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Als Lesse eine neue Wohnung bezieht weiß er noch nicht, wie sehr sich sein Leben ändern wird. Mit der Hilfe seiner Vermieterin und ihrem Enkel kämpft er sich durch seine Arbeitslosigkeit und macht das beste daraus. Kaum hat er sich in seiner neuen Unterkunft eingerichtet, kommt aber alles anders als gedacht. Zwar hat er ein Vorstellungsgespräch und die Hoffnung auf eine neue Arbeitsstelle, einen lustigen Abend mit einer frischen Bekanntschaft und seiner Lieblingsautorin Annegret, aber dann kommt doch vieles anders als gedacht. Als ihm während eines Spazierganges auch noch Tiere begegnen die sich nicht nur eigentümlich benehmen sondern auch noch sprechen, zweifelt er langsam an seinem Verstand. Und dann, dann wird es fast schon ein wenig magisch.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Wortzähler: 65766
Lesse und der magische Moment
Von Nasha Berend
Copyright © Nasha Berend
Alle Rechte vorbehalten
Impressum:
Nasha Berend
Buschstraße
39649 Hansestadt Gardelegen
E-Mail: [email protected]
Umschlaggestaltung: Dirk Dresbach
Fotos: Copyright © Dresbach
Vorwort:
Nasha Berend ist eines meiner Pseudonyme unter denen ich meine Werke veröffentliche.
Nein, ich habe nicht schon in der Schule mit Kurzgeschichten angefangen und ich habe auch keine journalistische Laufbahn. Vielleicht gefallen euch meine Geschichten trotzdem. Dann würde ich mich über eine Kontaktaufnahme über Facebook wirklich freuen. Gruß, Nasha.
von
Nasha Berend
Über das Buch
Als Lesse eine neue Wohnung bezieht weiß er noch nicht, wie sehr sich sein Leben ändern wird. Mit der Hilfe seiner Vermieterin und ihrem Enkel kämpft er sich durch seine Arbeitslosigkeit und macht das beste daraus. Kaum hat er sich in seiner neuen Unterkunft eingerichtet, kommt aber alles anders als gedacht. Zwar hat er ein Vorstellungsgespräch und die Hoffnung auf eine neue Arbeitsstelle, einen lustigen Abend mit einer frischen Bekanntschaft und seiner Lieblingsautorin Annegret, aber dann kommt doch vieles anders als gedacht. Als ihm während eines Spazierganges auch noch Tiere begegnen die sich nicht nur eigentümlich benehmen sondern auch noch sprechen, zweifelt er langsam an seinem Verstand. Und dann, dann wird es fast schon ein wenig magisch.
Lesse warf noch einen letzten Blick in den Spiegel, nahm sein Schlüsselbund vom Haken und verließ die Wohnung eines Freundes, um an einem Besichtigungstermin teilzunehmen. Er sprang vor Begeisterung über diesen Termin immer zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinunter und riss stürmisch die Haustür auf. Die Kälte draußen traf ihn völlig unvorbereitet und Lesse versuchte sie abzuschütteln. Als er an der Bushaltestelle angekommen war, brauchte er nicht mehr lange warten, bis der Bus vorfuhr und ihn in die gewünschte Richtung brachte. Neugierig sah er aus dem Fenster, als das Verkehrsmittel in ein Stadtteil einbog, das ihm bisher völlig fremd war. Zu Beginn der Straßen waren die Häuser noch ziemlich hoch und modern, aber je weiter sie fuhren, umso kleiner wurden sie und auch immer älter. Als der Bus in die Haltestelle einbog, die für Lesse das Ende der Fahrt bedeutete, hatte er an einer Zeitreise teilgenommen, ohne es vorher zu wissen. Ein wenig irritiert sah er sich um, bevor er einen Zettel aus der Tasche zog, auf dem eine Adresse notiert war. Er wendete sich abrupt um, hob den Blick in Höhe der Straßenschilder und stieß mit einer älteren Frau zusammen, von der er als Erstes ein Strohhütchen wahrnahm.
„T`schuldigung“, murmelte er und hörte sie lachen.
„Kein Problem, junger Mann. Mir ist durchaus bewusst das ich für die meisten Menschen unsichtbar bin.“
„Sie sind nicht unsichtbar, es ist nur so das ich auf diesen Zettel gestarrt habe anstatt mich darauf zu konzentrieren wohin ich gehe“, erklärte er und lächelte sie an. In den allermeisten Fällen schmolzen die Menschen nur so dahin, wenn er sie anlächelte. So, wie auch die alte Dame, die ihren Kopf zur Seite neigte und jetzt noch zerbrechlicher wirkte als eine Minute zuvor.
„Vielleicht eine Adresse?“
„Ganz genau.“
„Wollen Sie etwa auch zu dieser Farce von einer Besichtigung?“, fragte sie und bekam deutlich mehr Falten im Gesicht als zuvor. Sie schüttelte angeekelt ihren Kopf „Die findet alle paar Wochen statt. Es handelt sich dabei immer um die gleiche Wohnung. Kaum ist dieser Besichtigungstermin vorüber, wird es wieder still in dieser Straße. Ich habe dort noch nie jemanden ein- oder ausziehen sehen. Nur immer diese Besichtigungen und einen Menschenauflauf, als gäbe es dort etwas ganz besonderes zu kaufen. Mittags stehen sie Schlange vor diesem Haus, abends wird es ruhiger und am nächsten Morgen glaubt man, man hätte das alles nur geträumt.“
„Moment Mal“, Lesse runzelte die Stirn „Verstehe ich das richtig? Dort wird gar keine Wohnung vermietet?“
„Also, wenn Sie von mir eine Antwort auf diese Frage erwarten, dann muss ich ehrlicherweise gestehen, für mich sieht das eher nach Bauernfängerei aus. Ich bin bis heute noch nicht dahinter gekommen was die damit bezwecken, aber wie gesagt, diese Prozedur wiederholt sich alle paar Wochen und ansonsten scheint es keinen Zweck zu haben. An Ihrer Stelle würde ich die Beine in die Hand nehmen und verschwinden.“
„Ich brauche aber eine Wohnung und zwar schnell und ziemlich dringend. Das hier, das war fast meine letzte Chance.“
Die alte Dame sah ihn mitleidig an.
„So schlimm?“
Lesse wischte sich mit der trockenen Hand durchs Gesicht „Noch viel schlimmer.“
„Ich hätte Lust auf eine Tasse Kaffee, wie sieht es aus? Könnte ich Sie vielleicht einladen? Dann hätten wir ein bisschen Zeit und Sie könnten mir Ihr Herz ausschütten. Sie machen den Eindruck als würde es Zeit dazu.“
Lesse zögerte, aber schließlich nickte er und nahm der alten Dame ihr Netz mit den Einkäufen ab. Sie lächelte, hakte sich bei ihm unter und schlurfte mit ihm in die Richtung, aus der sie gekommen war.
„Was könnte das für ein Grund sein“, begann er plötzlich „Eine Anzeige in die Zeitung zu setzen und eine Menge Menschen durch eine Wohnung zu führen, die man eigentlich gar nicht vermieten möchte. Das verstehe ich nicht, wenn ich ehrlich bin.“
„Das entzieht sich meiner Kenntnis“, antwortete die Frau „Aber ich habe schon einige Male gesehen wie eine lange Schlange Menschen vor einer Adresse gestanden und gewartet haben. Natürlich habe ich das nicht weiter beobachtet, aber das wiederholt sich wirklich alle paar Wochen.“
„Hm“, gab Lesse von sich und sah auf das Straßenschild vor sich. Sie bogen in die Straße ein, in der sich auch die Wohnung befunden hätte. Schon von Weitem konnte er erkennen, dass sich eine Menschentraube an einer Gartenpforte versammelt hatte. Meist junge Leute, aber auch ein älteres Paar stand dort frierend und versuchte, sich so gut wie möglich aufzuwärmen.
„Im Sommer, ich bin mir nicht mehr sicher aber es könnte im Juni gewesen sein, da ist eine Frau während der Wartezeit hier umgekippt und sie mussten den Notarzt holen.“
„Und dieser Aufstand dort, der ist wirklich jeden Monat?“
„Nicht genau, aber so ungefähr.“
„Das es noch nie jemandem aufgefallen ist. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen.“
„Ich finde es auch höchst merkwürdig“, antwortete sie und blieb etwa vier Häuser von der Schlange entfernt stehen „Wir sind da.“
„Was?“
„Hier wohne ich und hier werde ich für uns eine schöne und warme Tasse Kaffee zaubern. Haben Sie etwas anderes erwartet?“
Lesse war ein wenig irritiert, aber er nickte ihr zu und lächelte sie an.
„Ja. Ich hatte mit einem Café gerechnet, aber ich schätze das von Ihnen keine Gefahr ausgeht und ich mich durchaus auf dieses Wagnis einlassen könnte.“
Die alte Dame kicherte wie ein kleines Mädchen und zog einen Schlüssel aus der Jackentasche. Sie öffnete die Haustür und seufzte.
„Hier war schon länger kein Besuch mehr, aber ich finde es schön wenn ich jemanden bei mir habe mit dem ich reden kann. Manches Mal übertreibe ich es dann auch und quassel wie ein Wasserfall.“
Lesse grinste und nickte „Das kenne ich. Ich würde von mir das Gleiche behaupten.“
„Aber ein junger Mann wie Sie kommt doch sicher mal unter Menschen. Bei mir ist das schon was anderes. Natürlich war es früher auch nicht so, da bin ich jeden Tag mit Menschen zusammengekommen und habe soziale Kontakte gepflegt. Heute kommt nur ab und an mein Enkel und na ja, meine Tochter auch, aber im Grunde genommen bin ich doch alleine. Kommen Sie. Dort ist die Küche. Setzen Sie sich schon mal, ich bin gleich wieder da“, sagte sie und verschwand irgendwo im Inneren des Hauses. Lesse sah sich erstaunt um. Nicht nur äußerlich war hier die Zeit stehengeblieben, sondern auch von innen. Die Einrichtung schien geradezu einem Museum entsprungen, aber sie wurde benutzt. Trotz der altertümlichen Dinge wirkte es hier gemütlich, geradezu einladend. Er atmete tief ein und setzte sich auf einen der wackeligen Stühle an diesem uralten Tisch, der mit einer schneeweißen Decke mit Fransen versehen war. Darauf stand eine Bonboniere, durch deren Bleikristallglas bunte Papierchen wie funkelnde Diamanten schimmerten. Lesse lächelte.
So ähnlich hatte er die Wohnung seiner Großeltern in Erinnerung und auch dort hatte er sich immer wohlgefühlt, auch wenn er als Kind glaubte, das seine Mutter ihn dorthin abgeschoben hatte, wann immer er ihr zu viel wurde. Und das war oft der Fall gewesen.
Er hörte, wie sich eine Tür schloss und dachte an die alte Dame, deren Name er nicht einmal wusste. Er war so leichtgläubig, das es schon an Dummheit grenzte, aber er hatte sich wirklich nichts dabei gedacht ihr einfach in ihr Haus zu folgen.
„Oma?“, rief eine ziemlich männlich klingende Stimme und Lesse musste sich beherrschen nicht aufzuspringen.
„Ich bin oben, mein Junge. Geh schon mal in die Küche, ich komme gleich. Muss nur noch kurz ...“, der Rest des Satzes ging in Gemurmel unter. Als der Fremde die Küche betrat, blieb er abrupt stehen.
„Wer bist du und wie kommst du hier rein? Hast du was mit meiner Oma vor? Mach dich lieber vom Acker, ich kann ziemlich ungemütlich werden wenn man mich reizt.“
„Das glaube ich dir sofort“, raunte Lesse zurück und staunte über die Größe dieses Mannes und auch über das Aussehen. Der Kerl passte genau in die Türfüllung. Eigentlich passte kein Blatt Papier mehr zwischen ihn und die Aussparung in der Wand, allerdings sah der Typ eher aus, als wäre er ein großer, weicher und recht gutmütiger Teddybär.
„Was glotzt du so? Ich warte auf ein paar Antworten“, giftete der Berg von einem Mann und Lesse schluckte das Unbehagen hinunter. Was sollte er denn antworten? Das würde ihm doch niemand glauben.
„Ich sehe, ihr habt euch schon bekannt gemacht“, hörte er Gott sei Dank die alte Dame sagen, die sich an dem Mann vorbeischob und direkt an den Herd ging.
„Ich habe ihn draußen aufgelesen. Er wollte zu dieser Besichtigung. Du weißt schon, zu der, bei der die Menschen Schlangestehen, wo aber nie eine Wohnung vermietet worden ist“, hörte er sie sagen und nickte, als müsse er ihre Aussage bestätigen.
„Und warum sitzt der jetzt in deiner Küche?“
Die alte Dame räusperte sich und drehte sich dann zu dem Mann, der immer noch den Kücheneingang versperrte.
„Hörst du mir nicht zu? Ich sagte, ich habe ihn mitgenommen damit er sich nicht in die Schlange einreihen muss, weil ja doch nichts dabei herauskommt.“
„Mir gefällt das nicht. Man hört so viele Geschichten über ausgeraubte Senioren, Oma, das ich mir das an deiner Stelle überlegen würde, irgendein Subjekt von der Straße mit nach Hause zu nehmen.“
Lesse war bisher ruhig geblieben, aber als er ihn als irgendein Subjekt betitelte, musste er sich wohl doch verteidigen.
„Er hat Recht. Ich hätte nicht mitkommen sollen, auch wenn ich nicht gerade irgendein Subjekt von der Straße bin“, antwortete er und stand vom Stuhl auf.
„Ich bin es gewesen der Sie eingeladen hat und deshalb möchte ich jetzt auch das Sie sich wieder setzen. Wir trinken einen Tee zusammen und Sie erzählen mir was Sie für eine Wohnung suchen und wenn Sie wollen, dann auch warum“, gab die Frau von sich und schüttelte in Richtung des Türstehers ihren Kopf „Und du solltest zusehen das du zu deinem Vorstellungsgespräch kommst. Du bist doch sicher hier um dir mein Auto zu pumpen, oder?“
Der Mann, der so groß und breit wie die Tür war, nickte der Frau zu „Ja. Bin ich. Allerdings bin ich mir wirklich nicht sicher ob ich dich mit dem da alleine lassen kann“, erklärte er und deutete mit einer Geste auf Lesse, der begann sich unbehaglich zu fühlen.
„Ich sollte gehen. Er hat wirklich Recht. Es ist leichtsinnig von Ihnen einen wildfremden Mann in Ihre Wohnung zu bitten.“
„Nichts da. Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen?“, herrschte die Frau die beiden jungen Männer an und schüttelte den Kopf weiterhin „Ich weiß sehr gut wie ich mich verteidigen könnte wenn es darauf ankommt. Mich interessiert Ihre Geschichte, verstehen Sie?“, wollte sie von Lesse wissen, der dem Blick des fremden Mannes auszuweichen versuchte.
„Sag mir hinterher nur nicht ich hätte dich nicht gewarnt, Oma. Wir sollten uns wirklich überlegen ob es für dich nicht besser wäre ..“, begann er, da hob sie drohend ihren rechten Zeigefinger.
„Fang jetzt bloß nicht wieder an mit mir über meine Zukunft zu diskutieren. Solange ich noch weiß welchen Tag wir haben und wie ich heiße, brauchen wir nicht weiter darüber zu reden, hast du mich verstanden? Anstatt dir Gedanken über mich zu machen, solltest du vielleicht bei dir selbst anfangen. Nicht zu fassen“, schimpfte sie und Lesse beobachtete, wie der Mann in der Tür zu schrumpfen schien. Er sackte förmlich in sich zusammen.
„Ich weiß was du von mir hältst und ich verspreche dir, die nächste Stelle nehme ich an.“
„Gar nicht so einfach heutzutage eine Arbeit zu finden, wenn du nicht gerade zu den Top-Verdienern gehörst, denen sie eine Stelle nachwerfen.“
„Wem sagst du das“, antwortete der Mann und klang nicht einmal mehr halb so aggressiv wie noch ein paar Minuten zuvor.
„Du bist dir also sicher das du klarkommst?“, fragte er seine Großmutter, die jetzt nickte ohne ihn anzusehen.
„Mein Autoschlüssel befindet sich in der obersten Kommode im Flur. Da, wo er immer ist. Fahr vorsichtig, okay? Einen Neuwagen kann ich mir nämlich gerade nicht leisten. Eigentlich hatte ich auch vor den alten so lange zu behalten bis ich ihn nicht mehr benötige. Fahr also vorsichtig, du erbst ihn schließlich.“
Der massige Kerl kicherte jungenhaft und Lesse schluckte einen großen Kloß im Hals hinunter. In diesem Augenblick wirkte dieser Mann alles andere als bedrohlich und Lesse verlor sein Herz. Er konnte gerade noch verhindern das er die Augen über sich selbst verdrehte und senkte schnell den Blick.
„Ich warne dich“, hörte er den Fremden sagen „Ich könnte dich ziemlich gut beschreiben wenn ich zurückkomme und du meiner Großmutter auch nur ein Haar gekrümmt hast. Ich würde nicht davor zurückschrecken zur Polizei zu gehen, darauf kannst du wetten.“
„Hier“, antwortete Lesse und nestelte an seiner Jackentasche, bis er das Gesuchte fand. Er überreichte dem jungen Mann eine Visitenkarte und seinen Ausweis.
„Du kannst Name und Anschrift vergleichen. Wenn irgendwas mit deiner Oma nicht stimmt, hast du für die Polizei gleich einen Namen, eine Adresse und nicht nur ein Gesicht. Okay?“
Der Mann brummte irgendetwas in seinen nicht vorhandenen Bart, dann nickte er, steckte die Visitenkarte ein, reichte den Ausweis zurück und küsste seine Großmutter auf die Wange.
„Danke Oma, du bist die Beste.“
„Jetzt sieh endlich zu das ich recht behalte. Dein Vater würde mir das sonst bis zum Sankt Nimmerleinstag aufs Brot schmieren“, begann sie und äffte dann jemanden nach, indem sie ihre Arme in die Seite stemmte und den Kopf zurückwarf „Ich habe es dir ja gleich gesagt, aus dem kann ja nichts werden.“
Lesse presste die Lippen aufeinander, um nicht zu lachen, und hörte dafür die anderen beiden kichern.
„Das hat er mir so oft gesagt das ich es fast schon selbst glaube. Drück mir die Daumen, okay?“, fragte er und Lesse räusperte sich.
„Auch wenn wir uns nicht kennen und du mir nicht über den Weg traust, aber ich wünsche dir ebenfalls alles Gute“, sagte er und winkte dem Mann zu, der ihm jetzt höflich zunickte und sich dann abwendete. Lesse und die Frau hörten noch, wie er eine Schublade öffnete, etwas herausnahm und sie dann wieder schloss. Sekunden später war er verschwunden, als wäre er niemals dagewesen, aber Lesse wusste zu genau das er ihm begegnet war. Eine Begegnung von der er noch Tage und wochenlang träumen würde.
Lesse seufzte leise und kratzte sich fragend am Hinterkopf „So ganz klar ist mir das auch noch nicht, aber stell die Kisten erst einmal dort hin, okay? Ich kann sie ja später noch in andere Zimmer stellen.“
„Alles klar. Sag mal, bist du dir wirklich sicher das du hier einziehen willst? Das Haus erscheint mir ein wenig wie von einem anderen Stern.“
„Es ist alles ein bisschen alt, aber das muss ja nichts bedeuten, oder? Das sind meine eigenen vier Wände und ich bin zufrieden. Ändern kann ich es noch immer, aber sei ehrlich, es wurde Zeit, das ich bei euch ausziehe. Ihr braucht genauso eure Privatsphäre wie ich.“
„Schon“, gab ein junger Mann von sich und strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn „Aber so Knall auf Fall wäre das nicht nötig gewesen.“
„Falls es dir nicht aufgefallen sein sollte, Peer, deine Frau ist schwanger und ihr solltet langsam anfangen das Kinderzimmer herzurichten, in dem ich allerdings bis heute morgen geschlafen habe. Jetzt habt ihr noch ein bisschen Zeit alles fertig zu machen bevor euer Nachwuchs bei euch einzieht.“
Sein langjähriger Freund Peer schnitt eine Grimasse „Was immer wir getan hätten, richtig wäre es sowieso nicht gewesen. Ich kann sie einfach nicht mehr zufriedenstellen, seit sie weiß, das sie ein Baby erwartet. Alles was ich mache und tue ist in ihren Augen falsch. Von daher wäre es völlig egal gewesen ob du bei uns geblieben wärst, oder nicht.“
„Vielleicht wird es jetzt ein wenig besser. Ihr seit jetzt alleine und könnt euch um eure kleine Familie kümmern, Peer. Unterstütz sie wo du nur kannst, überhöre in den nächsten Wochen und Monaten ihre Sticheleien und freu dich einfach darauf Vater zu werden.“
„Du hast gut reden. Um ehrlich zu sein, manchmal habe ich dich fast schon ein bisschen beneidet“, grinste Peer ihn jetzt an „Zumindest kannst du niemanden ungewollt schwängern.“
Lesse lächelte gequält, nahm den Karton, den er gerade erst abgestellt hatte wieder hoch und trug ihn ins nächste Zimmer. Er hörte aus dem Nachbarzimmer zwei Stimmen miteinander reden und sah sich noch einmal in seiner neuen Unterkunft um. Sicher, ein Neubau war es nicht und die Räume waren auch nicht riesig, aber er konnte hinter sich abschließen und hatte ansonsten seine Ruhe. Er mochte Peer und er mochte auch die werdende Mutter, aber er hatte öfter als einmal gespürt das er störte. Das war jetzt vorbei und das war gut so.
Hinter ihm klopfte jemand an die Wohnungstür und eine ältere Stimme rief nach ihm.
„Ich dachte mir“, begann sie sofort „Die Leute hätten vielleicht ein wenig Hunger und sicher auch Durst. Ich weiß ja das junge Männer nicht begeistert sind wenn sie selbstgemachte Limonade zu trinken bekommen, aber in Anbetracht das sie anschließend noch fahren müssen, dachte ich, es wäre besser als Bier. Das habt ihr sicherlich selbst.“
„Oh mein Gott“, entfuhr es Lesse, als er die alte Dame sah, die ihm nur ein paar Tage zuvor ihre Wohnung im ersten Stock vermietet hatte, nachdem das mit der ausgesuchten Adresse nicht funktioniert hatte „Das ist doch viel zu schwer für Sie. Warum haben Sie nicht gerufen, wenn Sie sich schon die Arbeit machen, was übrigens nicht nötig gewesen wäre.“
„Das weiß ich, aber mir war so langweilig das ich dachte, ich tue euch einen Gefallen und mache was fertig. Ich sage den anderen beiden Männern Bescheid wenn ich wieder runter gehe. Das sind doch sicher Freunde von Ihnen, oder?“
Lesse nickte, ohne zu zögern. Sowohl Peer als auch Hinnerk waren schon mit ihm zusammen in der Schule gewesen. Sie hatten den Kontakt zueinander nie verloren. Bis heute nicht.
„Ja. Wir sind alte Schulkameraden. Das sind die einzigen beiden Menschen auf die ich mich immer verlassen konnte und immer noch kann. Bei Peer, dem kleineren der beiden habe ich die letzten Wochen verbracht, nachdem ich einfach nicht in der Lage war eine neue Wohnung zu finden. Ich hätte nicht gedacht dass das so schwierig werden könnte, ich meine, wenn man sich mit jemandem unterhält, dann habe ich den Eindruck, als würden die Leute heute bei den geringsten Schwierigkeiten aus dem Dorf in die Stadt ziehen. Also müsste hier doch genug Wohnraum zur Verfügung stehen, oder etwa nicht?“
„Schon, aber die Menschen werden immer verwöhnter. Der eine braucht eine Fußbodenheizung um sich wohlzufühlen, der andere mindestens 4 Zimmer, obwohl er alleine lebt, der nächste braucht einen Fahrstuhl, obwohl er im ersten Stock leben möchte und so könnte ich die Liste endlos weiterführen“, antwortete sie und Lesse nickte.
„Ich weiß schon, was Sie meinen. Haben Sie deshalb diese Wohnung so lang unbewohnt gelassen?“
Die Frau vor ihm senkte ein wenig betreten den Blick, bevor sie nickte.
„So könnte man es ausdrücken. Der letzte Mieter war ein älterer Herr mit einer Vorliebe für junges Gemüse“, antwortete sie und verdrehte die Augen „Ich hatte ein furchtbar ungutes Gefühl als er eingezogen war. Er machte einen sehr, sehr seriösen Eindruck als er sich vorgestellt hat, aber als er hier einzog, war am nächsten Tag schon eine junge Frau hier und am Tag darauf eine weitere. Das zog sich fast 14 Tage hin, bis mir auffiel, das es Teenager waren die er zu sich einlud. Ich habe ihn darauf angesprochen und prompt hat er mich rausgeworfen. Etwa drei Wochen später stand die Polizei hier vor der Tür und hat ihn mitgenommen. Tja“, sagte sie und befeuchtete ihre Lippen mit der Zungenspitze „Man sieht eben jedem Menschen nur vor den Kopf und nicht hinein, nicht wahr? Ich wollte anschließend einfach nicht mehr vermieten. Nie wieder. Eigentlich hatte ich sogar vorgehabt ich würde demnächst in betreutes Wohnen übersiedeln und meinem Enkel das Haus vererben“, machte sie gleich weiter und wich einem großen Karton aus, der durch die Wohnungstür hineinkam.
„Huch“, sagte sie und machte einen Ausfallschritt nach hinten. Der junge Mann, der die Kiste getragen hatte, zwinkerte ihr aufmunternd zu.
„Sie waren eine verdammt gute Tänzerin, oder? Darauf verwette ich mein letztes Hemd.“
„Was heißt denn hier war?“, wollte sie lächelnd wissen und wurde angesichts des Komplimentes tatsächlich ein wenig rot „Ich bin immer noch eine recht gute Tänzerin. Mein Problem ist nur einen Partner zu finden. Die meisten alten Knacker, die ich so kennenlerne, die laufen am Rollator und sind auf diese Hilfe angewiesen.“
Lesse und Peer sahen, wie ihr ehemaliger Schulkamerad den Karton, den er getragen hatte, beiseitestellte und sie alte Dame vor sich anlächelte.
„Ich habe einen Karton getragen“, grinste er und hörte die Frau lachen „Besser als eine Wassermelone.“
„Ich wollte mich eigentlich vorstellen“, sagte er ernster und streckte die Hand nach ihr aus „Mein Name ist Roger und ich bin hier für die blöden Witze zuständig, aber in Ihrer Anwesenheit werde ich es mir weitestgehend verkneifen. Ich hoffe, es gelingt mir. Oh Gott“, er sah auf das gut bestückte Tablett, das Lesse noch immer in den Händen hielt „Ich bin am Verhungern. Sind Sie der Engel der mich davor bewahrt?“, fragte er und wusste nur zu gut das sie es gewesen sein musste.
Sie nickte „Schwer arbeitende Männer brauchen ein wenig Aufbaukost, nicht wahr?“, wollte sie wissen und Roger griff nach ihrer Hand und hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken.
„Ich glaube, ich habe mich gerade neu verliebt und hoffe doch sehr, das Sie meiner Einladung zum Tanztee folgen werden“, sagte er höflich und sah sie die Stirn in tiefe Falten legen.
„Ach herrje, junger Mann, Sie wollen mich doch wohl auf den Arm nehmen. Aber für einen kurzen Augenblick war ich wieder 16 Jahre alt“, zwinkerte sie ihm zu und wollte sich gerade abwenden, als Lesse seinen Freund den Kopf schütteln sah.
„Das war nicht meine Absicht. Ich würde Sie tatsächlich gerne einladen. Wissen Sie, ich tanze für mein Leben gern, jage aber nicht unbedingt dem neuesten Trend hinterher. Ein schöner Walzer, ein sinnlicher Tango oder auch mal ein Twist, das wäre es nachdem mir der Sinn steht. Nur leider, leider können die wenigsten Frauen mit meiner Art etwas anfangen und da kam ihr Ausfallschritt gerade recht. Sie sind sicherlich eine tolle Tänzerin und ich“, er verbeugte sich vor ihr „Würde Ihnen gerne die Möglichkeit geben, tatsächlich noch einmal 16 Jahre alt zu sein und mit mir ein Tänzchen zu wagen.“
Erneut kicherte die alte Dame und wendete sich ab, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Perplex sah Roger hinter ihr her.
„Das kränkt mich jetzt ein bisschen“, hörten die anderen ihn sagen „Und wenn Sie wissen wollen ob ich Sie veräppel werde ich mit nein antworten. Ich nehme Sie nicht auf den Arm sondern meine das völlig ernst. Als ich gesehen habe wie galant Sie diesen Ausfallschritt gemacht haben, stand für mich fest das ich Sie gerne einladen würde. Bitte, ich weiß gerade nicht mehr, was ich sonst noch tun soll um sie zu überzeugen.“
Lesse schaltete sich ein „Wenn Roger Sie einlädt, dann hat das durchaus Hand und Fuß. Nehmen Sie bitte die Einladung an und haben einen schönen Abend mit ihm.“
„Plötzlich tauchen eine Menge fremder Männer in meinem Leben auf die es scheinbar gut mit mir meinen. Da stimmt doch was nicht. Lassen Sie mich bitte nicht bereuen das ich Ihnen die Wohnung angeboten habe“, antwortete sie ohne sich umzudrehen und ließ sie einfach stehen. „Das war mein voller Ernst. Was habe ich getan das sie mich so ablehnt?“, fragte Roger laut und niemand konnte ihm antworten. Sie hörten nur wie die Frau die Treppenstufen hinunter schlich und sich anschließend ihre Wohnungstür schloss.
„Na ja“, sagte Lesse „Irgendwie kann ich sie ja schon verstehen, ich meine, sie kennt uns nicht und hat keine Ahnung wer wir sind. Das dein Vorschlag ernst gemeint war, wusste sie auch nicht. Wer rechnet in ihrem Alter schon damit das er oder sie noch mal zum Tanzen aufgefordert wird.“
„Ich bin gerne mit Leuten meines Alters zusammen“, rechtfertigte Roger sich plötzlich und lehnte sich gegen eine Wand „Aber manchmal ist mir ihre Generation genauso lieb. Ich könnte ihnen stundenlang zuhören wenn sie über ihr Leben sprechen und in den allermeisten Fällen erzählen sie bereitwillig“, begann er und Peer grinste.
„Oh ja. Und manche erzählen sogar so viel das dir anschließend die Ohren klingeln“, lachte er und Roger nickte ihm zu.
„Ja, da gebe ich dir Recht, aber ernsthaft, diese Einladung war absolut ernst gemeint. Könnt ihr euch noch an meine alte Nachbarin erinnern? Die, die im letzten Jahr verstorben ist?“
„Und dir ihre Aktien vererbt hat?“, wollte Lesse wissen und Roger nickte, machte aber gleichzeitig eine abwehrende Geste „Das ist eine andere Geschichte über die ich jetzt nicht schon wieder diskutieren möchte. Mir ist klar das viele meine Entscheidung nicht verstanden haben das ich die Aktien an eine wohltätige Organisation übergeben habe, aber das steht gerade nicht zur Debatte“, machte er weiter und sowohl Peer als auch Lesse nickten ihm erneut zu.
„Die habe ich damals ins Kino eingeladen, erinnert ihr euch? Wir hatten mittags ein Gespräch über Filme und deren Entwicklung in den letzten Jahrzehnten und ich habe sie gefragt ob sie Lust hätte mit mir ins Kino zu gehen. Ihr hättet die Blicke von den anderen sehen sollen“, sagte er und schüttelte schnaubend den Kopf „Als hätte ich Leichenfledderei begangen“, machte er weiter und befeuchtete seine Lippen „Aber sie hatte so viel Spaß das sie noch Wochen später davon erzählt hat. Sie war ohne ihren Mann damals nie wieder im Kino und hat sie wahnsinnig gefreut als ich sie gefragt habe. Von da an haben wir uns ein Mal im Monat einen Film angesehen und ich habe jeden einzelnen davon in ihrer Gegenwart genossen.“
„Du warst schon immer ein seltsamer Typ“, gab Peer von sich und nahm eines der belegten Brötchenhälften vom Tablett. Er biss heißhungrig hinein, als Roger antwortete.
„Mag sein, aber mir bricht kein Zacken aus der Krone jemandem eine Freude zu bereiten und die alten Leutchen genießen es wenn sie mal wieder ein bisschen Spaß haben. Ich frag mich nur immer, weshalb ich eine Abfuhr nach der anderen kassiere obwohl ich es wirklich ernst meine.“
„Vielleicht weil du mehrere Jahrzehnte jünger bist als sie und sie von den jüngeren eben nichts erwarten. Sieh dir doch mal die Nachrichten an, ich meine, da ist so oft die Rede davon das jüngere Personen sich an älteren vergriffen haben das ich das Misstrauen wirklich verstehen kann“, gab Peer von sich und steckte den letzten Bissen des Brötchens in den Mund „Vielleicht hättest du sie“, machte er kauend weiter „Zuerst einmal zum Essen einladen sollen und dann erst zum Tanzen.“
„Sie haben einfach Angst vor uns weil so viel negatives gehört haben. Das kann ich ihnen nicht einmal verdenken, aber das ist doch scheiße, oder nicht? Können die Generationen die auf der Erde wandeln nicht einfach freundlich miteinander umgehen? Dazu gehören dann eben auch Einladungen, wohin auch immer.“
Lesse grinste und nahm jetzt ebenfalls ein Brötchen vom Tablett „Wären nicht so viele Idioten unterwegs die alte Menschen um ihre Ersparnisse bringen, wäre das alles sicherlich kein Problem und kein Thema, aber so“, sagte er und biss ebenso herzhaft in das Brot wie vorher sein Freund Peer.
„Na ja. Ich habe es wenigstens versucht“, antwortete Roger und nahm ebenfalls etwas von dem Tablett. Keine zwei Minuten später war es sehr ruhig im Raum und nur das Kauen war zu hören.
Als Lesse etwa zwei Stunden später die Ladeklappe des Transporters schloss und auf der Straße stand und seinen Freunden hinterher winkte, stand am Fenster des Nachbarhauses ein Mann und beobachtete ihn kopfschüttelnd.
„Sowas irres“, gab er von sich und wendete sich ab, als Lesse die Hände in die Hosentaschen steckte und in seine kleine Küche schlurfte.
„Die hat sich tatsächlich einen jungen Mann ins Haus geholt.“
„Wer?“
„Na, wer wohl. Was glaubst du denn von wem ich rede, he?“
„Ach“, seine Frau drehte sich zu ihm „Und weshalb stört es dich? Vielleicht hat sie ihm ja noch was zu bieten.“
„Die? Was soll die dem denn bieten? Kann mir nicht vorstellen das die im Geld schwimmt und was ihr Aussehen betrifft, na, darüber möchte ich mich lieber nicht auslassen.“
„Vielleicht hilft er ihr einfach nur ein bisschen im Haushalt. Wir werden schließlich alle nicht jünger.“
„Helfen? Im Haushalt? Die ist doch völlig alleine. Was soll er da schon helfen? Vielleicht püriert er ihr Essen mittags“, kicherte er und wendete sich wieder ab. Seine Frau sah hinter ihm her und seufzte leise.
„Als würde Haushalt nur aus Essen machen bestehen. Du wirst dich noch umsehen wenn ich mal nicht mehr bin“, und sah aus dem Küchenfenster in den Garten. Auch in den der fast gleichaltrigen Nachbarin. Beide Gärten waren sauber und aufgeräumt.
Lesse räumte den restlichen Tag auf. Viele Möbel besaß er nicht, aber es war ausreichend, um sein transportables Hab und Gut aufzubewahren, sodass etwa einen Tag später nur noch die zusammengefalteten Kartons an einen Umzug erinnerten.
Gegen 15 Uhr hörte er Stimmen aus dem unteren Stockwerk und kämpfte gegen seine Gänsehaut an, die sich über seinen gesamten Körper ausbreitete. Da war er wieder, der Türsteher, der seine Großmutter besuchte.
Lesse schloss für Sekunden seine Augen und schluckte den dicken Kloß in seinem Haus nur mühsam hinunter. Er wunderte sich über sich selbst. Er war doch sonst nicht so auf Äußerlichkeiten fixiert. Weshalb ausgerechnet bei diesem Mann?
Er war kurz davor seine Wohnungstür aufzureißen und diesen völlig Fremden in die Wohnung zu bitten, aber unter welchem Vorwand?
Fast hätte er aufgeschrien als es an seiner Tür klopfte.
„Hallo? Bist du zuhause?“
Lesse räusperte sich mehrfach, zupfte seinen Hemdkragen zurecht und öffnete dann erst die Wohnungstür.
„Wo sollte ich denn sonst sein? Ich bin ja erst gestern eingezogen.“
„Meine Großmutter möchte mit uns Kaffeetrinken. Weiß der Henker warum sie das möchte, aber wir sollten es ihr zu liebe tun.“
„Du tust gerade so, als wäre es eine Zumutung.“
„Eine Zumutung ist es nur das sie ohne mit uns zu reden einfach an einen Fremden vermietet.“
Lesse streckte die Hand aus und stellte sich vor „So. Jetzt sind wir uns nicht mehr fremd, aber sorry, ich habe deinen Namen nicht wirklich verstanden. Könntest du den wiederholen?“ Zehn Minuten später saß Lesse ein wenig verloren am Tisch der alten Dame und ihrem Enkel und wusste nicht recht, wie er sich verhalten sollte.
„Haben Sie sich schon ein wenig eingelebt?“, wollte die Frau von ihm wissen und sah ihn nicken.
„Ja. Ein bisschen.“
„Ich muss gestehen“, machte sie weiter und lächelte „Ihr Freund hat mich gestern ganz schön auf den Arm genommen. Im ersten Augenblick dachte ich wirklich er meint es ernst.“
„Oh“, antwortete Lesse, ohne zu zögern „Das hat er auch. Roger macht über so etwas keine Scherze.“
„Also wirklich, jetzt fangen Sie nicht auch noch an“, kicherte sie und Lesse lächelte.
„Er ist ein überaus engagierter Seniorenpfleger“, setzte er zu einer Erklärung an „Er tut das nicht nur um Geld zu verdienen, sondern weil es seine Berufung ist. Roger liebt den Umgang mit älteren Menschen und geht völlig in seinem Beruf auf. Wenn er mit Ihnen etwas unternehmen will, dann können Sie getrost zusagen und die Zeit mit ihm genießen. Den einzigen Hintergedanken, den er dabei hat, ist der, das er alles dafür tun möchte, das Sie für kurze Zeit alles vergessen was Sie so im Alltag plagt. Glauben Sie mir, er war wirklich gekränkt als Sie abgelehnt haben.“
„Und ich“, gab sie zu, ohne auf den entsetzten Gesichtsausdruck ihres Enkels zu achten „Habe die liebe lange Nacht im Bett gelegen und hatte Musik im Ohr die ich schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gehört habe. Dabei haben meine Beine gezuckt als hätte ich in eine Steckdose gefasst“, kicherte sie und seufzte leise „Aber ich bin doch viel zu alt für sowas.“
„Antworten Sie mir ganz ehrlich, ja?“, begann Lesse und neigte den Kopf zur Seite „Würden Sie denn gerne einmal wieder tanzen gehen?“
Er überhörte den gehässig klingenden Aufruf des Enkels und achtete dafür nur auf das Gesicht seiner Vermieterin, das sich sofort aufgehellt hatte und die ihm zunickte.
„Natürlich würde ich das gerne wieder mal tun. Ich war mit meinem Mann in einem Tanzverein. Wir waren oft bei Wettkämpfen dabei und haben auch so einiges an Preisen gewonnen, aber als er starb“, sie senkte ihren Kopf und brauchte ein paar Sekunden, bis sie sich wieder gefangen hatte „Hatte ich weder Lust weiterzumachen, noch einen geeigneten Tanzpartner, also habe ich meine Tanzschuhe an den Nagel gehängt und bis gestern auch nicht vermisst“, sagte sie und lächelte versonnen das Stück Kuchen auf dem Teller vor sich an „Da hat es mich doch schon ein bisschen in den Füssen gekitzelt, wenn ich ehrlich bin, aber man sollte sich vielleicht einfach mit dem Alter abfinden. Wir werden schließlich alle nicht jünger.“
„Sehr vernünftig“, hörte Lesse den Mann sagen, der ihm gegenüber saß und längst angefangen hatte den Kuchen zu verspeisen.
„Findest du? Hat man denn ab einem bestimmten Alter keinen Spaß mehr verdient sondern nur noch Vernunft?“, wollte Lesse wissen und schob den Teller mit dem Kuchenstück ein wenig von sich. Der Appetit war ihm vergangen, aber seine Worte hatten scheinbar dazu geführt das der Mann, der ihm zwar durch seine Erscheinung imponierte, dessen Namen er aber schon wieder vergessen hatte, weil er so ungewöhnlich war, darüber nachdachte, was er soeben von sich gegeben hatte.
„Nein, natürlich nicht. Sie soll ruhig ihren Spaß haben, aber muss es ausgerechnet tanzen sein? Ich meine, ich bezweifel das ihre alten Knochen das noch aushalten. Versteht mich nicht falsch, bitte, ich mache mir nur wirklich Gedanken ob dass das Richtige für sie wäre und wer um Gotteswillen ist Roger?“
Lesse befeuchtete seine Lippen. Immer wenn der Kerl den Mund aufmachte und er seine Stimme hörte, setzte sein Herz für einen Augenblick aus. Sie passte so überhaupt nicht zum Rest des Mannes, der alleine schon durch seine Größe und sein Gewicht aufsehen erregte. Aber seine Stimme, die war durchaus noch ein Mal etwas ganz Besonderes. Sie erinnerte Lesse an etwas Warmes und Weiches, an etwas, das es kein zweites Mal auf der Welt gab.
„Roger“, antwortete Lesse mit kratzender Stimme „Ist einer meiner Freunde. Wir waren schon in der Grundschule zusammen und haben uns bisher nie wirklich aus den Augen verloren. Er hat sich im übrigen auch um meine Großeltern gekümmert als die sich nicht mehr alleine versorgen konnten, das heißt, er hat mir geholfen und hat mich angewiesen was zu tun ist.“
„Also, wer hat sich jetzt um deine Großeltern gekümmert, du, oder er?“
„Eigentlich wir beide. Als sie bettlägerig wurden und immer mehr Pflege brauchten hat er mir Anweisungen gegeben was ich zu tun habe und wie ich ihnen am besten helfen kann. Und als es gar nicht mehr ging, da hat er ihre Pflege übernommen.“
„Ein Altenpfleger also“, murmelte der andere Mann und Lesse nickte erneut.