2,99 €
Der Spürsinn von Luke, Britta und Emma ist erneut gefordert. Mit welchen skrupellosen Gegnern haben sie es zu tun? Remus' Kinder sind entführt worden! Die jungen Detektive erhalten über ihre Homepage seltsame Anfragen. Wer mag die Person sein, die sich mit "???" bezeichnet? Werden sie hereingelegt, wie Britta vermutet, oder wird ihre Hilfe doch benötigt? Dahin tendiert Emma. Bald darauf gibt es weitere Aufgaben. Bisher hofften die Jugendlichen vergeblich auf Aufträge für ihre Detektei. Woher stammt nun die unerwartete Flut? Die Kripo Wismar ist auf der Suche nach dreisten Räubern. Ein Goldschatz ist aus einem Museum gestohlen worden. Britta macht ein außerschulisches Praktikum im Kommissariat. Gelingt es ihr, bei der Wiederbeschaffung zu helfen?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 316
Veröffentlichungsjahr: 2023
SPQR
Hiddenseer Gold
Roman
Norbert Wibben
SPQR
Hiddenseer Gold
SPQR, Band 6
Für meine wunderbaren Kinder,
in ewiger Liebe!
In Erinnerung an viele schöne Vorleseabende mit meinen Kindern verpacke ich auch diese Geschichte in den bekannten Dreizeiler:
Ein Huhn und ein Hahn – …
Im Klabauter
Eine Anfrage
Beratung
Schwedentage
Schock!
Eine neue Aufgabe
Erneut im Klabauter
Bestattung
Recherchen
Ein Fake?
Telefonat
Im Kommissariat
Schlagzeile
Unterirdisch
Unerwarteter Treffer
Entführung
Spott und Hohn
Überlegungen
Verhör
Eine Nachbesprechung
Weiteres Rätsel
Enttäuschungen
Bericht der Zeitung
Entscheidung?
Belauscht
Zufälliges Wiedersehen
Stand der Dinge
Zwei Orte
Samstag
Erkenntnisse
Vermutungen
Zwei Tage zuvor
Entscheidung
Ein Inserat
Vor Mitternacht
Durchbruch
Überraschung
Unerwartete Spur
Ein Wiedersehen
Wichtige Hinweise
Danksagung
Ein Huhn und ein Hahn – die Geschichte fängt an
Mehrere Wochen zuvor.
Wie jeden Abend herrscht in der Altstadtkneipe »Zum Klabauter« ab neunzehn Uhr großes Gedränge. Die Gäste gehören zu unterschiedlichen Schichten der Bevölkerung. Es gibt hier viele Studenten, aber ebenso Handwerker, Bewohner der Nachbarschaft und gelegentlich, hauptsächlich in Ferienzeiten, auch Touristen. Es werden Speisen nach Hausmacherart und verschiedene Fischgerichte angeboten. Der Wirt sieht es gern, wenn ähnlich wie in englischen Pubs, kleine Snacks zum Bier, Wein und härteren Getränken genossen werden.
Besonders zu Beginn eines Monats sind manche der Studenten freigiebig und trinken mehr, als gut für sie ist. Entsprechend unsicher wanken sie dann im Anschluss zu ihren Unterkünften. Gegen Monatsende erscheinen sie dagegen seltener oder nippen den ganzen Abend an einem Drink herum. Es ist offensichtlich, dass deren finanzielle Situation ihnen zu diesen Zeiten keine großen Sprünge erlaubt.
Ein Fremder ist hier seit mehreren Wochen allabendlich ein still beobachtender Gast. Er trägt einen mächtigen Bart, der wie sein Kopfhaar rot und kräftig gelockt ist. Das wirkt fast so, als sei er nicht echt und diene lediglich dazu, sein Antlitz dahinter zu verstecken. Sollte man sich bei den anderen Besuchern nach ihm erkundigen, wären sie kaum in der Lage, irgendwas über sein Gesicht zu sagen, außer dem Bartwuchs natürlich. Der Mann bewegt sich äußerst unauffällig in der Kneipe. Er hätte ein unsichtbarer Geist sein können. Er hört den Unterhaltungen der Gäste gespannt zu, ohne sich jemals einzumischen. So läuft er nicht Gefahr, etwas von sich preiszugeben.
Er stellt wiederum schnell fest, dass hier offenbar auch Geschäftsmöglichkeiten zwischen verschiedenen Parteien besprochen werden, die vor dem Gesetz nicht einwandfrei sind.
Es ist jedoch nicht so, dass er irgendwas dagegen hätte. Er macht vielmehr lange Ohren, um für sich einen Vorteil herauszuholen. Eines Abends belauscht er ein derartiges Gespräch mit kriminellem Hintergrund. In dem ist die Rede davon, ein Gebäude in der Altstadt niederzubrennen. Die dahinterstehende Absicht ist, eine Erhöhung der Baukosten wegen Einhaltung von immensen Denkmalschutzauflagen zu umgehen.
Der Student Gernot Schramm, der sich zufällig in der Nähe aufhält, bekommt die Unterhaltung der beiden Männer ebenfalls mit. Er glaubt, seinen Ohren nicht trauen zu können. Im nächsten Moment rotieren seine Gedanken, um einen darauf aufbauenden Plan zu entwickeln. Er entscheidet sich schnell, wie er das zu seinem Vorteil nutzen könnte. Er beabsichtigt, den Besitzer des Bauwerks zu erpressen und damit zu drohen, mit dem Erlauschten zur Kripo zu gehen. Das würde ihm eine zusätzliche monatliche Einnahme sichern, sollte er seine Worte mit Fotos belegen können. Gernot gelingt es, heimlich mit dem Handy Bilder zu schießen und sogar einige Gesprächsfetzen der Absprache in einer Videosequenz festzuhalten.
»Das habe ich gut gemacht!«, lobte er sich selbst. Er spielt die Aufnahme ab, um zu prüfen, ob die Kernaussage, ein Gebäude nach Aufforderung niederzubrennen, gut zu verstehen ist. Sein Gesichtsausdruck muss dabei seine Gedanken gezeigt haben, denn plötzlich wird er von dem unauffälligen Fremden angesprochen.
Der hat Gernot Schramm bereits über viele Tage beobachtet und festgestellt, dass der stets mehr Geld benötigt, als er an monatlichen Bezügen zur Verfügung hat. Er hat außerdem erfahren, dass der junge Erwachsene Verfahrens- und Umwelttechnik studiert. Obwohl der Student keine geringe Unterstützung von seinem Onkel, dem Architekten Albert Schramm erhält, ist er an jedem Monatsende klamm. Er versucht, zusätzliche Einnahmen über Gelegenheitsjobs zu erzielen, doch die sind nicht einfach zu bekommen. So ist es nicht verwunderlich, dass alles nicht reicht, um sein Leben auf großem Fuß zu finanzieren. Deshalb ist es für ihn nur ein kleiner Schritt, um auf Abwege zu gelangen. Und das will der Fremde zu seinem Gunsten nutzen.
»Wenn ich du wäre, würde ich davon absehen, das Gehörte mit Erpressung zu Geld machen zu wollen«, spricht er Gernot hinter vorgehaltener Hand an. »Es ist zwar verlockend, zumal es den Anschein macht, dass das einfach zu realisieren ist. Das kann sich aber schnell ins Gegenteil verkehren. – Der Erpresste wird schnell erkennen, dass er nur dadurch Sicherheit erlangen kann, …«
»… indem er mich kaltstellt, also ermordet.« Der Student schaut den Unbekannten mit zusammengekniffenen Lippen an. »Doch das weiß ich durch geschickte Vorsichtsmaßnahmen zu verhindern!«
Der Fremde blickt ihn zweifelnd an.
»Das mag sein, oder auch nicht. – Wenn du derart verlegen darum bist, an Geld zu kommen, mach ich dir einen Alternativvorschlag.«
Der junge Mann will bereits gegen den Rothaarigen aufbegehren. Sein angeborener Hochmut meldet sich. Was fällt diesem Kerl ein, ihn in unverschämter Weise zu duzen und gleichzeitig seine Entscheidung zu kritisieren? Gernot schluckt die Worte der Empörung jedoch hinunter. Was schadet es, wenn er sich dessen Vorschlag anhört? Die Erpressung kann er schließlich jederzeit starten. Sogar noch in dem Fall, wenn das Bauwerk bereits in Schutt und Asche liegt. Die Fotos und die Videosequenz setzen den Eigentümer zu jeder Zeit unter Druck. Sie sind Beweise für Versicherungsbetrug und Umgehung des Denkmalschutzes. Der Besitzer des Gebäudes wird durch sie mit mehreren Jahren Freiheitsentzug bedroht, solange die Verjährungsfrist nicht abgelaufen ist.
»Also gut«, geht er auf den Satz des Fremden ein. »Wie lautet DEIN Vorschlag?«
Der Rothaarige grinst, weil er die Absicht hinter der Betonung der vertraulichen Anrede bemerkt.
»Ich kenne nicht nur junge Erwachsene, die, so wie du, auf einfache Weise Geld einnehmen möchten. Ich bilde mir ein, darin geschickt zu sein, aus jeder Gelegenheit höchsten Gewinn zu erzielen.«
»Das mag ja sein. Doch welchen Nutzen soll ich davon haben?«
»Das sage ich dir, wenn wir uns morgen zur gleichen Zeit erneut hier treffen. Bis dahin muss ich etwas recherchieren. Also bis dann, Gernot Schramm.«
Der Rothaarige grinst kurz. Ob das wegen des Reims ist, gibt er nicht zu erkennen. Er klopft mit den Fingerknöcheln auf den Tisch und verschwindet gewandt aus dem Gedränge der Kneipe.
Der Student wundert sich, woher der Unbekannte seinen Namen kennen könnte. Er zuckt mit den Schultern. Vermutlich war der gefallen, als er sich ein Bier an der Theke bestellt hatte. Das muss der Fremde gehört haben.
Dass der ihn bereits seit Wochen beobachtet, ist ihm entgangen.
Britta, Emma und Luke sitzen zum Abschluss der Sommerferien bei einer heißen Schokolade und Apple Crumble in ihrem Café nahe der Schweinebrücke. Vor fast einem Jahr, genau genommen wäre das im Herbst der Fall, hatten sie hier Brittas Vorschlag aufgegriffen und eine Detektei gegründet. Die Leckereien genießend, sprechen sie über die bisher gelösten Aufgaben. Wie nicht anders zu erwarten, ist besonders das zuletzt bestandene Abenteuer das Hauptthema.
Die psychisch gestörte Frederika Unhold hatte mit Hieronymus Albas Hilfe Britta in ihre Gewalt gebracht. Sie beabsichtigte, die junge Detektivin als vermeintliche Hexe zu verbrennen. Ihr Gehilfe hatte sie in den Wochen zuvor bei Brandanschlägen unterstützt, als es darum ging, mit Feuer Erfahrungen zu sammeln. Als jedoch der Feuertod einer Jugendlichen real zu werden drohte, hatte er mit sich gehadert, ob er seine bis dahin einzige Freundin bei diesem Vorhaben unterstützen sollte. Nach einer schlaflosen Nacht entschied er sich dagegen.
Ausschlaggebend war letztlich, dass er Frederika einer Lüge überführt sah. Sie behauptete, durch diese Hexenverbrennung den Freund einer Bekannten von einem Hexenfluch befreien zu wollen. Ihre dabei gezeigte Heftigkeit ließ den jungen Mann jedoch vermuten, dass der angeblich verhexte Alex nicht der Partner einer ehemaligen Klassenkameradin, sondern ihrer gewesen sein muss. Sie wollte ihn also zurückgewinnen und nutzte Hieronymus folglich nur aus, um dieses Ziel zu erreichen.
Diese Informationen basieren auf den Recherchen der Kripo. Die teilte die Ermittlungsergebnisse Rufus Quint, und damit auch dessen zeitlich befristeter Assistentin Britta, mit. Nach Ablauf der Mitteilungssperre, an die sich der Journalist und die Jugendliche peinlichst hielten, führte der Sonderbericht von Lukes Vater zu einer Steigerung der Verkaufszahlen der Tageszeitung. Die Ergreifung der seit längerem gesuchten Brandstifter war daraufhin tagelang Gesprächsthema Nummer eins. Und das, ohne dass die Entführung und der angedrohte Feuertod erwähnt wurden. Rufus Quint wollte in Abstimmung mit der Kripo vermeiden, dass mögliche Trittbrettfahrer auf ähnliche Ideen kommen könnten.
»Ich wollte lediglich Clas Hinnerk und Inge Husmann bei ihrer Arbeit, die Feuerteufel dingfest zu machen, unterstützen. Dass das derart gefährlich werden könnte, hatte ich nicht geahnt.«
Brittas Äußerung zeigt, dass sie sich noch immer ein wenig schuldig fühlt, Bruder und Mutter, aber auch Emma und Luke, in Angst versetzt zu haben. Zu ihrem Glück konnten die Freunde sie mit Hilfe der Polizei, aber besonders durch ihren Spürsinn aufstöbern und befreien.
»Deine Beobachtungen und Schlussfolgerungen verhinderten sogar das Niederbrennen eines denkmalgeschützten Gebäudes am Marktplatz«, lobt Emma ein weiteres Resultat von Brittas Spürsinn. »Das hatten die als Nachahmer der Brandstifter agierenden Averbeck-Brüder geplant.«
»Und das zusätzlich dazu, dass Frederika und Hieronymus mit deiner Hilfe als die Feuerteufel der letzten Wochen überführt wurden.« Luke strahlt die Freundin an. Britta lächelt verhalten zurück.
»Obwohl ich durch meine Überlegungen zu einem falschen Ergebnis gelangte. – Jetzt aber genug von mir. Wir sollten festlegen, was wir davon auf unserer Internetseite als Resultat unserer Detektivarbeit aufführen können. Falls wir das geschickt anstellen, könnte das endlich zu den ersehnten Anfragen führen.«
Die Freunde bezahlen und verlassen das Café. Vor der Tür bleiben sie grübelnd stehen.
»Wenn wir einen neuen Auftrag hätten …«, beginnt Britta.
»… und Remus noch bei uns wäre«, fährt Luke fort, »könnten die vier SPQR-Detektive wieder aktiv werden.«
»Da das leider nicht zu erwarten ist«, stellt die nüchtern und analytisch denkende Emma fest, »müssen wir uns vorrangig darauf konzentrieren, was im Internet gepostet werden soll.«
»Treffen wir uns dazu doch in Remus‘ Prätorium«, schlägt der Junge vor. Unbewusst hofft er gleichzeitig, der Kolkrabe könnte dort auf sie warten. »Sagen wir in zwei Stunden? Bis dahin werden uns bestimmt Vorschläge eingefallen sein, einverstanden?«
Die Mädchen nicken. Luke startet sein Mofa und fährt davon.
»Kommst du bei mir vorbei?«, fragt Emma.
»Klar, in etwa einer Stunde«, entgegnet Britta. Nun trennen auch sie sich. Letztere überquert den Kirchplatz der Nikolai-Kirche. Die Freundin folgt dem Straßenverlauf »Hinter dem Chor« und »Am Poeler Tor«, um links in die »Wasserstraße« abzubiegen.
Noch bevor die drei Jugendlichen in dem Häuschen zusammentreffen, das sie als Remus‘ Prätorium bezeichnen, melden ihre Handys das Eintreffen einer Nachricht. Sollte Luke das Treffen abgesagt haben, weil er, wie vor den Sommerferien üblich, die Zeit unter dem Horst des Kolkraben verbringen möchte? In dem Fall müsste die Besprechung vermutlich ausfallen.
Die Sommersonne meint es heute wieder gut und kein Wölkchen trübt den blauen Himmel. Deshalb halten Britta und Emma auf dem Radweg erst an einer Stelle, wo Bäume einen Schatten werfen. Dadurch können sie die Anzeigen auf den Displays ihrer Telefone besser sehen.
Beide ziehen ihre Handys gleichzeitig aus der Hosentasche. Die vernommenen Signaltöne deuteten auf das Eintreffen einer Mail hin, was für eine Nachricht von ihrem Freund unüblich wäre. Der würde den Messenger nutzen, der ein anderes Signal ertönen lässt. Doch wer sonst sollte sie kontaktieren wollen? Schnell entsperren sie ihre Smartphones und erkennen, dass offenbar eine Anfrage an die Detektive gestellt wurde. Aufgeregt, da sie seit Wochen auf einen neuen Auftrag warten, öffnen sie die E-Mail. Die Freundinnen lesen die übermittelten Informationen aus dem Anfrageformular.
»Was meint ihr, wer ich bin«,
lautet der Beginn. Sie schauen sich fragend an.
»Jemand ersucht uns um Hilfe …«, beginnt Emma.
»… und stellt uns gleichzeitig die Frage nach seiner Identität?«, ergänzt die Freundin. »Das muss doch wohl ein Scherz sein!« Erstaunt über den seltsamen Anfang, wandern ihre Augen zu den Angaben des Absenders. Dort ist »???« angegeben. Britta wirft die langen, roten Haare unwirsch in den Nacken. »Das fängt ja ähnlich wie in dem Anliegen von Anwar Wenn an.«
Die andere Jugendliche spürt kurzzeitig einen leichten Stich, dann ist die Erinnerung an die nicht zustande gekommene Beziehung zu dem ägyptischen Studenten auch schon verflogen. Beide konzentrieren sich auf die weiteren Informationen.
»Mit der Absenderangabe sind nicht »Die drei Fragezeichen«
gemeint«,
stellt der Absender in einer Ergänzung richtig.
»Pah. Darauf wären wir sicher nicht gekommen!«, empört sich Britta.
»Welche Angaben sind zur Person, beziehungsweise für die Kontaktaufnahme gemacht worden?« Emma interessiert sich vorrangig für die sachlichen Fakten. »Ach ja, dort steht »???«, jedoch nicht »MisterX« oder Ähnliches. Und es wurde tatsächlich eine E-Mail-Adresse eingetragen. Hm. Ob die nicht doch ein Fake sein wird?«
»Danach sieht es für mich aus«, bestätigt Britta. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die okay ist. Hier ist lediglich [email protected] notiert. Funktionieren Sonderzeichen in Mail-Adressen überhaupt?« Das Mädchen kommt nicht dazu, darüber nachzugrübeln. Emmas Antwort erfolgt, ohne darauf einzugehen.
»Das passt andererseits zu dem angegebenen Namen. Ob die dann doch aktiv ist? Wir könnten an sie schreiben«, spricht die Freundin ihre Überlegungen aus, »dann werden wir es wissen.« Beide nicken zur Bestätigung. Sie erinnern sich, dass Luke diesen Vorschlag auf ihre damals gleichlautende Frage gemacht hatte.
»Das machen wir, sobald wir in Remus‘ Prätorium sind. Bis dahin könnte Luke das sogar schon probiert haben.«
Trotz dieser Entscheidung lesen sie auch den kompletten Text der Anfrage.
»Was meint ihr, wer ich bin?
Seit Jahren suche ich nach einer Erklärung, weshalb ich in einem Waisenhaus aufgewachsen bin. Ich habe an meine Eltern keinerlei Erinnerung, weil ich als etwa einjähriger Säugling in einer Kinder-Klappe abgelegt wurde, wie ich erfahren habe. Ich kenne deshalb weder ihre Namen noch ihre damalige Anschrift. Das war vor nunmehr zwei Jahrzehnten. – Ich habe gesehen, dass euer letzter Fall darum ging, die Ursache für den Alptraum eines jungen Mannes aufzulösen. Ihr habt auf euren Seiten lediglich geschrieben, dass euch die Lösung gelungen ist. Aus vermutlich persönlichen Gründen habt ihr keine Einzelheiten bekanntgegeben, was ich durchaus begrüße. Trotzdem dient mir die Aufklärung dieser kniffligen Aufgabe als Fingerzeig, dass vielleicht nur ihr mir helfen könntet.
P.S. Mit der Absenderangabe sind nicht »Die drei Fragezeichen« gemeint!«
Damit enden die Informationen. Emma hofft, dass der mögliche Auftraggeber nicht mit einer Geschichte über wiederkehrende Traumsequenzen beginnen wird. In dem Fall, vermutet sie, dass dies ein Versuch des ägyptischen Studenten Anwar Wenn sein könnte, erneut Kontakt zu ihr aufzunehmen. Mit gekrauster Stirn und aufeinander gepressten Lippen steigt sie auf ihr Rad und tritt derartig heftig in die Pedale, dass Britta Mühe hat, ihr zu folgen. Falls der junge Mann das beabsichtigen sollte, gäbe es andererseits einfachere Wege, sagt sie sich immer wieder, ohne jedoch ihr Tempo zu reduzieren.
In Remus‘ Prätorium werden die Freundinnen von Luke mit Fragen empfangen.
»Habt ihr den seltsamen Text gelesen, den ein Unbekannter an uns gesendet hat? – Gut. Ich habe schon mal eine Antwort an seine oder auch ihre E-Mail-Adresse vorbereitet.«
»Stimmt«, entgegnet Emma. »Ich war automatisch von einem Mann ausgegangen, der uns um Hilfe bittet. Es könnte sich aber durchaus ebenso um eine Frau handeln. – Hm. Wie fällt wohl die Statistik zum Geschlecht der Kinder aus, die in Babyklappen abgegeben werden?«
»Du kannst das ja gern recherchieren«, fordert Britta sie auf. »Obwohl ich nicht sehe, was uns das helfen soll.«
»Tut es auch nicht. Mir schoss dieser Gedanke nur durch den Kopf, weil ich automatisch sofort von einer männlichen Person ausgegangen bin.«
»Den Grund könnte ich dir nennen«, denkt Britta. Sie äußert das jedoch nicht, da sie vermutet, der Freundin damit weh zu tun. Die hatte sich trotz der wenigen gemeinsamen Momente in ihren letzten Kunden, den ägyptischen Studenten, verliebt. Sie wendet sich nun an Luke, in den wiederum sie verschossen ist. Bei einer Aussprache nach ihrer Befreiung hatte er ihr gestanden, mehr als nur Freundschaft für sie zu empfinden. Er sprach allerdings nicht direkt von Liebe. Doch die wird sich schon einstellen, ist sich das Mädchen sicher. Jungen sind oft etwas unbeholfen in Liebesangelegenheit. Und darüber sprechen ist oft nicht so ihr Ding.
»Zeig uns die vorbereitete Mail. Ich bin überzeugt, dass es daran nichts auszusetzen gibt!« Mit einem breiten Lächeln tritt Britta zu dem Tisch, auf dem weder ein Bildschirm noch ein Computer zu sehen sind. »Ach, wie dumm. Du hast den PC ja in deinem Zimmer. Dann hast du die Nachricht vermutlich auf dem Handy geschrieben?«
»Genau. Schaut sie euch an.«
Die Freunde setzen sich auf ihre angestammten Plätze und der Junge schiebt sein Smartphone zu den Freundinnen hinüber. Britta sitzt ihm gegenüber und Emma seitlich zu ihnen, mit dem Fenster im Rücken.
»Hallo ???,
wir, die SPQR-Detektive, haben ihre Anfrage um Hilfe erhalten. Wir hoffen, dass die angegebene Mail-Adresse richtig ist und unsere Antwort sie erreicht.
Konnten ihre Eltern nicht über Nachforschungen des Waisenhauses ermittelt werden, oder verweigert die Einrichtung ihnen eine Auskunft darüber?
Wurde vor zwanzig Jahren die Polizei in die Ermittlungen nach ihrer Mutter eingebunden?
Auch wenn sie nicht wissen, was ihre wahre Identität ist, werden sie im Heim eine neue bekommen haben.
Bitte nennen sie uns diesen Namen, ihre Postanschrift und möglichst eine Handynummer.
Wir möchten uns mit ihnen treffen und diese und andere Fragen klären.
Viele Grüße
Britta, Emma und Luke«
Während die Mädchen den Text lesen, ruht der Blick des Jungen auf der Lehne des vierten und leeren Stuhls. Emma gegenüber hockte dort früher der Kolkrabe Remus. Bis zum Beginn des Jahres war er ständig auf dem Gelände des ehemaligen Gutshofes anzutreffen gewesen, wenn er die Freunde nicht bei Ausflügen begleitete. Seit dem Frühjahr, in dem er eine Partnerin gefunden und mit ihr eine kleine Familie gegründet hat, war er weniger als fünf Mal hier.
Luke vermisst den lustigen Vogel und schreckt aus seinen Gedanken auf, weil die Mädchen ihn ansprechen und die Mail kommentieren.
»Das kannst du so rausschicken!«
»Besser hätten wir das auch nicht formulieren können«, ergänzt Britta. »Warum gibst du nicht gleich eine unserer Handynummern an?«
»Falls das keine wirkliche Anfrage an uns ist, könnte die Nummer durch das World Wide Web geistern. Wer kann schon sagen, wo die Mail-Nachricht dann gelesen wird. Wenn das ein Fake-Hilfeersuchen ist, könnte es ein getarnter Phishing-Versuch sein. Sollte das zutreffen, müssten wir in den nächsten Tagen bis Wochen mit Werbeanrufen und Ähnlichem rechnen.«
»Das trifft doch bereits dadurch zu, dass die Antwort bei diesem oder dieser »???« ankommt. Deine Absenderadresse könnte ebenso als Ziel für Werbemails genutzt werden.«
»Stimmt. Aber die würden zum Großteil über meine Spam-Einstellungen neutralisiert. Falls die angegebene Mail-Adresse nicht existiert, kann diese Nachricht nicht zugestellt werden und sie wird an uns zurückgeschickt. Das würde eine erneute Möglichkeit schaffen, dass sie von einer darauf spezialisierten Stelle mitgelesen und für eben genannte Zwecke missbraucht wird. Die Wahrscheinlichkeit dafür steigt sozusagen auf das Doppelte. – Wenn wir eine Antwort erhalten, rufen wir unseren neuen Klienten an und vereinbaren einen Termin. Wichtige Details können dann in einem persönlichen Gespräch geklärt werden.« Der Junge nimmt sein Handy und betätigt den Sende-Button.
Emma klappt ihren mitgebrachten Laptop auf, um die Eingaben auf ihrer Internetseite zu ergänzen. Sie müssen nicht lange überlegen, welche Informationen sie zu dem Fall der Feuerteufel, aber auch zu den Trittbrettfahrern eintragen. Britta war während der Sommerferien als Assistentin von Lukes Vater tätig, um den Berufsalltag eines Journalisten kennenzulernen. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit durfte sie an den Ermittlungsergebnissen der Polizei teilhaben und konnte wesentlich zur Einkreisung der Brandstifter beitragen. Obwohl sie beide Ereignisse zuerst einem Täterpaar zuordnete, und sogar der Kripo gegenüber entsprechend argumentierte, wollen die Freunde sie nun als einzelne Aufgaben angeben.
Durch einen unwahrscheinlichen Zufall war in beiden Fällen die Kennzeichenbeleuchtung zweier Motorräder fehlerhaft gewesen. Das führte nicht nur bei dem Mädchen zu der Überzeugung, dass es sich bei deren Fahrern um ein und dieselben Täter handeln musste. Sogar die Kommissarin Inge Husmann ging zuerst nicht von verschiedenen Straftätern aus.
Die Freunde stellen die Ereignisse als zwei getrennte, jedoch aufeinander aufbauende Kriminalfälle dar. Sie geben an, dass sie mit Hilfe der Kripo gelöst wurden, die die besseren Recherchemöglichkeiten besitzt. Einen wesentlichen Anteil zur Klärung leisteten aber auch Brittas Beobachtungen, deren logische Schlussfolgerungen und ihr mutiges Nachspüren.
In der Liste werden die Fälle als nur zum Teil von ihnen entschlüsselte Aufgaben kenntlich gemacht. Die angegebene Zusammenarbeit mit der Kriminalpolizei ist in ihren Augen eine zusätzliche Empfehlung für ihre Fähigkeiten. Sie hoffen, dass das endlich zu mehr neuen Anfragen führt.
Nach einer stillen Übereinkunft erwähnen die SPQR-Detektive auf ihren Seiten nichts von einem weiteren Ergebnis von Brittas Spürsinn, den entlarvten Friedhofsschändern. Das Mädchen hatte vorgeschlagen, Wildtierkameras an Bäumen auf dem Friedhof anzubringen. Gemeinsam mit Rufus Quint platzierte es die Geräte parallel zum Hauptweg. Dadurch konnten die jugendlichen Täter ermittelt werden. Die Freunde stimmten der Kripo und Lukes Vater zu, dass das Ableisten von Sozialstunden und die Kostenübernahme für die Wiederherrichtung der Gräber genug Bestrafung für die Übeltäter sei. Sie zusätzlich an den Pranger zu stellen, was durch Nennung ihrer Namen in der Zeitung oder auf der Seite der Detektive unweigerlich der Fall wäre, musste unbedingt entfallen.
Die ersten Schultage vergehen für Britta, Emma und Luke schnell. Die Klassenzusammensetzung hat sich nicht geändert. Alle Schüler sind versetzt worden und kein Sitzenbleiber ist neu hinzugekommen. Die Jugendlichen haben sogar ihren alten Klassenraum behalten, so dass die Plätze der bisherigen Sitzordnung gleichgeblieben sind.
Nach positivem Abschluss der nun begonnenen, zehnten Klasse, werden die Jungen und Mädchen die Mittlere Reife erlangen.
Einige von ihnen spielen mit dem Gedanken, danach das Gymnasium zu verlassen. Für deren Klassenkameraden fällt der Abschied von den möglichen Aussteigern vermutlich schwer, doch zu diesem Thema ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Manche der Eltern bestehen darauf, dass ihre Kinder das Abitur machen, koste es, was es wolle. Die Vorlieben und Fähigkeiten der Jungen oder Mädchen werden in diesen Fällen einfach beiseite gewischt. Den Erziehungsberechtigten kommt es dabei mehr auf ihr eigenes Ansehen in der Gesellschaft an, anstatt dass sie fördern, was gut für ihre Sprösslinge ist.
Um im Unterricht nicht abgelenkt zu werden, fordern die Lehrer von den Schülern, dass diese ihre Smartphones ausschalten. Nach deren Meinung wäre es noch besser, die Handys ganz zuhause zu lassen. Ersteres wird akzeptiert, das Zweite aber nicht. Sobald eine Schulstunde vorbei ist, werden die Geräte eingeschaltet und die Augen aller sind mit geneigtem Kopf auf die Displays gerichtet. Das geschieht sogar, wenn ein Wechsel in den Physik- oder Chemie-Raum innerhalb der mehr als knappen fünf Minuten stattfinden muss. Das führt immer wieder zu Rempeleien, die jedoch nicht zu großartigen Auseinandersetzungen führen. Andernfalls bestünde die Gefahr, so meinen die Schüler, dass sie die Geräte innerhalb des Schulgebäudes gar nicht mehr benutzen dürfen, egal ob Unterricht oder Pause. Und das wollen sie nicht riskieren!
Mit Ende des Schulunterrichts werfen die Freunde einen gespannten Blick auf ihre Handys, so wie in den vorangegangenen Pausen auch. Sollte endlich eine Antwort auf ihre Mail erfolgt sein? Sie warten seit Tagen vergeblich auf eine Reaktion von »???«. Könnte die Anfrage an sie womöglich doch irgendeine Art Phishing-Versuch gewesen sein, wie Luke es befürchtet hatte? Trotzdem hegen sie ein Fünkchen Hoffnung, eine neue Herausforderung an ihren Spürsinn zu bekommen. Das scheint nicht der Fall zu sein, da keine Antwort-Mail eingetroffen ist! Entsprechend enttäuscht verabschieden sie sich voneinander.
Emma tauscht sich nicht mehr so intensiv wie vor den Sommerferien wegen ihrer Reise nach Ägypten mit den dortigen Kollegen ihrer Mutter aus. Die Archäologen informieren sie sporadisch über die Grabungen im Tal der Könige, die sie ursprünglich hatte begleiten sollen. Doch die sind lediglich informativ gedacht, ohne dass ihre detektivischen Fähigkeiten gefordert sind. Deshalb weiß sie, dass Nuri Muback und Nafi Selam ihr im Sommer eine Freude machen wollten, als sie sagten, ihre Spürnase sei bei der Klärung von Rätseln bei den Ausgrabungen notwendig. Die Jugendliche tauscht sich hin und wieder noch mit Mella Muback aus, die ihr in den wenigen Wochen dort zur Freundin geworden ist. Auf diese Weise erfährt das Mädchen, dass sich das Verhalten Anwar Wenns nicht ändert. Er scheint nach wie vor ein Liebling des weiblichen Geschlechts zu sein und das auch zu genießen. Emma ist froh, dass sie das rechtzeitig mit Mellas Hilfe herausbekommen hat.
Luke wiederum fährt täglich zu der Buche, in deren Geäst sich der Horst seines Vogelfreundes Remus befindet. Er macht den Abstecher dorthin, wenn er mit dem Mofa auf dem Heimweg von der Schule ist. Anders, als noch vor den Ferien, verbringt er hier jedoch nicht seine komplette Freizeit. Die bisher überschwängliche Begrüßung durch den Kolkraben scheint immer mehr abzukühlen. Die Verhaltensweise des Vogels hat sich mittlerweile dahingehend geändert, dass er seine Partnerin und Kinder nur kurzzeitig verlässt, um eine schnelle Schleife um Luke zu fliegen. Er nimmt inzwischen nicht einmal den hingehaltenen Leckerbissen an, sondern kehrt krächzend zu seiner Familie zurück.
Der Junge ist jedes Mal enttäuschter über das sich ändernde Gebaren. Bedeutet es doch, dass das Band zwischen ihnen beständig dünner wird. Da er weiß, dass er sich in ein paar Jahren nicht mehr wie früher um den Vogel kümmern kann, sobald er ein Studium beginnt, versucht er, das nüchtern zu bewerten.
»Es ist gut, dass Remus eine Partnerin gefunden und mit ihr Nachwuchs bekommen hat. Auch wenn mich das schmerzt, entspricht das doch seinem natürlichen Bedürfnis. – Und, was besonders wichtig ist, er hat eine Aufgabe, die ihn fordert.«
Der Junge hat beobachtet, wie der Vogel den Kindern geschickt Flugmanöver beibringt. Das macht ihm offensichtlich viel Spaß. Aber auch die Anforderungen an deren Intelligenz kommen nicht zu kurz. Er spielt Verstecken mit ihnen, wobei er sie in die Irre zu führen versucht. Manches Mal imitiert er sogar Menschen und wiederholt die früher gelernten Worte. Wenn sein Nachwuchs nicht darauf hereinfällt, krächzt er voller Freude. Als Belohnung leitet er sie anschließend zu einem besonderen Leckerbissen. Es ist nicht zu übersehen, dass es ihm gut geht!
Trotz dieser Gedanken verlässt Luke schweren Herzens den Platz unter dem Baum. Er zieht sich zuhause angekommen in sein Zimmer zurück und vertieft sich in die Bücher, die er leihweise von Hiram Paltow bekommen hat. Bei dem Vogelparkbesitzer hatte er im Sommer ein Praktikum gemacht. Seitdem steht für ihn fest, dass er sozusagen in dessen Fußstapfen treten und Vogelkunde studieren möchte.
Britta hat sich schnell von ihrer eintägigen Gefangenschaft erholt. Dazu haben sowohl ein Grillfest bei den Quints als auch die Ergebnisse der Kripo beigetragen. Die Bedrohung durch die psychisch und sozial gestörte Frederika ist dadurch aufgehoben worden, dass diese sofort in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen wurde. Angstträume hat das Mädchen nicht bekommen, zumal ihm bewusst ist, dass es lediglich ein Zufallsopfer gewesen ist. Manches Mal durchlebt es die Wirkung der k.o.-Tropfen im Traum, doch die Abstände werden bereits größer. Die Erinnerung an die Ereignisse verblasst schnell.
Nur ein Fischbrötchen hat Britta seit der Entführung noch nicht wieder gegessen, obwohl das zu ihrer Lieblingsspeise zählte. Sie erinnert sich, nichts von dem darauf getropften Mittel geschmeckt zu haben. Trotzdem ist sie unsicher, ob der säuerliche Geschmack des eingelegten Herings sie nicht gedanklich zurück in ihr Gefängnis katapultiert.
»Das ist doch Quatsch!«, sagt sie sich, sobald sie darüber nachgrübelt. Dennoch ist sie unsicher, ob sie in den kommenden Tagen nicht endlich einen Versuch starten soll.
Von Donnerstag bis einschließlich Sonntag wird in der Hansestadt an die 155-jährige Zugehörigkeit Wismars zu Schweden mit einem großen Volksfest erinnert. In Zeitung und Fernsehen wird vorab berichtet, wie es zu diesem Ereignis kam, obwohl das für die Einheimischen nicht notwendig wäre. Zielgruppe dieser Information sind vielmehr Touristen und Leser, die dadurch möglicherweise zu einem Besuch in der schönen Stadt animiert werden.
Im Dreißigjährigen Krieg war die Stadt am 7. Januar 1632 von den Schweden eingenommen worden. Im Friedensvertrag zu Münster und Osnabrück von 1648 wurden die »Stadt und Herrschaft Wismar« endgültig dem Besitz der schwedischen Krone und dem Reich Schweden zugesprochen.
Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich das Kräfteverhältnis in Europa gewandelt, so dass Verhandlungen über die Rückkehr Wismars zum Herzogtum Mecklenburg begannen.
Am 26. Juni 1803 unterzeichneten Bevollmächtigte beider Länder den Pfandvertrag zu Malmö. Mit ihm wurden nicht nur die Stadt und Herrschaft Wismar, sondern ebenso die Ämter Poel und Neukloster an den Herzog von Mecklenburg abgetreten.
Das Recht der Wiedereinlösung durch Schweden wurde nicht wahrgenommen. Im Vertrag von Stockholm wurde stattdessen am 20. Juni 1903 die endgültige Rückkehr Wismars an Mecklenburg besiegelt.
Die Heimkehr feiert Wismar in diesem Jahr mit vielen Aktionen! Einheimische und Gäste werden in die Schwedenzeit der Stadt entführt. Um einen Eindruck des Lebens in dieser Zeit zu vermitteln, wird es auf dem Marktplatz in historische Szenen nachgestellt.
Ein spezielles Kinder-Schwedenfest, ein Schwedenlauf mit verschiedenen Streckenlängen und eine Festmeile, die sich vom Platz vor dem Rathaus bis hin zum Alten Hafen zieht, sind einige der Hauptattraktionen. Außerdem gehören diverse Programme auf vier Bühnen zu den Höhepunkten. Ein besonderes Spektakel gibt es am Freitagabend mit einem Feuerwerk.
Die jungen Detektive genießen die Zeit ebenso wie andere in ihrem Alter. Sie nehmen an vielen der angebotenen Veranstaltungen teil oder schauen begeistert zu.
Von den drei möglichen Laufwettbewerben entscheiden sie sich für die Strecke der mittleren Länge. Der anspruchsvolle Rundkurs führt über 5,3 km durch die gesamte Wismarer Altstadt. Die Freunde belegen unterschiedliche Plätze. Luke schafft es unter die ersten Zwanzig und ist bester Schüler seines Jahrgangs. Britta und Emma landen im guten Mittelfeld, wobei sie demonstrativ untergehakt gemeinsam ins Ziel einlaufen.
Zum Abschluss der Festwoche wandern sie zum Alten Hafen. Hier will Britta ein Versprechen einlösen. Sie hatte mit den Freunden vereinbart, noch in dieser Woche einen Versuch zu starten, einen Bismarckhering zu essen. Die Schlange vor den Imbissbooten ist nicht besonders lang, so dass sich alle drei schnell ein mit Salat, Hering und Zwiebeln belegtes Brötchen kaufen. Sie verlassen das Gedränge vor den Verkaufsschiffen und suchen sich einen weniger bevölkerten Platz. Dabei achten sie darauf, dass die in eine Serviette gehüllten Leckerbissen nicht von einer der geschickten Möwen geklaut werden können.
Luke und Emma beißen jedoch nicht sofort in ihre Fischbrötchen. Sie beobachten die Freundin und muntern sie auf.
»Jetzt probiere schon!«
»Du wirst sehen, es schmeckt dir bestimmt!«
Mit heftig klopfendem Herzen hält Britta das in die weiße Papierserviette gewickelte Brötchen prüfend vor ihre Nase. Es duftet verführerisch, eigentlich so wie immer. Warum sollte sie durch den Bissen einen Flashback provozieren? Schlimm kann das kaum sein, falls es dennoch eintritt. Es ist ja nicht real, sondern lediglich eine Erinnerung, sagt sie sich! Außerdem sind die Freunde bei ihr. Und die haben sie schließlich aus der damaligen Gefangenschaft befreit!
Der Essigduft des auf das Brötchen gelegten Herings und die Zwiebelscheiben lassen ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie öffnet ihn und spürt kurz darauf die Kälte des Heringsfilets an ihren Lippen und auf der Zunge. Sie beißt mit Absicht nicht sofort in die Backware, sondern nur vorsichtig in den daraus herausragenden Fisch. Sollte das nicht zu dem befürchteten Ereignis führen, will sie anschließend mit Genuss einen großen Bissen nehmen. Bei einem möglichen Flashback kann sie das kleine Fischstückchen hoffentlich heimlich in der Serviette verstecken, ohne dass das von umherstehenden Menschen bemerkt und falsch interpretiert werden könnte. Sie möchte den Fischern nicht ihr Geschäft verderben.
Doch dazu kommt es nicht. Ein entspanntes Lächeln überzieht ihr Gesicht und sie beißt schnell einen großen Happen ab. Sie kaut genießerisch und gibt zufriedene Laute von sich.
Luke und Emma verscheuchen zwei besonders zudringliche Möwen, die ihre Brötchen attackieren.
»Das war ohne Nebenwirkungen«, kommentiert das Mädchen.
»Dann wirst du deinen Hunger also wie bisher oft mit einem dieser leckeren Fischbrötchen stillen«, stellt der Junge fest.
Britta schaut die Freunde lächelnd an.
»Es wäre mir auch schwergefallen, hätte ich darauf verzichten müssen. Wir wohnen hier an der Küste und dann sollte sich mir der Magen umdrehen, sobald ich Fisch esse? Das geht ja gar nicht.«
Ohne ein weiteres Wort genießen die Drei ihre Bismarck-Brötchen. Das enttäuschte Kreischen der umherfliegenden Möwen hallt noch lange in ihren Ohren nach.
Es ist Nachmittag. Die Freunde verlassen um sechzehn Uhr die Schule. Die zehnte Stunde, da wäre Sportunterricht angesagt, fällt heute aus. Nach den vielen Tagen mit unerträglicher Hitze empfinden die Jugendlichen die dichten Wolken am Himmel als Wohltat. Das hindert die Sonne, ihnen wie in den vergangenen Tagen einzuheizen.
»Ich werde, wie üblich, auf dem Nachhauseweg einen Abstecher zu Remus machen«, verabschiedet sich Luke. »Ich tendiere zwar mittlerweile dahin, dass zukünftig einzuschränken. Diese Woche werde ich ihn jedoch noch besuchen.«
Der Junge hofft, den Vogel möglicherweise dadurch in sein altes Revier zu locken. Vielleicht verspürt er ja Sehnsucht nach den Freunden, wenn die nicht mehr bei ihm auftauchen. An manchen Tagen hatte Britta ihn begleitet, aber das war vor den Sommerferien. Emma fand wegen der Vorbereitungen für ihren Aufenthalt in Ägypten dazu keine Zeit. Da sich Luke zudem in den Ferien einige Wochen im Vogelpark von Hiram Paltow aufgehalten hatte, war der Besuch der Freunde bei Remus bereits stark eingeschränkt gewesen. Sollte der Kolkrabe in dem Zeitraum in seinem alten Revier um das Gutshaus herum nach den ehemaligen Spielkameraden gesucht haben? Cloe Quint hatte davon nichts bemerkt, sonst hätte sie das ihrem Sohn berichtet. Aus diesem Grund fühlt sich dieser unsicher, ob er den Vogelfreund durch den erneuten Wegfall der täglichen Besuche womöglich noch mehr von den Jugendlichen entfremdet. Deshalb zögert er, das zu versuchen.
»Damit beginne ich nicht bereits heute«, denkt Luke deshalb voller Zweifel und räuspert sich. »Apropos: Habt ihr schon überlegt, was ihr später studieren möchtet. Haben eure Beschäftigungen in den Sommerferien dabei geholfen, einen Beruf auszuschließen oder den Wunsch danach zu bestätigen? – Darüber haben wir uns noch nicht unterhalten.«
Er macht das bereits gestartete Mofa aus und schaut die Freundinnen abwartend an.
»Du wählst Vogelkunde, stimmts?«, erwidert Britta. Sie lächelt ebenso wie Emma. Haben sie die richtigen Schlüsse aus Lukes Engagement der vergangenen Wochen im Vogelpark von Hiram Paltow gezogen? Seine wenigen, aber aussagekräftigen Berichte lassen nach ihrer Meinung keine andere Schlussfolgerung zu. Und wirklich, der Junge nickt zur Bestätigung und grinst leicht.
»Das war ja nicht schwer zu erraten. – Was ist aber mit euch?« Sein Blick wandert zwischen beiden Mädchen hin und her.
»Ich bin mir nicht schlüssig«, beginnt Emma. »Archäologie ist schon interessant und ähnelt dabei sehr der Arbeit eines Detektivs. Aber ob ich das mit Ägyptologie verbinden möchte? Nicht, dass ich etwas gegen die Errungenschaften dieser alten Kultur hätte! Ich fand die römische Geschichte bisher mindestens genauso wichtig. Obwohl der Beginn des Römischen Reiches sozusagen den Untergang des anderen einläutete, das bereits tausende Jahre bestanden hatte. – Trotzdem bin ich unschlüssig, was mich mehr fasziniert!«
»Dann steht Altertumskunde als Zielrichtung fest, wie es aussieht. Lediglich die Vertiefungsrichtung scheint offen, stimmts?«
»Aus heutiger Sicht, ja.«
Zwei Augenpaare richten sich nun auf Britta.
»Ich bin mir noch unsicher«, startet diese daraufhin zögernd. »Journalismus habe ich in den letzten Wochen ein wenig kennen und lieben gelernt. Ich neige trotzdem stärker zur Kriminologie. Inge Husmann hat mir angeboten, in einem neu stattfindenden Praktikum bei ihr mitzumachen. – Ich weiß gar nicht, ob im Laufe der zehnten Klasse ein erneutes außerschulisches Kennenlernen verschiedener Berufe geplant ist. – Falls das möglich ist, werde ich das bei der Kommissarin machen. Sonst bietet sich dazu vielleicht in den Herbstferien die Gelegenheit? Obwohl das vermutlich einen zu kleinen Zeitrahmen bietet. – Das werde ich baldmöglichst klären!«
Luke startet das Mofa und setzt seinen Helm auf.
»Dann scheine nur ich ein konkretes Ziel vor Augen zu haben. Aber das wird sich bei euch auch noch finden, zumal die groben Richtungen ja feststehen. Also, bis morgen.«
Mit knatterndem Motor braust er davon und hinterlässt eine leicht bläuliche Wolke, die nach verbranntem Zweitaktgemisch riecht.
Brittas Mutter hat heute Spätschicht im Altenpflegeheim. Deshalb hat es das Mädchen übernommen, das vorbereitete Abendessen zur vereinbarten Zeit fertigzustellen. Wie mit Volker abgesprochen, soll dieser um achtzehn Uhr zuhause eintreffen. Seit dessen Freund Kevin nach Lübeck gezogen ist, hat sich das Verhältnis zwischen den Geschwistern wieder gebessert. Vor den Sommerferien war der Bruder übelst gelaunt gewesen. Er wollte den Wegzug seines Kumpels nicht akzeptieren und ließ seinen Unmut an der Umgebung, besonders aber an seiner Schwester, aus. Hinzu kam, dass er Anfragen per Telefon oder Messenger ignorierte, so dass sich Britta an vielen Tagen ernsthafte Sorgen um ihn machte.
Die Jugendliche schaut auf die Zeitanzeige ihres Handys. Es ist noch jede Menge Zeit, bis sie den Herd einschalten muss. Sie überlegt, ob sie vorher nach möglichen Informationen über »???« forschen soll. Ein Ansatz wäre vermutlich die Internetseite »Rätsel.de«, mit der die Mail-Adresse verbunden ist. Möglicherweise gibt es dazu Warnhinweise, dass darüber Phishing-Versuche gestartet werden. Sie will das Smartphone bereits wieder einstecken, um ihren Laptop zu starten, als es vibriert und auf dem Display Lukes Bild erscheint. Der Freund hat eine Sprachnachricht geschickt, wie sie sofort darauf feststellt. Das ist für ihn eher ungewöhnlich!
Britta aktiviert alarmiert die Wiedergabe. Die ist nicht zu verstehen. Sie erhöht die Lautstärke. Aber auch das bleibt erfolglos. Warum versteht sie nur Wortfetzen? Sollte ihr Freund aufgeregt sein, worauf schon die Sprachnachricht hinweist? Andernfalls hätte er doch geschrieben, worum es geht! Das Mädchen startet die Nachricht erneut. Es schließt die Augen, um sich besser auf das zu Hörende zu konzentrieren.
»Ihr … her. Ich weiß … Remus!«
Dann endet die aufgenommene Sequenz. Sollte Lukes Handy ein Problem mit dem Mikrophon haben? Sofort fliegen Brittas Finger eilig über das Display.
»Was ist los? Ich kann dich kaum verstehen!«
Sie schickt die Nachricht ab und bemerkt dabei, dass der Freund den SPQR-Gruppen-Chat genutzt hat. Und wirklich, jetzt fragt auch Emma, was los ist.
»Hey Luke, können wir helfen?«
Eine Ewigkeit scheint zu vergehen, bis zu sehen ist, dass der Junge einen Text eintippt. Wenig später erscheint die Nachricht auf den Displays.
»Kommt zu Remus‘ Baum. Schnell!«
»Was ist geschehen? Benötigst du Hilfe?«
Brittas Nachricht ist wie immer die erste. Ihre Finger fliegen nur so über das Display. Doch Emma ist dieses Mal kaum langsamer.
»Kannst du dich genauer ausdrücken?«
Lukes Antwort besteht lediglich aus einem Emoji. Ein Gesicht mit nach unten gezogenen Mundwinkeln erscheint, bevor dann noch ein weinendes Emoticon folgt.
Weitere Nachfragen der Mädchen bleiben unbeantwortet. Sollte der Junge sein Handy ausgeschaltet haben?
»Ich bin in ein paar Minuten bei dir«, schreibt Britta an Emma.