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Dichter Dunst wabert auf Luke und Emma zu. Sie hören, wie vor ihnen eine Frauenstimme um Hilfe ruft. Sie scheint völlig außer Atem zu sein, wie nach einer langen Hetzjagd. "Neeein!", schrillt es durch den Nebel, gefolgt von einem langgezogenen Seufzer. Dann herrscht Ruhe. Klang das so wie vorhin? Sie bewegen sich hastig vorwärts und stehen auf einmal in hellem Licht. Die Nebelschwaden sind hier fast verschwunden. Deshalb erkennen sie eine Frauengestalt in altmodischer Kleidung. Sie liegt auf den ersten Stufen einer kurzen Treppe, die zu einem monumentalen Grabmal hinaufführt. Die über sie gebeugte dunkle Gestalt richtet sich auf. In deren Hand erblicken sie ein langes Messer, mit breiter und offenbar blutiger Klinge. Die Jugendlichen sind schon bald dem Geheimnis eines alten Schatzes auf der Spur. Da versetzt sie eine Mail in Aufregung. Jetzt droht die Gefahr, den Kolkraben an einen Vogelpark zu verlieren. Wie können sie das verhindern? Erster Band der Reihe SPQR. Das Leben von SPQR, das sind zwei Mädchen, ein Junge und ein Kolkrabe, ändert sich. Sie geraten in den letzten Tagen der Sommerferien in ein Abenteuer, das zu bestehen nicht nur Mut erfordert. Kombinationsgabe und Geschick, aber auch Glück, sind genauso wichtig.
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Seitenzahl: 331
Veröffentlichungsjahr: 2020
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SPQR
Vier Freunde
Roman
Norbert Wibben
SPQR
Vier Freunde
SPQR, Band 1
Für Monika,
mein Ein und Alles!
In Erinnerung an viele schöne Vorleseabende mit meinen Kindern verpacke ich auch diese Geschichte in den bekannten Dreizeiler:
Ein Huhn und ein Hahn – …
Sprechende Vögel?
Verwirrung
Ein Angebot
Wo ist Luke?
Im alten Haus
Warum SPQR?
Ein schöner Abend
Wo ist die Filmcrew?
Im Prätorium
Auf dem Friedhof
Eine Filmszene
Erste Aufnahmen
Gelungene Übersetzung
Arbeiten in Remus' Prätorium
Auf dem Markt
Ein Raub
Unerwartete Fragen
Stadtmuseum und Renovierungsarbeiten
Weitere Fragen
Antworten
In der Spitalkirche
Ein Angriff
Auf zum Film
Schwierige Recherchen
Leerlauf
Eine langerwartete Nachricht
Eine Lösung?
Brittas Überlegungen
Walburgas Fragen
Am Morgen
Übungen und Aufnahmen
Gefahr, Hilfe holen
Vogelpark Paltow
Hiram Paltow
Robins Enkel
Lagebesprechung
Ende der Sommerferien
Wichtige Hinweise
Danksagung
Ein Huhn und ein Hahn – die Geschichte fängt an
Ein breites Grinsen zieht über das Gesicht eines fünfzehnjährigen Jungen, der durch enge Gassen einer Altstadt rennt. Ihm wird soeben bewusst, dass seine Geschichte bei den Freunden ungläubiges Staunen hervorrufen wird. Sein Mofa hat im alten Hafen gestreikt, weshalb er jetzt läuft, doch darum geht es nicht. Er richtet den Blick auf den etwas unebenen Untergrund. Die großen, rundlichen Pflastersteine bieten die Gefahr, umzuknicken. Obwohl sie nicht feucht sind, es hat seit Wochen keinen Regen gegeben, passierte es fast zweimal. Trotzdem drosselt Luke sein Tempo nicht. Er kann es kaum erwarten, Britta und Emma zu berichten, was er erlebt hat. Der Junge nennt sie manchmal S und P oder bezeichnet sie einfach als seine Freunde. Weil es Mädchen sind, muss er nicht befürchten, wegen seiner Überlegungen ausgelacht zu werden. Schulkameraden würden sicher mit Hohn und Spott reagieren. Sie jedoch nicht, wie Luke aus Erfahrung weiß. Gerade deshalb fühlt er sich in der Freundschaft mit ihnen wohl.
Während des Laufs beachtet er weder ihm entgegenkommende Fußgänger, noch riskiert er einen Blick in die Schaufenster der Geschäfte. Stattdessen durchlebt er einige Augenblicke der vergangenen Tage und Wochen erneut. Kann das Wirklichkeit gewesen sein? Vorsichtshalber kneift er sich in den Arm. Das Ergebnis fällt genauso aus, wie unzählige Male zuvor. Luke schüttelt den Kopf. Wenn er den Schmerz nicht spüren würde, könnte er meinen, sich in einem Traum zu befinden.
Sprechende Vögel! Davon hat er nie gehört, jedenfalls nicht im Zusammenhang mit freilebenden Tieren. Aber wie ist dann zu erklären, was ihm widerfahren ist? Sein Lauf verlangsamt sich, als er die Vergangenheit aufruft.
Reich ist die Familie Quint nicht, obwohl die Eltern bereits seit vielen Jahren immer wieder Ausschau nach einem Haus gehalten hatten, dass sie kaufen könnten. Ihre Ansprüche waren dabei nicht einmal unverschämt hoch, auch wenn sie ein freistehendes Gebäude mit genügend Land für einen Garten suchten. Das erschien ihnen wichtig, damit die Mutter ihrer Passion für Gartenarbeit nachgehen und der Vater Ruhe bei seiner Arbeit haben kann.
Luke lächelt bei den Gedanken an seine Eltern Cloe und Rufus. Sie hatten die Suche fast aufgegeben, da entdeckte die Mutter durch Zufall das Gelände mit den Resten einiger Gutsgebäude. Sie erkannte sofort, wie die Anlage in wenigen Jahren aussehen könnte und überzeugte ihren Mann von den sich ihnen bietenden Möglichkeiten. Der Vater hatte schnell mit leuchtenden Augen zugestimmt. Voller Begeisterung äußerte er, dass das Nebengebäude mit Geld und Arbeit wieder bewohnbar zu machen sei, das Haupthaus dagegen nicht. Dabei legte er die Betonung mehr auf die anstehende Eigenleistung als auf die notwendigen finanziellen Mittel.
Luke half seinem Vater seit Monaten, ihr neues Heim bewohnbar herzurichten. Genau genommen ist bereits ein Jahr vergangen. Beim ersten Anblick des Hauses wirkte es auf ihn so, dass es jeden Moment in sich zusammenfallen könnte. Das Feldsteinfundament sah zwar intakt und daher recht stabil aus, dafür waren die Holzbalken des darauf errichteten Fachwerks teils vermodert, grau und rissig. Die mit Backsteinen gefüllten Fächer wiesen Lücken auf, genauso wie einige Fenster, die ihre Glasscheiben verloren hatten. Aber das dichte Dach war nach Aussage des Vaters eine gute Voraussetzung, dass das Gebäude nicht zu sehr Schaden genommen hatte. Trotzdem mussten die mit Lehm gebauten Innenwände in den meisten Räumen erneuert werden. Sie waren zusammengefallen oder zeigten erste Anzeichen dafür. An vielen Stellen gestatteten sie einen Blick in den Nachbarraum.
Der eher geringe Kaufpreis ließ die Eltern vermuten, dass ein versteckter Pferdefuß mit dem Erwerb verbunden sein müsse, zumal allein die Größe des Areals einen höheren Preis rechtfertigen würde. Sie recherchierten lange, um eine negative Überraschung zu vermeiden. Doch hier gab es weder legal noch illegal entsorgte Altlasten. Ein naheliegender Flugplatz war nicht vorhanden und konnte die Ruhe nicht stören. Der Bau einer Autobahn, die dicht an dem Gebiet vorbeilaufen würde, war auch nicht in Planung. Es gab keine Gründe, die gegen den Erwerb sprachen, folglich waren die Quints kurz darauf Besitzer der ehemaligen Gutsanlage.
Luke taucht aus seinen Gedanken auf. Er schaut sich um und lässt ein Fahrzeug vorbei, dessen Näherkommen er unterbewusst registriert hat. Im Weiterlaufen, es geschieht inzwischen mit langsamen Schritten, befindet er sich wieder bei den Ereignissen, die ihn zu dem Treffen mit Emma und Britta eilen lassen.
Nachdem ein Statiker die Sicherheit des Gebäudes überprüft und bestätigt hatte, führte Rufus Quint mit seinen Freunden eine gründliche Bestandsaufnahme durch. Er hielt dabei die verschiedenen Posten notwendiger Arbeiten auf einer Liste fest, die in den ersten Tagen eine beachtliche Länge erreichte. Obenauf stand ein großer Container, der bereits am nächsten Tag aufgestellt worden war. Luke räumte zusammen mit dem Vater und dessen Kollegen eine Woche lang alles aus dem Haus, was nicht weiter nutzbar schien. Morsche Fußbodendielen landeten genauso darin, wie kaputte Lampen, die altersschwache Elektroinstallation, Wasserleitungsrohre und einige durchgerostete Öfen, die zur Beheizung der unterschiedlichen Räume gedient hatten. Loser Putz wurde von Zimmerwänden geklopft und schiefe Fenster entfernt. Alte Möbel waren, bis auf eine defekte und leere Truhe, nicht vorhanden.
Luke schreckt auf, weil ihn viele Tauben umschwirren. Sie werden von ihm aufgescheucht, als er aus einer engen Gasse auf einen großen Kirchplatz kommt. Auf einer Bank sitzt eine ältere Frau und schimpft ihn aus. Sie hält eine Tüte auf ihrem Schoß, aus der sie offenbar trockenes Brot genommen und zerbröckelt hat, um es an die Vögel zu verfüttern. Der Junge bittet im Vorbeigehen um Verzeihung, ist sich aber nicht sicher, ob seine Worte durch die laute Schimpfrede in ihr Bewusstsein gedrungen sind. Er zuckt mit den Schultern und wirft einen kurzen Blick auf die Menschen auf dem großen Platz, von denen viele Touristen zu sein scheinen. Sie stehen staunend vor dem hohen Gotteshaus und sehen den Turm hinauf oder unterhalten sich. Aus den Augenwinkeln bemerkt er einen Fotografen mit einem Stativ, beachtet ihn aber nicht weiter. Luke konzentriert sich darauf, ein versehentliches Stolpern in eine dieser Gruppen zu vermeiden. Sobald der Kirchplatz hinter ihm liegt, folgt der Junge einer Straße nach rechts und berührt kurz eine der Tierfiguren auf dem Geländer einer Brücke, bevor er sie passiert. Das soll Glück bringen. Auch wenn er das automatisch und aus reiner Gewohnheit macht, wird er es vermutlich brauchen. Der schmale Kanal ist schnell überquert und Luke betritt ein Café. Er schaut sich nach seinen Freunden um. Da er sie nicht entdeckt, bestellt er eine heiße Schokolade und setzt sich an einen freien Tisch, der direkt vor einem großen Außenfenster steht. Ein schneller Blick auf die Uhr an der Wand zeigt ihm, dass er sich zu sehr beeilt hat. Es ist kurz vor halb und das Treffen frühestens um fünf.
»Hoffentlich haben sie auch an die Verabredung gedacht«, schießt ihm durch den Kopf. »Während drei Wochen Ferien können wichtige Ereignisse die Zeitrechnung gehörig durcheinanderbringen.« Das weiß er aus eigener Erfahrung.
Luke kraust die Stirn. Irgendetwas ist anders als sonst. Doch bevor er weiter nach der Ursache forscht, lenkt ihn der Duft des Kakaos ab, der verführerisch durch den Raum schwebt. Er schließt die Augen und stellt sich vor, wie er zuerst über die Tasse pustet, um anschließend einen ersten kleinen Schluck von dem heißen Getränk zu nehmen. Vor Jahren hatte er die Temperatur unterschätzt und zu hastig getrunken. Das bescherte ihm eine große, schmerzhafte Verbrennung am Gaumen. Sie begann direkt hinter den Zähnen und erinnerte ihn einige Tage daran, zukünftig vorsichtiger zu sein.
Sein Gesicht verklärt sich in Vorfreude. Der würzige Geschmack von Zimt, in Verbindung mit dem herben Kakao und der Süße des Schaumes, ist einmalig und wird in der Vollendung nur in diesem Café erreicht. Luke richtet den Blick nach draußen, doch ohne das Geschehen dort wahrzunehmen. Seine Gedanken driften wieder in die Vergangenheit.
Inzwischen ist der Container vor dem Fachwerkhaus längst verschwunden. Die Arbeiten an den Außenwänden sind abgeschlossen und sämtliche Fenster sind durch neue ersetzt worden. Lukes Eltern haben darauf geachtet, dass sie im vorherigen Stil erstellt wurden. Das war notwendig, damit die Gelder der Denkmalschutzbehörde nicht gestrichen wurden. In regelmäßigen Abständen kontrollierte deren Mitarbeiter, ob die Vorgaben des Denkmalschutzes eingehalten wurden. Im Nachhinein sagte Rufus wiederholt, dass die Einstufung des Gebäudes als schützenswertes Denkmal der vermutete Pferdefuß beim Erwerb der Anlage gewesen sei. Die damit verbundenen Vorschriften verlangsamten den Baufortschritt, und die resultierenden Mehrkosten für die Verwendung historischer Baumaterialien werden nur zum Teil durch die Zuschüsse kompensiert. Trotzdem leuchten die Augen von Lukes Eltern jedes Mal, wenn sie zu ihrem neuen Heim kommen.
Die Prognose des Vaters nach dem Kauf, die gesamten Arbeiten bis zum Ende des Jahres fertigzustellen, erschien selbst Luke zu positiv angesetzt, obwohl er keinerlei Erfahrung mit Bauvorhaben hatte. Rufus’ Freunde schüttelten darüber nur den Kopf und meinten, dass sie eher vom Ende des kommenden Jahres ausgehen würden. Auch wenn daraus sozusagen ein Wettstreit geworden war, wer Recht behalten sollte, kamen die Kumpels pünktlich zu jedem festgelegten Arbeitseinsatz.
Ein Jahr später war es soweit, sie haben mit Beginn der Sommerferien das erste Mal in dem ehemaligen Verwalterhaus des Gutshofes geschlafen. Die Fußböden sind in den Räumen im Erdgeschoss erneuert worden, genauso wie im Obergeschoss. Die Elektrik ist überall installiert und es gibt fließend kaltes und warmes Wasser sowie ein Bad mit Dusche. Es hatte eine harte Auseinandersetzung mit der Behörde gegeben, bis im Inneren des Hauses Toiletten eingebaut werden durften. Der zuständige Sachbearbeiter wollte nicht einsehen, dass in diesem Fall Abstriche bei den Vorgaben zu machen sind. Schließlich einigten sich beide Parteien dann aber doch. Luke sieht ihr neues Heim vor sich. Das Holz des Fachwerks glänzt mittlerweile wieder tiefschwarz und die weiß verfugten, roten Backsteine der Ausfachungen bilden, genauso wie die Tonpfannen, einen angenehmen Kontrast.
Die Gutsanlage liegt in einem kleinen Ort, vor den Toren der Stadt, in der Luke in Gedanken versunken auf seine Tasse heiße Schokolade wartet. Zu beiden Seiten des Verwalterhauses wächst jeweils eine alte Linde. In einer Entfernung von vielleicht einhundert Metern stand vor längerer Zeit das ehemalige Herrenhaus. Von ihm zeugt nur ein gewaltiger, Unkraut überwucherter Schutthaufen, der von stattlichen Bäumen eingerahmt ist. Vor diesem Schicksal haben Rufus, Cloe und Luke das Verwaltergebäude bewahrt. Es wirkt auf dem Areal wie aus der Zeit gerissen.
Von den Gebäuden der früheren Gutsanlage sind lediglich das Verwalterhaus und ein relativ kleiner Schutthaufen des Herrenhauses übriggeblieben. Sämtliche Nebengebäude dienten, wie das Gutshaus, im Laufe der Jahre als Quelle für benötigtes Baumaterial. Die Bewohner des Dorfes haben sich wie selbstverständlich daran bedient, da die ehemalige Gutsfamilie nach Ende des Krieges verschwunden blieb. Vom Gutspark sind unzählige Büsche und Bäume geblieben, die ihn verwunschen erscheinen lassen. Nahe dem Schuttberg wachsen zwei offenbar uralte Walnussbäume. Sie stehen etwa dort, wo eine vermutete Freitreppe des ehemals stattlichen Gebäudes endete und der Übergang in den Park begann. Trotz ihres hohen Alters ist die Ernte der Nüsse im vergangenen Herbst sehr ergiebig gewesen, was besonders Cloe freute.
Da Luke bei den restlichen Arbeiten im Haus erst wieder helfen konnte, wenn die Innenwände im Obergeschoss mit einem Gemisch aus Stroh und Lehm repariert und getrocknet waren, suchte er auf dem Gelände des Gutes nach interessanten Fundstücken.
Damit begann die Geschichte, von der er unbedingt berichten will, besonders nachdem, was er heute entdeckt hat.
Dort, wo früher der Park war, blühten unter den hohen Buchen im Frühjahr viele Buschwindröschen. Die unzähligen Blüten vermittelten den Eindruck, dass trotz der warmen Temperaturen Schnee liegengeblieben wäre. Die Frühlingsboten waren längst verschwunden, andere Wildpflanzen hatten sie ersetzt. Der Junge konzentrierte seine Suche in den ersten Sommerwochen auf den Schuttberg mit den Resten des Gutshauses. Er hielt Ausschau nach irgendetwas, was auf die alten Besitzer hinweisen würde. Das könnte eine Metalltafel, ein Wappen auf einem Bruchstück des Mauerputzes oder besser noch, ein Buch sein. Doch nichts dergleichen war zwischen Steinen und geborstenen Balken zu finden. Das lag sicher daran, dass in den vergangenen Jahren bis Jahrzehnten alles Brauchbare anderweitig eine neue Verwendung gefunden hatte oder zu Geld gemacht worden war.
Am dritten Tag erfolgloser Suche gab Luke enttäuscht auf. Seine Augen hatten einen früher vermutlich oft genutzten Weg entdeckt, der geradeaus vom Gutshaus an den Walnussbäumen vorbei in den Park führte. Obwohl das Gelände durch unzählige wilde Schösslinge zugewuchert war und umgekippte alte Bäume ihn auszuweichen zwangen, folgte er dem ursprünglichen Weg. Auch wenn er oft Haselbüschen oder Birken umgehen musste, drang er langsam vorwärts. Schon bald zweigte ein schmaler Pfad ab, den er beinahe übersehen hätte. Er war von Brennnesseln überwuchert und frische, aber auch verdorrte Brombeerranken überzogen ihn zusätzlich.
Der verborgene Weg fiel dem Jungen nur deswegen auf, weil er aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte. Ein großer schwarzer Vogel schwang sich mit kräftigen Flügelschlägen in die Höhe, kam kurz auf ihn zu und gab einen kollernden, dunklen Ton von sich. Er klapperte mit den Augendeckeln und entfernte sich dann in entgegengesetzter Richtung. Neugierig, was das für ein Wesen sein könnte, nutzte der Junge einen Knüppel, um sich einen Weg durch Brennnesseln und Dornenranken zu bahnen. Er konnte dadurch dem Vogel auf dem zugewucherten Pfad folgen. Er bezweifelte, dass das eine große Dohle sein könnte. Allein die Körperlänge deutete eher auf eine Krähe hin, aber welche der verschiedenen Unterarten konnte es sein? Um das klären zu können, wollte er ihn genauer betrachten. Zu Hause würde er dann in Büchern oder am Computer nach ihm suchen.
Nachdem er ein dichtes Gebüsch aus biegsamen, jungen Haseln umrundet hatte, erblickte er ein kleines Backsteingebäude mit niedrigem Dach. Es wirkte so, als ob es sich vor der Außenwelt ducken würde, um nicht entdeckt zu werden. Aus dem Schornstein ringelte sich keine Rauchfahne in den Himmel hinauf und jedes Anzeichen menschlichen Lebens fehlte. Lange Ranken wilder Rosen versteckten das Häuschen zusätzlich. Das deutete darauf hin, dass hier lange Jahre niemand mehr gewohnt haben musste. Der Junge grübelte, ob dieses Gebäude auf den Plänen der Gutsanlage verzeichnet sei, konnte sich jedoch nicht erinnern. Er bemerkte, dass es von keinem Garten umgeben war, in dem Gemüse oder Blumen gewachsen sind. Die Büsche und Bäume standen dafür zu dicht am Haus. Stattdessen fiel ihm ein kleiner Pfad auf, der mit uneben verlegten Steinplatten bedeckt war. Er führte zu einem niedrigen Nebengebäude, das zum Teil in sich zusammengestürzt war. Mit seiner Vermutung, dass es ein Hühnerhaus gewesen sein müsse, lag er falsch. Einige silbrig glänzende Holzscheite im Inneren identifizierten es als Holzlager.
Das Häuschen schien dagegen besser in Schuss zu sein, als es das Verwalterhaus noch vor einem Jahr war. Darin könnte jemand wohnen, auch wenn es, umgeben von dem wilden Gebüsch, nicht einladend auf Luke wirkte. Er schlug sich den Weg zur Eingangstür frei, von der die dunkelgrüne Farbe in breiten Streifen abblätterte. Das darunter zum Vorschein kommende alte Eichenholz war silbrig-grau. Er betätigte einen matten Messingklopfer. Der Ton klang hell durch das Haus. Nach einem erneuten Klopfen und längerer Wartezeit deutete kein Geräusch auf die Anwesenheit eines Menschen im Inneren.
»Ist hier jemand?« Auf die gerufene Frage erfolgte ein lautes Krächzen. Sollte das eine Antwort gewesen sein? Erstaunt und etwas erschrocken trat der Junge von der Tür zurück. Sein suchender Blick richtete sich schließlich nach oben. Auf dem Dachfirst hockte der große Vogel von vorhin und hielt den Kopf zur Seite geneigt. Er öffnete den Schnabel und plusterte sein Gefieder auf.
»Hallo Junge!«
Luke wendete die Augen Richtung Tür. Sollte der Bewohner des Hauses doch noch erschienen sein? Nein, dort war niemand. Er drehte sich um. Obwohl die Stimme von vorne gekommen war und etwas seltsam klang, ein wenig rau und kratzig, erwartete er, einen Unbekannten hinter sich zu sehen. Die Worte waren vermutlich von der Hauswand zu ihm zurückgeworfen worden, wodurch die Sinnestäuschung entstanden sein konnte. Nachdem sich Luke einmal komplett um seine Achse gedreht hatte, war er nicht schlauer geworden. Er konnte den Sprecher nicht entdecken. Der schwarze Vogel klapperte mit seinen Augendeckeln, öffnete den Schnabel und krächzte keckernd. Sollte das Tier gesprochen haben? Der Junge weiß, manche Papageien oder auch Beos vermögen menschliche Stimmen nachzuahmen. Das Krächzen ähnelte stark den vorher gehörten Worten, aber das konnte doch nicht sein! Nach einem erneuten Keckern schwang sich der Vogel in die Luft, flog über Luke einen Kreis und verschwand. Es wirkte fast so, als wolle er sich von allen Seiten präsentieren, damit der sich dessen Aussehen einprägen konnte.
An dieser Stelle kehrt der Junge in die Gegenwart zurück. Das kleine Glöckchen an der Eingangstür zum Café kündigt einen neuen Gast an, doch es sind nicht die erwarteten Freunde.
Luke nimmt die fremd wirkende Kleidung des Mannes, der soeben hereingekommen ist, nicht wahr. Seine Gedanken driften bereits zu den Ereignissen zurück, von denen er Britta und Emma endlich berichten will.
In den folgenden Tagen nach der Entdeckung des versteckten Hauses besuchte er es immer wieder. Er legte es mit großer Anstrengung frei und entdeckte dabei eine alte Schwengelpumpe vor der Giebelwand, die offensichtlich der Wasserversorgung des Häuschens gedient hatte. Er probierte sie, konnte den Schwengel aber nur äußerst schwer bewegen, so sehr hatte der Rost, der sich in vielen Jahren gebildet hatte, der Pumpe zugesetzt. Rufus Quint wunderte sich zwar über Lukes Interesse an den Unterlagen des alten Gutes, doch er ließ den Jungen darin suchen, so viel er wollte. Das kleine Gebäude gehörte zur ehemaligen Gutsanlage, da es im Lageplan eingezeichnet ist. Der weist mehrere verwischte Stellen auf. Die ehemalige Bezeichnung des Häuschens ist kaum lesbar: »Remu… Prae…«.
Doch wozu es diente, weshalb es die letzten Jahrzehnte offenbar besser als selbst das Verwalterhaus überstanden hatte, obwohl es vermutlich seit Jahren nicht bewohnt worden war, darüber fand er nichts.
Die Notiz konnte sich auf den Namen eines Bewohners beziehen. Der Beginn beider Worte ließ sich auf vielfältige Weise fortführen und regte Lukes Gedanken an. Seltsamerweise drängte sich von den vielen Möglichkeiten »Remus« in den Vordergrund. Das lag vermutlich daran, dass der Junge im Geschichtsunterricht die Zeit der Römer besonders interessant fand, und dass ein Mann dieses Namens einer der Gründer der Stadt Rom gewesen sein soll. Außerdem ist es ein zwar ungewöhnlicher aber durchaus gebräuchlicher Vorname. Sollte das zweite Wort dann der Hausname des Besitzers oder die Funktionsbezeichnung des Gebäudes sein? Nachnamen konnte es viele geben, dagegen war die Suche nach Begriffen schon erfolgversprechender. Ein Praetorium, anders geschrieben »Prätorium«, war in der Römerzeit das Zelt des Befehlshabers in einem Legionslager. Andererseits wurde bei manchen Dichtern jedes große, palastartige Haus so bezeichnet, auch wenn sich das meist nur auf die Gebäude beschränkte, in denen ein Kaiser oder König lebte. Doch wer sollte einen derartigen Ausdruck auf das kleine Bauwerk der Gutsanlage anwenden, zumal es offenbar ein unwichtiges Nebengebäude gewesen sein muss?
Luke fand bei seinen Nachforschungen unzählige zusätzliche Begriffe wie »Prädator«, der eine andere Bezeichnung für Räuber, Beutegreifer oder auch Fressfeind ist. Das passte wohl noch weniger auf ein Haus, obwohl es so verborgen im Wald lag. Der Junge brach die Recherche im Internet ab und nahm sich vor, im Inneren des Gebäudes nach weiteren Hinweisen zu forschen.
Bei seiner Suche zur Bestimmung des Vogels war er dagegen erfolgreich. Er fand heraus, dass der eindeutig ein Kolkrabe ist. Mit diesem Wissen spukte ihm tagelang durch den Kopf, dass mit »Prae …« auf eine Gefahr hingewiesen werden könnte. Was ist, falls ein dort wohnendes altes Mütterchen gemeint war? Wenn Luke einen dunklen Vogel mit ihr in Verbindung brachte, erinnerte ihn das sofort an das Märchen von Hänsel und Gretel, die im Wald auf eine Hexe trafen, die die Kinder verspeisen wollte. Das passte zu einem Prädator! In manchen Märchenbüchern ist die Frau mit einem Raben als Helfer ausgestattet. Dass genauso oft eine schwarze Katze der Alten zugeordnet wird, machte das Geheimnis um das Haus nur interessanter. Doch wie gehört dann »Remus« dazu, wenn das erste Wort denn so lautet. Der Name bezöge sich dann eindeutig auf einen Mann! – Die Recherchen nach dem möglichen Besitzer und der Funktion des Gebäudes verliefen somit im Sande.
An den folgenden Tagen beachtete Luke den Schuttberg des Gutshauses nicht mehr, dafür stöberte er um das versteckte Haus herum und suchte Hinweise. Wie unterbewusst erhofft, hockte der Kolkrabe bei seiner Ankunft oft auf dem First des kleinen Häuschens. Er nannte ihn inzwischen Remus und sprach ihn manchmal sogar zur Begrüßung so an. Das Tier legte daraufhin den Kopf schräg und machte einen Hüpfer zur Seite. Sollte er sich dabei aufplustern, was nicht immer geschah, oder sein Gefieder schütteln, waren die Worte: »Hallo Junge!«, zu hören. Sooft er auch nach der Herkunft der Stimme suchte, er fand sie nicht. Der schwarze Vogel klappte dann jedes Mal seine Augendeckel auf und zu, öffnete den Schnabel und krächzte keckernd. Anschließend schwang sich der Kolkrabe in die Luft, flog über Luke einen Kreis und verschwand. Ob das eine Warnung für ihn sein sollte, diesem Haus fernzubleiben? Im Nachhinein ist er nicht davon überzeugt. Obwohl …
»Reichst du mir bitte den Honig?« Der Junge braucht einen Moment, dann schaut er in das Gesicht eines lächelnden Mannes. Er sitzt am Nebentisch vor einer dampfenden Tasse.
»Aber klar«, antwortet Luke automatisch. Er greift halb in Gedanken zur Mitte seines Tisches. Anders als erwartet, steht dort kein Zuckertopf, sondern ein kleines Tongefäß, aus dem der runde Stiel eines Holzlöffels herausragt. Die Hand des Jungen verharrt kurz davor, dann richtet er seinen Blick fragend zu dem Mann.
»Genau, den Honig hätte ich gern.« Der Fremde mustert ihn. Luke ergreift das Gefäß und reicht es dem Nachbarn.
»Wieso steht der jetzt auf dem Tisch?«, grübelt der Junge. War das eben schon so? Und er hat es nur nicht bemerkt? Davon abgesehen ist Honig gesünder als Zucker, wie er weiß. Die Betreiber des Cafés achten auch sonst auf ihre Zutaten, da können sie das bisher genutzte Süßungsmittel inzwischen ersetzt haben. Er ist mindestens vier Wochen nicht hier gewesen, da ist das durchaus möglich. Der Blick wandert zur Wanduhr. Seltsam! Es ist zehn nach halb sechs! Warum sind Britta und Emma nicht erschienen? Luke kraust die Stirn. So lange ist er keinesfalls schon hier! Er musste vorhin die Zeit falsch gelesen haben, so in Gedanken verloren, wie er war. Dann kam er bei seiner Ankunft bereits eine halbe Stunde zu spät. Das würde bedeuten, dass sie gegangen sind, ohne auf ihn zu warten. Aber warum riefen sie ihn vorher nicht an? Er greift mit der Hand zur Hosentasche und erschrickt. Sein Handy ist weg! Er wirft einen prüfenden Blick zu seinem Tischnachbarn. Kann der es ihm entwendet haben? Da Luke sein Telefon immer in der rechten, vorderen Tasche bei sich führt, ist das auszuschließen. Ein Diebstahl ist unmöglich unbemerkt auszuführen, solange er auf dem Stuhl sitzt. In Gedanken entschuldigt er sich bei dem Mann für die Verdächtigung. Doch wo ist es dann? Er muss es in dem Haus verloren haben, ist er überzeugt. Dass es auf der Fahrt mit dem Mofa oder bei seinem Lauf hierher aus der Tasche gefallen sein kann, schließt er aus, aber in dem alten Gebäude wäre es möglich. Dort ist er in den engsten Winkeln herumgekrochen und war heute plötzlich auf etwas gestoßen. »Im wahrsten Sinne des Wortes«, grinst er innerlich. Dabei kann es ihm leicht aus der Tasche geglitten sein! »Also schnell wieder dorthin!« Er blickt in seine Tasse, um zu sehen, wie voll sie noch ist. Sie ist randvoll und dampft heftig. Er wischt sich verwirrt über die Stirn.
»Ist der Kakao so richtig?«, fragt die Bedienung, die abwartend neben seinem Tisch steht. War der Becher soeben erst dort hingestellt worden? Hat er nicht schon einen Schluck davon genommen? Luke meint den herben Geschmack des Kakaos und die feine Zimt Note im Mund noch eindeutig zu schmecken. Er ist überzeugt, sich das nicht einzubilden. Andererseits würde das zu der Falschablesung der Zeit passen. »Ist dir nicht gut?«, dringt die besorgte Stimme der Frau in seine sich jagenden Gedanken.
»Äh… Ich weiß nicht.« Er blickt zur Wanduhr. »Geht die Uhr richtig? Ja? Ich warte auf Freunde. Wir treffen uns oft hier, jedenfalls bis vor einigen Wochen. Wir haben noch Ferien, wissen sie? – Es sind zwei Mädchen, etwa in meinem Alter.« Wieso hat er das hinzugefügt? Weil ihn die Bedienung seltsam und leicht befremdet anschaut?
»Du bist doch gerade erst hereingekommen, nur wenige Minuten vor dem Gast neben dir. Ich arbeite seit einer Woche hier und kenne mich noch nicht so gut aus. Entschuldige bitte, dass es etwas länger mit der Bestellung gedauert hat. Dass du öfter hier bist, mag schon stimmen. Ich habe dich in unserem Café bisher nicht gesehen.«
»WAS?« Um Luke dreht sich alles. Er atmet hektisch und wischt sich über die Stirn.
»Du schwitzt wie nach einem schnellen Lauf, und hier drinnen ist es sehr warm. Du solltest langsam atmen und einen Moment an die frische Luft gehen. Nein, lass dein Geld stecken. Ich schenke dir die heiße Schokolade. Falls du möchtest, kannst du wieder hereinkommen, wenn es dir besser geht.« Begleitet vom besorgten Blick der Frau dankt Luke und tritt durch die Ladentür nach draußen. Das Glöckchen klingelt beim Öffnen und Schließen. Es überdeckt dabei das Geräusch eines Stuhls, der zurückgeschoben wird. Auf dem Gehsteig bleibt der Junge wie angewurzelt stehen.
»Was ist denn jetzt passiert? Spielen mir S und P einen Streich?« Er sinkt auf die oberste der zwei Treppenstufen und betrachtet ungläubig die Passanten. In Gruppen laufen Menschen an ihm vorbei, überqueren die kleine Brücke, streicheln die Schweinefiguren und biegen zur großen Kirche ab oder kommen von dort in seine Richtung. Aber nicht das ist es, was ihn staunen lässt. Es ist vielmehr die Kleidung der Leute. Sollten Britta und Emma sie dazu angestiftet haben und auf seine Reaktion warten? Doch wie können sie es geschafft haben, so viele Fremde zu verkleiden? Und aus welchem Bestand stammen diese Kleidungsstücke, die derart altmodisch anmuten?
Luke greift in die Tasche und zieht seine Geldbörse heraus. Sein Handy zu verlieren, kann passieren. Plötzliche Erscheinungen haben, liegt möglicherweise an der seit Tagen herrschenden Hitze. Dass sich sein Geld in eine alte Währung geändert haben könnte, passend zur Kleidung der Leute, hält er jedoch für absolut unmöglich! Und das ist auch nicht passiert. Er atmet erleichtert auf. Es muss demnach eine andere Erklärung als einen Zeitsprung geben. »Ich träume!« Das wäre eine logische und vermutlich die einzige Möglichkeit. »Aber bis zum Eintritt in das Café wirkte doch alles wie immer. Sitze ich dort womöglich vor meiner Schokolade und bin eingenickt?« Mit großer Anstrengung versucht Luke, seine Augen zu öffnen. Weiter auf, als sie es schon sind, bekommt er sie jedoch nicht.
»Filmaufnahmen! Hier finden Aufnahmen für einen Werbespott oder gar einen Spielfilm statt!« Der Junge ist sicher, die Lösung für die vielen Menschen in altmodischer Kleidung gefunden zu haben. Sein Blick schweift die Straße entlang und dann sieht er die Bestätigung. Der Bereich um die Kirche ist weitläufig abgesperrt. Außerhalb stehen gaffende Zuschauer. Männer mit Kameras auf der Schulter sind um das seitliche Hauptportal postiert und Anweisungen werden gerufen. Dass ihm die vorhin nicht aufgefallen sind, darüber schüttelt der Junge den Kopf. Hm, sollte er einen der Kameraleute mit einem Fotografen verwechselt haben? Den hatte er unterbewusst bemerkt! Die ungewöhnlich hohen Temperaturen spielen ihm heute offenbar immer wieder einen Streich.
Da es auf sechs Uhr zugeht, will Luke sich auf den Heimweg machen. Er muss auf jeden Fall in Remus’ Prätorium, so nennt er das versteckte Haus inzwischen, um nach seinem Telefon zu suchen. Er brennt darauf, Britta und Emma anzurufen und sich für seine Verspätung zu entschuldigen. Vermutlich haben sie ihm eine Nachricht geschickt, enttäuscht von seiner vermeintlichen Vergesslichkeit, obwohl er sonst für sein ausgezeichnetes Erinnerungsvermögen bekannt ist. Er erhebt sich vorsichtig und wartet einen Moment, um sicher zu sein, dass ihm nicht schwarz vor Augen wird. Manchmal spielt ihm sein Kreislauf einen Streich, besonders bei heißem Sommerwetter. Ob das auch die Ursache für die Szene mit der heißen Schokolade ist? Luke zuckt mit den Schultern und macht sich auf den Weg zu seinem Mofa. Bereits nach den ersten Schritten wird er von hinten angerufen.
»Hallo Junge!« Einen kurzen Moment jagt ein Schauer über seinen Rücken. Sollte Remus ihm gefolgt sein und auf dem Dach des Cafés hocken? Er ist inzwischen überzeugt, dass der Kolkrabe sprechen kann und sich einen Spaß daraus macht, ihn mit der Wiederholung dieses Satzes zu necken. Luke dreht sich um. Tatsächlich hockt der dunkle Vogel auf der Dachrinne und legt den Kopf schräg. Die Worte klangen zwar dunkel, aber längst nicht so krächzend wie sonst.
»Was ist los mit dir?«, ruft er zu dem Kolkraben hinauf, der nicht antwortet. Erst jetzt fällt ihm der Mann auf, der bis vorhin im Café neben ihm gesessen hatte. Die eben noch vor Hitze dampfende Schokolade konnte er kaum ausgetrunken haben. Warum ist er ihm so hastig gefolgt, welche Absicht steckt dahinter? Er kraust die Stirn und überlegt. Dann ist er überzeugt, wirklich in das lächelnde Gesicht des Mannes zu blicken, der vorhin nach dem Honig gefragt hatte. Der öffnet erneut den Mund.
»Gestattest du eine Frage? Sie könnte auf dich seltsam wirken.« Die Stimme gleicht der, die soeben »Hallo Junge!« gerufen hatte. Dann war er nicht von Remus, sondern von dem Fremden angesprochen worden. »Keine Angst, du musst nicht fortlaufen. Ich will dir nichts Böses.« Luke hatte tatsächlich einem ersten Impuls folgen und weglaufen wollen. Er dreht sich vorsichtshalber halb in die Richtung, die ihn zurück zum Hafen führen wird. So vermag er schnell loszulaufen, wenn ihm die Frage verdächtig erscheinen oder der Mann plötzlich näherkommen sollte.
»Nun legen sie schon los. Ich werde zu Hause erwartet und muss mich beeilen! Meine Eltern sind übervorsichtig und könnten bereits nach mir suchen.« Luke weiß nicht warum, aber diese Lüge drängt sich automatisch auf seine Zunge. Jetzt fällt ihm die Kleidung des Mannes auf, die aus der gleichen Zeit stammen muss, wie die der Menschen, die er auf dem Kirchplatz versammelt sieht. Er gehört demnach zu der Schauspielertruppe. Luke entspannt sich etwas und lächelt den Fremden vorsichtig an. Der dreht sich um und deutet auf den Kolkraben.
»Ist das dein Vogel? Ich meine, gehört er zu dir?«
»Wie kommen sie darauf?«
»Als du vorhin zum Café gingst, sah ich, wie er dir folgte. Er hielt sich immer etwas hinter dir, trotzdem ist mir das aufgefallen.«
»Echt? Ich habe das nicht bemerkt.«
»Kannst du mir also bestätigen, dass diese Krähe dein Tier ist?« Protestierendes Krächzen macht eine Antwort des Jungen zuerst unmöglich. Sollte der Vogel nicht mit der Zuordnung zur falschen Art einverstanden sein? Aber wie kann er von der menschlichen Einteilung wissen?
»Remus ist ein Kolkrabe. Die sind die größten der heimischen Rabenvögel und äußerst klug. Sie sind eigentlich kaum mit Krähen zu verwechseln.«
»Hey, ist schon gut. So wie du dich für das Federvieh ins Zeug legst, wird meine Vermutung stimmen. Es ist DEIN Vogel!«
Luke überlegt, wie er den Mann vom Gegenteil überzeugen kann. Obwohl er nicht weiß, ob das wichtig ist. Er streckt seinen Arm aus.
»Remus, komm zu mir!« Er schaut bei diesen Worten zur Dachrinne und erwartet nicht, dass der Rabe der Aufforderung nachkommt. Der hüpft ein kleines Stück zur Seite, legt den Kopf schräg und krächzt. Es klingt wie ein lauter Protest. »Sehen sie?«, wendet er sich an den Mann und lässt den Arm sinken. »Es war vermutlich Zufall, dass er mir folgte. Ich …« Weiter kommt der Junge nicht. Er vernimmt ein Rauschen in seinen Ohren und spürt eine leise Berührung an der Wange. Ein leichter Schmerz durchfährt seine Schulter und er spürt ein Gewicht darauf. Er dreht den Kopf. »Aua! Pass doch auf, Remus!« Der Ausruf ist berechtigt, denn wider Erwarten ist der Kolkrabe dort gelandet und hat seine Krallen etwas zu fest genutzt. Das ist nicht verwunderlich. Der Rabe macht das zum ersten Mal und vermag nicht einzuschätzen, wie stark er sich festkrallen muss, um nicht hinunterzufallen.
»Dann trifft meine Vermutung zu«, frohlockt der Fremde. »Ich weiß zwar nicht, warum du mir das vorenthalten wolltest, aber das tut nichts zur Sache. Ich bin Edgar Poh.« Eine kurze Pause entsteht, doch der Junge reagiert nicht. »Jetzt schau nicht so entgeistert. Ich möchte dich dringend etwas fragen.« Luke steht mit offenem Mund vor dem Mann. Nicht, weil ihm der Name bekannt vorkommt und er in Ehrfurcht erstarrt ist, wie dieser offenbar annimmt. Nein, er wundert sich über den Raben! Ist die Begegnung mit diesem Tier auf dem Gutsgelände also nicht zufällig gewesen? Wollte der Vogel, dass sich der Junge erst an ihn gewöhnt, bevor er ihm zutraulich näherkommt? Luke wird aus seinen Gedanken gerissen.
»Hey. Dir geht es doch gut, oder? Na dann. Dass ich ein berühmter Regisseur bin, weißt du sicher. Darf ich jetzt die Frage stellen, auf die es mir ankommt? Gut. Für bestimmte Szenen in meinem neuen Film, in dem ich übrigens mitspiele, benötige ich einen großen, schwarzen Vogel. Er soll sozusagen als Todesbote agieren und Unheil für die Menschen ankündigen. Entsprechend dem noch zu überarbeitenden Drehbuch folgt er einigen Personen, setzt sich auf deren Schulter und blickt sie lange mit schräg gelegtem Schädel an. Ja, genauso, wie er das jetzt bei dir macht. Ich habe vor, ihn in einer Totalaufnahme soweit heranzuzoomen, bis sein Kopf das ganze Bild ausfüllt. Schön wäre es, wenn er dann seinen Schnabel öffnet und einmal laut krächzt. Das bekommen wir notfalls auch aus verschiedenen Aufnahmen hin, die zusammengeschnitten werden. – Diese Szene werde ich im Film mehrfach wiederholen. Im Laufe der Handlung kommt der Zuschauer dahinter, dass dies die Ankündigung des nahe bevorstehenden Todes der entsprechenden Person ist.« Luke steht immer noch mit offenem Mund da. »Na, was meinst du?«
Der Junge schluckt einmal und gibt den Versuch auf, dem Vogel in die Augen zu schauen.
»Was soll das werden, ein Gruselfilm? – Ich bin nicht sicher, ob das funktionieren wird. Dieser Kolkrabe wurde weder von mir dressiert noch wird er vermutlich auf Kommando krächzen. – Sie sollten sich besser einen Tiertrainer engagieren.« Der schwarze Vogel klappert mit den Augendeckeln, kneift Luke mit seinem Schnabel leicht ins Ohr und schwingt sich in die Luft. Er fliegt einen Kreis, krächzt herausfordernd und jagt einer Möwe Richtung Hafen hinterher. »Sehen sie? Ich habe keine Kontrolle über den Vogel.«
»Das ist schade! Falls du es dir doch noch anders überlegen solltest, wir sind die ganze Woche in der Stadt. Das wird zwar an wechselnden Orten sein, aber wenn du möchtest, wirst du uns schon finden. Das Entgelt für deine Zeit wird nicht gering sein.«
»Das freut mich zu hören. Ich kann jedoch nichts versprechen.« Damit dreht sich Luke um. Er will schnellstens zum Hafen und seinem Mofa. Falls es wider Erwarten anspringen sollte, kann er nach Hause fahren. Andernfalls muss er seinen Vater anrufen und bitten, ihn mit dem Auto abzuholen. Der Junge ist unsicher, ob es im Hafenbereich ein öffentliches Telefon gibt. Seit er ein Handy besitzt, achtet er nicht mehr auf derartige Dinge. Notfalls wird er laufen oder einen Bus nehmen. Seinen motorisierten Untersatz müsste er dann morgen zur nächsten Werkstatt bringen. Da käme das Geld für die Filmaufnahmen zur rechten Zeit.
Zu seinem Glück ist das nicht notwendig, der Motor springt sofort an. Auf dem Nachhauseweg tankt er vorsichtshalber, um einem erneuten Stottern des Mofas vorzubeugen.
Britta und Emma stehen mit vielen Schaulustigen außerhalb der Absperrungen, die für Filmaufnahmen im Bereich der Kirche angebracht wurden, um unerwünschte Passanten fernzuhalten. Diese Maßnahme war von der Stadt für drei Stunden genehmigt worden. Zuerst versuchten sie, trotzdem zu ihrem Treffen im Café zu gelangen, gaben es dann aber auf. Da sie auf der Straße etwas unterhalb der Kirche standen, die Richtung Brücke über den kleinen Kanal führt, auf der Luke vermutlich kommen würde, hatten sie interessiert das Treiben auf dem Kirchplatz beobachtet. Die Zeit verstrich, ohne dass die Freundinnen den Jungen bemerkten. Sobald es fünf Uhr vorbei war, schickte Emma ihm eine Nachricht per Handy und wartet seit über einer halben Stunde auf eine Antwort. Dass er den Termin vergessen haben könnte, schließen die beiden sofort aus. Aber was ist dann geschehen? Besonders befremdlich finden sie, dass er sich telefonisch nicht meldet. Das hätte er sicher gemacht, wenn er wie sie außerhalb der Absperrung festsitzen sollte.
Die Mädchen sind seit ihrem Wechsel zum Gymnasium beste Freundinnen. Das änderte sich auch nicht, als Luke im vergangenen Jahr zu ihnen in die achte Klasse kam. Damals war der Vierzehnjährige mit seinen Eltern in einen Ort vor den Toren der Stadt gezogen, wo sie mit der Renovierung eines Hauses begonnen hatten. Der Junge gefiel Britta und Emma sofort. Das liegt nicht nur an Äußerlichkeiten, wie seiner sportlichen Figur und den rot-blonden, kurz geschnittenen Haaren, die unweigerlich die Blicke vieler Mädchen auf sich zogen. Sein freundliches Gesicht mit den dunklen Augen übte zusätzlich eine magische Wirkung aus. Sobald er in den ersten Tagen als Neuling auf dem Schulhof an manchen Mädchengruppen vorbeiging, flüsterten diese aufgeregt, stießen sich gegenseitig an oder kicherten albern. Luke gab sich davon unbeeindruckt. Er wirkte eher genervt von diesem Gehabe und zog sich in einem Buch lesend an den Rand des Platzes zurück. Was den Freundinnen an ihm besonders gefällt, ist, dass ihr neuer Klassenkamerad sich auch in unerwarteten Situationen überlegen benimmt. Er verschafft sich einen Überblick und reagiert mit Besonnenheit. Er ist zu allen Schülern gleichermaßen freundlich, nimmt ihre Fragen ernst und behandelt sie mit Respekt. Das bezieht sich nicht nur auf die älteren Jahrgänge, was naheliegend wäre. Luke verhält sich sogar Fünftklässlern gegenüber so. Manche Gymnasiasten, wobei nicht einmal klar nach Jungen oder Mädchen unterschieden werden kann, benehmen sich zu den Jüngeren oft hochnäsig und nutzen fast jede Gelegenheit, um sich über sie lustig zu machen. Sie meinen, dadurch ihr eigenes Ansehen in den Augen anderer zu steigern. Das mag auf diejenigen zutreffen, die so wie sie veranlagt sind, doch eben nicht auf Britta und Emma.
Dass Luke aber auch schnell reagiert, wenn die Situation es erfordert, erfuhren die Mädchen schon wenige Tagen nach Beginn des Schuljahres. Es kam zu dem Zwischenfall, der ihre Freundschaft mit dem Jungen begründete, ohne sie zu Konkurrentinnen zu machen.
Die letzte Schulstunde war zu Ende und Schüler drängten auf den Schulhof. Manche johlten, andere liefen mit brummigen Gesichtern Richtung Zuhause. Sie hatten vermutlich ein schlechtes Ergebnis in einer Arbeit erzielt oder fanden einfach die Menge ihrer Hausaufgaben zu groß. Vor dem Ausgang zur Straße kam es zu einem Stau. Ein schmächtiger Fünftklässler war einem Jungen aus der Zehnten nicht schnell genug ausgewichen, der sein Mofa zum Tor schob. Mit einem Ausruf der Wut versetzte der dem Kleineren einen Stoß, der ihn zu Boden warf.
»Das war gemein!« Dieser Ausspruch des Jungen ließ den bereits Weitergehenden innehalten. Er bockte sein motorisiertes Zweirad auf den Ständer, drehte sich zurück und breitete seine Arme aus.