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Bent ist alleine und obdachlos. Eines Abends beschließt er, die regnerische Nacht in einem geparkten und nicht abgeschlossenen Campingbus zu verbringen. Ganz früh morgens will er sich wieder aus dem Staub machen und möglichst keine Spuren hinterlassen. Leider kommt ihm der Besitzer des Busses in die Quere, der aber anders reagiert als er es sich vorstellt. Statt ihn davonzujagen, lädt er ihn zum Frühstück und anschließend sogar zum Abendessen ein. Um ein bisschen Geld zu verdienen, bietet er ihm an, ihn in den Urlaub zu begleiten und Bent willigt ein. Am nächsten Tag soll es schon losgehen. Noch ahnt er nicht, wem er ins Netz gegangen ist und mit wem er seine Tage verbringen wird. Was eigentlich als erholsame Zeit geplant war, wird schnell zu einem Abenteuerurlaub der anderen Art. Zuerst rollen sie den Mordfall an einer Nachbarin wieder auf und werden anschließend von einem Einbrecher überrascht. Die Sache kommt ins Rollen, als Bent eines schönen Tages einen Unfall hat und lässt sich erst bremsen, als alle Puzzleteilchen sich ineinanderfügen. Bent findet sogar Dinge heraus, nach denen er gar nicht gesucht hat und die sein eigenes Leben völlig auf den Kopf stellen.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Wortzähler: 77813
Copyright © Nasha Berend
Alle Rechte vorbehalten
Impressum:
Nasha Berend
Buschstraße
39649 Hansestadt Gardelegen
E-Mail: [email protected]
Umschlaggestaltung: Dirk Dresbach
Fotos: Copyright © Dresbach
Über das Buch
Bent ist alleine und obdachlos.
Eines Abends beschließt er, die regnerische Nacht in einem geparkten und nicht abgeschlossenen Campingbus zu verbringen. Ganz früh morgens will er sich wieder aus dem Staub machen und möglichst keine Spuren hinterlassen. Leider kommt ihm der Besitzer des Busses in die Quere, der aber anders reagiert als er es sich vorstellt. Statt ihn davonzujagen, lädt er ihn zum Frühstück und anschließend sogar zum Abendessen ein. Um ein bisschen Geld zu verdienen, bietet er ihm an, ihn in den Urlaub zu begleiten und Bent willigt ein. Am nächsten Tag soll es schon losgehen. Noch ahnt er nicht, wem er ins Netz gegangen ist und mit wem er seine Tage verbringen wird.
Was eigentlich als erholsame Zeit geplant war, wird schnell zu einem Abenteuerurlaub der anderen Art. Zuerst rollen sie den Mordfall an einer Nachbarin wieder auf und werden anschließend von einem Einbrecher überrascht.
Die Sache kommt ins Rollen, als Bent eines schönen Tages einen Unfall hat und lässt sich erst bremsen, als alle Puzzleteilchen sich ineinanderfügen. Bent findet sogar Dinge heraus, nach denen er gar nicht gesucht hat und die sein eigenes Leben völlig auf den Kopf stellen.
Erster Teil
von
Nasha Berend
Nasha Berend
Er drehte sich im Schlaf noch einmal um und wickelte sich dichter in die Decke ein, die er in dem alten, abgestellten Campingbus gefunden hatte. Mehrfach hatte er Passanten angesprochen, weil er wissen wollte wem dieser offensichtlich nicht mehr ganz taufrische Bus gehörte, aber jeder, den er fragte, schüttelte nur den Kopf und lief dann schweigend an ihm vorüber. Es war schon weit nach Mitternacht gewesen, als er versucht hatte, die Schiebetür zu öffnen und hätte vor Schreck fast aufgeschrien, als sie sich tatsächlich bewegte. Danach hatte er nur noch einen kurzen Blick nach links und rechts geworfen und war dann hineingekrabbelt. Er war so müde gewesen, dass er sich einfach hingesetzt, sich mit einer dort liegenden Decke zugedeckt hatte und direkt eingeschlafen war.
Er träumte einen wirren Traum, in dem seine Eltern und Großeltern eine Rolle spielten, in der sein bester Freund vorkam und wo auch die Menschen, mit denen er aufgewachsen war, erschienen. Und ein Drache. Ein Drache so groß wie ein Hochhaus mit mindestens 15 Stockwerken und der unfähig war, das zu tun, was ein Drache in der Fantasie der Menschen eben so tat: Feuer spucken.
In den letzten Wochen hatte er diesen oder einen ähnlichen Traum immer wieder geträumt. Morgens fühlte er sich dann, als hätte er mit diesem Tier gekämpft und es in die Flucht geschlagen. Oft taten ihm die Oberarme und die Beine weh und manches Mal hatte er Muskelkater in Muskeln, von deren Existenz er nicht einmal etwas gewusst hatte.
Und jetzt war es wieder so. Er hatte plötzlich ein Schwert in seinen Händen und fuchtelte damit über seinem Kopf herum, wobei er in fast tänzelnden Schritten auf das Untier zu ging und es attackierte.
Donner grollte über ihm und dem Tier, Blitze erhellten die Nacht und der dichte Regen prasselte auf sie nieder. All das störte weder ihn noch den Drachen. Beide konzentrierten sich lediglich auf ihr gegenüber und auf das, was folgen sollte. Den Kampf ums Überleben.
Die Geräusche um sie beide herum waren ihm ebenso vertraut wie das Unwetter. In jedem Traum war es das Gleiche, aber wirklich in jedem. Dieses verdammte Gewitter, dieser unwahrscheinliche schwefelartige Gestank des Tieres und der Geruch nach feuchtem Wald waren im Augenblick die einzigen Konstanten in seinem Leben. Sie kehrten immer und immer wieder zu ihm zurück. Sobald er die Augen schloss, war er wieder in dieser Geschichte gefangen, von der er nicht wusste, wie sie ausging. Das war das Seltsame daran, denn jedes Mal, bevor der eigentliche Kampf überhaupt beginnen sollte, wurde er wach.
Ein Geräusch kam ihm verdächtig vor. In seinem Traum war er für eine Sekunde abgelenkt und drehte sich in die Richtung, aus der er glaubte, etwas gehört zu haben. Nur Sekunden später traf ihn etwas am Kopf. Instinktiv legte er eine Hand über die schmerzende Stelle und gab einen leisen Laut von sich, der aber von einem sehr viel lauteren übertönt wurde. Mit Mühe und Not öffnete er ein Auge. Es war nicht mehr ganz so dunkel, wie er es von seinem Einstieg hier in Erinnerung hatte, aber taghell war es auch noch nicht. Ein bisschen irritiert sah er sich kurz um und fand direkt vor sich einen Karton. Er schob ihn fort und war sich ziemlich sicher, dass es genau diese Kiste gewesen war, die er gegen die Schläfe bekommen hatte.
Um ein Haar hätte er laut aufgeschrien. Das Fahrzeug, in dem er übernachtet hatte, setzte sich in Bewegung und fuhr holprig mit zwei Reifen vom Gehweg. Jemand schaltete das Radio ein und begann fröhlich zu pfeifen. Wie konnte man um die Uhrzeit nur schon so gut gelaunt sein? Innerlich verdrehte er die Augen und legte den Kopf anschließend wieder zurück auf sein Gepäck.
Es dauerte nicht lang, bis das Auto wieder stoppte und der Motor abgestellt wurde. Das war eine kurze Fahrt gewesen. Zumindest hatte er das so empfunden. Er zog die Decke etwas höher, als sich die Schiebetür wieder öffnete und hoffte, dass er nicht entdeckt werden würde. Jemand zog die Nase hoch, hüstelte ein wenig und kramte scheinbar im Inneren des Fahrzeugs herum.
„Ach, da bist du ja“, hörte er ihn mit angenehmer Stimme sagen und öffnete erneut die Augen, um eventuell einen Blick auf den Mann zu werfen.
Er sah, wie der andere Mann das Paket an sich nahm, und schon wieder dabei war die Tür zu schließen, als er ihn doch noch entdeckte. Er hob die Augenbrauen an „Was machst du denn in meinem Auto?“
„Ich, ähm, ich“, begann er zu stammeln und schlug die Decke weg. Zum Vorschein kam ein Mann in völlig verdreckter und teilweise kaputter Kleidung. Gewaschen hatte er sich wohl auch schon länger nicht mehr. Der Geruch ließ den Fahrer des Campingsbusses jedenfalls einen Schritt nach hinten tun.
„Entschuldige“, sagte er „Ich bin aber nicht eingebrochen. Die Tür war nicht verschlossen.“
„Und das hat dich dazu verleitet dich hier niederzulassen?“
Verschämt biss er sich auf die Unterlippe „Im Grunde schon. Ich hab aber nichts angefasst, oder in Unordnung gebracht. Ich war bloß auf der Suche nach einem Schlafplatz für diese eine Nacht. Dreh dich einfach kurz um und ich werde verschwinden. Okay?“
„Nein“, murmelte der andere und schüttelte den Kopf „Was hältst du von einem Kaffee?“
Kaum hörte er das Wort, schon hatte er den Geruch des Getränkes in der Nase und atmete tief ein „Klingt gut, kann ich mir aber gerade nicht leisten.“
„Das ist mir klar“, murmelte vor dem Bus stehende Mann und trat zur Seite. Das wirkte wie eine Einladung zum Aussteigen.
„Ich bin mir noch nicht sicher, was ich von dir halten soll. Also habe ich beschlossen, dir eine Tasse Kaffee Zeit zu geben, mir dein Eindringen in mein Auto zu erklären. Dann sehen wir weiter. Entweder unsere Wege trennen sich dann wieder, oder ich übergebe dich der Polizei.“
Der Eindringling räusperte sich und nickte dann beschämt. Er raffte seine Habseligkeiten zusammen, stopfte sie in den Rucksack und eine große Reisetasche und schob beides in Richtung des unbekannten Mannes, der ihn beobachtete.
„Du kannst dir den Umweg über den Kaffee sparen“, murmelte er, als er sich aus dem Fahrzeug rutschen ließ und auf dem Gehweg sein Gepäck schulterte „Das erspart dir unnötige Kosten“, machte er weiter und wollte loslaufen, aber der andere legte eine Hand auf seine Schulter.
„Jetzt mal ganz ruhig“, sagte er und deutete mit dem Kopf auf ein kleines Schild über einem Hauseingang.
»Café« stand dort geschrieben.
„Es wird nichts so heiß gegessen wie es gekocht wird“, murmelte der Fremde und nahm ihm tatsächlich die schwere Reisetasche ab „Meine Güte. Was transportierst du denn? Das ist ja schwer wie die Sau“, gab er von sich und nahm die Tasche trotzdem. Er wartete auch keine Antwort ab und schob den Mann, der unerlaubt in seinem Fahrzeug übernachtet hatte in Richtung des Cafés.
„Das ist zwar hier nicht gerade das Ritz, aber der Kaffee ist gut und man wird selten beim Frühstück gestört.“
Das verächtliche Schnauben seines unfreiwilligen Gastes überhörte er dabei.
„Das ist für mich nicht selbstverständlich“, machte er weiter und öffnete jetzt die Tür des Cafés. Sie waren kaum eingetreten, als ein junger Angestellter sie begrüßte.
„Hast du dich mal wieder verlaufen? Oh und dieses Mal nicht alleine. Was hat euch hierher verschlagen?“
„Mich nur dein hervorragender Kaffee und ihn wohl eher meine Einladung. Also, schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich kriege meinen Kaffee und er ein Frühstück nach Wahl.“
„Ich will kein Frühstück von dir“, fauchte sein Gast in seine Richtung und der Angestellte grinste, aber er drehte sich und lief in die angrenzende Küche, in der nach wenigen Minuten eine Kaffeemaschine die üblichen Geräusche von sich gab.
„Wenn ich dir zu Nahe getreten bin, dann entschuldige bitte, aber du siehst aus, als hättest du seit Tagen weder was gegessen, noch hättest du irgendwo die Möglichkeit gehabt dich zu waschen. Ich biete dir die Gelegenheit dazu und du pisst mir ans Bein?“
„Und das tust du aus reiner Menschlichkeit? Wo ist der Haken?“
Der Fremde lächelte und streckte ihm die Hand entgegen „Da ist kein Haken. Ehrlich nicht. Ich wüsste nur zu gerne, warum du in meinem Auto übernachtet hast“, begann er und deutete im Anschluss auf die schwere Reisetasche „Und was bitteschön da drin ist. Das Ding wiegt mehr als du. Warum schleppst du das die ganze Zeit mit dir herum? Kannst du das nicht wenigstens ein bisschen reduzieren?“
„Können schon, aber nicht wollen. Der Rest geht dich nichts an.“
„Na hör mal. Du hast in meinem Auto geschlafen und sagst mir jetzt, es geht mich nichts an?“
„Ach das“, begann er und schluckte das Unbehagen hinunter, mit dem er schon kämpfte, seit er diesen Mann getroffen hatte. Er schämte sich.
„Es hat geregnet und ich wollte mich nicht schon wieder von irgendwelchen Betrunken anmachen lassen“, antwortete er und senkte den Blick auf den Bistrotisch, vor dem sie standen.
Er fühlte sich beobachtet und als er hochsah, war ein Blick auf ihn gerichtet, der weder abwertend noch berechnend war.
„Ich bin noch nicht lange unterwegs und verfüge auch nicht über die nötige Erfahrung die man für einen längeren Aufenthalt im Freien so braucht. Also nutzen die mich aus, wo sie nur können. Gleich in der ersten Nacht hat man mir meine Papiere und das bisschen Geld geklaut, dass ich hatte. In der zweiten haben mich zwei Kerle überfallen und ...“, begann er, brach den Satz aber ab, weil der Angestellte des Cafés mit einem Tablett aus der Tür heraustrat. Der Duft des frisch aufgebrühten Kaffees machte ihm deutlich, was er vermisst hatte. Er biss sich auf die Unterlippe und der Fremde bohrte nicht weiter nach. Wenn er darüber sprechen wollte, dann würde er zuhören, aber er wäre nicht derjenige, der Fragen stellte.
„Hier. Der Kaffee. Er hat dich zum Frühstück eingeladen, oder habe ich das falsch verstanden?“, wurden sie gefragt und der Angesprochene lächelte.
„Du hast ganz richtig verstanden, Marcel. Das geht alles auf mich. Egal was er bestellt, okay?“
„Aber natürlich habe ich dich verstanden. Alles auf deine Rechnung.“
Der Angestellte wendete sich erneut ab und sah das verwunderte Gesicht des jüngeren Gastes nicht.
„Mein Name ist übrigens Maxim“, sagte jetzt der, der seinen Campingbus einfach am Straßenrand abgestellt hatte und streckte gleichzeitig die Hand aus. Im ersten Moment war der andere Mann verwundert, aber dann wischte er sich den Schmutz von der Hand und befeuchtete seine Lippen.
„Ich bin Bent“, antwortete er leise und schüttelte die angebotene Hand.
„Hast du irgendwas für mich zu tun, womit ich mich bei dir revanchieren könnte?“
Maxim hob die Augenbrauen und schüttelte dann den Kopf „Nicht wirklich, aber das musst du auch nicht. Du würdest mir allerdings einen großen Gefallen tun, wenn du jetzt einfach frühstückst. Bestell dir, was du möchtest und alles ist gut, okay?“
Bent biss sich noch einmal auf die Unterlippe und zog verschämt die Nase hoch „Warum tust du das?“
„Was? Dich einladen?“
Bent nickte und nippte an seinem heißen, dampfenden Kaffee.
Maxim beobachtete ihn „Ich denke, du hattest einen Grund, warum du unerlaubt in meinem Auto geschlafen hast. Und das du auf der Straße lebst, kommt sicherlich auch nicht von ungefähr. Wenn du unbedingt einen Grund brauchst, warum ich das tue, dann würde ich behaupten : Jeden Tag eine gute Tat, oder so“, versuchte er zu scherzen, aber es gelang ihm nicht wirklich. Sowohl sein Gesicht als auch das seines Gastes waren zu ernst.
„Du willst dich also damit brüsten, eine gute Tat getan zu haben?“
„Ich will mich nicht brüsten, sondern dir einfach nur helfen.“
„Helfen? Mir?“
Maxim nickte und drehte seine Kaffeetasse einige Male im Kreis.
„Ich könnte dir jetzt meine Geschichte erzählen, aber dazu bräuchte ich Zeit.“
„Und die hast du nicht, oder?“
„Nicht wirklich. Ich habe in ungefähr einer Stunde einen Termin, der sich leider nicht verschieben lässt.“
„Aha.“
Maxim dachte nicht lange nach. Er griff in seine hintere Hosentasche und schob dem eigentlich fremden Mann eine Visitenkarte entgegen.
„Wenn du möchtest, dann treffen wir uns bei dieser Adresse. Sagen wir, 15 Uhr?“
„Und dann?“
„Reden wir über das, was jetzt unausgesprochen bleibt. Eigentlich möchte ich beschwören, dass du das nicht hören möchtest, aber ich würde dir gerne helfen wieder auf die Beine zu kommen.“
„Ich wusste gar nicht, dass ich nicht auf den Beinen bin“, antwortete Bent und trank einen großen Schluck aus seiner Tasse „Aber Hilfe brauche ich dazu sicher nicht. Ich habe noch alles im Griff“, machte er weiter und sah etwa 20 Minuten später hinter dem Mann her, den er kaum kannte, der aber einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen hatte.
„Kennt ihr euch schon länger?“, fragte der Angestellte, als er das Geschirr abräumte und Bent schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf.
„Nein. Ist der eigentlich immer so?“
„Was meinst du damit?“
„Na ja. Lädt der immer irgendwelchen fremden Menschen ein?“
Der junge Mann wischte gedankenverloren über den abgeräumten Tisch, bevor er verneinte.
„Ich glaube nicht. Könnte aber auch sein, dass wir einfach nicht seine einzige Anlaufstelle sind.“
„Was ist er für einer?“
„Maxim“, grinste der Mann „Ich kann dir zumindest verraten, das der keine Probleme hat seine Rechnungen zu begleichen.“
„Das dachte ich mir schon“, murmelte Bent und bedankte sich anschließend für ein Verpflegungspaket „Du hättest das nicht tun müssen“, begann er und verstaute die Lebensmittel in seinem Rucksack „Ich komme schon klar. Trotzdem, Danke.“
Der Angestellte winkte lächelnd ab „Schon okay. Kann ich sonst noch was für dich tun?“
„Ihr habt schon genug getan. Danke“, antwortete Bent und schulterte erneut seine Habseligkeiten. Der junge Angestellte sah hinter ihm her, wie er die kaum befahrene Straße entlang ging und seufzte, als er aus seinem Blickwinkel verschwand.
„Ich weiß nicht, ob ich dich beneiden oder bedauern soll. Dein Leben pendelt irgendwo zwischen Freiheit und absolutem Tiefpunkt“, sagte er leise und steckte dabei die Hände tief in die Hosentaschen. Er hob den Kopf und sah in den inzwischen fast kitschartig blauen Himmel, dann wendete er sich wieder dem Café zu.
Warum er die Richtung wählte, war ihm nicht einmal klar, aber kurz nach 14 Uhr hatte Bent plötzlich den Drang, sich mit Maxim zu treffen. Nein. Er wollte keine Hilfe und nein, er wollte ihn auch nicht um Almosen anbetteln. Aber welchen Grund hatte er dann, sich noch einmal mit ihm zu treffen? Was wollte er von ihm?
Je näher er der Adresse kam, umso größer wurden seine Zweifel. Wäre es nicht sinnvoller gewesen, wieder umzudrehen und sich einen Platz für die Nacht zu suchen?
Irgendetwas zog ihn geradezu magisch in die Straße, die auf dem Visitenkärtchen gestanden hatte. Zehn Minuten zu früh blieb Bent vor dem Haus stehen, die zu der genannten Adresse gehörte und hob verwundert die Augenbrauen.
„Heiliger Strohsack. Was für eine Hütte“, sagte er leise und stieß direkt im Anschluss einen leisen Schrei aus. Jemand war an ihm vorübergegangen und war mit voller Wucht gegen den Rucksack gestoßen.
„Aua“, sagte er laut und wendete sich dem Mann zu, der sofort begann, einige Bilder von ihm zu machen „Ey. Hör auf mit dem Scheiß, ja? Was soll denn das? Warum machst du Bilder von mir?“, rief er verärgert und schleuderte seine schwere Reisetasche in die Richtung des Fotografen. Der grinste nur breit, machte einige Schritte rückwärts und knipste weiter fröhlich vor sich hin.
„Ey“, hörte Bent jetzt eine ziemlich tiefe und gleichzeitig Respekt einflößende Stimme rufen und sah einen Mann vom Grundstück der Adresse kommen, die Maxim ihm gegeben hatte.
„Machen Sie sofort das Sie wegkommen. Und wehe, ich finde auch nur ein einziges Bild davon im Netz oder in irgendwelchen Illustrierten“, rief er dem Fotografen zu, der sofort beschwichtigend abwinkte und dann mit schnellen Schritten über die Straße auf die gegenüberliegende Seite lief. Von dort aus schoss er ein letztes Bild, dann stieg er in ein Auto ein und fuhr davon.
„Entschuldigen Sie bitte die Unannehmlichkeiten“, sagte der Mann mit einer völlig anderen Stimme als der, mit der er gerade eben erst den Fotografen angesprochen hatte „Diese Geier versuchen es leider immer wieder.“
„Was wollte der von mir?“, fragte Bent und spürte, das seine Beine ein wenig nachgaben.
„Kommen Sie“, bat ihn der große und breitschultrige Kerl und Bent war sich nicht sicher, wer von den Männern furchteinflößender war. Dort, wo der Mann ihn an der Schulter berührte, lag gefühlt eine tonnenschwere Last auf ihm, der er gerne ausgewichen wäre „Ich bringe Sie erst einmal in Sicherheit. Wo nämlich eine dieser Hyänen ist, lauern meist noch mehr.“
„Warum treiben die sich hier herum?“, fragte Bent und wäre fast über den großen Schuh des Mannes gestolpert, der für ihn eine Tür im Tor öffnete, um ihn eintreten zu lassen. Eine Antwort auf seine Frage bekam er nicht, aber die hatte er selbst auch schon vergessen, bis er sich wieder gefangen hatte.
„Sie werden erwartet“, gab der Mann hinter ihm von sich und öffnete erneut eine Tür in einem Tor und deutete mit einem Finger auf einen Mann, der ihnen entgegenkam „Folgen Sie ihm bitte.“
„Was, zum Teufel, ist hier eigentlich los? Sind Sie sich sicher, dass man auf mich wartet? Ich hab mich doch in der Adresse vertan, oder? Eigentlich wollte ich zu Maxim“, sagte Bent und versuchte die Visitenkarte aus der Jackentasche zu ziehen, aber bevor seine Finger den dünnen Karton erreicht hatten, stand er schon mit gespreizten Beinen an der Häuserwand. Er konnte den Geruch des Baumaterials riechen und hüstelte erschrocken.
„Ganz ruhig. Alles gut. Ich wollte Ihnen lediglich die Visitenkarte geben die mich hierher geführt hat.“
Er spürte einen Ruck in seinem Schultergelenk und jemanden der nach der Karte griff, die er zwischen den Fingerspitzen hielt.
„Ach Jörg, was machen Sie denn da? Lassen Sie ihn bitte los. Der arme Kerl kriegt doch einen Schock fürs Leben. Ich sagte, Sie sollen ihn wohlbehalten zu mir bringen und nicht, dass Sie ihn zuerst noch einer Leibesvisitation unterziehen sollen.“
„Das weiß ich, aber er hat nach etwas gegriffen und für mich hätte es eine Waffe sein können.“
„Eine Waffe?“, stieß Bent entsetzt und mit aufgerissenen Augen aus und spürte, wie sein Kreislauf ins Wanken geriet. Erst dann realisierte er, dass nicht von einem weiteren Mann die Rede gewesen war, sondern von ihm. Er schüttelte den Kopf.
„Ich habe noch nie in meinem Leben eine Waffe in der Hand gehabt. Obwohl meine Mutter immer behauptet, in meinen Händen würde ein Nudelholz zu einer schlagkräftigen Waffe“, versuchte er zu scherzen, aber am Handgriff des großen und scheinbar auch kräftigen Mannes schräg hinter sich, der ihn noch immer gegen die Hauswand presste, war er sich nicht sicher, ob es ihm gelungen war.
„Meine Mutter hat immer behauptet“, grinste Maxim jetzt und trat noch näher auf sie zu „Das meine Klappe meine größte Waffe ist“, kicherte er und berührte Bent am Arm „Lassen Sie ihn bitte los, Jörg. Ich übernehme ab hier. Wenn Sie nichts weiter von mir hören, bleiben wir bei Plan B, in Ordnung?“
Bent seufzte und spürte, wie der Blutfluss in seinen Armen wieder einsetzte.
„Meine Güte. Wo der hinschlägt wächst auch kein Gras mehr, oder?“
Maxim grinste „Er tut nur das, wofür er bezahlt wird. Du hättest ihm sagen sollen, was du vorhast zu tun, dann behält er dich zwar im Auge, aber er tut nichts.“
„Der tut nix, der will nur spielen“, murmelte Bent eine Phrase, die man meistens von Hundebesitzern hörte und Maxim lachte.
„Na, ich bin mir nicht sicher, ob er spielen will, aber wie schon gesagt, er verdient damit sein Geld, ein wachsames Auge zu haben.“
Bent sah sich kurz um und aus diesem Winkel konnte er auch gut hinter das große Haus sehen, dass man vom Gehsteig aus erkennen konnte. Er sah einen Garten, der fast schon mehr an einen Park erinnerte und einen Pool, der für einen Privatgarten schon recht große Ausmaße hatte.
„Wow. Wer wohnt hier?“, fragte er und Maxim zog die Nase hoch.
„Das ist das Anwesen meiner Eltern. Wenn ich in der Stadt bin, dann ist das meine Wohnadresse.“
„Die müssen über eine Menge Geld verfügen.“
„Materiell stehen sie gut da, das ist aber auch alles“, murmelte Maxim und bat Bent, vorauszugehen. Er wies ihm immer wieder durch einen Fingerzeig den Weg „Sonst hat aber auch gar nichts zwischen ihnen gestimmt. Ich schätze auch, sie hätten sich sehr viel früher getrennt, wenn da nicht die Sorge um das gemeinsame, aber trotzdem missratene Kind gewesen wäre“, gab er zu und tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Brust, als Bent sich zu ihm drehte und nachfragen wollte, ob noch Geschwister vorhanden wären.
„Einer schob dem anderen die Schuld für mein Versagen in die Schuhe und darüber hinaus haben sie sich dann so derartig bekriegt, dass es in einer wenig schönen Scheidung ausgeartet ist. Inzwischen können sie allerdings wieder miteinander reden, ohne sich gleich beim ersten Satz an die Gurgel zu gehen“, gab Maxim zu und deutete mit einer Armbewegung an, dass Bent abbiegen und den Gartenweg entlanglaufen sollte.
„Meine Eltern haben sich getrennt, da war ich in der Grundschule. Seitdem habe ich nur noch sporadisch Kontakt zu meinem Vater. Manchmal hat er sich jahrelang überhaupt nicht gemeldet, dann drei Wochen hintereinander den Fürsorglichen gespielt, um gleich anschließend wieder zu verschwinden. Im Augenblick weiß ich nicht einmal so genau wo er ist.“
Maxim griff um den stehen gebliebenen Bent herum und öffnete eine Tür.
„Bitteschön. Das ist gerade der Teil des Hauses den ich bewohne.“
Bent wusste nicht genau warum, aber er fragte „Warum gerade diesen Teil?“
Maxim schnaubte „Weil hier die meisten Fenster nach innen zeigen.“
Bent dachte einen Augenblick lang nach und stellte seine Reisetasche direkt an der Tür ab, die Maxim gerade schloss.
„Und weshalb ist das gut?“
„Wenn keine Luke da ist, durch die man gucken kann, kann man auch keine Fotos machen“, sagte Maxim und hängt einen Schlüsselbund an einen Haken.
„Sind die versessen auf Bilder von dir?“
Maxim hob die linke Augenbraue und seufzte leise.
„Das soll dich nicht kümmern, okay? Dafür sind andere Menschen zuständig.“
„Typen wie dieser Jörg?“, fragte Bent und sah sich genauer um.
Die Einrichtung war modern und wirkte ein wenig steril. Als Maxim ihn etwas fragte und er der Stimme folgte, sah er, das auch die anderen Räume im gleichen Stil eingerichtet waren. Maxim bemerkte den Blick.
„Ich weiß. Es wird Zeit für eine Rundum-Erneuerung, aber bis jetzt hab ich dafür keine Zeit und noch weniger Lust gehabt.“
Bent öffnete den Mund. Er wollte Maxim schon mitteilen, wie er sich die Einrichtung vorstellte, aber da drückte ihm der Mann schon ein Getränk in die Hand.
„Setz dich, bitte“, sagte er und deutete mit der Hand auf ein riesig wirkendes Sofa, das eine Menge Platz beanspruchte „Hast du Hunger?“
Bent setzte sich vorsichtig, weil er befürchtete, mit seiner schmutzigen Kleidung Abdrücke zu hinterlassen, aber Maxim schien das entweder zu verdrängen, oder es störte ihn nicht. Noch einmal zeigte er auf das Sofa und Bent schüttelte den Kopf.
„Nein. So richtig Hunger habe ich nicht.“
„Aber irgendwas ist anders als heute Morgen.“
„Was meinst du damit?“
„Irgendwie wirkst du leicht angespannt.“
„Das wärst du auch“, begann Bent „Wenn du in vergammelten Klamotten in eine derartige Wohnung kämst. Ich habe, wenn ich ehrlich bin, Angst davor, Dreck zu hinterlassen.“
„Möchtest du vielleicht duschen und dich umziehen?“
Bent schnaubte „Meine andere Kleidung sieht garantiert auch nicht viel anders aus. Nur, weil ich sie nicht trage, heißt das ja nicht, das sie sauber ist.“
Maxim schluckte und sah noch einmal an der Gestalt des eigentlich Fremden entlang.
„So war das nicht gemeint. Entschuldige.“
Bent biss sich auf die Unterlippe und zog aus Nervosität die Nase hoch.
„Duschen wäre klasse. Die Übernachtungsmöglichkeiten sind ja manchmal noch akzeptabel, aber die Nasszellen sind in den meisten Unterkünften eine Katastrophe. Sofern sie überhaupt noch funktionieren, sind sie so verdreckt, dass ich manchmal das Gefühl hatte, ich wäre schmutziger wiedergekommen, als ich reingegangen bin“, sagte er und drehte das Glas mit dem eisgekühlten Getränk in seinen Händen.
„Wenn dir“, begann Maxim „Das nichts ausmacht, dann könnte ich auch mal nachsehen, ob ich was zum Anziehen finde. Danach würde ich dich gerne zum Essen einladen und tatsächlich etwas mit dir besprechen.“
„Warum ausgerechnet mit mir?“
„Weil ich denke, dass du eine zweite Chance verdient hast.“
„Wer sagt dir denn, dass ich die erste Chance sogar richtig gut finde?“
Maxim beobachtete seinen Gast. Er hatte die Aussage zwar gehört, bezweifelte aber an der Richtigkeit daran. Sicher hatte sich niemand ausgesucht so zu leben. Irgendetwas war sicherlich schuld daran, dass dieser Mann mit Sack und Pack unterwegs war und zum Schlafen in fremde Autos einbrach.
„Entschuldige. Ich wollte dir nicht zu Nahe treten. Pass auf, ich schlag dir was vor, okay? Du duschst jetzt, dann essen wir was und ich erzähle dir, was ich in den nächsten Tagen vorhabe. Wenn du Interesse hast, dann finden wir eine Lösung, wenn nicht, biete ich dir noch eine Übernachtungsmöglichkeit und ab morgen früh bist du wieder auf dich gestellt. Klingt das fair?“
Bent dachte kurz nach. Was hatte er schon zu versäumen? Niemand wartete auf ihn, er hatte kein Ziel und er war absolut mittellos. Wenn ihm dann jemand ein Dach über dem Kopf bot, etwas zu essen und ein Bett, dann sollte er wohl nicht lange überlegen, sondern sofort zusagen. Andererseits konnte der Typ auch ein Serienkiller sein und diese Art von Hilfe seine Masche, um an Opfer zu gelangen. Außerdem fragte er sich, weshalb er der Frage mit dem Fotografen ausgewichen war. Irgendetwas hatte das ja ganz sicher zu bedeuten. Warum er das tat und was ihn dazu verleitete, wusste Bent nicht. Er war selbst über seine Reaktion erstaunt, denn er nickte Maxim zu.
„Klingt gut.“
Maxim lächelte und erhob sich „Bin gleich wieder da“, sagte er und verschwand hinter einer Tür. Bent sah hinter ihm her und wartete dann. In der Zwischenzeit sah er sich genauer um. Es war hier tatsächlich etwas steril. Das lag vor allen Dingen daran, dass es hier nicht aussah, als würde jemand hier wohnen. Eher, als wäre man beim Betrachten eines Möbelkataloges in diese Szenerie hineingefallen und wüsste nicht, wie man wieder herauskommen sollte. Hier stand nichts Persönliches, nichts, was es ein wenig familiär aussehen ließ. Da hingen keine Bilder an den Wänden und es standen auch keine auf den Kommoden oder Anrichten, die allesamt auf Hochglanz poliert waren und ohne jegliches Staubkorn. Kein Fingerabdruck war zu sehen und auch sonst nichts, was auf Leben hindeutete.
Bent fühlte sich unwohl, je länger Maxim verschwunden blieb. Tatsächlich spürte er ein gewisses Unwohlsein in sich aufsteigen und schnupperte am Getränk, ohne etwas Verdächtiges zu riechen.
„Hier“, sagte jemand und Bent sprang auf. Er war so in Gedanken gewesen, dass er Maxim nicht gehört hatte.
„Hab ich dich erschreckt?“, grinste der und Bent nickte.
„Ich war ein wenig abgelenkt.“
„Über was hast du nachgedacht?“
Bent presste die Lippen aufeinander „Ob es wirklich richtig ist das zu tun.“
„Ich kann es dir nur anbieten. Darüber entscheiden, ob es richtig oder falsch für dich ist, musst du schon selbst.“
„Dieser Kerl“, begann Bent und zeigte durch die Hauswand in Richtung Straße „Warum hat der Bilder von mir gemacht?“
„Weil“, begann Maxim und drückte ihm ein Bündel Kleidung in den Arm „Hier nicht viele Personen ein und ausgehen. Da kann ein Einzelner schon interessant genug sein, ein Bild von ihm zu machen.“
Bent hob die Augenbrauen fragend an „Meine Mutter bekommt auch nicht oft Besuch. Trotzdem lungert da kein Reporter oder Fotograf auf der Straße herum und macht Bilder wenn dann doch mal irgendwer kommt.“
Dieses Mal war es Maxim, dem etwas ein wenig peinlich zu sein schien.
„Es hat einen Grund. Stimmt, aber ich würde gerne noch ein bisschen damit warten, ihn dir zu erzählen. Es ist nichts schlimmes und auch nichts anstößiges, oder so, es ..“, brach Maxim ab und Bent erhob sich. Er hatte beschlossen, diese Tatsache einfach zu verdrängen und auf sein Bauchgefühl zu hören, dass ihm eindeutig mitteilte, diesem Mann zu vertrauen. Er machte keinen gefährlichen Eindruck und auch sonst war er bisher nett zu ihm gewesen. Was sollte schon passieren? Im Zweifelsfalle würde er eben den Preis seines Leichtsinns mit dem Leben bezahlen und auf nimmer Wiedersehen von dieser Welt verschwinden. Auffallen würde es wahrscheinlich sowieso niemandem.
„Na gut“, murmelte Bent und ließ sich von Maxim das Badezimmer zeigen. Das war nun wirklich so gar nicht nach seinem Geschmack. Dieser ganze Raum war weiß. Weiße Kacheln, weiße Möbel und eine weiße Decke. Sogar das Licht war gleißend hell und wirkte derartig ungemütlich, dass Bent sich nicht länger umsah, sondern sich auszog und gleich unter die Dusche stieg.
Er genoss das warme Wasser, den Duft des Duschbades und anschließend sogar die Weichheit des weißen und irrsinnig großen Handtuches.
„Sollen wir deine Sachen waschen?“, hörte er Maxim von draußen fragen und nickte ihm durch die geschlossene Tür zu.
„Das klingt absolut verlockend.“
„Okay, dann werden wir das tun. Ich bereite alles vor, in Ordnung?“
„Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal so viel Wasser an meinem Körper hatte und wann frisch gewaschene Klamotten, dass muss schon mehrere Monate her sein.“
„Ist nicht einfach, so ein Leben, oder?“
Bent ließ seinen Blick ein letztes Mal schweifen, dann murmelte er „Ich glaube, es ist nicht sehr viel schlimmer als deines.“
„Wie meinst du das?“, hörte er Maxim fragen, der ihm fast in die Arme fiel, als Bent die Tür öffnete. Wahrscheinlich hatte er an ihr gelehnt.
„Du machst nicht den Eindruck, als würdest du dich hier so richtig wohlfühlen und auch nicht, als wärst du hier zuhause, verstehst du?“, wollte er wissen und schüttelte den Kopf „Also, so richtig zuhause, wo man Fünfe gerade sein lässt, wo man den Bauch nicht einziehen muss und man auch schon mal einen fahren lässt“, grinste er und Maxim lächelte gequält.
„Na ja“, begann er dann „So ganz unrecht hast du nicht einmal, aber das gehört wohl dazu.“
„Wozu?“
„Zu meinem Image.“
„Wozu brauchst du denn ein Image? Sag mal, was für ein Kerl bis du eigentlich? Also ich, ich kenne niemanden, der ein Image braucht“, gab Bent von sich und betonte vor allen Dingen das Wort Image.
Maxims Zunge bohrte sich in die linke Wange. Er sah Bent an und holte tief Luft.
„Würde es dir fürs Erste reichen, wenn ich dir sage, dass ich etwas bekannter bin als mir manchmal lieb ist?“
Bent neigte den Kopf zur Seite und Maxim spürte, wie sich seine Nackenhärchen aufstellten. Frisch gewaschen und ordentlich angezogen wirkte Bent schon völlig anders als vorher, obwohl er zugeben musste, dass auch zuvor schon ein gewisser Reiz von diesem jungen Mann ausgegangen war. Und was hieß hier überhaupt: Junger Mann? Sie waren sicherlich fast gleichaltrig. Wenn überhaupt, dann war Maxim ein paar Jahre älter. Allerhöchstens fünf oder sechs Jahre.
„Bekannter?“, fragte Bent und schnaubte „Was immer das bedeuten soll“, murmelte er und verdrehte die Augen „Ein Image. Der Herr braucht ein Image.“
„Damit ich wenigstens manchmal noch sowas wie eine Privatsphäre habe, okay?“
„Aha“, gab Bent von sich und vertiefte sich nur wenig später in die Speisekarte einer Pizzeria. Er konnte sich gar nicht entscheiden, weil jedes dieser Gerichte einfach nur dafür sorgte, dass er noch ein wenig hungriger war als vor einigen Sekunden. Ganz schlimm wurde es allerdings, als Maxim ihm auch noch eine zweite Karte reichte.
„Oder doch lieber griechisch?“
„Es ist mir egal, solange es einfach nur viel ist. Ich kann dir gar nicht sagen wie groß mein Hunger ist“, gab er zu und Maxim nickte.
„Gibt es irgendetwas, dass du nicht isst?“
Bent ließ die Speisekarte sinken und schüttelte den Kopf „Nicht, das ich wüsste.“
Maxim legte die Karte auf den Tisch zwischen sich und Bent und sah ihn an „Darf ich dich was fragen? Du musst nicht antworten, es ist ja nicht so, als müsstest du dich vor mir rechtfertigen, aber, was hat dich in diese Lage gebracht?“
Bent räusperte sich „Meine eigene Dämlichkeit. Reicht dir das fürs Erste?“
Maxim dachte an seine eigenen Worte und nickte ihm schließlich zu.
„Klar. Ich sagte ja schon, du musst keine Rechenschaft vor mir ablegen. Alles gut. Ich dachte gerade nur“, begann er und nahm die Speisekarte wieder hoch „Du machst nicht den Eindruck eines Landstreichers. Alle, die ich sonst so auf den Straßen treffe, die sind meist nicht nüchtern, noch sehr viel schmutziger und benehmen sich manchmal nicht gerade gut. All das kann ich von dir gerade nicht behaupten. Das hat mich neugierig gemacht, dass ist alles.“
Bent beobachtete den Mann, den er kurz nach Sonnenaufgang am gleichen Tag kennengelernt hatte. Selbst als er ihn erwischt hatte, als er unerlaubt ins einem Campingbus übernachtet hatte, war er nicht unfreundlich gewesen, sondern hatte Fragen gestellt. Die Antworten hätten sicherlich die wenigsten Mitmenschen interessiert und ob er richtig zugehört hatte, wusste er auch nicht genau, aber er hatte ihn wenigstens nicht gleich verscheucht und mit der Polizei gedroht.
„Ich hab mich mit jemandem eingelassen, der mich um mein bisheriges Leben betrogen hat. Von einem Tag auf den anderen hatte ich keinen Job mehr, keine Wohnung und bei der Bank teilte man mir mit, dass mein Konto so hoch belastet war, dass man keine Auszahlung mehr tätigen könnte. Also bin ich, so hart es auch war, nach Hause zu meiner Mutter gefahren und habe sie um Hilfe gebeten“, begann er zu erzählen und wusste nicht einmal genau, weshalb er das tat. Bisher hatte er noch mit niemandem über seine Gründe gesprochen, aber bei Maxim schien das etwas anderes zu sein. Da kamen die Worte von ganz allein.
„Wir haben miteinander gesprochen und als sie zur Bank wollte, um mir ein bisschen Geld zu leihen, stellte sich raus, dass auch bei ihr nichts mehr zu holen war. Sie stand fast genauso vor dem Nichts wie ich. Das Einzige, was sie mir voraushatte, war, dass sie noch eine Arbeitsstelle hatte und ein bisschen was Erspartes in einer alten Blumenvase.“
„Welchem Schwindel seid ihr aufgesessen?“, wollte Maxim wissen und legte erneut die Speisekarte auf den Tisch. Er rutschte ein Stück nach vorne zur Kante und legte die Unterarme auf den Knien ab.
Bent schluckte.
„Ich habe einem Freund vertraut. Zumindest dachte ich damals das er ein Freund wäre“, sagte er und hob den Blick, bis er Maxim ansehen konnte „Und weil er eben einer meiner Freunde war, hat meine Mutter auch nicht gezögert ihn in gleicher Art und Weise zu unterstützen, wie ich es getan habe. Was soll ich sagen?“, machte er weiter und schüttelte über seine eigene Leichtgläubigkeit den Kopf „Er hat uns beide gelinkt. Gott sei Dank ist wenigstens meine Mutter einigermaßen glimpflich davongekommen. Ich hätte es mir niemals verziehen können, wenn sie auch noch alles verloren hätte.“
Maxim knetete seine langen Finger und kaute auf der Innenseite seiner rechten Wange.
„Das muss aber ein guter Freund gewesen sein“, stieß er aus und hörte Bent schnauben.
„Bis zu diesem Zeitpunkt dachte ich das zumindest. Ich wäre für ihn durchs Feuer gegangen“, machte er weiter und schüttelte dabei heftig den Kopf „Ich hätte überhaupt nicht darüber nachgedacht, ehrlich nicht. Wenn er mir gesagt hätte, ich solle für ihn bürgen, dann hätte ich es wahrscheinlich ohne zu zögern getan. So blöd kann wirklich nur ich sein. Ehrlich“, sagte Bent noch immer kopfschüttelnd „So blöd.“
„Was ist aus diesem Freund geworden?“, fragte Maxim und hörte Bent trotz allem leise lachen. Irgendwie tat ihm dieses Geräusch gut.
„Na ja. Soweit ich gehört habe, hat er sich an der Börse verspekuliert und lebt heute in äußerst armseligen Verhältnissen. Ich weiß ja, dass man darüber keine Witze machen sollte, aber ich gönne es ihm von ganzem Herzen.“
„Kann ich verstehen“, antwortete Maxim und schlug sich mit der flachen Hand auf die Schenkel „Wollen wir bestellen?“
Bent nickte „Solange du bezahlst, können wir bestellen.“
Maxim grinste und griff zum Telefon.
Bent hörte ihm gespannt zu, wie er bei beiden Lokalen fast Unmengen von Lebensmitteln bestellte und dann die hiesige Adresse nannte. Er seufzte leise, weil wohl jemand nachfragte, ob er richtig verstanden hätte.
„Ja, die Adresse stimmt. Jemand wird die Ware am Tor entgegennehmen und Sie bezahlen, in Ordnung?“, wollte er wissen und nickte noch einige Male bevor er auflegte „Ich hatte mal einen Lieferanten“, erzählte er und kicherte leise vor sich hin „Der hat, nachdem ich eine Bestellung abgegeben habe, die Polizei verständigt. Er glaubte, ich würde mir einen bösen Scherz erlauben und war ziemlich wütend als die Beamten ihm erklären wollten, dass es kein Scherz war. Er hat mich trotzdem nicht beliefert“, lachte Maxim jetzt und lehnte sich zurück, nachdem er Jörg beauftragt hatte, die Lieferung entgegenzunehmen und die Rechnung zu begleichen.
„Was möchtest du trinken? Ein Bier, ein Glas Wein? Vielleicht eine Cola oder was sonst?“
„Ein Glas Cola wäre grandios“, antwortete Bent und fühlte sich, warum auch immer, nicht mehr ganz so fremd in diesem Haus. Nein, er hätte mit Sicherheit eine andere Einrichtung gewählt, aber solange Maxim anwesend war, hätte er sich mit diesem seltsamen Stil arrangieren können.
„Sollst du haben.“
„Bestellst du eigentlich immer dein Essen, oder kochst du manchmal auch selbst?“, rief er hinter Maxim her, der in überaus großen und ebenso steril eingerichteten Küche verschwunden war.
„Wenn ich koche, rückt garantiert die Feuerwehr aus. Darin bin ich eine Niete. Ist zwar nicht so, als würde es mich nicht interessieren, aber ich hab einfach kein Talent dafür. Kochst du?“
„Ja. Ich habe zwar nicht schlecht in meinem Job verdient, aber es hätte nicht gereicht jeden Abend auswärts zu essen.“
„Manchmal“, hörte er Maxim sagen, als der mit zwei Flaschen Cola bei ihm erschien und ihm eine davon reichte „Kocht Jörg. Dann esse ich bei den Angestellten mit. Ich bin ein großer Freund von Bratkartoffeln und Spiegeleiern“, grinste er breit „Leider kriegt man das in den wenigsten Lokalen und wenn ich mit Sonderwünschen anfange, dann zahlt man gleich drauf.“
„Das hätte ich wohl noch hinbekommen“, erklärte Bent und Maxim stöhnte leise.
„Morgen vielleicht?“, fragte er und Bent zwinkerte ihm zu.
„Warten wir es ab.“
„Ja“, nickte Maxim und setzte sich auf die Sofalehne „Warten wir es ab.“
„Worüber wolltest du eigentlich mit mir sprechen?“, fragte Bent und hörte Maxim etwa zwanzig Minuten zu. Am liebsten hätte er ihn schon nach etwa fünf Minuten unterbrochen und zugestimmt, aber er hörte ihm einfach zu gerne zu.
„Du hast schon nach fünf Minuten dicht gemacht, hab ich Recht?“, fragte Maxim danach und Bent schüttelte den Kopf.
„Bist du sicher, dass ich der Richtige dafür bin?“
„Ich könnte auch eine Anzeige ins Internet stellen, aber dann melden sich wieder eine ganze Menge Interessenten, die eigentlich kein Interesse am Job haben, wohl aber daran, mit mir gesehen zu werden.“
Bent wollte gerade aufstehen, als jemand klopfte und Maxim diesem Jemand die Tür öffnete. Er hörte ihn lachen.
„Meine Güte. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass ich so viel bestellt habe. Danke dir, dass du das alles hierher geschafft hast.“
„Ich dachte schon, der hätte sich in der Adresse geirrt, aber dann fiel mir ein, dass dein Gast vielleicht Hunger hat.“
„Nicht nur der.“
Bent sah den besorgten Blick des Angestellten nicht und er konnte auch nicht das grinsende Gesicht seines Gastgebers sehen, der Jörg zuzwinkerte und leise zuflüsterte „Alles okay. Kein Grund zur Sorge, aber es könnte sein, dass er mitfährt.“
„Sicher?“, fragte Jörg und sah Maxim nicken.
„Ja. Wenn er zusagt, fährt er mit uns.“
„Ich hoffe“, hörte Bent den großen Mann sagen „Du weißt, was du tust.“
Bent pustete die Luft aus den Lungen. Das hörte sich irgendwie nicht gut an. Die Besorgnis in Jörgs Stimme war nicht zu überhören gewesen. Klar, dass er sich Sorgen machte. Das konnte er ihm nicht einmal verdenken, denn im Grunde kannten sie sich nicht und wussten kaum etwas voneinander. Wem hätte er es also verdenken können?
„Ich denke schon“, hörte er Maxim antworten „Und wenn nicht, dann hab ich ja immer noch dich.“
Das Gemurmel, mit dem Jörg antwortete, verstand Bent nicht, aber er konnte sich schon denken, das es sicher nicht gerade Begeisterung war, mit der er sprach.
„So“, sagte Maxim und stellte eine Menge kleinerer und größerer Pakete auf den Tisch vor Bent „Das Essen ist hier. Bedien dich, okay?“
„Er ist nicht begeistert, oder?“
„Jörg? Der ist nie begeistert. Egal, was ich tue oder was immer ich auch nicht tue, er stellt alles in Frage. Auf der einen Seite liegt er mir in den Ohren ich soll mir Freunde suchen, tue ich genau das, nimmt er sie so genau unter die Lupe, dass es schon peinlich ist. Damit hat er schon so manchen vergrault, denn irgendwann kommt garantiert irgendwas ans Licht.“
„Und dann wird es unangenehm“, vermutete Bent und Maxim nickte. Er öffnete das erste Päckchen und schnupperte daran.
„Oh mein Gott, wie gut das wieder riecht. Hier, probier das mal. Ich schwöre dir, das riecht nicht nur so, es schmeckt auch so.“
Noch zögerte Bent, aber als er den ersten Bissen genommen hatte, hob er noch eine Braue an und verschlang dann mit großem und gesundem Appetit alles, was Maxim ihm gab. Und der, der amüsierte sich über seinen hungrigen Gast.
Sie reden miteinander über ganz banale Dinge, lachen zusammen und sind manches Mal ernst.