schule schieben, während du in diesem Interdings nach Informationen suchst? Das ist doch voll langweilig. Außerdem regnet es immer noch, da ist das zusätzlich sehr ungemütlich.«
»Beruhige dich, mein Freund. Das wäre zwar eine Möglichkeit, aber keine Herausforderung für deine Intelligenz. Nein. Ich werde meinen Großvater besuchen und ihn fragen. Er kennt sich in der griechischen Mythologie gut aus. Er gab mir im letzten Jahr auch den Hinweis, den versteinerten Baran vor dem Museum in der Hauptstadt abzustellen. So wie er es vermutet hatte, wurde dieser für eine Skulptur des Perseus mit dem Haupt der Medusa gehalten. Vermutlich kennt er sich auch mit Hekate aus. Falls ich bei ihm nicht genug Informationen bekomme, werde ich erneut das Museum in der Hauptstadt besuchen, aber zu einer normalen Öffnungszeit. Dort kann ich sicher reichlich Auskünfte bekommen.«
»Und was hat das mit meinen geistigen Fähigkeiten zu tun«, will der Rabe wissen, während er seinen Kopf schräg hält und den Jungen abwartend anschaut.
»Ich nannte nicht nur deine geistigen, sondern auch deine körperlichen Fähigkeiten. Während ich recherchiere, sollst du Sorcha besuchen.«
»Das ist doch keine körperliche oder geistige Herausforderung!«, empört sich Röiven.
»So scheint es, das stimmt. Da wir aber schon lange Zeit nichts mehr von Sorcha gehört haben, wirst du sie vermutlich suchen müssen. Falls sie wider Erwarten in Serengard im geheimen Wald zu finden ist, wirst du dich natürlich nicht anstrengen müssen. Ich vermute aber, dass Sorcha noch immer auf der Suche nach anderen Elfen mit Zauberkräften ist. In dem Fall wirst du reisen und nach ihr forschen müssen. Beginnen solltest du natürlich im geheimen Wald.«
Der Rabe antwortet nicht. Seine Augendeckel klappen mehrmals auf und zu. Er lässt ein lautes Kollern hören und beginnt dann:
»Ja, du hast Recht. Das kann eine Herausforderung für Kraft und Intelligenz sein. – Ich werde Sorcha finden. Ganz bestimmt.«
»Sobald du etwas herausbekommen hast, nehme geistigen Kontakt mit mir auf, damit wir uns treffen können.«
»Das mache ich. Wenn du vorher mit der Informationssuche fertig bist, meldest du dich, einverstanden?«
»Na klar, dann werde ich dich unterstützen. – Wie wäre es mit einigen weiteren Stückchen Schokolade, sozusagen als vorsorgliche Stärkung?«
»Da sage ich nicht nein«, erwidert der schwarze Vogel prompt.
Raban teilt eine neue Tafel auf, die bald verputzt ist.
»Pass auf dich auf, mein Freund!«
»Du auf dich auch!«, verabschieden sich beide. Dann flirrt die Luft. Der Junge ist allein in seinem Zimmer.
Es ist mittlerweile Abend geworden. Raban überlegt kurz und geht dann nach unten, um seine Eltern über sein Vorhaben zu informieren, den Großvater für einige Tage zu besuchen.
»Ich rufe Opa an und werde dann gleich zu ihm hinüberwechseln, wenn er einverstanden ist«, endet sein Vorschlag.
»Das ist eine tolle Idee. Dein Großvater wird sich riesig freuen«, stimmen ihm die Eltern zu.
»Du kannst die Hälfte von dem Brot mitnehmen, das ich heute gebacken habe. Falls Vater nicht genügend vorrätig hat, müsstet ihr sonst erst Einkaufen gehen. Das Stück Cheddar nimmst du auch mit. Warte mal, ich habe auch noch …«
»Also Mom«, unterbricht der Junge sie. »Großvater lebt doch nicht in der Wildnis. Ich nehme das Brot und den Käse mit, mehr aber nicht.«
Sein Vater Brendan schmunzelt:
»Raban hat Recht. Notfalls kommt er einfach mittels magischem Sprung zurück, um weiteren Nachschub zu holen. Aber das wird dein Vater sicher nicht zulassen. Er kann sich gut selbst versorgen und seinen Enkel dazu.« Er grinst seine Frau an, die nun auch lächelt.
»Na gut. Dann telefoniere jetzt, während ich die beiden Lebensmittel einpacke.«
Das Telefonat verläuft, wie Raban es sich erhofft. Finnegan ist überglücklich, seinen Enkel für ein paar Tage bei sich zu haben.
»Diesmal achte aber darauf, nicht vor meiner Haustür zu erscheinen. Du könntest von einem Nachbarn gesehen werden. Komm lieber sofort in mein Wohnzimmer. Da ich weiß, dass du bald erscheinen wirst, werde ich mich schon nicht erschrecken.«
»Gut. Ich sitze dann gleich auf dem Sofa. Wir sehen uns.« Damit legt der Junge auf und stürmt nach oben, um Sachen zusammenzupacken, die er mitnehmen möchte.
Er verstaut einige Kleidungsstücke in seinem Rucksack, nimmt beide alten Bücher und den Vogelkäfig mit der Figur der Hekate und will nach unten eilen. Er stutzt kurz und legt dann die Sachen auf den Fußboden. Er läuft die Treppe hinab und ins Wohnzimmer.
»Jetzt habe ich beinahe vergessen, dass du es nicht magst, wenn ich vor dir den magischen Sprung ausführe, Mom.«
»Ich bin zwar im Frühjahr mit dir auf diese Art zu dem Seniorenheim gereist, und es war nicht schlimm, aber du hast Recht, ich mag es nicht, wenn du dich vor mir in Nichts auflöst. – Hier hast du die Lebensmittel, und grüße deinen Großvater von mir.«
»Von mir auch«, fügt Brendan hinzu. Dann umarmen beide den Jungen, und Raban verlässt mit einem letzten Lächeln das Wohnzimmer. Langsam steigt er die Treppe nach oben hinauf und tritt in sein Zimmer. Schnell verstaut er das Brot und den Käse in seinem Rucksack, den er anschließend schultert. Die Bücher klemmt er sich unter den linken Arm, den Vogelkäfig hält er mit seiner rechten Hand. Er lässt seinen Blick noch einmal prüfend durch das Zimmer gleiten, dann verschwindet er.
Als das Gleißen nachlässt, steht Raban im Wohnzimmer seines Großvaters, direkt vor dem Sofa und ruft:
»Opa, ich bin da!«
»Ich komme ja schon. Nur nicht so hastig.« Bei den letzten Worten öffnet dieser die Haustür und schaut suchend umher. »Wo versteckst du dich denn?«, fragt der ältere, aber rüstige Mann erstaunt. Er fasst sich an den Kopf und schüttelt ihn. Schnell schließt er die Eingangstür und geht ins Haus zurück, als er auch schon die Antwort auf seine Frage hört:
»Na hier, im Wohnzimmer. Du wolltest doch nicht, dass ich draußen erscheine. Du weißt schon, wegen der Nachbarn!«
Finnegan steht jetzt vor seinem Enkel.
»Natürlich weiß ich das noch. Wir haben doch erst vor ein paar Minuten telefoniert. Da mich aber sonst niemand mit dem magischen Sprung besucht, bin ich automatisch zur Tür gegangen.«
Raban hat seinen Rucksack und die Bücher auf das Sofa gelegt und den Vogelkäfig davor gestellt. Er läuft dem Großvater entgegen. Beide umarmen sich herzlich.
»Schön dich hier zu haben, mein Junge. Ich freue mich wirklich sehr.«
»Ich mich auch! – Mom hat mir etwas für dich mitgegeben.« Damit holt der Junge die beiden Päckchen aus seinem Rucksack. Diese sind schnell geöffnet und werden genauso schnell kommentiert:
»Typisch Ciana, deine Mutter. Als ob es hier nichts zu essen geben würde. Aber das Brot duftet verführerisch. Hm. Es ist ja noch ganz frisch. Das wird uns gut schmecken. Und der Käse passt sehr gut dazu. Ja, das war dann doch eine gute Idee von ihr!«, schmunzelt der alte Mann.
Schnell werden die Lebensmittel in die Küche gebracht und beide genießen dort ihr Abendessen. Anschließend kehrt jeder mit einer dampfenden Tasse Kakao in der Hand ins Wohnzimmer zurück. Zuerst fragt Raban nach den jüngsten Erlebnissen seines Großvaters, dann berichtet er von seinen. Natürlich dauert es nicht lange, und die Ereignisse aus dem letzten Sommer und die vom Frühjahr diesen Jahres werden damit verbunden. So ist es auch nicht verwunderlich, dass es spät in der Nacht ist, als sie beide zu Bett gehen. Die Informationen über Hekate müssen bis zum nächsten Tag warten.
In der Nacht träumt Raban.
Erneut sucht er in den vernebelten Gassen einer alten Stadt nach Röiven, begegnet dem dunklen Zauberer Baran und ist mit seinem Freund vom Schutz eines Zaubers umgeben, während ein Flammenmeer um sie herum einen Baum und darin sitzende Kolkraben verbrennt.
Der Junge wälzt sich unruhig im Bett, und der Traum ändert sich.
Ein weiß gekachelter Raum wird von einem unerträglich grellen Licht erhellt. Eine vermummte Person sticht die Nadel einer Spritze in die Brust eines Raben, der auf einem Metalltisch festgeschnallt ist. Als die Spritze geleert ist, verdreht der Vogel die Augen, dann fällt sein Kopf kraftlos zur Seite. Der Kadaver wird losgeschnallt und in einem blauen Müllsack entsorgt.
Raban stöhnt. Der Traum ändert sich erneut.
Vor einem Schreibtisch sitzt eine Frau mit langen, schwarzen Haaren. Sie hält eine kleine Phiole gegen ein Kerzenlicht und nickt zufrieden. Ein triumphierendes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht, in dessen dunklen Augen grüne, sternförmige Einsprenkelungen zu erkennen sind. »Morgana«, blitzt der Name dieser dunklen Zauberin auf. Eine kleine Keramikfigur steht vor ihr auf dem Tisch. Morgana zieht den Stöpsel aus der kleinen Glasflasche und träufelt etwas Flüssigkeit auf die Figur, die kurzzeitig von einem hellen Schimmer überzogen wird. Die Magierin hält ihre Hände über die Figur und beginnt eine Beschwörungsformel zu sprechen, die sie aus einem Buch abliest. Der Spruch beansprucht eine lange Zeit. Am Ende erscheint der schimmernde Glanz erneut. Jetzt leuchten die Augen der Figur grün. Als die dunkle Zauberin nochmals etwas murmelt, ist kurz ein Wispern der Figur zu hören. Ruft diese jemand oder ist das eine Antwort? Jetzt springt ein grünlicher Lichtstrahl von der kleinen Keramikfigur zur Zauberin herüber. Dann ist Morgana verschwunden. Das grünliche Leuchten in den Augen der zurück gebliebenen Figur reduziert sich auf ein punktförmiges Glimmen.
Raban wälzt sich unruhig hin und her.
Den Rest der Nacht träumt er nicht.
Am Morgen fühlt sich Raban wie gerädert. Er grübelt und erinnert sich schließlich an alle Traumsequenzen der vergangenen Nacht. Er hat sie nicht zum ersten Mal gesehen. Aber was haben sie zu bedeuten? Der Junge steht auf, kleidet sich an und begrüßt den Großvater in der Küche. Gemeinsam bereiten sie das Frühstück. Es ist offensichtlich, sein Opa freut sich, Gesellschaft beim Essen zu haben.
»Endlich setzt sich der Sommer durch«, kommentiert Finnegan, bei einem Blick nach draußen, das Wetter. Bereits gestern Mittag gab es hier eine Wetteränderung, die bald das gesamte Land erreichen wird. Die dunklen Regenwolken wurden von einem starken Westwind vertrieben, der sich in der Nacht beruhigt hat. Jetzt strahlt die Sonne von einem klaren, blauen Himmel herab.
»Was hältst du davon, wenn wir einen kleinen Spaziergang unternehmen? Die letzten Tage bin ich nur kurz nach draußen gekommen, um das Notwendigste einzukaufen.«
»Das können wir gerne machen, Opa«, bestätigt Raban den Wunsch. »Sollen wir auch etwas einkaufen?«
»Hm, ja. Wie lange möchtest du denn bleiben? Das hast du mir noch nicht verraten. – Nicht, dass ich dich schon wieder loswerden möchte – ich muss nur die Menge der benötigten Lebensmittel überdenken.«