Böhnke und das Endspiel - Kurt Lehmkuhl - E-Book

Böhnke und das Endspiel E-Book

Kurt Lehmkuhl

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Beschreibung

Nach einem Attentat auf dem Friedhof in Huppenbroich kämpft der pensionierte Kommissar Rudolf-Günther Böhnke um sein Leben. Seine Lebensgefährtin Lieselotte Kleinereich und sein Freund Tobias Grundler ermitteln auf eigene Faust. Fast zeitgleich wird nachts auf dem freien Feld in der Nähe des Eifeldorfes ein Augenarzt brutal hingerichtet. Gibt es einen Zusammenhang? Der ermittelnde Kommissar Schulze-Meyerdick der Aachener Kripo schließt es aus. Erst spät durchschaut Grundler ein perfides Spiel, in dem ein Massenmörder die Hauptrolle spielt, der vor den Augen von Böhnke im Meer bei Fuerteventura ertrunken ist. Oder doch nicht? Die Zweifel an dessen Ableben werden immer größer. Will er sich an Böhnke rächen? Und welche Rolle spielt die ominöse Männerclique "Karlsbande", aus der der Augenarzt aussteigen wollte? Obwohl Böhnke nicht ansprechbar und nicht bei Sinnen ist, liefert er den wichtigsten Beitrag, um alle Probleme in einem Endspiel zu lösen. Ob er überlebt?

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Dies ist ein Roman. Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Nach einem Attentat auf dem Friedhof in Huppenbroich kämpft der pensionierte Kommissar Rudolf-Günther Böhnke um sein Leben. Seine Lebensgefährtin Lieselotte Kleinereich und sein Freund Tobias Grundler ermitteln auf eigene Faust. Fast zeitgleich wird nachts auf dem freien Feld in der Nähe des Eifeldorfes ein Augenarzt brutal hingerichtet. Gibt es einen Zusammenhang? Der ermittelnde Kommissar Schulze-Meyerdick der Aachener Kripo schließt es aus.

Erst spät durchschaut Grundler ein perfides Spiel, in dem ein Massenmörder die Hauptrolle spielt, der vor den Augen von Böhnke im Meer bei Fuerteventura ertrunken ist. Oder doch nicht? Die Zweifel an dessen Ableben werden immer größer. Will er sich an Böhnke rächen? Und welche Rolle spielt die ominöse Männerclique „Karlsbande“, aus der der Augenarzt aussteigen wollte? Obwohl Böhnke nicht ansprechbar und nicht bei Sinnen ist, liefert er den wichtigsten Beitrag, um alle Probleme in einem Endspiel zu lösen. Ob er überlebt?

Inhaltsverzeichnis

Erlöschendes Lebenslicht

Ahnungslos

Beziehungen

Dobbermann

Unveränderter Hass

Notwehr

Höllenqualen

Privatsache

Todesnachricht

Karlsbande

Operation Scheißbulle

Waschlappen

Tarnnamen

Hochzeitsanzug

Genickschlag

Endspiel

1. Erlöschendes Lebenslicht

Lieselotte Kleinereich wunderte sich beim Blick auf die Küchenuhr. Wo blieb Rudolf-Günther bloß? Wie immer hatte sie am Sonntagmorgen das Mittagessen vorbereitet. Den Sauerbraten hatte sie mit Printen, einem Geschenk des Aachener Großbäckers Kühlbrenner, verfeinert, die Soße hatte einen kleinen Schuss Rotwein bekommen. Jetzt wartete sie nur noch auf Böhnke.

Wie immer hatte ihr langjähriger Lebensgefährte während ihrer Arbeit in der Küche einen Spaziergang durch Huppenbroich machen wollen, von dem er spätestens um Zwölf zurück sein würde. Einen der letzten sonnigen Tage vor dem rauen Winter wollte er nutzen. Doch der Commissario kam nicht. Diese Unpünktlichkeit war ungewöhnlich. Sie passte einfach nicht zu ihm und seiner Gründlichkeit. Sie war ein Grund zur Besorgnis.

Wo war er wohl? Lieselottes Unruhe wuchs mit jeder Minute, die verstrich. Es musste etwas geschehen sein, etwas, das nicht in den normalen Ablauf ihres Zusammenlebens passte, etwas, das so plötzlich gekommen war, dass Böhnke seine Liebste nicht einmal per Handy hatte informieren können.

Sie musste ihn suchen. Untätiges Warten war noch nie ihr Ding gewesen. Wo konnte der Commissario bloß sein? So groß war Huppenbroich auch nicht, als dass sie ihn nicht finden würde. Lieselotte überlegte nicht lange und eilte zum Friedhof.

Sie atmete auf, als sie Böhnke auf seiner Lieblingsbank sitzen sah, direkt gegenüber der kleinen Freifläche in der Reihe der Gräber, auf der er seine letzte Ruhe finden würde. Ihre Erleichterung wurde jäh zur Bestürzung, nachdem sie erkannte, dass der Mann mit weit aufgerissenen Augen ins Nichts blickte. Sein Mund war leicht geöffnet. In seiner Hand hielt er ein Papier. Es war ein Zettel von einem der Notizblocks aus ihrer Apotheke. Er musste ihn schon vor geraumer Zeit beschrieben haben, wie Lieselotte an der alten, längst nicht mehr gültigen Telefonnummer erkannte.

Was Böhnke in seiner säuberlichen, gut leserlichen Handschrift zu Papier gebracht hatte, raubte ihr jegliche Hoffnung und stürzte sie in unsägliche Verzweiflung:

„Worauf wartest du eigentlich?“, fragte mich der Mann, der sich auf der Bank auf dem Friedhof neben mich gesetzt hatte.

Meine Antwort lautete: „Auf den Tod.“

„Hier bin ich.“

*

Mist! Mist! Mist! Er fluchte leise vor sich hin. Warum war die Tussi nicht eine Minute später gekommen? Er kam sich vor wie in einem déjà vue. Vor ein paar Monaten, im Frühjahr war es ähnlich gewesen. Auch da hatte eine Alte in letzter Minute seine Absicht vereitelt. Damals war er nicht einmal dazu gekommen, seine Tat zu beginnen. Jetzt hatte er sie wenigstens begehen und vollenden können. Nur ein paar Sekunden später, dann wäre er verschwunden gewesen. Er hatte die nahende Frau rechtzeitig entdeckt und sich verstecken können, als sie auf den Friedhof gelaufen war und zielsicher auf die Bank zustrebte, auf der Böhnke hockte.

Für den Scheißkerl kam ihr Erscheinen zu spät, da war er sich ziemlich sicher. So, wie der alte Mann vor sich hin gestiert hatte, war kein Leben mehr in den Augen. Den Zettel, den Böhnke in den letzten Sekunden seines Lebens aus der Jackentasche genommen hatte, hätte er ihm gerne abgenommen. Wer weiß, was der noch mit seinem letzten Atemzug machte? Aber just in diesem Moment hatte er die Alte entdeckt und vorsichtshalber den sofortigen Rückzug angetreten. Mit ihr würde er zu einem späteren Zeitpunkt auch noch abrechnen. Doch zunächst war es wichtig und gut, dass Böhnke nicht mehr unter den Lebenden weilte.

Dieser Scheißkerl!

Gewiss wäre ihm lieber gewesen, man hätte den Penner nicht sofort entdeckt. Es musste nicht sein, dass die Alte ihn hier vorfand und möglicherweise eine Beziehung zwischen ihm und ihrem Lebensgefährten herstellte.

Hinter den dichten Büschen in der Nähe des Ausgangstors verborgen beobachtete er die Frau, deren anfängliche Hektik überraschend schnell verflogen war. Nach einem kurzen Blick auf Böhnke hatte sie zum Handy gegriffen. Wen sie angerufen hatte, wurde ihm nur wenige Minuten später bewusst, als mit anschwellendem Warnsignal ein Notarzt in seinem Einsatzfahrzeug und dahinter ein Rettungswagen heranbrausten. Ein Mediziner war hier unangebracht, dachte er sich, statt des Rettungsdienstes hätte die Alte besser gleich ein Bestattungsunternehmen benachrichtigt. Der Aufwand war überflüssig und würde erfolglos bleiben. Nichts sprach dafür, dass in Böhnke auch nur noch der Hauch eines Lebens sein würde.

Für ihn wurde es Zeit, den Rückzug anzutreten, bevor er vielleicht doch noch auffiel. Er konnte zufrieden sein. Die Menschen, die um Böhnke herumstanden und vollkommen überflüssig an dem regungslosen Mann hantierten, waren zu beschäftigt, um sich um ihn zu kümmern. Dennoch gab er sich Mühe, ungesehen zwischen den Büschen und Grabsteinen zum Ausgang zu schleichen. Zufrieden atmete er durch, als er auf der Straße stand und sich kurz orientierte. Seinen Wagen hatte er auf einem Parkplatz für Wanderfreunde im Tiefenbachtal abgestellt. Den kürzesten Fußweg dorthin zu finden, war für einen Ortsunkundigen in Huppenbroich vielleicht nicht gerade leicht, bereitete ihm aber keine Probleme. Auf seinem Gang zum Fahrzeug begegnete er niemandem. Die Menschen saßen entweder noch beim Frühschoppen in der Dorfgaststätte 'Zur Alten Post' oder schon am Mittagstisch. Zufrieden stieg er in den unscheinbaren Corsa, der zwischen den Wagen von einigen Wanderern überhaupt nicht auffiel, und fuhr über die kurvenreiche Bergaufstrecke in Richtung Simmerath davon.

Genugtuung machte sich in ihm breit, auch wenn er wusste, dass er keinen ruhigen Restsonntag erleben würde.

Es war vollbracht.

Das weitere Geschehen war vorhersehbar: Rudolf-Günther Böhnke, Erster Kriminalhauptkommissar im Ruhestand und vormaliger Leiter der Abteilung für Tötungsdelikte im Polizeipräsidium Aachen war an den Folgen seiner langwierigen Erkrankung zwar überraschend, aber dennoch nicht unerwartet gestorben, so würde erklärt werden. Der Behördenleiter würde salbungsvolle Worte des Bedauerns für den ehemaligen Kollegen finden. Die Zeitungen würden vielleicht einen Bericht veröffentlichen. Lieselotte Kleinereich als langjährige Wegbegleiterin des Verstorbenen würde in einer Todesanzeige über Böhnkes Ableben informieren und dann wahrscheinlich darauf hinweisen, dass die Beerdigung unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden und statt Trauergaben in Form von Kränzen und Blumengestecke im Sinne des Verstorbenen um Spenden für die von Böhnke betreuten Stiftungen gebeten werde.

Alles andere würde ihn überraschen. Dafür kannte er Böhnke gut genug. Er selbst würde sich an den Beileidsbekundungen garantiert nicht beteiligen und keine Spende leisten.

Warum auch?

Der Arsch war endlich tot und würde in ein paar Jahren vergessen sein.

*

Lieselotte glaubte, nach diesem Tag in der Nacht kein Auge mehr zu tun zu können und keinen Schlaf zu finden. Das eigentlich gemütliche Ferienhaus war so leer und unpersönlich ohne ihren Commissario. Sie vermisste seine beruhigenden, gleichmäßigen Atemzüge, wenn er an ihrer Seite im Bett liegend schon eingeschlafen war. Das war für sie das beste Schlafmittel.

Böhnkes Freund, der auch ihrer war, hatte ihr angeboten, sie mit nach Aachen zu nehmen, damit sie in ihrer Stadtwohnung übernachten konnte. Aber sie hatte den Vorschlag von Tobias Grundler abgelehnt. Der Rechtsanwalt war mit seiner Partnerin Sabine sofort in die Eifel gekommen, nachdem sie ihn über das schreckliche Geschehnis informiert hatte.

Geduldig hatte Grundler zugehört, als sie berichtete, und danach darauf verzichtet, irgendwelche Fragen zu stellen. Auch er wirkte betroffen und machte auf Lieselotte den Eindruck, wie sie hilflos vor einer unvorstellbaren Situation zu stehen, mit der sie sich abfinden mussten.

„Als ich ihn da so sitzen sah, habe ich sofort gedacht, er ist tot.“ Lieselotte wusste nicht, zum wievielten Male sie das Geschehene wiederholte. Aber Grundler hatte auch bei der letzten Wiederholung geduldig zugehört und sie aufgemuntert, alles zu sagen, an das sie sich erinnerte.

„Ich habe sofort im Simmerather Krankenhaus angerufen, weil die Ärzte dort am besten über seine Krankheit Bescheid wissen. Das schien mir besser als ein Anruf bei der Notrufzentrale. Zum Glück hatte der Internist Bereitschaftsdienst, bei dem Rudolf-Günther dauerhaft in Behandlung ist und der seine Krankenakte auswendig kennt. Er ist sofort gekommen, auch wenn es für mich den Anschein hatte, als würden Stunden vergehen. Er hat Rudolf-Günther untersucht und festgestellt, dass er nicht tot war, sondern noch schwache Lebenszeichen von sich gab. Er vermutete, dass die Erkrankung ausgebrochen sei und das Blut endgültig nicht mehr in der Lage sei, ausreichend Sauerstoff zu transportieren. Aber noch lebe der Patient und er wolle nicht tatenlos mitansehen müssen, wie Rudolf-Günther vor seinen Augen auf einem Friedhof seinen letzten Atemzug macht.“ Betroffen schüttelte Lieselotte ihren Kopf. „Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Sollte ich Rudolph-Günther, so wie er es sich gewünscht hätte, wenn es soweit ist, auf dem Friedhof sterben lassen? Oder sollte ich den Arzt entscheiden lassen, was zu tun ist?“

Der Arzt habe ihr die Entscheidung abgenommen und den Transport nach Simmerath ins Krankenhaus veranlasst. Der Weg ins Klinikum nach Aachen sei zu weit. Es würde zu viel Zeit vergehen, bis dort eine Untersuchung und Behandlung beginnen könne. „In Simmerath liegt Rudolf-Günther jetzt auf der Intensivstation, wird künstlich beatmet und über eine Magensonde ernährt, sein Blut wird permanent gereinigt, aber niemand weiß, ob der Aufwand ausreicht, um ihn ins Leben zurückzuholen. Niemand kann sagen, wie hoch der Preis sein wird, den Rudolf-Günther zahlen muss, wenn er tatsächlich am Leben bleibt. Als willenloses Wrack dahinzusiechen, das entspricht nicht seiner Vorstellung. Ich glaube, da wäre er lieber tot.“ Lieselotte schluckte schwer, als sie ihre Kaffeetasse auf den Küchentisch abstellte. „Wir müssen uns im Prinzip darauf einstellen, dass er sterben wird. Die Chance liegt unter einem Prozent, dass er wieder aufwacht, meinte der Arzt.“ Müde lächelte Lieselotte ihre Gesprächspartner an. Sie hatte viel von ihrer Dynamik verloren und wirkte wie eine müde, alte, von einem Schicksalsschlag gezeichnete Frau. Vom Bild einer lebenserfahrenen, Zuversicht versprühenden Apothekerin war nichts mehr geblieben. „Der Arzt vergleicht die Situation mit der eines Mannes, der alleine in dunkler Nacht mit seinem Auto in einem tiefen Wald einen Unfall hatte und stark blutend und ohnmächtig in dem Wrack eingeklemmt ist. Er kann keine Hilfe bekommen, weil jeder, der ihn vermissen würde, nicht weiß, wo er sich befindet. Irgendwann wird die Batterie keinen Strom mehr für die Scheinwerfer liefern. Dann schwindet auch der letzte Hoffnungsschimmer, ihn entdecken zu können, und er wird sterben. Der Arzt meinte, er könne nur hoffen, dank des Scheinwerferlichts Zugang zu finden, bevor die Batterie ihren Geist aufgibt und das Licht für immer erlischt. Die Wahrscheinlichkeit eines rechtzeitigen Eingreifens ist aber sehr gering.“ Lieselotte atmete schwer, sie unterdrückte ihre Tränen. „In dieser Nacht wird es wohl vorbei sein. Darauf müssen wir uns vorbereiten.“

„Wolltest du denn nicht an seiner Seite sein, wenn es soweit ist?“, fragte Sabine mitfühlend.

„Wollen schon. Aber es geht nicht auf der Intensivstation. Dazu müssten sie Rudolf-Günther in ein Sterbezimmer oder ins Hospiz bringen. Das will aber der Arzt nicht. Er klammert sich an den letzten Strohhalm.“

„Lohnt sich das?“ Grundler ärgert sich insgeheim über seine Bemerkung. Sie hörte sich an wie die routinemäßige Frage nach einer nüchternen Wirtschaftlichkeitsberechnung.

„Aus Sicht der Medizin vielleicht.“

„Aber um welchen Preis?“

„Um den Preis des Todes, Tobias, oder um den Preis des lebenden Todes als ein Leben ohne Wert.“

Immer wieder war ihre Unterhaltung durch lange Pausen unterbrochen worden, bevor Lieselotte erneut erzählte. Von ihrer Lebensfreude und Dynamik war immer mehr in den letzten Stunden geschwunden. Selbst für eine Frau Anfang 60 wäre sie nicht mehr eingeschätzt worden. Die Trauer hatte sie äußerlich um zehn Jahre altern lassen mit trüben Augen, herabgefallenen Mundwinkeln, fahler Haut und abstehenden, grauen Haaren. Nichts erinnerte an die erfolgreiche und beliebte Apothekerin, die in Aachen einen gut gehenden, alteingesessenen Familienbetrieb leitete. Sie wirkte wie eine abgearbeitete Rentnerin, die im Alter nach lebenslanger Knochenarbeit mit einer kargen Rente ein ärmliches Dasein fristen musste.

„Ich werde morgen nicht zur Arbeit fahren. Ich bleibe hier in Huppenbroich“, hatte sie mehrfach gesagt, mehr zu ihrer eigenen Bestätigung als zu ihren Trost spendenden Besuchern. „Ich will morgen im Krankenhaus warten und in seiner Nähe sein, wenn Rudolf-Günther diese Welt verlässt.“

Lieselotte hatte Sabine und Grundler spätabends geradezu aus dem Haus drängen müssen, bevor der Regen zu Schnee wurde und die Straßen vereisten. Deren moralische Unterstützung wusste sie durchaus zu schätzen. Aber es würde weder ihnen noch ihr helfen, wenn sie Trübsal blasend und trauernd in der Essecke ihre Küche hockten und sich im Laufe des Abends immer häufiger angähnten. Selbst der zwischenzeitliche Spaziergang durch den Ort hatte an ihrer betrüblichen Stimmung nichts ändern können. Sie waren am Friedhof vorbeigegangen und Lieselotte hatte den beiden, die ihre erwachsenen Kinder sein konnten, die Bank gezeigt, auf der sie Böhnke gefunden hatte. Nichts deutete mehr auf das dramatische Geschehen zur Mittagszeit hin. Die wenigen Menschen, denen sie begegneten, grüßten scheu und stoben davon, als wollten sie nicht mit ihnen sprechen. Entweder hatten sie nichts von der Tragödie mitbekommen oder sie trauten sich nicht, darüber zu sprechen, vermutete Lieselotte. Sie war zu schwach, um selbst die Initiative zu ergreifen. Im Prinzip war sie die Fremde im Dorf, obwohl ihr das Haus gehörte, und war Böhnke nach seinem Einzug ein Einheimischer geworden.

„Es ist schrecklich“, hörte sie sich sagen, als sie über die Grabreihen schaute. Für einen Moment kniff sie die Augen zusammen, was Grundler sofort auffiel.

„Was ist?“, fragte er.

„Eigentlich nichts“, antwortete Lieselotte. „Ich glaube, ich habe heute Mittag etwas gesehen. Aber vielleicht habe ich mich auch getäuscht.“

„Und was?“

„Etwas wie den Schatten eines Mannes, der sich so komisch vom Friedhof wegbewegte, während sich die Rettungskräfte um den Commissario kümmerten.“

„Verstehe ich nicht“, bekannte der Anwalt. „Was meinst du?“

„Ach nichts.“ Lieselotte winkte ab. „Wahrscheinlich habe ich nur einen Schatten gesehen, den ein Baum geworfen hat.“ Sie schüttelte sich ein wenig. „Lass uns zurückgehen. Ich hab' kalt.“

Gerne kam Grundler ihre Bitte nach. Auch ihm, der wie fast immer im grauen Sweat-Shirt und mit Jeans gekleidet war, fröstelte ein wenig. Selbst im angeblich goldenen Herbst war es am späten Nachmittag hier in der Nordeifel trotz der Sonnenstrahlen ein paar Grad kühler als in Aachen.

Als Sabine und Grundler sich schließlich auf den Heimweg machte, war es ziemlich kalt und regnerisch. Der erste Nachtfrost und der erste Schnee waren in dieser Höhe nicht mehr auszuschließen.

An Schlaf war einfach nicht zu denken. Lieselotte döste vor sich hin, mehr war nicht möglich. Der Anblick ihres leblosen Gefährten, den sie in einer verzweifelten, aber sinnlosen Hoffnung nicht als toten Partner bezeichnen wollte, hatte sich ihn ihr Gedächtnis eingebrannt. Immer, wenn sie die Augen schloss, erschien dieses Bild vor ihr.

Kurzer, heftiger Lärm riss sie aus ihrem Zustand. Der Lärm hörte sich wie der einer schnellen Folge von Schüssen an. Danach war es wieder still mitten in der Nacht. Lieselotte war sich sicher, geträumt zu haben. Die Schüsse waren ein unmissverständliches Zeichen gewesen. Sie hatten den Tod gebracht und waren der Hinweis, dass Rudolf-Günther just in diesem Moment gestorben war.

Lieselotte schaute auf die Uhr. Es war 3.22 Uhr. Die friedliche Ruhe um sie herum tat ihr mit einem Male gut. Sie fiel in einen tiefen Schlaf. Am Morgen, das wusste sie, würde das Telefon sie wecken.

Und der Arzt würde ihr den Tod von Rudolf-Günther Böhnke mitteilen.

Sie würde ihr Leben ohne ihn fortsetzen müssen. Aber es war gut so, es war das Beste für ihren Commissario.

2. Ahnungslos

Der Anruf am Montag kam kurz vor neun. Sie möge entschuldigen, dass er sich erst so spät bei ihr melde, meinte der Arzt gähnend. Lieselotte sagte nichts. Dr. Bernd Schmidt hatte sie geweckt. Zum ersten Mal seit ewiger Zeit war nicht sie es, die andere aus den Schlaf riss, sondern die selbst ihren Schlaf durch andere abbrechen musste.

Es sei eine verrückte Nacht gewesen, sagte der Mediziner mit müder Stimme. Aber das bräuchte sie nicht zu interessieren.

„Ist er tot?“ Lieselotte fiel ihm ins Wort.

„Nein.“ Der Arzt atmete hörbar durch. „Herr Böhnke lebt, wenngleich ich einschränken muss, er lebt noch. Ich weiß nicht, ob er überleben wird.“ Er atmete durch. „Aber ich habe, um im Bild des schwer verletzten Autofahrers zu bleiben, herausgefunden, wo er seinen Unfall hatte und ich habe es geschafft, die Batterie am Laufen zu halten, bis dass das Auto und er geborgen sind.“

„Gut oder schlecht?“

„Kann ich Ihnen jetzt nicht sagen, Frau Kleinereich.“ Schmidt bat sie, ins Krankenhaus zu kommen. „Was ich mit Ihnen bereden muss, ist kein Thema für ein Telefonat.“ Er flüsterte fast, als solle niemand in seinem Umfeld die Worte hören. „Und ich hätte, um offen zu sein, gerne Ihren Rat, was als Nächstes zu tun ist.“

*

„Er lebt?“ Lieselotte wusste nicht, wie sie den Zustand beurteilen sollte, der sich ihr hinter der Glasscheibe bot. Für sie sah Böhnke fast wie ein toter Mensch aus. Er lag flach auf dem Rücken in einem Krankenbett und trug eine Atemmaske, die den größten Teil seines Gesichts mit der wettergegerbten Haut und den Kopf mit dem kurzgeschnittenen, grauen Haar verdeckte. Zahlreiche Kabel und Leitungen verbanden den Patienten im weißen Hemdchen mit Geräten und Infusionsflaschen. Der Körper unter der weißen Bettdecke bewegte sich nicht. Lediglich das rhythmische Aufflackern von Lämpchen auf Bildschirmen und die sich gleichmäßig fortsetzende Linie auf einem Monitor, die Böhnkes Herzfrequenz anzeigte, deutete auf eine permanente Funktion von Geräten hin – was gleichbedeutend mit Lebenszeichen war.

„Sein Körper befindet sich in einem Zustand, der noch als Leben bezeichnet werden kann“, antwortete der Arzt, der sie zur Intensivstation begleitet hatte und neben ihr durch die Scheibe schaute. Schmidt sah erschöpft aus, nicht wie ein Herrgott in Weiß, sondern wie ein Kittelträger, der nach einem 24-Stunden-Dienst ohne eine Mütze Schlaf auskommen musste und dem die Anstrengung ins Gesicht geschrieben war. So wie er sich gab, war er reif für die Rente.

„Wie lange, Herr Doktor Schmidt?“, fragte Lieselotte nach langer Pause. Gab es wirklich Hoffnung für Rudolf-Günther?

„Wir wissen es nicht. Wir wissen nicht, wie der Körper reagiert und wir wissen nicht, ob es bleibende körperliche Schäden oder Hirnschädigungen gibt. Wir können nur abwarten.“ Dieser Behandlungsprozess sei aber nicht der Grund, weswegen er sie um ein Gespräch gebeten habe, fuhr der Arzt fort, der sich schon seit Jahren wie kein anderer mit der komplizierten Krankengeschichte von Böhnke auseinandersetzte.

„So?“

„Es liegt nicht an seiner Krankheit, dass Ihr Mann in diesen Zustand verfallen ist, Frau Kleinereich.“

„Wie?“ Die Frau verstand nicht, worauf der Mediziner hinauswollte. Sie hatte längst aufgehört, andere darüber zu belehren, dass sie nicht mit Böhnke verheiratet war und er demnach nicht ihr Mann im eigentlichen Sinne war. Inzwischen sprach sie selbst von ihm als ihrem Mann, weil es das Zusammenleben erleichterte und es sich gut anhörte.

„Der Zustand hat eine andere Ursache.“

„Welche?“

„Wissen Sie, ob er unlängst ein anderes als die uns bekannten Medikamente verabreicht bekommen hat?“

Lieselotte verneinte erstaunt. „Wie kommen Sie nur darauf?“

„Bei der Blutuntersuchung sind wir auf eine Anomalie gestoßen, die es nach dem Krankheitsbild Ihres Mannes nicht geben kann. Das brachte uns auf die Idee, ob er etwas eingenommen hat, von dem wir nichts wissen.“

„Da ist nichts“, versicherte Lieselotte. Als Apothekerin und als Partnerin wisse sie ganz genau über den Medikamentenmix von Böhnke Bescheid. Sie selbst stellte die tägliche Tablettenration zusammen und sorge dafür, dass es zu keinen Fehlern komme. „Da kann nichts anders sein.“

„Okay.“ Der Arzt gähnte und streckte sich ungeniert. „Ich habe mir jedenfalls daraufhin den Körper Ihres Mannes noch einmal genau angesehen. Bei der Kontrolle des Kopfes bin ich dann darauf gestoßen. Im Haaransatz gibt es eine Einstichstelle, verursacht durch eine Spritze. Die Stelle hätte üblicherweise niemand gesehen oder gesucht. Ich bin nur neugierig geworden wegen der Ungereimtheit bei der Blutuntersuchung.“

Lieselotte stockte der Atem. „Was wollen Sie mir damit sagen?“

„Ich will damit sagen, meiner Meinung nach könnte es möglich sein, dass jemand Ihrem Mann gestern Mittag eine Spritze setzte, um ihm zu vergiften. Es sieht danach aus, als habe jemand von hinten seitlich am Kopfansatz zugestochen.“ Erneut musste Schmidt gähnen. „Wenn Sie ihn nicht gefunden und uns nicht sofort alarmiert hätten, und wenn wir nicht auf die ungewöhnliche Anomalie bei den Blutwerten gestoßen wären, wäre die mögliche Tat wahrscheinlich erfolgreich gewesen. Es war eine Frage von Minuten, die über Leben und Tod entschieden haben.“ Schmidt schüttelte verständnislos den Kopf. „Zu meinem Glück war der Einstich nicht fachgerecht ausgeführt worden. Die Spritze war nicht rechtwinklig angesetzt worden. Erst dadurch konnte ich ihn überhaupt erkennen.“

„Sie ...“, Lieselotte schluckte schwer, „... Sie wollen damit andeuten, dass es Hinweise auf ein Verbrechen gibt? Jemand wollte Rudolf-Günther ermorden?“

„Das möchte ich jedenfalls nicht ausschließen. Und deshalb wollte ich von Ihnen wissen, was wir tun sollen. Sollen wir die Polizei alarmieren oder sollen wir damit warten?“ Auf jeden Fall werde er Böhnkes Blut weiterhin analysieren lassen, um die Inhaltsstoffe der Injektion herauszufinden.

„Warten!“, bestimmte Lieselotte nach längerem Überlegen mit großer Entschlossenheit. „Sie protokollieren Ihre Untersuchungsergebnisse, Erkenntnisse und Vermutungen. Ich werde mit meinen Möglichkeiten versuchen, Licht ins Dunkel zu bringen. Großartig helfen kann uns die Polizei momentan eh nicht.“

Spuren würden die Ermittler auch keine auf dem Friedhof finden. Der Schneeregen am Abend, das leichte Gefrieren in der Nacht und das Auftauen am Morgen hatten am vermeintlichen Tatort mögliche Hinweise vernichtet. Augenzeugen hatte es keine gegeben, vielleicht einmal abgesehen von dem Schatten außerhalb des Friedhofs, der eventuell nur durch die Sonne und die Bäume verursacht worden war.

„Ich glaube nicht, dass wir die Polizei momentan mit dieser Geschichte belasten sollten“, sagte Lieselotte nachdenklich. Insbesondere wäre es ihr unangenehm gewesen, mit Böhnkes Nachfolger Kontakt aufzunehmen. Schulze-Meyerdick würde sich bestimmt nicht mit übertriebenem Ehrgeiz auf diesen Fall stürzen. Er, der in Böhnkes Augen eine Fehlbesetzung war, war ihr unsympathisch, weil Böhnke ihn als unfähig und überschätzt erachtete.

Schmidt pflichte ihr in der Sache bei, von der persönlichen Skepsis nichts wissend. „Wir machen es, wie besprochen. Ich kümmere mich um das Protokoll und natürlich in erster Linie um Ihren Mann. Es könnte ja auch sein, dass ich mich ganz gewaltig irre.“

Der Arzt lächelte sie freundlich an. „Die Polizei lassen wir also noch draußen vor. Die hat ja heute mit anderen Dingen genug zu tun.“ Erneut gähnte er ausgiebig. „Haben Sie bestimmt in der Nacht mitbekommen. Oder?“

„Nein“, antwortete Lieselotte verblüfft. „Was war denn da?“

„Irgendeine Schießerei mit einem Toten auf dem freiem Feld bei Huppenbroich. Das muss gehörig geknallt haben.“

„So gegen 3.22 Uhr? Davon bin ich wach geworden. Ich habe mir nichts bei dem Lärm gedacht, ich dachte, ich hätte geträumt.“

Aber eigentlich war es ihr zu viel, sich damit zu beschäftigen. Sie machte sich Gedanken wegen Rudolf-Günther. Hatte man ihn tatsächlich ermorden wollen? Wer steckte dahinter. Warum? Und würde aus dem Versuch doch noch ein vollendeter Mord werden? Oder setzte ihr der Arzt eine Möglichkeit in den Kopf, die sich als Irrweg herausstellen würde? Vielleicht war der vermeintliche Einstich eine Fehlinterpretation durch Schmidt gewesen.

Was war besser für ihren Liebsten?

Der Tod oder ein nicht lebenswertes Leben?

*

Sie würden sich in Huppenbroich treffen und zusammen ins Krankenhaus fahren, hatte Lieselotte mit Grundler ausgemacht. Vielleicht war Schmidt noch anwesend und würde sich an ihrem Gespräch beteiligen. So hatten sie es geplant. Lediglich beim Zeitpunkt musste der Anwalt vage bleiben. Termine mit Mandanten konnten nicht ohne weiteres alle verschoben werden, obschon sich seine Kanzleileiterin, also Sabine, darum bemühen werde.

„Aber wir kommen auf jeden Fall“, hatte Grundler versichert, als Lieselotte ihn anrief.

Sie war überrascht, als es früher als erwartet an der Haustür klingelte. So früh am Nachmittag hatte Lieselotte nicht mit ihrem Gast gerechnet.

Ihre Überraschung wurde noch größer, als sie öffnete und dem Besucher ins Gesicht blickte. An diesem Mann hatte sie mit keiner Silbe gedacht! Hatte sich etwa das Verbrechen an Böhnke doch schon herumgesprochen?

Aber auch der Mann wirkte überrascht, ihr gegenüberzustehen.

„Nicht in Aachen, Frau Kleinereich?“, fragte der große, stämmige Mann, dessen markantes Zeichen ein Pferdeschwanz war, zu dem er sein langes, braunes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar gebunden hatte. „Das überrascht mich aber. Ich hatte gedacht, meinen Kollegen Böhnke anzutreffen“, sagte er übertrieben freundlich.