Der dritte Versuch Magische Wesen - Norbert Wibben - E-Book

Der dritte Versuch Magische Wesen E-Book

Norbert Wibben

0,0

Beschreibung

Vor einhundert Jahren erschafft ein dunkler Magier einen mächtigen Ring. Böse Zauberer streben nach der Herrschaft. Eine erste blutige Auseinandersetzung misslingt. Bei ihrem zweiten Bemühen sind sie fast am Ziel, aber der Ring geht verloren! Sollte er nun gelingen, der dritte Versuch? Noch nie zuvor waren die dunklen Zauberer so gut vorbereitet. Der unerfahrene Finn und sein Freund Ryan, zwei junge Elfen, sowie Cian, ein alter, vergesslicher Elf, treten ihnen entgegen. Finn gerät in Gefahr, als ihn die schrullige Juna, auf der Suche nach magischen Wesen, in ihre Gewalt bringt. Erneut geraten Menschen, Elfen und gute Zauberer mit bösen Magiern aneinander. Gelingt es, das Dunkle aufzuhalten?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 363

Veröffentlichungsjahr: 2018

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der dritte Versuch

Magische Wesen

Fantasy-Roman

Norbert Wibben

Der dritte Versuch

Magische Wesen

Der dritte Versuch, Band 1

Für Fritz und Manuela

Ihr seid und ward uns verlässliche Freunde!

In Erinnerung an viele schöne Vorleseabende mit meinen Kindern verpacke ich auch diese Geschichte in den bekannten Dreizeiler:

Ein Huhn und ein Hahn – …

Blutmond

Im Westen

Ein Alptraum

Kings Crown

Cian und Kayleigh

Der Drache

Alarm in Munegard

Ein Urteil

Erneut in der Gefängniszelle

Ein ungeplanter Halt

Die Späher

Ein Rettungsauftrag

Unerwartete Hilfe

Auf dem Weg zur Elfensiedlung

Der Fall der Königsburg

Rückzug und Suche

Vorbereitungen

Dunkle Pläne

Im Hochmoor

Verwandlung

Auf nach Munegard

Beobachtungen

Rettung

In der Scheune

Munegard

Ein Überfall

Die drei Heere

Die Suche

Die Elfensiedlung

Ritt in den Norden

Überlegungen

Suche nach magischen Wesen

Das Ende der Südelfen

Drachengeist

Erkenntnisse

Verwüstungen

Seltsame Ereignisse

Das dritte Heer

Ungeahnter Erfolg

Berichte

Vor einhundert Jahren

Zaubersprüche

Danksagung

Blutmond

Ein Huhn und ein Hahn – die Geschichte fängt an

Finn rutscht von einem Ast ab, den er gerade mit viel Mühe erklommen hat, und stürzt seitlich zu Boden. Er hat sich von der etwas erhöhten Position einen Überblick erhofft, um seinen weiteren Weg besser erkennen zu können und schimpft nun laut über sein Missgeschick. Sein Herz pocht ihm bis zum Hals. Ein großer Schatten verdunkelt im Moment, als er fällt, kurz den ohnehin düsteren Himmel über ihm. Ein Schauer läuft über seinen Rücken. Ihm wird bewusst, dass er gerade unverschämtes Glück gehabt hat. Der Schatten ist absolut tödlich. Finn konnte ihn nicht kommen hören, da dieser Angreifer für seine Opfer stets lautlos und meistens mit tödlicher Präzision daherkommt. Der Schreck lässt ihn im ersten Moment auf dem Boden in eine Schockstarre fallen. Der Instinkt des Gejagten sorgt für dieses Verhalten, um sein Überleben zu ermöglichen. Eine Bewegung würde den scharfen Augen des Gegners sofort seine Position verraten. Ob er dann erneut so viel Glück hätte, bezweifelt er. Ihm ist bei dem Sturz auf den weichen Waldboden nichts geschehen.

Ganz langsam dreht er seinen Kopf. Wo mag der Feind stecken. Finn weiß, er wird nicht auf dem Boden hocken. Nein. Er lauert jetzt etwas erhöht auf einem der großen Felsbrocken oder auf einem Baum und sucht nach ihm. Eine schnelle Bewegung wird ihm dabei nicht entgehen, so gut wie er in der Dunkelheit zu sehen vermag. Da! Ist jetzt ein näherkommendes Rauschen zu hören? Finn weiß, dass er seinen Feind nicht hören wird, sein Angriff wird leise und für ihn überraschend erfolgen, so wie vorhin. Obwohl sich der Schatten soeben in eine andere Richtung bewegt, horcht er nun gespannt dorthin, wo er gerade etwas zu hören meint. Sollte dort eine weitere Gefahr auf ihn lauern, dann ist es sicher besser, zu flüchten. Alles in ihm rät zur Flucht. Nur schnell weg von hier. Doch halt, das Geräusch wurde von Blättern verursacht, erkennt er jetzt. Der Wind hat wohl trockenes Laub vor sich hergetrieben, auch wenn er im Wald nicht so ungehindert wehen kann. Plötzlich kommen zwei leuchtende Augen auf Finn zu, die innerhalb eines hellen, herzförmigen Gesichtes sitzen. Adrenalin schießt in seine Blutbahn, setzt ihn in höchste Alarmbereitschaft. Er macht einen verzweifelten Sprung seitwärts und rast los. Obwohl das Verhalten nicht zu seiner augenblicklichen Gestalt passt, schlägt er jetzt wieder unerwartet einen Haken. Diese Bewegung rettet ihm das Leben. Spitze, tödliche Krallen verfehlen ihn nur knapp. Warum hat er sich nur für diese Gestalt entschieden? Eine Haselmaus ist wirklich nicht besonders geeignet, um große Gefahren zu überstehen. Außerdem ist er so nicht nur den Tagjägern, sondern auch denen der Nacht, fast schutzlos ausgeliefert. Finn schüttelt den kleinen Kopf. Er darf sich jetzt nicht unnötigen Überlegungen hingeben. Seine schwarzen, kleinen Knopfaugen suchen nach einem Versteck, während er vorwärts hastet.

»Gibt es hier denn kein Loch oder eine kleine Höhle?« Er duckt sich, wühlt sich unter einen umgestürzten Baum und versucht, auf der anderen Seite hervorzukommen. Doch der Schlupfweg ist enger als erwartet. Mit mehreren heftigen und verzweifelten Rucken zwängt er sich durch und rast vorwärts. Plötzlich streckt die kleine Maus die Beine nach vorne und bremst ab. Erneut verfehlen die Krallen sie. Die Eule hätte sie gleich gehabt, wäre sie weitergelaufen. Der Nachtvogel stößt einen schrillen Schrei der Enttäuschung aus. Finns Herz rast. Es scheint aus der kleinen Brust springen zu wollen. »Bin ich denn total verblödet?« Er dreht schnell um und ist mit wenigen Sprüngen bei dem liegenden Baum, unter dessen Stamm er sich in den lockeren Humus wühlt. Er vernimmt einen erneuten Schrei der Eule, die jetzt vermutlich in der Nähe auf einem Ast hockt und darauf wartet, dass er sich erneut blicken lässt.

Nur langsam beruhigt sich Finns Herzschlag. Sein kleiner Körper zittert nach der überstandenen Jagd. Er spürt die Todesangst, die ihn umklammert hält. Soll er versuchen, weiterzukommen. Nein. Der Nachtjäger wird nicht so schnell aufgeben. Also muss er sich noch gedulden. Falls der Raubvogel keine andere Beute finden sollte, kann das möglicherweise sogar bis zum Morgen dauern. Aber dann will und muss er zu seinem Ausbilder zurückkehren.

Seine Gedanken kehren zum Beginn seiner Flucht zurück. Er erinnert sich daran, wie gestern ein rötlicher Mond in seine Kerkerzelle hereinleuchtete. Finn kennt die Bezeichnung für dieses seltene Schauspiel. Wegen der rötlichen Färbung wird der Himmelskörper von den Menschen »Blutmond« genannt. In dessen Schein gelang es dem jungen Elfen endlich, seine silbernen Handschellen aufzubrechen. Er spürt auch noch als Maus die Druckstellen, die sie an seinen Handgelenken hinterlassen haben. Wie ihm das Kunststück gelungen ist, weiß Finn nicht wirklich. Ein Hilfsmittel, das er als Werkzeug einsetzen konnte, hatte er in den Wochen seiner Gefangenschaft nicht entdecken können. Er wurde nur unregelmäßig von einer vermummten und schweigsamen Person mit Nahrung versorgt, die aber auf keine Frage von ihm reagierte. Das Essen schmeckte seltsam, hielt ihn aber bei Kräften. Es gab immer nur eine Art Suppe, die in zerbrechlichen Tonschalen gebracht wurde. Erst, wenn er die geleerte Schale nach etwa einer Stunde unversehrt zurückgab, bekam er am kommenden Tag eine neue. So war es ihm unmöglich, diese als Hilfsmittel zur Befreiung zu nutzen.

Also versuchte er irgendwann, die Kettenglieder, die von den Handschellen zur Kerkerwand führten, zwischen Handgelenk und Handschellen hindurchzuzwängen. Mit Hilfe der eisernen Kettenglieder gelang es wider Erwarten relativ einfach, das weichere Silber zu quetschen, bis es schließlich zerbrach. Als er das geschafft hatte, atmete der Elf auf, da er jetzt seine Zauberkräfte nutzen konnte. Zuerst massierte er seine Handgelenke und trat zur Kerkertür, um zu horchen. Da tagein, tagaus ein dumpfes Dröhnen zu hören war, glaubte er nicht, dass das leise Klirren seiner Ketten gehört worden war. Aufatmend stellte er die Richtigkeit seiner Vermutung fest. Zwischen den dunklen, wiederkehrenden Tönen waren keine Geräusche von näherkommenden Schritten zu hören.

Jetzt musste er sich entscheiden, welche seiner magischen Fähigkeiten er nutzen sollte. Obwohl Finn für einen Elf noch sehr jung ist, mit 28 Jahren zählt er bei den Mittelelfen zu den Jugendlichen, wollte er nicht übereilt vorgehen. Er überdachte also seine Situation.

Er befand sich auf der Heimreise von einem Besuch in der Heimat, bei den Elfen der Mitte, zu seinem Ausbilder im Osten. Bei dem Ritt auf einem Weg durch einen Laubwald bekam er völlig unerwartet einen Schlag gegen den Kopf. Den Hinterhalt und die daran Beteiligten hatte er weder gesehen noch gehört. Als der junge Elf mit einem fürchterlichen Brummen im Kopf erwachte, war er gefesselt und lag mit verbundenen Augen bäuchlings über einem Pferderücken. Finn wurde von mehreren Reitern begleitet, was er aus den Geräuschen folgerte, die er vernahm. Die Reiter unterhielten sich nur wenig. Wenn sie es taten, erfolgte es stets im Flüsterton, so dass er weder etwas verstehen noch erkennen konnte, wer sie waren oder woher sie kamen. Während des zwei Tage dauernden Ritts bekam er keine Nahrung. Am dritten Tag wurde er unsanft vom Rücken des Tieres gezogen und auf den Boden geworfen. Ihm war längere Zeit schwindelig, was eine Folge der ungewohnten Reitposition oder auch die Nachwirkung des Schlags auf den Kopf sein konnte. Jedenfalls bekam er nicht mit, was in der kurzen Unterhaltung geredet worden war. Schließlich wurden seine Fußfesseln gelöst. Die Augenbinde und seine Handfesseln aus Silber blieben jedoch wo sie waren. Er bekam endlich etwas zu trinken. Gierig nahm er einen großen Schluck, der ihm brennend die Kehle hinunterlief. Prustend und hustend übergab er sich, was ein mehrstimmiges Gelächter zur Folge hatte.

Finn wollte fragen, warum man ihn gefangen genommen hatte, noch dazu auf diese gemeine Art und Weise. Er wusste von keiner Auseinandersetzung mit einem anderen Volk. Außer einem heiseren Krächzen bekam er aber keinen Ton heraus. Er hustete erneut und wurde grob hochgerissen. Im nächsten Moment hörte er ein Murmeln und die Geräusche der Umgebung änderten sich schlagartig. Finn meinte, dass er sich nun in einem Gebäude befinden müsste. Also war er gerade mittels Zauberkraft, durch einen magischen Sprung, wohin auch immer gereist.

»Stufe!«, wurde ihm kurz von einer rauen Stimme zugerufen, dann bekam er auch schon einen Stoß in den Rücken. Er machte unwillkürlich einen Schritt vorwärts und stolperte, da er die Stufe wegen der Augenbinde nicht sehen konnte. Die Schmerzen in seinen Knien, mit denen er unsanft gegen eine Steinkante gestoßen war, trieben ihm unwillkürlich die Tränen in die Augen. Seine Bemühungen, trotz der gefesselten Hände aufzustehen, wurden von einem lauten Lachen begleitet. Als er es schließlich geschafft hatte, bekam er erneut einen Stoß in den Rücken. Gleichzeitig forderte die Stimme: »Nach oben, aber ohne weitere Zwischenfälle.«

Finn überlegte kurz, ob er die Stimme schon einmal gehört haben könnte, fand aber keine Zuordnung. Als er ein unwirsches Knurren vernahm, suchte er nach einem Handlauf, konnte aber keinen finden. Also tastete der Elf vorsichtig mit den Füßen und kam langsam, Stufe für Stufe, nach oben. Warum er nicht mittels magischem Sprung direkt nach oben gebracht worden war, blieb ihm unerklärlich. Vielleicht wollte sich sein Bewacher einfach nur einen Spaß erlauben.

Finn weiß, Menschen und Elfen sehen sich sehr ähnlich. Sie unterscheiden sich lediglich in ihrer möglichen Lebenserwartung und darin, dass sich Elfen sehr viel schneller bewegen können. Einem Reiter ist meist jedoch nicht anzusehen, ob er zu den Elfen gehört. Seit vielen Jahrzehnten gab es nicht mehr nur unter den Elfen, sondern auch unter den Menschen Zauberer. Obwohl seine Gegner nicht sicher wissen konnten, ob er magische Fähigkeiten besitzt, hatten sie ihn vorsorglich mit silbernen Handschellen gefesselt. Das stellte er fest, als ihm in seiner Kerkerzelle, die sich in einem Turm befand, die Augenbinde entfernt wurde. Im ersten Moment musste er heftig blinzeln, bevor er überhaupt etwas erkennen konnte. Ein kleines Fenster ließ grelles Sonnenlicht in seine Augen stechen. Sein Wächter war in einen dunklen Umhang mit Kapuze gehüllt und befestigte Finns Handschellen an starken Eisenketten, die in einer Mauer verankert waren. Ohne ein weiteres Wort verließ ihn der Mann, knallte die Kerkertür zu, steckte einen Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Warum diese doppelte Vorsichtsmaßnahme angewendet wurde, konnte sich der junge Elf nicht erklären.

Finn wusste nicht, warum er hier gefangen gehalten wurde. Einen persönlichen Grund schloss er aus. Selbst nach Tagen hatte er noch keine Ahnung, wer ihm das antat oder warum und auch nicht, wo er sich befand. Er wurde nicht verhört und konnte sich darum auch keine mögliche Erklärung ableiten. Manchmal vermutete er, dass er deshalb nicht befragt wurde, weil er den Entführern bekannt sei, doch den Gedanken verwarf er stets. Der Mann, der ihn hergebracht hatte, tauchte nicht wieder auf. Aus welcher Region des Landes dieser kam, konnte er nicht sagen, dazu hatte er zu wenig Worte von ihm gehört.

Finn musste gut überlegen, wie er am besten aus dem Kerker entkommen könnte. Da sich seine Kerkermeister offenbar mit Zauberei auskannten oder zumindest wussten, dass sie durch den Einsatz von Silber unterbunden werden kann, wollte er keine Auseinandersetzung mit ihnen riskieren. Er fühlte sich zwar nicht besonders geschwächt, befand sich aber noch in der Magierausbildung. Finn kannte weder alle Zaubersprüche, noch wusste er, wie er sich gegen mögliche Flüche schützen müsste. Falls einer von seinen unbekannten Gegnern Magie beherrschen sollte, könnte er nach seinem Ausbruch schneller wieder gefangen sein, als ihm lieb wäre. Außerdem kannte der junge Elf die Anzahl seiner Gegner nicht. Am Ende seiner Überlegungen kam er zu dem Schluss, sich defensiv zu verhalten. Finn wollte also möglichst ungesehen zu entkommen versuchen, ohne eine Auseinandersetzung zu riskieren.

Beim spärlichen Tageslicht, das durch das kleine, eng vergitterte Fenster in seine Zelle schien, hatte er an manchen Tagen kleine Mäuse unter der alten Eichentür zu ihm hereinhuschen sehen. Sie waren auf der Suche nach Nahrung und verharrten kurz, als sie ihn wahrnahmen. Da Finn immer freundlich zu allen Tieren ist, verhielt er sich völlig ruhig und schaute ihnen zu, bis sie ihm schließlich vertrauten und das Stroh seines Lagers nach vergessenen Körnern durchsuchten. An diese kleinen Nager musste er unwillkürlich denken, während seine Gedanken nach einer Gestalt suchten, in die er sich verwandeln wollte. Ja, sie sind klein genug, um nicht beachtet zu werden, also genau richtig! Finn murmelte »Muto speciem« und änderte sofort sein Aussehen. Weil er dabei an die Mäuse gedacht hatte, stand sofort darauf eine kleine Maus mit bräunlichem Fell auf seinem Platz. Dass er sich nicht in eine graue Hausmaus, sondern in eine etwas kleinere, im Wald lebende Haselmaus verwandelt hatte, mag daran gelegen haben, dass seine Zauberfähigkeiten nicht voll ausgebildet und geübt sind. Vielleicht lag es aber auch an seiner Vorliebe für die Farbe Rot, weshalb er unbewusst das Grau ablehnte. Jedenfalls zögerte Finn in seiner neuen, rotbräunlichen Gestalt nicht länger, er schlüpfte unter der Tür hindurch und begann seinen gefahrvollen Weg in die Freiheit.

Es dauerte auch nicht lange, und er fragte sich nicht zum letzten Mal, warum er diese Gestalt gewählt hatte. Sein kleines Schnäuzchen schnupperte, in welche Richtung er laufen sollte. Da Haselmäuse nachtaktiv sind, konnte Finn in dem spärlichen Licht des Ganges gut sehen. Seine kleinen Beine trippelten schnell über den kalten Steinboden. Unbewusst verhielt er sich dabei wie eine richtige Maus. Er huschte von einem Versteck zum nächsten, wobei seine blanken Knopfaugen möglichst überallhin zu sehen versuchten, um einer auf ihn lauernden Gefahr ausweichen zu können. Im letzten Moment sah er sie dann auch. Eine riesige Katze blickte aus starren Augen in seine Richtung. Hatte sie ihn schon gesehen? Eigentlich wirkte sie völlig desinteressiert. Ihre Schwanzspitze zuckte spielerisch hin und her. Als sich dann zusätzlich ihre scheinbar schwer gewordenen Augenlider schlossen, spurtete Finn nach einem ersten Zögern los. Ein kleines Loch, eher schon eine Ritze, schien ihm sehr verlockend für einen nächsten Stopp zu sein. Dass er dabei über eine Strecke von etwa fünf Metern ohne Deckung sein würde, betrachtete er als Kleinigkeit. Er hatte dabei jedoch nicht die Verschlagenheit einer Katze bedacht. Sobald seine kleinen Füße über den Boden hasteten, schnellten die Augenlider der Katze hoch. Ein kurzer Blick in Finns Richtung genügte, dann flog das Raubtier aus der Lauerstellung hoch und raste auf sein Ziel zu. Der verwandelte Elf konnte schnell erkennen, dass er verloren sein würde, wenn ihm jetzt keiner der Zauber helfen würde, die er kannte. Der rote Mondschein schimmerte in den Gang herein. Sollte der Blutmond jetzt eine blutige Szene beleuchten? Finn wich geschickt zur Seite, als die Katze sich nach einem Sprung in der Luft befand. Sofort darauf musste er einem Tatzenhieb ausweichen. Welchen Spruch konnte er nutzen?

»Hoffentlich funktioniert dieser«, wünschte der Elf voller Verzweiflung. »Anghofio!«

Mit pochendem Herzen schaute er in das Gesicht eines völlig verwunderten Jägers. Es drückte genau das aus, was Finn zu erreichen gehofft hatte. Die Katze wusste nicht mehr, wer oder was sie ist und warum sie vor diesem kleinen Wesen hockte. Wollte sie damit spielen? Ihre Schwanzspitze zuckte bereits wieder hin und her. Der Elf vermutete, dass der Zauber nur kurze Zeit wirken würde, also drehte er sich um und hastete weiter. Und richtig. Er hatte sich gerade in die Mauerritze gezwängt, als er ein empörtes Maunzen hinter sich vernahm. Er war glücklich entkommen und staunte nun, dass die Ritze in ein richtiges Gangsystem führte. Drinnen war es zwar dämmerig, trotzdem konnte der Elf erkennen, dass er sich sofort entscheiden musste. Sollte er sich nach links oder nach rechts wenden. Auf sein Glück vertrauend, das ihm gerade bei der Flucht vor der Katze geholfen hatte, entschied er sich für rechts. Er folgte dem unregelmäßigen Gang und traf bald auf andere Mäuse. Neugierig beschnupperten sie sich. Finn musste ihnen jedoch nicht ganz geheuer sein, da sie sich umdrehten und piepsend wegrannten. Er versuchte, ihnen zu folgen, wollte sie fragen, wie er das Gebäude am schnellsten verlassen könnte. Da sie sich hier bestens auskannten, verlor er sie aber schon bald aus den Augen. Vorwärtslaufen schien ihm besser, als umzukehren, also behielt er die eingeschlagene Richtung bei. Auch wenn er es zuerst nicht bemerkte, führte der Gang stetig abwärts. Hin und wieder zweigten Seitengänge ab, doch er folgte ihnen nicht. Irgendwann musste dieser Fluchtweg doch enden! Während seiner Suche nach einem Ausgang fragte er sich, warum er sich nicht in einen Vogel verwandelt hatte. In der Gestalt hätte er es zwar schwer gehabt, durch das enge Gitter des Fensters nach draußen zu entkommen, dafür wäre er aber nicht dem Angriff einer Katze ausgesetzt gewesen.

Nun ja, das stimmt auch nur, solange er sich in der Luft befindet, weiß Finn, dessen Gedanken sich wieder auf die Gegenwart konzentrieren. Ob die Eule immer noch auf ihn lauert? Vorsichtig schiebt er sich unter dem Baumstamm hervor. Hm. Die Dämmerung kündigt sich bereits an. Trotzdem entschließt er sich, noch etwas zu warten. Sobald er sich aus seinem Versteck hervorgearbeitet hat, will er versuchen, sich zurück zu wandeln. Er grübelt. Bisher hatte er noch nie eine Gestaltwandlung durchgeführt, also weiß er auch nicht sicher, ob ihm die Rückwandlung gelingen wird. Er erinnert sich, dass ihm seine Ausbilder davon abgeraten haben, neue Zaubersprüche in Abwesenheit eines Lehrers zu probieren. Er sieht seinen Ausbilder Cian, wie er mit erhobenem Zeigefinger, aber einem jungenhaften Grinsen im Gesicht, belehrend zu ihm spricht:

»Sollte bei einer Übung etwas schiefgehen, bin ich in der Lage, notfalls einzugreifen. Unfälle, etwa das Herbeizaubern von großen Rabenflügeln oder andere Missgeschicke, können so vermieden oder rückgängig gemacht werden.« Unwillkürlich muss der junge Elf bei dieser Erinnerung grinsen. Er mag Cian, der sogar für einen Elf sehr alt, aber innerlich jung geblieben ist. Natürlich war in seinem Gefängnis kein Zaubermeister anwesend gewesen, trotzdem funktionierte die Verwandlung.

Finns Gedanken schweifen erneut ab. Auf seiner Suche im Gangsystem der Mäuse kam er schließlich zu einem Ausgang. Dieser befand sich in einer Außenmauer aus Sandstein. Mittlerweile war es Tag geworden und Finn konnte sehen, wo er sich befand. Er blickte zwar aus einer ungewohnten Perspektive, erkannte aber trotzdem den Innenhof eines offenbar größeren Anwesens. Hier herrschte reges Treiben. Rauchschwaden wehten über den Platz und das Dröhnen war hier erschreckend laut. Finn meinte sogar, bei jedem Ton ein Zittern des Erdbodens zu spüren. Was bedeutete das nur? Er hockte verwirrt am Ausgang der Mauerritze, unschlüssig, wohin er sich wenden sollte. Menschen begrüßten sich, während sie geschäftig hierhin oder dorthin eilten. Einige trugen Waren oder schoben Karren vor sich her, die mit Nahrungsmitteln gefüllt waren. Finns Schnäuzchen schnupperte begehrlich, wobei die feinen Barthaare vor Erregung zitterten. Seine schwarzen Knopfaugen erfassten schon bald ein Brötchen, das unbemerkt zu Boden gefallen war. Noch bevor er sich dessen bewusst wurde, huschte er dorthin und schnüffelte behaglich an dem frischen Gebäck.

»Endlich etwas zu essen!«, dachte er mit knurrendem Magen.

»Igitt, eine Maus«, quiekte in diesem Augenblick eine schrille Frauenstimme. Im nächsten Moment sauste ein Besen mit langen Borsten und sofort danach ein schwerer Stock auf das Steinpflaster, ihn jeweils um Haaresbreite verfehlend. Erschrocken machte die kleine Haselmaus einen Satz zur Seite. Sie zögerte nur kurz. Sollte sie dem Hungergefühl nachgeben, vielleicht einmal kräftig zubeißen oder sich in Sicherheit bringen? Die Entscheidung wurde ihr leicht gemacht, als sie jetzt das Fauchen einer offensichtlich getretenen Katze hörte.

»Du blödes Katzenvieh. Döst hier friedlich in der Sonne, während die Mäuse unsere Vorräte wegfressen. Tue etwas dagegen oder du landest vor der Tür.« Die scheltende Stimme gehörte zu einer Frau, die dem Tier einen energischen Tritt verpasst hatte. Finn wartete nicht, wie sich die Szene weiter entwickeln würde. Er suchte nach einem Fluchtweg und fand ihn. Er raste vorwärts und behielt ein schweres Eichentor fest im Blick. Es wurde schnell größer, während er darauf zuhielt. Gerade in dem Moment, als er darunter durchhuschte, miaute die aufgescheuchte Katze und versuchte, ihn noch mit einer Tatze unter dem Tor zu erwischen. Doch er hatte wiederum Glück.

»Warum habe ich mir nur eine Maus als neue Gestalt ausgesucht?«, waren erneut seine Gedanken, während er einem Weg folgte, der das große Anwesen hinter sich ließ. Als sich Finn einmal umdrehte, sah er eine gewaltige Burganlage hinter sich. Auch wenn er diese jetzt aus der Entfernung und aus der Perspektive einer Maus nicht wirklich erkennen konnte, gewahrte er ihre riesigen Ausmaße als dunklen Schatten. Wem sie gehörte und wo er sich befand, konnte er jedoch immer noch nicht sagen. Die Anlage war ihm völlig fremd und wurde schon bald von Büschen und Bäumen verborgen.

Da eine Haselmaus normalerweise tagsüber nicht aktiv ist, dauerte es auch nicht lange, bis Finn den unwiderstehlichen Drang verspürte, sich schlafen zu legen. Aber wo konnte er das gefahrlos tun. Sich vorher in seine natürliche Gestalt zu verwandeln, kam ihm vor lauter Müdigkeit nicht in den Sinn. Er schleppte sich vorwärts, bis er endlich ein kleines Gebüsch erreichte. Er huschte von der Straße, überquerte einen trockenen Graben und zwängte sich durch dichtes Gestrüpp. Er hangelte sich an dünnen Halmen nach oben und blickte direkt in einen größeren Wald, in dem sogar riesige Felsbrocken verstreut umherlagen. Plötzlich rutschte die kleine Maus ab. Der Elf hatte sich erstaunt eine Pfote vor die Schnauze gehalten und dadurch seinen sicheren Halt verloren. Er stürzte und landete in weichem Gras. Völlig entkräftet schloss er die Augen und fiel in tiefen Schlaf.

Als Finn endlich erwachte, war es völlig dunkel um ihn. Er hörte Geräusche der Nacht, die ihm seltsam fremd erschienen. Er hatte zuerst vergessen, welche Gestalt er in der vorigen Nacht angenommen hatte. Seine Nase schnupperte. Es roch eindeutig nach frischer Nahrung. Er wusste schon nicht mehr, wann er zuletzt etwas gegessen hatte. War das gestern oder davor? Ehe er sich anders besinnen konnte, folgte er seinen Sinnesorganen. Schon bald knabberte er an einer Beere, deren Saft erfrischend und süß schmeckte. Als sich Finn gestärkt hatte, kehrte die Erinnerung zurück. Doch wo er in diesen Wald eingedrungen war, wusste er schon nicht mehr. Dass es kein Gebüsch war, hatte er bereits festgestellt, als er sich einen ersten Überblick verschaffen wollte und abgestürzt war. Bei seiner Futtersuche, als er nur seiner Nase folgte, hatte er nicht auf den Weg geachtet. Schon bald meinte er, bereits seit Stunden zwischen großen Bäumen hindurchgelaufen oder großen Steinbrocken ausgewichen zu sein. Der junge Elf musste sich dringend orientieren. Ideal wäre sicher einer dieser glatten Granitbrocken. Obwohl das für eine echte Haselmaus sicher ein Leichtes gewesen wäre, rutschte er immer wieder ab. Finn folgte seinem Elfenverstand und schaffte es gerade deshalb nicht, obschon er es ein paarmal versuchte. Als er einen abgebrochenen Ast entdeckte, der weit emporragte und dadurch ebenfalls einen guten Überblick versprach, zögerte er nicht. Diesmal war es für ihn auch als ungeübte Haselmaus nicht besonders schwierig, hinaufzugelangen. Als er sich oben angekommen etwas aufrichten wollte, stürzte er dann doch ab.

Finns Gedanken kehren in die Gegenwart zurück. Die Sonne hat sich etwa handbreit über den Horizont erhoben, was er hier im Wald jedoch nur erahnen kann. Er merkt es daran, dass sein Körper bereits wieder Ruhe verlangt. Aber er gibt diesmal nicht nach. Wenn er der Schleiereule entkommen möchte, ist dazu jetzt die beste Gelegenheit. Seine Beine scharren und schieben den kleinen Körper unter dem Baumstamm hervor. Vorsichtig schnuppert er. Seine schwarzen Knopfaugen blicken unsicher umher. Sollte der lautlose Jäger der Nacht ihn doch noch fassen? Er hofft inbrünstig, dass es ihm gelingt, den Gestaltwandel zurückzunehmen, und murmelt schnell »Muto speciem«, während er sich fest seine eigene Gestalt vorstellt.

Im Westen

Gerade als Finn den Spruch beendet, wird es um ihn dunkel. Hat ihn jetzt doch noch die Schleiereule erwischt? Komisch ist aber, dass er keinerlei Schmerzen verspürt. Doch das könnte daran liegen, dass Eulen, anders als Katzen, ihre Beute schnell töten, dann würde er natürlich keine Empfindungen mehr haben.

»Aber warum kann ich dann noch denken?« Der junge Elf ist völlig verwirrt. Plötzlich scheint der Boden unter ihm zu schwanken. Dann hat er das Gefühl, als ob er sich nach oben bewegen würde. Da das keinesfalls aus eigener Kraft geschieht, wird ihn der Nachtjäger wohl gerade mit in die Luft nehmen. Vielleicht wird er zu einem Nest in einer Baumhöhle oder Scheune gebracht, um an junge Eulen verfüttert zu werden. Aber halt, jetzt scheint es von oben hell zu werden.

»Ja, wen haben wir denn da?«, ertönt eine seltsame, knarzige Stimme. Finn richtet seine Ohren dorthin und sein immer noch vorhandenes, kleines Schnäuzchen prüft zitternd die Luft. Sofort verharrt die Haselmaus in ihrer Bewegung.

»Wie kann das sein?« Der Elf ist verwirrt. »Ich habe doch den Gestaltwandlungszauber vollständig ausgesprochen. Sollte ich dabei etwas falsch gemacht haben? Hm. Es könnte natürlich sein, dass ich den Spruch als Haselmaus nicht richtig artikulieren konnte. Aber warum spricht mich die Eule so an, als wäre sie über meinen Anblick erstaunt?« Finn schüttelt den Kopf und blickt dorthin, woher das Licht kommt. Sollte er für einen kurzen Moment vor Schreck seine Sehkraft eingebüßt haben, als er von den tödlichen Krallen der Schleiereule ergriffen wurde, und jetzt kehrt sie zurück? Doch nun wird es erneut dunkel.

»Da habe ich endlich Erfolg gehabt! Wie stand es doch in dem alten Buch? »Am ersten bis fünften Morgen nach einem Blutmond kannst du mit Glück jedes magische Wesen sehen. Es hinterlässt eine Leuchtspur, die in der Dämmerung sichtbar ist. Am Mittag des fünften Tages wird die Spur vergehen.« Jetzt hat es bereits am zweiten Morgen geklappt, da kann ich heute Nacht ausschlafen. – Hm. Seltsam ist aber, dass es magische Haselmäuse gibt. Ich muss in meinen Büchern nachschauen. Vielleicht kann mir Cloe einen Tipp geben? Aber jetzt sollte ich hier schleunigst verschwinden, bevor einer der Zauberer des Mondes mich hier entdecken kann. Portaro!«

Während Finn noch versucht, sich aus dem Gehörten einen Sinn zusammenzureimen, hört er schon wieder die fremde Stimme, die er mittlerweile einer Frau zuordnet.

»Mein Schatz, ich bin zurück. Kannst du mal schnell kommen? Ich bin im Wohnzimmer.« Der junge Elf wundert sich, wo er jetzt wohl sein mag. Zumindest nicht im Nest einer Eule, die ihn gleich verfüttern will.

»Das ist schon einmal gut. Aber warum hat mich diese Frau gefangen und was will sie mit mir? Ist sie auf der Suche nach magischen Wesen, die sie für alchemistische Zwecke nutzen will?«

»Hallo Mom«, vernimmt er jetzt eine junge, angenehme Mädchenstimme. »Was gibt es denn so Wichtiges?«

»Jetzt schau dir das mal an.« Finn spürt, wie er hin und her geschaukelt wird, bevor es über ihm wieder hell wird. Er überlegt, welchen Zauber er anwenden soll und richtet sein Schnäuzchen nach oben. Eine seiner Pfoten ist bereits dorthin gerichtet, als er erstaunt innehält.

»Oh, wie niedlich. Eine kleine Haselmaus. Warum hast du die denn …? Ähem, warum hast du sie im Wald gefangen und hergebracht? Wir sollten sie wieder zurückbringen. Vermutlich ist sie starr vor Angst. Schau nur, wie ihre Knopfaugen nach oben blicken!«

»Ach, Quatsch. Das ist doch keine einfache Maus. Ich habe sie mitgenommen, weil sie magische Kräfte besitzt. Hörst du, sie beherrscht Magie.«

Der junge Elf weiß nicht, woher die Frau das wissen kann, doch er zögert noch, sie anzuwenden, weil ihm das Gesicht gefällt, das er erkennen kann.

Helle, große, blaue Augen mit kleinen, grauen Einsprenkelungen blicken ihn an. Auf und um die gerade Nase des Mädchens sind vereinzelt schwache Sommersprossen sichtbar. Ihr Alter zu schätzen fällt Finn schwer. Wenn sie eine Elfe ist, könnte sie etwa so alt wie er selbst sein. Als Menschenkind wäre sie vermutlich so um die 16 Jahre. Als sie jetzt den Kopf etwas zurückzieht und zur Seite blickt, kann er ihr mittelblondes, nicht ganz schulterlanges, glattes Haar sehen, das in der Mitte gescheitelt ist. Ihre Stirn ist sichtbar, da sie die vorderen Haare eines längeren Ponys hinter die Ohren gestrichen hat, von denen sich einzelne Strähnen lösen und ihr ins Gesicht fallen.

»Hör mir bitte erst zu, bevor wir entscheiden, was zu tun ist. Du weißt, dass ich es mir zur Aufgabe gemacht habe unseren Brüdern und Schwestern, also allen Elfen und ihren verbündeten Menschen, im Kampf gegen die bösen Zauberer des Mondes zu helfen. Bisher habe ich noch keinen Weg gefunden, was ich in meinem Alter noch beitragen könnte. Ich weiß, dass es überall in unserem Land magische Wesen gibt. Das sind nicht nur Menschen und wir Elfen, auch Kolkraben können zaubern. Bei einer Versammlung der Zauberer, zu der ich ausnahmsweise einmal gegangen bin, waren einige dieser großen, schwarzen Vögel anwesend. Es gibt aber noch andere magische Wesen, Faune, Kobolde, einen Feuervogel und … Nein, unterbrich mich nicht. Ich fantasiere keineswegs. Ich suche schon viele Jahre nach Verbündeten, die uns im Kampf gegen die Dubharan wirkungsvoll helfen können. Ich besitze einige Bücher aus der ehemaligen Bibliothek der Elfen im Süden, die darauf hindeuten, dass es unzählige derartige Kreaturen gibt. Den Hinweis, wo und wie man sie finden kann, hatte ich jedoch nicht. Am liebsten hätte ich einen der auch erwähnten kleinen Drachen erwischt. Das wäre natürlich kein richtiger Drache, sondern ein Drachengeist, sozusagen die Spur von einem Wesen, das einmal wirklich hier lebte. Diese Gedankenwesen sollen sehr mächtig, aber auch schwierig zu fangen sein. Ob sie überhaupt eine Leuchtspur hinterlassen, noch dazu in der Luft?« Juna unterbricht sich kurz und blickt grübelnd ihre Tochter an, aber ohne eine Antwort zu erwarten. »Mit viel Geduld kann so ein Drachengeist an einen Zauberer gewöhnt werden, man muss nur zuerst sein Vertrauen gewinnen, vermute ich. Dann ist er ein mächtiger Verbündeter! Die von mir in unserem Haus angelegte Büchersammlung ist zwar längst nicht so umfangreich, wie es die ehemalige Bibliothek in Deasgard gewesen ist, aber es befindet sich ein sehr altes und unscheinbares Buch darunter. Ich bekam es von einem Ausbilder vor vielen Jahren geschenkt, als ich die Lehrjahre bei ihm beendete. Das war kurz, nachdem meine Eltern zu Tode gekommen waren, weshalb ich es wohl einfach zu den anderen Büchern stellte. Viele Jahre hat es unbeachtet dort gestanden, bis es mir durch Zufall in die Hände fiel. Es war hinter die anderen gerutscht und nahm mich sofort gefangen, als mein Blick darauf ruhte. Darin habe ich über verschiedene Kreaturen gelesen und auch, wie man sie entdecken kann. Ich glaube fast, mein Ausbilder hat es mir nur aus dem Grund geschenkt, damit ich die magischen Kreaturen finden kann. Ich weiß noch, wie er mich dabei bedeutungsvoll anblickte. – Du kennst es, sein Titel lautet »Magische Wesen und ihre Macht«. Ich bin den Anweisungen, wie man sie entdecken kann, gestern und heute gefolgt.«

»Du willst mir jetzt aber nicht erzählen …«, beginnt das Mädchen, als es von seiner Mutter unterbrochen wird.

»Cloe, einen Moment noch. Bei meiner Suche folgte ich der Anleitung aus dem Buch und konnte es zuerst selbst nicht glauben, als ich diese silberne Spur auf dem Weg nach Munegard sah. Diese Festungsanlage wurde vor über zweihundert Jahren von den Zauberern des Mondes, den Dubharan, erbaut. Ich hoffte, in ihrer Umgebung magische Wesen zu entdecken, die möglicherweise für ihre dunklen Zwecke missbraucht werden. Diese wollte ich dann für uns nutzen, musste aber erst einmal eines finden. Zuerst vermutete ich, die Spur könne von einem der Magier hinterlassen worden sein und wollte bereits an einer anderen Stelle weitersuchen. Dann fiel mir auf, dass sie kaum mehr als ein dünner Silberfaden war, so ähnlich wie ein einzelnes Feenhaar. Dies konnte nicht von einem der Dubharan stammen, falls die überhaupt eine Spur hinterlassen sollten. Jemand, der Magie beherrscht, ist nicht unbedingt ein magisches Wesen, oder? Das sagte ich mir jedenfalls und folgte der Spur, die von der Festungsanlage weglief. Sie führte mich bald in den Wald, der dort rechts und links des Weges, dunkel und drohend wächst. Mein Eindringen in den Wald scheuchte schon bald kleinere Tiere auf, die vor mir davonstürmten. Einige Vögel und sogar eine große Schleiereule waren darunter. Dort, wo die Eule fortflog, erblickte ich nur einen kurzen Teil der Spur. Sie führte von einem umgestürzten Baum ein Stück weg und dann wieder dorthin zurück. Sollte die Eule das magische Wesen, was immer es auch war, gefangen und gefressen haben? Gerade in dem Moment krabbelte diese Haselmaus unter dem Stamm hervor, blickte sich suchend um und richtete sich auf. Sie musste das magische Wesen sein, das die Spur hinterlassen hatte. Also öffnete ich diesen Spezialbeutel, der mit silbernen Fäden durchwirkt ist und stülpte ihn über das kleine Tier. Nun sag mir bitte, was du über die magischen Fähigkeiten einer Haselmaus weißt.«

Jetzt herrscht Stille. Die Frau wartet auf eine Antwort und das Mädchen sucht nach einer.

»Bist du sicher, dass diese Maus Magie beherrscht?«

»Ich habe die Spur deutlich gesehen. Sie kam eindeutig von ihr.«

»Ich kann dir leider nicht sagen, welche besonderen Kräfte Haselmäuse haben könnten. Ich schlage vor, du bringst sie sofort zurück und lässt sie dort frei, wo du sie gefangen hast.«

Finn versucht währenddessen aus dem Beutel, der immer noch geöffnet ist, herauszukommen. Jetzt erscheinen seine kleine Schnauze und dann der Kopf mit den blitzenden Knopfaugen. Seine Barthaare zittern vor Aufregung. Sollte er in wenigen Augenblicken frei sein? Doch er fällt in den Behälter zurück.

»Mutter! Schau dir nur an, was du dem kleinen Kerl zumutest!« Dem Elf in Mausgestalt ist zwar nichts passiert, doch er muss sich erst ausruhen, bevor er einen neuen Versuch starten will. Erstaunt blickt er nach oben, als es um ihn herum dunkler wird. Er sieht, wie eine Hand auf ihn zukommt. Sie wird größer und größer, kommt bedrohlich nahe. Gleich hat sie ihn erreicht. Wie kann er sich wehren? Soll er mit seinen spitzen Zähnen zubeißen? Das wird für die Frau oder das Mädchen eine gute Lehre sein, sich nicht derart … Jetzt stutzt Finn und vergisst zuzubeißen. Die Finger streichen ihm zuerst sanft über den Rücken und die Stimme Cloes fordert:

»Scht, scht. Habe keine Angst. Ich werde dir nichts tun.« Der Elf erstarrt, als sich die Finger, zwar vorsichtig, aber unaufhaltsam unter seinen kleinen Körper schieben. Hätte er doch besser zugeschnappt? Jetzt wird er langsam und behutsam aus dem Beutel gehoben. Das Mädchen schaut ihn besorgt an und streichelt sein Fell.

»Ich tue dir nichts. Und vor Juna, meiner Mom, musst du auch keine Angst haben. Sie ist eigentlich eine ganz Liebe!«

»Bist du denn von allen guten … Nein. Natürlich muss die kleine Maus keine Sorgen haben. Ich wollte … nun, ja. Das war vermutlich keine so gute Idee. Ich bringe dich sofort wieder zurück in deinen Wald«, wendet sie sich nun direkt an das kleine Tier. »Vielleicht wartet dort bereits eine Familie auf dich.«

Finn will sich verständlich machen, doch sein Gefiepe wird nicht verstanden. Also versucht er, einen gedanklichen Kontakt herzustellen. Er muss mehrere Anläufe unternehmen, während das Mädchen ihn immer noch vorsichtig auf einer Hand hält und mit einem Finger der anderen streichelt. Da er etwas ungeübt in der Anwendung von Magie ist und das Streicheln ihn immer wieder ablenkt, braucht er mehrere Versuche. Er weiß nicht, ob eine Verbindung zu dem Mädchen funktionieren könnte, das vielleicht nicht einmal über magische Fähigkeiten verfügt, darum denkt er angestrengt:

»Juna, bitte erschrick nicht. Ich bin keine Haselmaus, sondern ein Elf!« Es erfolgt keine Reaktion.

»Juna. Ich bin keine Maus.« Wieder nichts.

»JUNA!«

»Was ist? Wer ruft mich?« Da die Elfe das laut fragt, schaut Cloe sie erstaunt an.

»Ich habe NICHT gerufen. Stimmt etwas nicht?«

Ein Alptraum

Etwas früher am gleichen Morgen. Cian wälzt sich unruhig im Bett. Seine Lippen bewegen sich, murmeln unhörbare Beschwörungen. Schwere Schweißtropfen perlen auf seiner Stirn. Lange, silbergraue Haare kleben ihm am Kopf. Mit einem nach Luft ringendem Atemzug richtet er sich ruckartig auf. Die Bettdecke verrutscht und lässt einen Blick auf die magere Gestalt in einem weißen, knielangen Nachthemd zu. Der alte Elf hockt zitternd auf dem Bett. Die Beine werden angewinkelt und die Bettdecke wieder hochgezogen, bis sie auch die Schultern bedeckt. Die hellblauen Augen irren noch einige Zeit im Raum umher. Der Traum war zu realistisch. Der Mann mit dem zerfurchten Gesicht fixiert den Eingang zum Zimmer. War dort soeben eine Bewegung? Kommt jetzt gleich sein Feind herein, um ihn nun, nach so langer Zeit, zu töten? Er ist für eine letzte Auseinandersetzung bereit. Wenn Cian das genau bedenkt, scheint ihm das eher unwahrscheinlich. Sein rasender Puls beruhigt sich. Er versucht, bewusst langsam zu atmen. Er ballt die Hände zu Fäusten, um die Panik, die ihn im Traum übermannte, zurück in die Erinnerung zu pressen. Jetzt sieht er sich erneut um, diesmal aber ruhig und forschend. Nein. Er ist allein. Der alte Elf bekommt in seinem Heim, im Osten des Landes, fast nie Besuch. Woher sollen Feinde daher wissen, wo sie ihn finden können? Sogar sein erbittertster Gegner Connor, der Oberste der Dubharan, ist nicht in der Lage, den Tarnzauber zu durchbrechen, wenn er denn hier nach ihm suchen würde.

Cian sitzt grübelnd auf dem Bett. Etwas an der Sequenz beunruhigt ihn. Es will ihm aber nicht einfallen was. Der Traum, der ihn in den vergangenen zwanzig Jahren immer mal wieder heimsuchte, seit … Nein, daran will er jetzt nicht denken. Diese Bilder tauchten in den letzten Wochen öfter auf. Er hat getestet, ob es mit dem Essen zusammenhängt. Er hat abends nichts mehr gegessen, so dass er Magendrücken ausschließt. Erfreut meinte er schon, die Ursache gefunden zu haben, bis er drei Nächte später die von ihm so gefürchtete Sequenz … Erneut driften seine Gedanken ab. Aber der Traum soeben war anders. Aber was war es nur?

Cian zuckt mit den Schultern. Es wird sicher nicht so wichtig sein oder ihm unvermittelt wieder einfallen. Er hat in der letzten Zeit immer öfter Alpträume, auf einen mehr wird es nicht ankommen. Er streckt seine Beine, dreht sich zur Seite und lässt sie über den Rand des Bettes hängen.

»Brr, ist das heute ungemütlich«, brummt er fröstelnd. »Incendere!« Die Holzscheite im Kamin, die er gestern vorsorglich aufgeschichtet hat, flammen auf. »Ich werde scheinbar langsam senil«, stellt er mit einem Grinsen fest. »Ich hätte abends besser ein dickeres Scheit auf die letzte Glut gelegt, dann wäre es jetzt nicht so ausgekühlt. Das ist eben der Nachteil, wenn man in einem alten Turm wohnt, selbst wenn es der berühmte »Giants Crown« ist, der einmal die letzte Zuflucht in der Königsburg des Ostens darstellte.«

Cian schüttelt den Kopf, als er kurz daran denkt, was hier vor zwei Jahrzehnten geschehen ist. Bei dem letzten Versuch der Dubharan, die Macht im Land an sich zu reißen, hatten sie es zuerst auf diesen Ort abgesehen. Sobald diese Festung in ihrer Hand sein würde, so hatten sie angenommen, würden nicht nur die verschiedenen Stämme der Menschen, sondern auch alle Elfenvölker sie als Herrscher anerkennen. Entsprechend heftig tobte der Kampf. Viele tapfere Menschen und Elfen aus allen Landesteilen ließen damals ihr Leben, genauso wie unzählige der verblendeten Anhänger der Dubharan.

Jetzt ist der Turm halb zerfallen und ragt als stilles Mahnmal aus den vielen Trümmerhaufen der einst stattlichen Burg. So sieht es zumindest aus, denn Giants Crown ist mehr als nur ein Mahnmal. Der Turm ist seit vielen Jahren der geheime Rückzugsort von Cian, der ihn in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzte. Danach sprach er einen mächtigen Tarnzauber, der den Turm für alle als Ruine erscheinen lässt, die derart zerfallen erscheint, dass sie keinesfalls bewohnbar sein kann.

Das war eine Kleinigkeit für ihn, der einer der drei Oberen aller Zauberer, der Elfen und Menschen, war. Doch er hat diesen Rang und die damit verbundene Verantwortung vor zwanzig Jahren abgegeben. Das war kurz nach dem zweiten Versuch der Dubharan, die Macht an sich zu reißen. Erneut gab es viele Verluste auf beiden Seiten in der letzten, blutigen Schlacht. Der alte Elf betrachtet die Innenseite seiner linken Hand, wo noch der Umriss einer Sonne zu erkennen ist, der aber kleiner als das ursprüngliche Symbol ist. Kaum jemand der jüngeren Elfen weiß, dass er einst einer der mächtigsten Magier gewesen ist, der an der Spitze der Elfenheere gegen die dunklen Zauberer in den Kampf zog.

Damals, vor vielen Jahren, war er als Ausbilder der magischen Fähigkeiten junger Elfen aktiv. Er wurde von diesen Jugendlichen geliebt und verehrt, da er ihnen gegenüber immer gerecht war und sie als gleichberechtigt ansah. Manch anderer Elf, Mann oder Frau, ließ sie ihre Jugend spüren. Die Erwachsenen verzogen keine Miene, wenn die jungen Elfen darüber sprachen, dass den Dubharan endlich klargemacht werden müsse, dass es für alle Seiten besser wäre, friedlich miteinander umzugehen. Dazu könne und müsse man manchmal einen Krieg beginnen, wenn dieses Ziel anders nicht zu erreichen ist. So sprachen die Jugendlichen. Die Erwachsenen wussten, dass dieser Ansatz nicht richtig ist, diskutierten aber nicht mit ihnen darüber. Cian verhielt sich anders. Sobald er von diesen Gedanken erfuhr, setzte er sich mit den Wortführern und allen, die dazu bereit waren, zusammen. Er führte ihnen vor Augen, welches Leid bereits in der Vergangenheit durch Auseinandersetzungen mit Waffengewalt entstanden war. Leider führten diese Gespräche auch dazu, dass ihm seine Schüler stets vertrauten. Er war ihr unumstrittenes Idol.

Bei dem zweiten Versuch der Dubharan, die Macht zu übernehmen, folgten diese Schüler Cian in die blutige Auseinandersetzung. Zu ihrem jugendlichen Ungestüm kam ihr blindes Vertrauen in ihren Herrn und Meister. In den vielen Unterrichtsstunden hatten sie sich immer auf sein Eingreifen verlassen können, sobald bei einem Zauberspruch etwas falsch lief. Das ist in einem Kampf natürlich von keinem Anführer, und sei er noch so ein mächtiger Zauberer, zu gewährleisten.

Cian sieht in manchen seiner Alpträume, wie viele seiner Schüler, für die er gerne sein Leben gegeben hätte, starben. Obwohl er damals bereits länger gelebt hatte, als viele andere Elfen, war es ihm nicht möglich, sein Leben gegen eines von ihnen zu tauschen. Seit diesen Ereignissen nahm er keinen Schüler mehr an. Er wollte sich nicht erneut emotional an ein junges Talent binden und es andererseits auch nicht in Situationen wissen, in der es möglicherweise auf sein Eingreifen vertrauend untergehen könnte.

Vor zwei Jahren kam es dann anders, als er es sich hatte vorstellen können. Er akzeptierte nach fast zwanzig Jahren einen jungen Elf als Schüler, seinen letzten, wie er sich fest vorgenommen hat: Finn!

Dieser Junge hatte ihn, wie er heute weiß, bei dem jährlichen Treffen aller Zauberer gezielt angesprochen. Bereits nach kurzer Zeit diskutierte er mit ihm über den Sinn des Lebens, fragte, ob es gerecht wäre, wenn junge Lebewesen, egal ob Mensch, Elf oder Tier, sterben müssten, wenn andererseits ältere ihrer Artgenossen leben dürften. Sofort sah Cian die Gesichter seiner Schüler vor sich, die ihn mit brechenden Augen scheinbar anklagten. Er wusste in diesem Moment nicht, wie er reagieren sollte. Wollte ihn der junge Elf anklagen, ihn mit etwas konfrontieren, wofür er ihn schuldig hielt? Er ballte seine Fäuste und Tränen traten in seine Augen. Er fühlte sich so unendlich schuldig, das musste ihm nicht extra gesagt werden. Doch Finn hatte anderes vor, er wollte diese Frage ohne Hintergedanken diskutieren.

»Ich weiß, dass sie auf ein langes Leben zurückblicken können«, führte er das Gespräch fort. »Gibt es einen bisher von mir nicht entdeckten Sinn darin, wenn Kinder vor ihren Eltern sterben, egal aus welchem Grund?« Überrascht schaute der alte den jungen Elf an, sah, dass seine Augen genau wie seine eigenen in Tränen schwammen. Cian erstarrte und grübelte. Alle Antworten, die ihm dazu einfielen, erschienen ihm platt und nichtssagend. Er straffte seine Schultern und schüttelte den Kopf.