Marvin, Hagen und der glückliche Bücherling - Nasha Berend - E-Book

Marvin, Hagen und der glückliche Bücherling E-Book

Nasha Berend

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Beschreibung

Der Unfall einer gemeinsamen Freundin stößt die gerade erst aufkeimende Freundschaft zwischen Marvin und Hagen in eine Krise. Während Marvin sich Vorwürfe wegen dieses Unfalles macht, versucht Hagen krampfhaft in die Normalität zurückzukehren. Mathildas komatöser Zustand macht es ihnen nicht gerade leicht, ihre Beziehung zu vertiefen. Marvin pendelt zwischen Job und Krankenhaus und zieht sich immer weiter zurück. Um das zu verhindern, bringt Hagen seine Freunde ins Spiel, die sich mit ihnen abwechselnd um die Patientin kümmern. Obwohl sie sich kaum kennen, wachsen sie auf diese Weise zusammen und versuchen, Mathilda das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Marvin weigert sich, zu glauben, dass die junge Frau nie wieder lebhaft am Leben teilhaben kann und begibt sich auf die Suche nach einer Möglichkeit ihr zu helfen oder vielleicht sogar zu heilen. Bis ein Mann ins Spiel kommt, der sie das alles von einer anderen Seite aus betrachten lässt. Er ist jemand, der es mit ein paar Kräutern, Weisheit und einer Prise Magie möglich machen könnte, Mathilda wieder zurückzuholen.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Über das Buch
Marvin, Hagen und der glückliche Bücherling
Der Nebel lichtet sich
Entscheidungen
Verzweiflung
Ausraster
Verdammt und zugenäht
Krankenhäuser
Kräuterhexen unter sich
Marvin
Neuigkeiten
Filmriss
Überrumpelt
Seltsame Substanzen
Unruhige Nacht
Erwartungen
Das Ende vom Lied

Wortzähler: 76028

 

 

 

Marvin, Hagen und der glückliche Bücherling

 

 

von

Nasha Berend

 

 

Copyright © Nasha Berend

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Impressum:

Nasha Berend

Buschstraße

39649 Hansestadt Gardelegen

E-Mail: [email protected]

 

 

 

Umschlaggestaltung: Dirk Dresbach

Fotos: Copyright © Dresbach

 

 

 

Über das Buch

 

 

 

 

 

Der Unfall einer gemeinsamen Freundin stößt die gerade erst aufkeimende Freundschaft zwischen Marvin und Hagen in eine Krise. Während Marvin sich Vorwürfe wegen dieses Unfalles macht, versucht Hagen krampfhaft in die Normalität zurückzukehren. Mathildas komatöser Zustand macht es ihnen nicht gerade leicht, ihre Beziehung zu vertiefen. Marvin pendelt zwischen Job und Krankenhaus und zieht sich immer weiter zurück. Um das zu verhindern, bringt Hagen seine Freunde ins Spiel, die sich mit ihnen abwechselnd um die Patientin kümmern. Obwohl sie sich kaum kennen, wachsen sie auf diese Weise zusammen und versuchen, Mathilda das Leben so angenehm wie möglich zu machen.

Marvin weigert sich, zu glauben, dass die junge Frau nie wieder lebhaft am Leben teilhaben kann und begibt sich auf die Suche nach einer Möglichkeit ihr zu helfen oder vielleicht sogar zu heilen.

Bis ein Mann ins Spiel kommt, der sie das alles von einer anderen Seite aus betrachten lässt. Er ist jemand, der es mit ein paar Kräutern, Weisheit und einer Prise Magie möglich machen könnte, Mathilda wieder zurückzuholen.

 

 

 

 

Nasha Berend

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Marvin, Hagen und der glückliche Bücherling

 

 

Der Nebel lichtet sich

 

Marvin wischte sich den Schweiß von der Stirn und pustete gleichzeitig die Luft aus.

„Das hält man doch im Kopf nicht aus“, sagte er leise und nahm den Antrag an sich, den ihm eine Krankenschwester gerade auf den Tisch gelegt hatte. Sie hielt ihm einen Kugelschreiber entgegen.

„Das tut mir sehr leid. Ehrlich“, sagte sie ernst „Aber bevor Sie nicht Ihre Unterschrift daruntersetzen, darf ich die Patientin nicht mit Ihnen in den Park lassen.“

„Ich habe nicht vor sie zu adoptieren und ich will sie auch nicht aus der Klinik entführen“, murmelte Marvin und nahm den Stift vom Tisch. Er unterzeichnete das Schriftstück und schüttelte den Kopf „Ihr geht nur auf Nummer sicher, ich weiß“, murmelte er und schob das Blatt Papier in Richtung der Angestellten, deren Mundwinkel kurz zuckten, als würde sie tatsächlich lächeln wollen. Das wäre allerdings das Allererstemal, dass sie sowas wie eine Gefühlsregung gezeigt hätte, seit Marvin und Hagen sich nach dem Unfall um Mathilda kümmerten. Bisher schienen ihre Gesichtszüge wie in Stein gemeißelt zu sein.

„Da haben Sie Recht. Wir gehen nur auf Nummer sicher. Falls die Patientin später wieder ansprechbar ist und nachfragen sollte, wieso wir sie mit einem Fremden in den Park gelassen haben.“

Marvin sah sie an.

„Vorausgesetzt, Sie finden dieses Blatt Papier in diesem Sammelsurium auf ihrem Arbeitsplatz wieder, dann könnten Sie ihr den vorlegen“, knurrte er verärgert und recht leise. Scheinbar aber nicht leise genug, denn sie öffnete den Mund und wollte gerade etwas erwidern, als das Telefon auf dem Schreibtisch der Service-Station klingelte.

Marvin rollte die Augen, als die Schwester sich in Bewegung setzte und sich umdrehte, kurz bevor sie das Telefon erreicht hatte. Spielerisch drohte sie mit dem Finger und nahm dann das Gespräch entgegen.

Marvin schmunzelte, ergriff aber trotzdem die Chance und beeilte sich, in das Zimmer zu kommen, in dem Mathilda inzwischen seit über vier Wochen lag. Als er die Tür dieses Zimmers leise öffnete und einen ersten Blick auf die Frau werfen konnte, die er zum Zeitpunkt ihres Unfalles erst einige Stunden kannte, hätte er am liebsten wieder kehrtgemacht.

Zusammengesunken hockte sie im Klinikrollstuhl und starrte blicklos aus dem Fenster. Sie nahm um sich herum nicht viel wahr, auch nicht, dass Marvin jeden Tag eine Stunde oder länger bei ihr saß und mit ihr redete. Mal las er ihr etwas vor, mal redete er über seine Arbeit und mal stellte er Vermutungen über seine magische Zukunft an.

Leise schloss er die Tür hinter sich und räusperte sich.

„Meine Güte. Du musst deinen Teller ja wirklich vorbildlich leer gemacht haben“, rief er betont fröhlich und war mit wenigen Schritten bei Mathilda, vor die er sich kniete und anlächelte, obwohl ihm mehr nach heulen zumute war „Na?“, fragte er „Alles in Ordnung bei dir?“

Mathilda sah ihn nicht an. Sie starrte weiterhin geradeaus und aus dem Fenster, vor das sie einer der Pfleger gestellt hatte. Ihre Hände hatten sie ihr auf den Oberschenkeln gefaltet.

„Ich habe mich bei den Schwestern draußen erkundigt. Stell dir vor, mir ist erlaubt worden, mit dir in den Park zu gehen. Ist das nicht toll? Ich meine, wer soll auch in diesen kleinen Zimmerchen hier gesund werden?“, fragte er und entriegelte die Bremse des Rollstuhles. Vorsichtig fuhr er durch das Zimmer und öffnete die Tür dieses Mal von der anderen Seite. Im Flur herrschte plötzlich hektisches Treiben. Einige Personen im Klinikoutfit stürmten an ihnen vorüber ohne sie zu bemerken und andere sahen sie kurz an, ohne sie wirklich zu sehen. Marvin wartete, bis er niemanden mehr störte, bevor er mit dem Rollstuhl abbog und auf die Fahrstühle zu schob. Hinter sich einen Tumult, dem er keine Bedeutung beimaß.

Er drückte auf ein Knöpfchen, bis sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte und erst im Erdgeschoss wieder bremste. Ein leichter Ruck bevor die Tür sich öffnete und den Blick auf den Eingang der Klinik wiedergab. Langsam und übervorsichtig setzte Marvin sich in Bewegung. Ein Mal kam ihnen ein Pfleger entgegen der sie anlächelte, ansonsten schienen sie unsichtbar zu sein. Eigentlich empfand er es als recht angenehm, sich nicht ständig von Blicken beobachtet zu fühlen, wie er es sonst öfter tat. Wahrscheinlich war das nur Einbildung, aber er spürte diese Blicke öfter hinter seinem Rücken, als ihm lieb war.

Nur jetzt nicht.

In diesem Augenblick schien er so unsichtbar zu sein, wie er es sich immer gewünscht hatte. Sollten sie doch allen anderen hinterherglotzen und ihn dafür in Ruhe lassen.

Er atmete tief ein und wieder aus und durchquerte unbemerkt von anderen das Erdgeschoss. Er lächelte den Mann an, der hinter einer Glasscheibe saß und sowas wie das Herz dieser Klinik war. Hinter diesen Glasscheiben schien alles zusammenzulaufen. Ohne den Mann, der immer da war, wenn Marvin die Klinik betrat, lief hier wohl gar nichts mehr. Vor einigen Tagen hatte er in einem Gespräch mit Hagen scherzhaft behauptet, dass der Mann wohl der Herzschrittmacher war. Als er jetzt daran dachte, lachte er leise und freute sich, als der Mitarbeiter den Kopf hob und sie beide direkt ansah. Es dauerte nicht allzu lange, bis er zurücklächelte und sich dann wieder anderen Dingen widmete, die für ihn wohl wichtiger waren als zwei Personen, die die Klinik durch den Haupteingang verließen.

Draußen bog Marvin sofort links ab und schob den Rollstuhl über die Betonplatten, bis er sein Ziel erreicht hatte. Dort stellte er die Bremsen fest und deckte eine Wolldecke über Mathildas Beine und setzte sich dann neben sie auf eine Parkbank, wie sie zu Dutzenden auf dem Gelände standen. Erneut atmete er tief ein und wieder aus und zupfte mit spitzen Fingern an der Wolldecke. Er zuckte zusammen, als jemand eine Hand auf seine Schulter legte und ihn ansprach.

„Bist du schon lange hier?“

„Nee“, gab er kopfschüttelnd zu „Hab mich gerade erst hingesetzt. Was willst du denn hier? Hast du jemanden hier liegen?“, fragte Marvin und deutete auf das große und neue Gebäude vor ihnen.

„Nein. Ich bin hier, weil du hier bist.“

Verständnislos runzelte Marvin die Stirn.

„Wegen mir?“

„Ja. Wegen dir. Hagen macht sich Sorgen und hat mich gebeten, für dich einzuspringen. Das heißt, du wirst jetzt nach hause fahren während ich mich um Mathilda kümmere.“

„Kommt überhaupt nicht in Frage“, murmelte Marvin und wehrte sich mit einer Geste gegen das gerade gehörte „Ich habe ihr schließlich versprochen mit ihr den Mittag heute im Garten zu verbringen. Das werde ich auch halten.“

Marvin hörte den Mann neben sich seufzen.

„Das rechnen wir dir auch hoch an, aber glaubst du nicht, du übertreibst es langsam mit deinem Verhalten? Das ist ja schon zwanghaft, was du hier tust, Marvin. Ihr habt euch gerade erst kennengelernt und solltet die Zeit miteinander verbringen und euch nicht nur hier in diesem Krankenhaus treffen. Zum Schichtwechsel.“

Marvin dachte an Hagen und biss sich auf die Unterlippe und tätschelte Mathildas Hand.

„Vielleicht wäre sie ohne uns gar nicht in dieser Lage. Sie wäre sicherlich nicht völlig übermüdet Auto gefahren und hätte garantiert auch einen LKW nicht übersehen.“

„Du verwechselst da wohl was“, raunte der Mann neben ihm kopfschüttelnd „Nicht SIE hat den LKW übersehen, sondern der LKW hat ihr Auto nicht gesehen. Sie hätte nicht einmal im hellwachen Zustand etwas an diesem furchtbaren Unfall ändern können.“

Marvin sprang auf und wendete sich dem Mann zu. Er war kurz davor ihn am Kragen zu fassen und zu schütteln „Natürlich hätte sie es nicht verhindern können, aber ohne uns wäre sie an diesem verdammten Morgen gar nicht mit ihrem Auto unterwegs gewesen. Hätte Hagen nicht diesen, diesen ..“, begann er und fuchtelte unbeholfen mit den Armen in der Luft herum „Diesen Aussetzer gehabt und hätte uns in seinen Gedanken einfach in die Vergangenheit mitgenommen, dann wäre sie nicht auf dieser Straße, nicht an dieser Ampel und nicht mal in ihrem Auto unterwegs gewesen, verstehst du das?“, fragte er laut und schüttelte genervt den Kopf „Ich kann mich heute nicht einmal mehr daran erinnern, wohin er uns mit seiner bescheuerten Theorie einer Zeitreise gebracht hat. Ich habe es ihm vorher nicht wirklich geglaubt und nach ihrem Unfall erst Recht nicht“, schimpfte Marvin ziemlich wütend und wehrte die beruhigende Geste ab, mit der der Mann ihn beschwichtigen wollte „Lass mich bitte in Ruhe. Ich werde mich hier nicht fortbewegen. Kommt gar nicht in Frage. Ich werde für sie hier sein und wenn sie sich nie wieder erholt, dann wird sich das auch in Zukunft nicht ändern. Ohne uns wäre sie nämlich gar nicht in dieser Lage. Ich begreife gar nicht, wieso er einfach sein Leben weiterlebt, als wäre nie etwas passiert. Aber ich“, er tippte sich mit dem Finger hart gegen die Brust und schüttelte auch noch immer den Kopf „Ich kann das nicht. Ich habe das dringende Bedürfnis für sie da zu sein. Erst dann finde ich sowas wie meinen Frieden“, erklärte er und wunderte sich, dass der Mann vor ihm aufstand und nach ihm griff. Er ließ es zu, dass er ihn hier vor allen Besuchern und genesenden Kranken an sich zog und die Arme um ihn legte.

„Wenn sie es mitbekommen würde, dann würde sie dir jetzt sagen dass das alles nicht richtig ist, Marvin. Ihr seid nicht schuld an ihrem Unfall und das weißt du genau. Ich habe zwar keine Ahnung, warum du Hagen ausweichst, aber so geht das nicht weiter. Ihr solltet dringend miteinander reden“, hörte er den Mann nahe an seinem Ohr flüstern und spürte die warmen Hände, die über seinen Rücken strichen „Anstatt euch aus dem Weg zu gehen solltet ihr zusammenhalten.“

„Ach Hassan“, flüsterte Marvin und schloss für einige Sekunden die Augen. Innerhalb weniger Sekunden liefen die letzten Wochen wie ein Film in rasender Geschwindigkeit vor ihm ab, vom ersten Treffen mit Mathilda, bis hin zu der Nachricht des Arztes, dass man ihnen leider keine näheren Auskünfte über ihren Gesundheitszustand mitteilen dürfte. Allerdings hatten die Angestellten nichts dagegen, wenn Marvin oder Hagen ihnen die ein oder andere Pflegemaßnahme abnahmen und sich um Mathilda kümmerten, die keinerlei Familie mehr hatte. Trotz aller Versuche wenigstens Freunde von ihr ausfindig zu machen, waren alle Bemühungen im Sand verlaufen. Niemand schien sie näher zu kennen und niemand schien sie zu vermissen.

Marvin spürte Tränen in sich aufsteigen.

„Ihr macht euch beide das Leben zur Hölle und wisst genau das ihr keine Schuld an diesem Unfall habt. Statt euch gegenseitig zu stützen tretet ihr dem anderen auch noch vors Schienbein“, murmelte Hassan und schob Marvin ein paar Zentimeter von sich, um ihn besser ansehen zu können. Er lächelte ihn an und strich die Strähne über der Stirn zurück „Ihr solltet wirklich mal miteinander reden, obwohl ich persönlich der Meinung bin, dass man alles zerreden kann. Eure Zeit miteinander könntet ihr auch anderweitig verbringen.“

Marvin starrte ihn an, als hätte er ihn noch nie gesehen.

„Ich weiß im Augenblick nicht einmal, worüber ich mit ihm reden soll, aber was immer sich dein krankes Hirn sonst noch so ausmalt, findet nur in deiner Fantasie statt.“

„Die Tatsache, dass du wohl sehr genau weißt an was ich denke, zeigt mir, dass du durchaus den ein oder anderen Gedanken daran verschwendet hast“, grinste Hassan und strich noch einmal mit der linken Hand über Marvins Oberarm „Aber ehrlich, Marvin. Seit sie hier liegt pendelst du zwischen deiner Arbeit, deiner Wohnung und diesem Ort hier hin und her. Sowas wie in Privatleben hast du gar nicht mehr und das ist nicht gut. Ganz und gar nicht gut.“

Marvin schnaubte und wischte sich mit der trockenen Hand durch das Gesicht.

„Ich werde bei ihr bleiben, solange sie mich braucht. Hagen wird zurückstecken müssen“, sagte er leise und strich behutsam über Mathildas Schultern.

Die junge Frau saß noch genau so in ihrem Rollstuhl, wie sie hineingesetzt worden war. Sie hatte sich noch keinen Millimeter gerührt und ob sie sich jemals wieder bewegen würde, stand noch in den Sternen. Marvin hatte keine Ahnung, wie er mit der Schuld an ihrem Zustand zurechtkommen sollte, und ertrug Hagens Frohnatur im Augenblick einfach nicht. So sehr er sich auch seine Gegenwart wünschte, war er dann bei ihm, ertrug er ihn und seine aufgesetzte lockere Art nicht. Hinzu kam die Tatsache, dass er ihm ständig erklärte, nicht Schuld an Mathildas Zustand zu sein, was Marvin regelmäßig auf die Palme brachte. Vor fast zwei Wochen hatte es deshalb Krach zwischen ihnen gegeben und Marvin hatte mit lautem Knall die Wohnungstür zugeworfen. Erst als er seinen eigenen Schlüssel aus der Tasche gezogen und seine Wohnung aufgeschlossen hatte, wurde ihm gewusst, was er getan hatte.

„Hey“, flüsterte Hassan und lächelte Marvin schon wieder an „Ich weiß, dass wir beiden uns noch nicht allzu lange kennen, Marvin, aber trotzdem sehe ich, dass du nicht wirklich glücklich bist. Du nimmst da eine Schuld auf dich, die zu Unrecht auf dir lastet. Wenn überhaupt jemand daran schuld ist, dann ist es dieser Spediteur, für den der Lkw Fahrer gearbeitet hat. Der war es schließlich, der so einen Druck auf den Mann ausgeübt hat, länger zu fahren als es eigentlich rechtlich vorgeschrieben ist.“

Marvin stieß die eingeatmete Luft in einem Schwall durch die Nase aus und schüttelte gleichzeitig den Kopf „Lieb von dir, dass du mich trösten möchtest, aber ohne uns“, begann er „Ohne Hagen und meine Wenigkeit, wäre sie zu diesem Zeitpunkt gar nicht erst in der Gegend gewesen. Der Lkw hätte sie nicht erwischt und sie säß auch jetzt nicht hier in diesem Park, in einem Rollstuhl und dann noch mit zwei Personen, die sie eigentlich gar nicht wirklich kennt, die sich aber trotzdem in ihr Leben mischen, weil niemand anders sich um sie kümmert“, schimpfte er weiter und schloss für wenige Sekunden die Augen, um sich die Situation noch einmal ins Gedächtnis zu rufen „Ich ertrage das einfach nicht. Ich kann auch jetzt nicht einfach so tun, als wäre das alles nicht geschehen und weitermachen wie bisher. Außerdem kann das unmöglich dein Ernst sein“, machte er weiter und verzog den Mundwinkel „Das ich mich jetzt auf einen Kerl einlassen soll, den ich im Grunde gar nicht kenne.“

Hassan grinste und setzte sich so, dass er Mathilda mit dem Rollstuhl direkt vor sich parken konnte „Er wird auch für immer völlig fremd bleiben, wenn du ihm nicht die Chance gibst, sich so richtig vorzustellen“, erklärte er und strich mit einem Finger vorsichtig über die übereinander liegenden Hände der jungen Frau, die noch immer unbeweglich dort saß und ihren Kopf gesenkt hielt „Ich bin mir ganz sicher, dass ihr mehr werdet als Freunde, wenn ihr es zulasst, dass ihr euch kennenlernt.“

„Wie kommst du nur auf die Idee, dass ich überhaupt mehr von ihm möchte als Freundschaft?“, giftete Marvin ihn an und runzelte die Stirn, als sein Blick auf die Hände fiel, die in Mathildas Schoss lagen.

Er sah auf Hassan „Bewegt sie die Finger?“, wollte er wissen und für einen Moment glaubte Hassan, er wolle vom Thema ablenken, aber dann achtete er auf die leichtesten Bewegungen in den Fingern der Frau vor sich. Sie rührte sich nicht.

„Ich glaube nicht“, antwortete Hassan und ließ sich von Marvin zur Seite schieben, damit der seinen Platz einnehmen konnte.

„Mathilda? Ich bin es. Marvin. Hey, hörst du mich? Kannst du mich verstehen? Ich bin hier, Mathilda. Bitte sag doch was“, hörte Hassan den noch recht neu hinzugewonnen Freund sagen und strich ihm jetzt genauso beruhigend über den Rücken, wie er Mathilda vorher an den Fingern berührt hatte. Leider hatte er nicht wahrgenommen, dass sie sie wohl bewegt hatte, im Gegensatz zu Marvin.

Tatsächlich sah er jetzt, dass die Finger zuckten. Nicht so stark das es jeder sah, aber dennoch genug, um es zu bemerken. Hassan sprang auf „Ich hole den Arzt.“

Marvin kniete schon vor dem Rollstuhl und sprach auf Mathilda ein. Er hatte Hassan zwar gehört, reagierte aber nicht weiter auf ihn.

Marvin legte ihr eine Hand in das bleiche Gesicht und strich die Haare beiseite „Alles wird gut. Glaub mir. Wir kriegen dich wieder hin. Ich werde alles Menschenmögliche dafür tun, aber du musst es auch selbst wollen, sonst wird es nichts, Mathilda. Bitte. Gib mir irgendein Zeichen, dass du uns hörst und das du ..“, begann er, da zuckten schon wieder zwei Finger ihrer linken Hand.

Marvin hob den Blick und sah, wie sich eine kleine Träne aus dem Augenwinkel löste und über die Wange rollte. Bevor sie vom Kinn fallen konnte, wischte Marvin sie vorsichtig fort.

„Hey, nicht weinen. Bitte nicht. Ich kann damit umgehen wenn du mich anschreist oder zum Drachen mutierst, aber ich weiß nicht was ich tun soll, wenn eine Frau weint. Da bräuchte ich dann bitte ein wenig Hilfe“, lächelte er und hörte Stimmen hinter sich. Man ließ ihn gar nicht zu Wort kommen, denn bevor er etwas sagen konnte, oder erklären, löste ein Pfleger die Rollstuhlbremse und ein Arzt brummte irgendwelche unverständlichen Kommandos, die dieser Pfleger scheinbar befolgte, ohne darüber nachzudenken. Bevor Marvin etwas sagen konnte, waren sie mit Mathilda schon auf dem Weg in die Klinik. Im Laufschritt.

„Wo wollen Sie denn mit ihr hin?“, fragte Marvin laut und bekam keine Antwort. War er bis zu diesem Zeitpunkt öfter verunsichert gewesen weil er durch sein Übergewicht auffiel und Menschen ihn mit verächtlichen Blicken folgten, war er seit Mathildas Klinikaufenthalt für andere scheinbar unsichtbar. Ob es jetzt eine Pflegerin oder ein Pfleger war, ein Arzt oder eine Ärztin, ein Patient oder eine Patientin, sie alle sahen ihn einfach nicht. Es war, als wäre er Luft. Sein Blick verfinsterte sich.

„Verdammt noch mal. Würden Sie mir jetzt bitte erklären, wohin Sie sie bringen? Ich komme jetzt seit über vier Wochen jeden Tag hierher und jeder von Ihnen hat mich mindestens schon ein Mal gesehen. Trotzdem tun Sie so, als wäre ich nicht vorhanden, was mir wirklich schwerfällt zu glauben“, rief er ihnen hinterher und strich sich gleichzeitig über den gut sichtbaren Bauch „Ich bin absolut nicht zu übersehen.“

„Hören Sie“, kam der Arzt auf ihn zu „Ich habe jetzt wirklich keine Zeit mich mit Ihnen zu beschäftigen. Mein Augenmerk liegt auf der Patientin.“

Im ersten Moment schämte Marvin sich, aber als sein Blick auf Mathilda fiel, die völlig zusammengesunken in ihrem Rollstuhl hockte und mit leeren Augen vor sich hinstarrte.

„Ich bin mir darüber im Klaren“, begann Marvin und ging auf den Mann zu „Das ich keinerlei Recht dazu habe, was die Behandlung Ihrer Patientin anbelangt, deshalb wollte ich doch auch nur wissen, wohin Sie sie jetzt bringen und ob diese Reaktionen vielleicht darauf hindeuten, dass sie wieder ihr altes Leben führen könnte. Irgendwann, eines Tages vielleicht.“

Der Arzt sah Marvin mit kaltem Blick an, dann holte er tief Luft und senkte den Kopf.

„Da haben Sie absolut Recht. Ich dürfte Ihnen nichts, aber auch gar nichts über die Patientin verraten, aber ich gestehe, ich bin ein Freund Ihrer Hartnäckigkeit. Viele Freunde hätten das für mich wohl nicht in Kauf genommen, was Sie alles so für sie tun“, begann er und tatsächlich konnte man ein Lächeln in seinem Gesicht erkennen „Ich meine, Sie wissen nicht wie es ihr geht und von der Behandlung haben Sie auch keine Ahnung, trotzdem sind Sie jeden Tag hier und ..“, er bremste sich selbst aus und drehte den Kopf, bis er Mathilda sehen konnte „Sie muss ja eine ganz besondere Freundin für Sie sein. Ich, ähm, ich beneide Sie darum.“

Marvin stieß die Luft durch die Nase aus und schob die Hände in die Hosentaschen. Er zögerte kurz, dann sah er den Arzt an.

„Kümmern Sie sich jetzt bitte um Mathilda. War blöd von mir, Sie aufzuhalten. Sie tun auch nur Ihre Pflicht und halten sich an die Regeln. Tun Sie alles, was Sie können, okay? Sie hätte es verdient.“

„Das“, begann der Arzt und legte beruhigend eine Hand an Marvins Oberarm ab „Hat jeder Patient verdient. Ich darf, wie gesagt, nicht mit Ihnen über sie reden, aber ich kann Ihnen den Tipp geben, sich mal über etwas ganz seltenes zu informieren, von dem ICH glaube, dass sie betroffen sein könnte. Ich konnte meine Kollegen noch nicht davon überzeugen, in diese Richtung zu behandeln, aber wenn sie jetzt anfängt ihre Gliedmaßen zu bewegen, dann habe ich Chancen, dass sie es sich vielleicht doch noch anders überlegen.“

Der Pfleger, der Mathilda schob, trat von einem Bein auf das andere „Was ist denn jetzt, Herr Doktor?“

„Ich bin sofort bei Ihnen“, entgegnete der Arzt, von dem Marvin glaubte, sie wären ungefähr im gleichen Alter. Das war aber auch schon alles, was sie gemeinsam hatten, denn dort, wo Marvins Fettgewebe zu sehen war, trug der Mediziner garantiert nur Muskeln. Er war auch über einen Kopf größer als er und von den fast schwarzen und vollen Haaren wollte Marvin am liebsten gar nicht reden. In letzter Minute gelang es ihm, einen Seufzer zu unterdrücken, als ihm klar wurde, dass er den Doktor sehr viel länger als schicklich angesehen hatte.

Marvin wäre fast ausgewichen, als er etwas an seiner Hand spürte. Stattdessen krallten sich seine Finger jetzt um das Stück Papier, dass der Arzt ihm heimlich in die Hand presste.

„Vielleicht kann ich wenigstens Sie auf meine Seite ziehen. Dann würde ich mich nicht ganz so einsam fühlen“, lächelte er ihn an und winkte ihm noch einmal kurz zu, bevor er sich umdrehte und eiligst davon stürmte.

Hassan rutschte näher an Marvin heran, der gerade den Zettel auseinanderfaltete.

„Was hattet ihr denn zu tuscheln?“

„Wir haben doch nicht getuschelt“, knurrte Marvin zurück und hatte Mühe, die kaum entzifferbaren Buchstaben zu sortieren, die wohl ein Wort ergeben sollten.

„Was soll das heißen?“, fragte Marvin und drehte den Zettel in seinen Händen, bis er auf dem Kopf stand. Zumindest glaubte er das, aber auch umgedreht war das Wort nicht zu lesen. Ungeduldig nahm Hassan ihm das Papier ab und strich es noch einmal glatt.

„Mein Gott“, stöhnte er laut „Ich hasse Ärzte. Ehrlich. Die haben immer so eine Sauklaue, dass kein Mensch ihre Handschrift lesen kann. Ich nehme doch mal an, dass das dieser Medicus gewesen ist, oder? Hat er dir hier den Ort für ein erstes Date notiert?“

Genervt verzog Marvin das Gesicht.

„Als hätte ich jetzt nichts wichtigeres zu tun als mich mit irgendeinem Typen zu treffen, der mir im Krankenhausflur zwei Mal begegnet ist und von dem ich nicht einmal den Namen kenne“, knurrte Marvin und riss Hassan den Zettel aus der Hand „Und jetzt entschuldige mich bitte, ich würde zwar gerne noch mit dir plaudern, aber ich habe keine Zeit“, lächelte er und wendete sich ab.

Hassan verdrehte die Augen „Ich hab dich auch gern, liebster Marvin“, rief er hinter ihm her und spürte befremdliche Blicke in seinem Rücken. Er machte sich nicht die Mühe sich zu vergewissern, sondern beeilte sich, den Mann einzuholen, den er gerade mal etwas mehr als einen Monat kannte. Sie hatten sich nur einen oder zwei Tage vor Mathildas Unfall kennengelernt und hatten seither einige Zeit miteinander verbracht. Meist hier im Krankenhaus, an Mathildas Bett.

„Hey. Jetzt warte. Dann sag mir doch, was da auf dem Zettel steht“, bat er ihn und Marvin hob die Schultern an.

„Das würde ich, wenn ich wüsste, was dort stehen sollte.“

„Ach komm schon. Er hat dir doch sicher einen Hinweis gegeben.“

„Ja“, murmelte Marvin und entriegelte das Schloss seines Fahrzeugs „Vielleicht hat er das.“

 

 

 

Entscheidungen

 

Wütend hatte Hassan die Hände gehoben und hinter Marvin her gesehen, als dieser den Parkplatz verließ. Unentschlossen ging er zu seinem Auto zurück und wendete sich um, als eine Hupe ertönte. Als er den Fahrer erkannte, hoben sich seine Mundwinkel.

„Sag mal, war das gerade Marvin, der mir entgegengekommen ist?“, fragte Hagen, als er ausstieg und noch bevor er die Tür geschlossen hatte. Hassan seufzte.

„Ja. Der war ziemlich stinkig.“

„Weshalb?“

„Er hat mich losgeschickt jemanden holen, weil Mathilda ihre Finger bewegt hat und während ich fort war“, begann Hassan, da bremste Hagen ihn schon mit einer Geste aus.

„Sie hat ihre Finger bewegt?“

„Ja“, nickte Hassan ihm zu „Nicht viel, aber ein bisschen. Also wollte er das ich einen Mediziner hinzuziehe und während ich auf der Station nach einem dieser Kerle in Weiß gesucht habe, hat er hier unten mit ihr gewartet und als ich dann endlich jemanden gefunden hatte, der sich dafür interessierte, da stand er hier und debattierte mit einem Arzt“, versuchte Hassan zu erklären „Ich habe gesehen, wie er ihm einen Zettel zugesteckt hat und wollte von ihm lediglich wissen, was darauf stand, da hat er mich einfach stehen lassen und ist davongestürmt. Keine Ahnung wohin.“

Hagen war hin und hergerissen zwischen dem Betreten der Klinik um sich nach Mathilda zu erkundigen und dem Hinterherfahren seines Nachbarn. Er stöhnte leise auf und fuhr sich mit den Händen durch die Haare.

„Du bleibst bei Mathilda und hältst uns auf dem Laufenden und ich versuche Marvin zu finden, okay?“

„Meinst du nicht, dass er alt genug ist, um selbst zu entscheiden, wann er mit uns zusammensein möchte und wann lieber alleine?“, wollte Hassan wissen und Hagen biss sich auf die Unterlippe.

„Im Augenblick bin ich mir da nicht so sicher. Du hast ihn doch selbst erlebt, oder nicht? Er gibt uns, oder sollte ich besser sagen, er gibt sich die Schuld an diesem verdammten Unfall. Und genauso irrational handelt er auch. Ich mache mir wirklich Sorgen um ihn. Hat er dir nicht gesagt was auf dem Zettel steht?“, fragte Hagen und sah Hassan den Kopf schütteln.

„Ehrlich gesagt, ich habe zwar einen Blick auf dieses Papier werfen können, aber leider konnte ich es nicht lesen. So ein Gekritzel eben, wie man es von einem Arzt nicht anders erwartet, du verstehst?“, wollte Hassan wissen und verzog dabei sein Gesicht zu einer Grimasse.

Hagen nickte nur. Ob er Hassan verstanden hatte, bezweifelte dieser.

„Ich frage dich jetzt auch, okay? Ist alles in Ordnung?“, wollte Hassan wissen und sah Hagen nicken. Keine halbe Sekunde später drehte er um und lief zurück zu seinem Auto. Auch ihm sah er hinterher, wie er vom Parkplatz fuhr und ihn alleine zurückließ.

„Vielen Dank auch“, murmelte er und pustete die Luft aus der Lunge, bevor er sich umdrehte und zum Krankenhaus zurücklief, wo er nach einer halben Stunde intensivster Suche endlich herausfand, wohin man Mathilda gebracht hatte. Er verbrachte 2 Stunden vor dem Raum, bis sie herausgeschoben wurde und schnurstracks zum Aufzug rollte. Niemand achtete auf ihn, der wohl nicht dazugehörte, aber niemand wunderte sich, dass er hinter der Frau im Rollstuhl und dem Pfleger der sie schob, den Fahrstuhl betrat und auf der gleichen Etage wie sie auch wieder verließ. Er trottete hinter der Patientin her und wartete, bis sie wieder im Zimmer war und der junge Mann in seiner Uniform achtlos an ihm vorüberging. Hassan wartete noch einige Minuten und schlich sich dann zu Mathilda, als würde er etwas illegales tun.

„Na?“, fragte er freundlich und setzte sich ihr gegenüber. Noch immer saß sie in diesem Rollstuhl und hielt den Blick gesenkt. Hassan fiel auf, dass sich die Stellung ihrer Hände verändert hatte. Sie lagen nicht mehr übereinander auf ihrem Schoss, sondern nebeneinander auf den Oberschenkeln. Irgendwie hatte er auch den Eindruck, als wirke sie insgesamt angespannter. Als hätten sich ihre Muskeln zusammengezogen und noch nicht wieder entkrampft. Zärtlich strich er über die Oberseite ihrer linken Hand.

„Alles okay bei dir?“, fragte er leise und lächelte sie an. „Ich weiß ja das wir uns nicht wirklich kennen, aber wenn du wieder richtig wach bist und hoffentlich wie ein Wasserfall redest, dann wäre ich gerne einer der Ersten, der dich in den Arm nimmt. Ich hab noch nie so viel Zeit mit einer Frau verbracht“, grinste er sie schelmisch an „Die mir nicht ein mal ins Wort fällt und die nicht ständig meinen Kleidungsstil kritisiert“, erklärte er und senkte betreten den Blick „Fällt mir jetzt erst so richtig auf. Ich habe da nie darüber nachgedacht, aber den meisten Frauen bin ich, wie soll ich sagen, nicht konventionell genug angezogen. Ich habe nun mal einen gewissen Stil und wenn damit jemand nicht klar kommt, der hat Pech gehabt“, rechtfertigte er sich sofort und starrte auf ihre Hände. Dieses Mal war er es, der ein Zucken bemerkte.

„Hey, du willst mir doch jetzt wohl nicht erklären, dass dir das auch schon negativ aufgefallen ist, oder etwa doch? Vergiss es. Ich werde mich nicht ändern, nur weil es irgendwem nicht passt. Im Gegenteil. Da bin ich stur wie ein Esel. Obwohl ich gestehen muss, keinen Esel zu kennen“, lächelte er und tätschelte noch immer die Hand der Frau. Er spürte ihr Zittern und sah ihr ins Gesicht.

„Ich würde dir gerne helfen, ich sehe nämlich, wie Marvin sich deinetwegen kaputtmacht, obwohl wahrscheinlich niemand etwas für diesen Unfall kann. Du bist die Einzige, die ihm das klarmachen könnte. Wir anderen sind daran gescheitert. Dazu müsstest du aber gesund werden“, erklärte er ihr und strich eine Haarsträhne hinter ihr rechtes Ohr. Für einen Moment wirkte er etwas überrascht.

Hatte sie da gerade ihren Kopf angehoben, oder ihn gar gedreht? Hatte er sich das eingebildet oder war das tatsächlich geschehen? Er sah etwas genauer hin, aber jetzt, Sekunden später, schien alles wie gehabt. Mathilda kauerte in ihrem Rollstuhl und Hassan saß vor ihr.

„Ich würde mich zum Affen machen, damit ich eine Reaktion von dir erhalte“, flüsterte er ihr zu und beugte sich vor, um sie auf die Stirn zu küssen und sich somit von ihr zu verabschieden. Die Zimmertür öffnete sich und zwei in weiße Kittel gekleidete Männer erschienen.

Hassan spürte die missbilligenden Blicke sofort und konnte sich leider nicht dagegen wehren, dass sich die Nackenhaare aufstellten.

„Einen wunderschönen und guten Tag den Herren“, sagte er ernst und erhob sich vom Stuhl. Er wollte aufstehen, aber Mathildas plötzlich und völlig unerwarteter Griff ließ ihn die Luft anhalten und erstarren.

„Hey, was ist mit dir? Wieso hältst du mich fest?“, fragte er sie und hörte einen der Männer hinter sich etwas sagen.

„Das sind nur Muskelkontraktionen, die nichts zu sagen haben. Das passiert schon mal und hat nicht viel zu bedeuten.“

„Habt ihr Angst, wir würden euch euer Versuchskaninchen wegnehmen?“, wollte Hassan wissen, denn seit einigen Tagen hatte er das unbestimmte Gefühl, dass irgendwas in dieser Klinik oder mit diesen Ärzten hier nicht mit rechten Dingen zuging. Schade war nur, dass er sein Umstand nicht in Worte fassen konnte, und niemanden hatte, der ihm zuhörte. Nicht einmal Marvin, der sonst, zumindest wenn es um Mathilda ging, sich an den letzten Zipfel Hoffnung klammerte, dass sie irgendwann aus ihrem Dämmerzustand aufwachen würde.

Einer der Ärzte starrte ihn an „Würden Sie bitte das Zimmer verlassen? Wir würden uns gerne um die Patientin kümmern“, knurrte er arrogant und Hassan schnaubte.

„Sie klammert sich an mich und lässt mich nicht los. Ich habe das Gefühl, als hätte das einen guten Grund. Und jetzt kommen Sie mir nicht mit Kontraktionen“, gab Hassan zurück und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Einer der Ärzte steckte die Hände in die Kitteltasche, der andere befeuchtete seine Lippen.

„Sie wissen doch, dass wir nichts über die Behandlung sagen dürfen, wenn Sie nicht mit der Patientin verwandt sind“, begann der Mediziner und Hassan stöhnte auf. Dieses Mal war er in der Lage einen Schritt auf die beiden Männer zuzugehen, blieb aber trotzdem in gebührender Entfernung stehen.

„Ich habe keine Lust mehr auf diese Plattitüden. Ja, ich weiß, dass Sie nichts sagen dürfen, aber diese Geheimniskrämerei macht es auch nicht besser. Im Gegenteil. Sie machen den Freunden das Leben schwer und ich habe keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll.“

Es war der ältere der beiden Ärzte, der den Blick senkte und nach Worten suchte, während der jüngere ihn einfach nur anstarrte.

„Vielleicht sollten Sie nach Hause gehen und versuchen, wieder ein wenig Alltag einkehren zu lassen. Natürlich haben mir meine Kollegen erzählt, dass hier eine junge Frau liegt, um die sich drei Männer kümmern und angegeben haben, sie gar nicht zu kennen“, begann er und Hassan nickte.

„Ich weiß schon. Das muss für Sie alles seltsam klingen. Das hat ja sogar die Polizei auf den Plan gerufen. Die haben uns eine Menge fragen gestellt und unseren Hintergrund durchleuchtet, bis sie endlich wussten, dass wir nichts mit diesem Unfall zu tun hatten. Aber trotzdem ist Mathilda eine Freundin, die wir nicht im Stich lassen, nur weil sie gerade mal nicht so gesund ist, wie wir es gerne hätten. Vielleicht könnten wir ihr sogar helfen wieder in die Realität zu finden, wenn wir wüssten, warum sie in diesem Dämmerzustand ist. Soviel wir wissen“, begann Hassan, aber bei einem Blick in die Gesichter der Männer brach er den Satz wieder ab. Er seufzte leise und schnaubte dann.

„Ja, ich weiß. Sie dürfen nichts sagen“, murmelte er und strich Mathilda noch einmal beruhigend über die Schulter „Ich gehe dann jetzt mal und trinke einen Kaffee. Bin gleich wieder da“, gab er von sich, aber der ältere Mann schüttelte kurz den Kopf.

„Eigentlich dürfte ich Ihnen das gar nicht sagen“, flüsterte er ihm zu und trat einen Schritt näher an ihn heran „Aber wir haben uns dazu entschlossen zum Wohl der Patientin zu handeln und sie zu verlegen. Morgen früh wird sie in ein Sanatorium gebracht, wo man sich besser um sie kümmern kann, als wir hier dazu in der Lage sind, denn wie Sie gerade selbst schon sagten, ist sie nicht krank im herkömmlichen Sinne. Ihre Wunden sind längst verheilt und ihre Werte im Normalbereich. Das ist es ja, was uns so verwundert.“

Hassan presste die Lippen aufeinander und drehte den Kopf, bis er Mathilda ansehen konnte. Die junge Frau saß reglos im Rollstuhl und starrte mit unbeweglichen Augen vor sich hin.

„Können Sie mir wenigstens sagen, wohin Sie sie bringen?“, fragte Hassan in gleicher Lautstärke und fühlte sich unter den Augen der Ärzte etwas unwohl.

Der Jüngere verdrehte die Augen und wendete sich ab, als der ältere Mann noch etwas näher auf Hassan zutrat und sich zu ihm beugte.

„Morgen früh wird sie in ein Sanatorium verlegt, etwa 50 Kilometer von hier. Richtung Süden“, flüsterte er so leise, dass Hassan Probleme hatte, ihn zu verstehen. Deshalb wiederholte dieser die Aussage in gleicher Lautstärke und sah den Arzt ganz kurz nicken. Er berührte ihn am Oberarm und wendete sich dann seinem jüngeren Kollegen und Mathilda zu. Er ließ ihn einfach stehen und beachtete ihn nicht weiter, während Hassan das Zimmer verließ und orientierungslos auf dem Krankenhausflur stand. Er wirkte etwas verloren, als eine der Pflegerinnen die nächste Zimmertür schloss und mit einem Tablett auf den Flur trat.

„Ist Ihnen nicht gut? Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie und wartete auf eine Antwort. Hassan schüttelte den Kopf.

„Schon gut. Danke der Nachfrage.“

Die Frau, wahrscheinlich im gleichen Alter wie Mathilda, runzelte die Stirn und stellte das Tablett auf einem Rollwagen vor der Tür des Schwesternzimmers ab.

„Geht es Frau Schneider nicht gut?“, wollte sie wissen und deutete auf die Tür, vor der Hassan stand.

„Scheinbar fühlt man sich in diesem Haus mit ihr überfordert. Sie wird morgen verlegt“, gab er zur Antwort und sah sie nicken.

„Ich denke, dass ihr nichts besseres passieren kann“, gab die Pflegerin von sich und trat nahe an Hassan heran „Ihre Aura sagt mir, dass sie nicht hierher gehört. Die Schulmedizinn kann ihr hier nicht weiterhelfen, da müssen andere, sehr viel mächtigere Kräfte ran“, sagte sie und war schon fast an ihm vorüber.

Hassan riss sich zusammen und folgte ihr „Was meinen Sie damit?“

„Womit?“

„Mit mächtigeren Kräften?“

„Hab ich das gesagt?“, fragte sie zwinkernd und sah kurz auf die große Uhr am Eingang dieser Station. Hassans Blick folgte ihr.

Sie stießen zusammen, weil sie stehengeblieben und er weiter gelaufen war.

„Glauben Sie mir. Es ist besser, wenn sie hier weggebracht wird. Hier ist sie nur sowas wie ein Versuchskaninchen und jeder Mediziner will sich an ihr versuchen. Ich bin froh, dass sich Herr Doktor Berger durchsetzen konnte und man sich seiner Entscheidung angeschlossen hat. Dort, wo sie hinkommt, wird man sich viel besser um sie kümmern können“, sagte sie und lächelte Hassan an „Und mit ein bisschen Glück“, machte sie weiter „Finden die Kräfte, die sie für ihre völlige Genesung braucht, auch noch zu ihr.“

 

 

 

 

Verzweiflung

 

Hagen hatte eine volle Stunde nach Marvin gesucht und hatte schließlich sein abgestelltes Fahrzeug an der Stelle gefunden, an der alles begonnen hatte. Er stellte sein Auto neben das von Marvin und machte sich langsam auf den Weg zu den verfallenen Gewächshäusern.

Hagen überlegte, was er Marvin sagen wollte und wie er ihn am besten tröstete, aber so richtig fand er für die seltsame Situation keine Worte. Kurz bevor der breite Weg endete und der schmale Pfad zu den Gewächshäusern begann, stand Marvin an einen Baum gelehnt da und starrte vor sich hin. Er schrie vor Entsetzen auf, als Hagen ihn vorsichtig berührte.

„Herrgott noch eins“, schimpfte er und griff sich an die Brust „Hast du mich jetzt erschreckt. Was willst du hier?“, schrie Marvin ihn an „Könnt ihr mich nicht einfach mal in Ruhe lassen? Ich brauche wirklich Zeit über ein paar Dinge nachzudenken, aber dazu komme ich gar nicht, weil ständig einer von euch versucht mich abzulenken. Ich will aber nicht mehr abgelenkt werden. Lasst mich in Frieden“, brüllte er Hagen an und schubste seinen Wohnungsnachbarn von sich. Gleichzeitig machte er einige Schritte nach vorne.

Hagen beobachtete ihn.

„Was ist nur los mit dir? Verdammt noch mal, Marvin. Es geht nicht einfach nur darum, dich abzulenken. Im Gegenteil. Wir machen uns wirklich Sorgen um dich. Du kapselst dich ab und lässt uns nicht mehr an deinem Leben teilhaben. Rede doch einfach mit uns. Was ist denn los?“

Marvin war wütend, aber er spürte auch die Besorgnis in Hagens Stimme. Langsam drehte er sich und sah den Mann an, von dem er vor einigen Wochen geglaubt hatte, er hätte sich in ihn verliebt. Kurz nach Mathildas Unfall wollte er aber genau dieses Gefühl nicht zulassen. Er wollte jetzt keine Schmetterlinge im Bauch, das war für ihn mehr als unpassend.

„Lasst mich einfach, okay?“, fragte Marvin erheblich leiser und nicht mehr so aggressiv wie vorher, aber mit einer Distanz in der Stimme, die Hagen wie ein Schlag in die Magengrube traf.

Im ersten Augenblick war Hagen versucht ihm zu folgen, als er sich wieder abwendete und den schmalen Pfad entlanglief, aber dann entschied er sich, es zu lassen. Stattdessen ging er zum Auto zurück und rief Hassan an, der wohl gerade aus dem Krankenhaus kam und der ihm erzählte, dass die Ärzte beschlossen hatten, Mathilda in ein Sanatorium zu verlegen. Während dieses Telefonates verschwieg er ihm das Gespräch mit der Pflegerin noch.

„Das bricht ihm das Herz“, vermutete Hagen und seufzte leise. Er setzte sich auf die Motorhaube seines Autos und knickte den dünnen Ast eines Busches ab „Der klebt an ihr wie eine Fliege am Leim, dabei kennen die sich gar nicht wirklich. Ich frage mich ehrlich, woher diese enge Verbindung kommt. Mich scheint er völlig vergessen zu haben, jedenfalls legt er keinen Wert darauf, auch nur eine Minute mit mir zu verbringen.“

„Hey“, hörte er Hassan mit weicher Stimme ins Telefon sagen „Das wird sich wieder ändern. Ganz sicher sogar. Ihr wart doch noch ganz am Anfang. Ihr hattet gerade erst entdeckt, dass Gefühle zwischen euch wach werden, als dieser schreckliche Unfall passiert ist. Ich kann dir allerdings auch nicht erklären, warum er sich so derartig um Mathilda kümmert. Er kennt sie genauso lange, wie wir beiden und ehrlich gesagt, mir wäre es im Traum nicht eingefallen, jeden Tag mehrere Stunden bei ihr zu verbringen, wenn er nicht wäre“, sagte er und Hagen konnte nur nicken. Er kämpfte gegen ein ganz seltsames Gefühl an, dass er nicht einmal sich selbst hätte beschreiben können.

„Ich hätte da noch was ganz seltsames zu erzählen, was mir gerade passiert ist“, hörte Hagen ihn sagen „Das kommt mir jetzt gerade ein wenig komisch vor, aber vielleicht liegt es daran, dass ich so gar nichts mit Esoterik zu tun habe.“

„Esoterik?“, fragte Hagen und zerknüllte ein kleines Blatt zwischen seinen Fingern.

„Oder sowas ähnliches“, machte Hassan weiter „Wo bist du gerade?“

„Wieder da, wo alles angefangen hat. An den Gewächshäusern im Wald.“

„Ich bin in einer halben Stunde bei dir. Bleib einfach da, wo du jetzt bist, in Ordnung?“

„Alles klar“, antwortete Hagen und steckte das Smartphone zurück in seine Hosentasche. Er öffnete sein Auto und drehte das Radio etwas lauter, schob den Fahrersitz zurück und lehnte sich an. Fast wie von selbst schlossen sich seine Augen.

Marvin hatte sich mitten in das große und fast verfallene Gewächshaus gesetzt und versuchte krampfhaft, alle Gedanken an die letzten Wochen auszublenden. Er wollte einfach nicht schon wieder darüber nachdenken, wie das alles begonnen hatte und was an den Tagen vor dem Unfall geschehen war. Trotzdem wurde er ständig an diese Zeit erinnert. Jedes Mal, wenn er seine Wohnung betrat und dort die Pflanzen sah, die er von hier aus mitgenommen hatte. Die hatten sich inzwischen ziemlich ausgebreitet und wucherten dort ungehemmt. Direkt bei ihrem Anblick kam die Erinnerung an diese Tage zurück und mit ihnen auch der Anruf der Polizei wegen Mathildas Unfall.

Marvin hob die Hände und wusch sich mit trockenen Händen durch das Gesicht. Warum, konnte er sich nicht erklären, aber als er seinen eigenen Geruch wahrnahm, fiel ihm wieder ein, was ihn vor Kurzem noch so entsetzt hatte. Eigentlich war es eher ein Grund sich zu freuen, aber irgendwas an Mathildas unkontrollierten Bewegungen hatte ihn doch sehr verwundert. Bis zu diesen Zuckungen am heutigen Tag hatte sie sich gar nicht bewegt, oder zumindest nicht so, dass man es gesehen hätte. Eigentlich sollte er also froh darüber sein, dass sie sich gerührt hatte. Auch dann, wenn es nur ihre Finger waren, die gezuckt hatten. Marvin seufzte und schloss die Augen. Er war kurz davor, die Fassung zu verlieren und einfach in Tränen auszubrechen. Dabei konnte er sich kaum mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal geweint hatte. Er schluckte den dicken Kloß in seinem Hals hinunter und räusperte sich mehrfach.

Später konnte er sich kaum noch daran erinnern, wie er hierhergekommen war und auch nicht, warum.

---ENDE DER LESEPROBE---