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Oscar vermacht seinen Freunden Romeo und Lorenz ein sanierungsbedürftige Berghotel. Die beiden kennen sich nicht, müssen sich aber gemeinsam um ihr Erbe kümmern, so hat der Erblasser es veranlasst. Aber als sie sich das Gebäude näher ansehen, kommen Zweifel auf, warum Oscar so viel Wert darauf gelegt hat, dieses abgelegene und in die Jahre gekommene Hotel zu restaurieren. Für die Touristen sind sie schon lange nicht mehr interessant, weil meist die schnelleren Routen in die Ferienziele befahren werden. Den langwierigen Weg, der noch dazu recht strapaziös für die Reisenden sein kann, den will heute niemand mehr nutzen, sodass nur noch vereinzelt Gäste den beschwerlicheren Weg auf sich nehmen und dann auch nur für einen kurzen Aufenthalt im Hotel nutzen. Warum also sollte man das Wagnis eingehen und dieses unrentable Gebäude für eine ganze Menge Geld sanieren, wenn es sich doch nicht lohnt? Noch während sie überlegen und nicht wissen wie es weitergehen soll, tauchen immer mehr Personen auf bei ihnen auf die dringend Hilfe brauchen und vor allen Dingen ein Dach über dem Kopf. Vielleicht, aber auch nur vielleicht wäre Oscars Idee gar nicht mal so schlecht, wie sie anfangs vermutet hatten.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Wortzähler: 63311
von
Nasha Berend
Über das Buch Oscar vermacht seinen Freunden Romeo und Lorenz ein sanierungsbedürftige Berghotel. Die beiden kennen sich nicht, müssen sich aber gemeinsam um ihr Erbe kümmern, so hat der Erblasser es veranlasst. Aber als sie sich das Gebäude näher ansehen, kommen Zweifel auf, warum Oscar so viel Wert darauf gelegt hat, dieses abgelegene und in die Jahre gekommene Hotel zu restaurieren. Für die Touristen sind sie schon lange nicht mehr interessant, weil meist die schnelleren Routen in die Ferienziele befahren werden. Den langwierigen Weg, der noch dazu recht strapaziös für die Reisenden sein kann, den will heute niemand mehr nutzen, sodass nur noch vereinzelt Gäste den beschwerlicheren Weg auf sich nehmen und dann auch nur für einen kurzen Aufenthalt im Hotel nutzen. Warum also sollte man das Wagnis eingehen und dieses unrentable Gebäude für eine ganze Menge Geld sanieren, wenn es sich doch nicht lohnt? Noch während sie überlegen und nicht wissen wie es weitergehen soll, tauchen immer mehr Personen auf bei ihnen auf die dringend Hilfe brauchen und vor allen Dingen ein Dach über dem Kopf. Vielleicht, aber auch nur vielleicht wäre Oscars Idee gar nicht mal so schlecht, wie sie anfangs vermutet hatten.
Nasha Berend
Buschstrasse 1
39649 Gardelegen
Er riskierte einen Seitenblick auf das gefaltete Schriftstück, das seit Reiseantritt auf dem Beifahrersitz lag. Während er in seinem alten, klapprigen Fahrzeug auf der Autobahn gewesen war, hatte es einfach nur dort gelegen, als würde es zum Interieur des Autos gehören, aber jetzt, wo er die Kurven der Serpentinen erreicht hatte, rutschte der Brief auf dem Sitz hin und her, je nachdem, in welche Richtung die Kurve gerade ging. Einmal wäre er sogar fast ganz hinuntergefallen und wäre dann wohl zwischen Beifahrertür und Sitz gerutscht. Vielleicht sogar unter den Sitz und das wäre dann damit verbunden gewesen sich bei dem Versuch den Brief zu retten, garantiert die Finger zu klemmen.
Aber er hatte es ja auch gerade noch so geschafft, das Blatt Papier dort zu halten, wo er es abgelegt hatte, auf dem Beifahrersitz.
Eigentlich mochte er keine Kurven und wenn die dann auch noch auf einen Berg hinaufführten, dann war er erst Recht nicht begeistert. Obwohl er ja zugeben musste, das er sonst nur recht gerade Strecken mit dem Auto zurücklegte und dieser Ausflug hier eine willkommene Abwechslung bot. Eigentlich.
Schade war nur, dass er sich weder die Strecke ausgesucht hatte, noch das Ziel. Beides war ihm vorbestimmt worden. Na ja, zumindest eines davon, nämlich das Ziel. Die Strecke dorthin ließ sich leider nicht ändern, auch wenn er es gerne gehabt hätte.
Er pustete die angestaute Luft aus der Lunge, streckte die Arme durch und umklammerte das Lenkrad noch etwas fester. Die nächste Möglichkeit, sein Auto abzustellen, würde er nutzen. Zwar hatte er vorgehabt bis zum Zielort zu fahren, aber das dauerte ihm wohl doch zu lang. Seine Beine waren schon ganz taub, obwohl er alle zwei Stunden für einige Minuten Pause gemacht hatte. Einmal hatte er sogar etwas gegessen, in einer dieser Autobahnraststätten. Er müsste lügen, wenn er behaupten würde, das es geschmeckt hätte, aber er hatte wenigstens etwas im Magen gehabt.
Was er jetzt gerade bedauerte. Ein ziemliches Rumoren hatte eingesetzt und wurde auch nicht besser, als er sich aus dem Sitz erhob und ein paar Schritte tat, wobei er immer wieder tief ein und wieder ausatmete und kreisförmig die Arme bewegte.
Er dachte an sein Ziel, blieb stehen und sah am Berg entlang in die Höhe, aber so hoch er auch sehen konnte, erkannte er nichts von dem, was in dem Schreiben auf dem Beifahrersitz erwähnt wurde. Also musste er sich wohl noch ein wenig gedulden, auch wenn er nicht gerade für seine Geduld bekannt war.
Als er wieder einstieg war er sicher das er nicht mehr lange brauchen würde, um anzukommen, um anzukommen und so nahm er Kurve um Kurve, bis endlich sichtbar wurde, wohin er aufgebrochen war.
Inzwischen war der Tag fast zu Ende. Die Sonne war kurz davor hinter dem Bergrücken unterzugehen und als er das Fahrzeug endlich abstellte, ausstieg und abschloss, begann es zu tröpfeln. Ein vorsichtiger Blick in den Abendhimmel, ein besorgter Blick zum Zielobjekt, dann öffnete er den Kofferraum, entnahm seine Reisetasche und machte sich anschließend auf den Weg.
Mit klopfendem Herzen zog er den Schlüssel aus der Hosentasche, der ihm vor ein paar Tagen per Post zugeschickt worden war. Er sah sich diesen Schlüssel einige Sekunden lang an und steckte ihn nach vergeblichem Klingeln ins Schloss. Ganz vorsichtig, als erwarte er fast doch nicht alleine zu sein, öffnete er die Haustür und sah sich kurz um, bis er den Lichtschalter fand. Er betätigte ihn, ohne das die Lampe an der Decke auch nur ein Flackern von sich gab. Es blieb genauso dunkel, wie es vorher gewesen war.
„Da hat wohl schon jemand den Strom abstellen lassen“, knurrte er leise vor sich hin und war mal wieder froh, das er ein Sammelsurium an Notfalldingen in seiner kleinen Reisetasche parat hatte. Unter anderem war auch eine Taschenlampe dabei, die er heraussuchte und später benutzte.
„Meine Güte“, sagte er leise als würde er jemanden stören „Ist das unheimlich“; flüsterte er und versuchte am nächsten Schalter noch einmal, ob er nicht doch Licht machen konnte, aber auch hier blieb es dunkel.
Er blieb stehen um sich zu orientieren, was aber im Taschenlampenlicht gar nicht so einfach war. Er bemühte sich wirklich sich daran zu erinnern wo er war und in welche Richtung er gehen musste, aber so sehr er sich auch bemühte, sein Kopf war leer. Oder besser gesagt, seine Gedanken rotierten zu schnell und viel zu wirr als das er einen klaren Gedanken fassen konnte. Und wenn er ehrlich war, dann war er auch schon länger nicht mehr hier gewesen.
„Scheisse“, flüsterte er und atmete tief ein, um sich zu beruhigen, da sein Herz noch immer bis zum Hals schlug. Einige Male ertappte er sich dabei, einen Namen rufen zu wollen, aber dann schüttelte er über sich selbst und auch über seine Gedanken den Kopf.
Nach etwa einer halben Stunde ziemlich kopfloser Suche, kam er in einem Raum an, der ganz offenbar die Küche war. Er stellte die Reisetasche an der Tür ab und lief hinein. Eigentlich hatte er sich die ganze Fahrt über auf einen frischen Kaffee gefreut, oder wenigstens einen heißen Tee, aber ohne Strom war wohl kaum daran zu denken. Er leuchtete mit der Taschenlampe an den Wänden entlang, bis der Lichtstrahl auf einen kleinen, fast quadratischen Tisch fiel, auf dem ...
Er grinste und lief zu diesem Tisch. Darauf lag ein Zettel. Eine Nachricht an ihn, die er kurz überflog und sich anschließend suchend umsah, bis er das Gesuchte fand.
„Gott sei Dank“, seufzte er und betätigte kurz darauf den kleinen Gaskocher. Er erwärmte Wasser in einer Kanne und war tatsächlich froh darüber, als er endlich den löslichen Kaffee fand und sich eine Tasse gönnte. Dann nahm er die Notiz noch einmal zur Hand und las sie etwas genauer. Er fand Brot und ein wenig Wurst wie in der Nachricht angegeben und war auch dafür dankbar. Als er schließlich den letzten Satz gelesen hatte, hob er die Augenbrauen an und räusperte sich.
„Na super. Soweit habe ich gar nicht gedacht“, schimpfte er mit sich selbst und sah sich noch einmal um. Obwohl die Taschenlampe nicht wirklich viel Licht spendete, konnte er dennoch etwas erkennen. Die Küche.
Das Herzstück dieses Hauses, in dem so viel Trubel gewesen war. So viel Leben.
Sein Herz krampfte sich zusammen und er hatte große Mühe, den dicken Kloß in seinem Hals hinunterzuschlucken. Er nahm ein Tablett von einem Stapel, stellte den frisch aufgesetzten Kaffee in einem Kännchen darauf, daneben einen Teller mit ein paar Scheiben Wurst und Brot, Butter und Marmelade, schnappte sich seine Reisetasche und lief durch den endlos langen Flur. Zielsicher bog er rechts ab, stieg eine Treppe hoch bis in den zweiten Stock und zog erneut einen Schlüssel aus der Hosentasche. Dieses Mal schloss er eine große Glastür auf und sog die Luft tief in sich ein, als er sie geöffnet hatte und gerade hinter sich schloss.
Sofort hatte er Tränen in den Augen und den dicksten Frosch im Hals, den man sich nur vorstellen konnte. Er war kaum noch in der Lage Luft zu holen. Er stellte die Reisetasche und das Tablett ab und stemmte die Hände in die Hüfte.
„Meine Fresse“, keuchte er und beugte sich vor, um sich das Atmen zu erleichtern „Du bist ja noch hier.“
Nach ein paar Minuten beruhigte sich sein Puls und auch das Schlucken wurde wieder angenehmer, aber sein Geruchssinn teilte ihm trotzdem etwas mit, was gar nicht sein konnte.
Er schnupperte und fühlte eine leichte Übelkeit in sich aufsteigen.
„Kannst du mir sagen weshalb du einfach so gegangen bist? Hättest du mich nicht vorher einfach mal anrufen können um mir mitzuteilen wie es um dich steht? Als der Brief kam, dachte ich ja für einen Augenblick mir würde jemand einen Streich spielen, auch wenn es kein recht guter war, aber für die Wahrheit habe ich es nicht gehalten“, sagte er leise, schüttelte über sich selbst den Kopf, nahm die Reisetasche und das Tablett wieder an sich und stellte es nur wenige Meter weiter auf einem Tisch wieder ab.
Zart strich er über die alte geölte Tischplatte die, wenn sie hätte sprechen können, einige Geschichten hätte erzählen können. Er grinste, als er an das letzte Mal dachte, an das er sich erinnern konnte. Sie hatten mit einem gemeinsamen Freund Skat gespielt, hatten danach ein Quija Brett aus einer alten Truhe geholt und hatten tatsächlich versucht Kontakt mit irgendwelchen Geistern aufzunehmen, die es in diesem alten Gebäude sicherlich gab. Wenn sie auch unsichtbar geblieben waren.
Als sein Smartphone klingelte, griff er sich ans Herz.
„Herrgott noch Mal“, seufzte er, aber bis er das Telefon gefunden und eingeschaltet hatte, war das Gespräch wieder beendet. Er überlegte kurz zurückzurufen, entschied sich dann aber nicht nur dagegen, sondern schaltete das Mobiltelefon aus und schob es in die Reisetasche zwischen seine Kleidung. Es gab Zeiten, da musste man einfach auf die Außenwelt verzichten und das war bei ihm gerade heute der Fall.
Er setzte sich an den Tisch, auf den er seine Sachen abgestellt hatte, aß ein wenig und dachte an die viele Zeit, die er hier verbracht hatte. Vor etlichen Jahren. Fast kam es ihm vor, als wäre es ein anderes Leben gewesen. Ein entspannteres Leben. Eines, das er gerne fortgeführt hätte, aber irgendwann war es ihm wohl abhandengekommen und er hatte sich ein Leben eingerichtet, mit dem er einigermaßen zurechtkam. Aber während er jetzt hier saß und an alte Zeiten dachte, war er nicht mehr so davon überzeugt, dass es das Beste war. Vielleicht hätte er dagegen ankämpfen sollen in den Sog aus Job und Verantwortung und noch mehr Arbeit und noch mehr Verantwortung zu geraten, aber er hatte es zugelassen, ohne darüber nachzudenken oder es zu wissen. Es war einfach geschehen.
Er wischte eine Träne aus dem Gesicht und schluckte die aufkommenden Emotionen hinunter, nahm die Taschenlampe und die Flasche Wasser und machte sich auf den Weg in ein weiteres Zimmer. Zum ersten Mal war er froh, das er sich in dieser kleinen Wohnung hier auskannte. Zur Not auch im Dunkeln. Er tastete sich vorsichtig aber zielsicher vorwärts, öffnete eine weitere Tür und dachte an die letzte Nacht, die er hier verbracht hatte. Damals hatte er nicht gewusst das es lange Zeit dauern würde bis er wieder einmal hier nächtigen würde. Und den Grund dafür, den hatte er auch nicht geahnt.
Vorsichtig setzte er sich auf das scheinbar frisch bezogene Einzelbett und holte sich die letzte Szene in den Erinnerungen zurück, die ihm gerade einfallen wollte. Er sah Freunde von sich auf diversen Sitzmöbeln, manche sogar einfach auf dem Boden sitzen. Manche von ihnen lachten, manche kicherten und ein paar davon schwiegen. Krampfhaft überlegte er, wann das wohl gewesen war, aber so um die 15 Jahre war das sicherlich schon her. Damals waren viele von ihnen noch ziemlich jung gewesen, andere hatten gerade ihr Abitur in der Tasche und ein paar davon standen schon mit beiden Beinen fest im Leben. Zu einigen hatte er den Kontakt verloren, zu anderen abgebrochen und mit ein oder zwei telefonierte er noch ein paar Mal im Jahr. Aber so richtige Freunde wie damals waren sie alle nicht mehr. Schade. Eigentlich.
Er erschreckte sich vor seinem klingelnden Wecker und schlug danach um das nervige Geräusch abzustellen. Einmal, zweimal und endlich traf er ihn.
Müde und völlig ausgelaugt öffnete er die Augen, schob die Bettdecke fort und rollte sich aus dem Bett. Er rieb sich die Augen, streckte sich, zog sich an und machte sich auf den Weg in die Küche.
„Guten Morgen“, wurde er fast schon übermäßig fröhlich begrüßt und eine strahlend schöne Frau stand vor ihm und lächelte ihn an „Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Nacht. Ich schätze ja, ich hätte hier kein Auge zugemacht, aus lauter Angst vor Geistern und anderen Spukgestalten. Wie geht es Ihnen? Sind Sie schon lange hier?“
Er bat sie mit einer Geste ihren Redefluss ein wenig zu bremsen. Sie schlug sich verlegen die Hand vor den Mund.
„Entschuldigung. Rede ich schon wieder zu viel? Tut mir leid. Ich wollte erstens nach dem Rechten sehen, Ihnen gleichzeitig frische Brötchen bringen und dann Bescheid sagen das die zweite Partei für unser Gespräch heute mittag gegen 14 Uhr am Bahnhof ankommen wird. Ich werde diese zweite Partei dann abholen und direkt hierher kommen. Ist Ihnen das Recht?“
„Ich weiß zwar im Grund noch immer nicht warum ich hier bin und das wird vor dem ersten Kaffee auch keinen Zweck haben es mir zu erklären, aber ja. Das ist mir alles Recht.“
„Gut“, antwortete die Frau, die einen recht adretten Eindruck machte und lächelte ihn noch einmal an. Sie deutete mit ihrer linken Hand auf den Küchentisch „Brötchen, Marmelade, Butter und sonst noch ein paar Kleinigkeiten. Ich hoffe, es ist alles zu Ihrer Zufriedenheit. Ich bin dann auch gleich wieder weg. Ach ja, ich habe mit dem Strom gesprochen. Heute Vormittag wird jemand kommen und ihn wieder anschließen. Dann können Sie kochen und vielleicht auch duschen und sowas, was ohne Strom ja schlecht möglich ist“, kicherte sie verlegen, winkte ihm noch einmal zu und verschwand, ohne von ihm eine Antwort zu bekommen.
Erst, als sie die Küchentür schloss, wurde ihm klar, das sie sich nicht vorgestellt hatte und er sich auch nicht. Sie nahm wohl an das er derjenige war, mit dem sie die letzten Wochen öfter als ein Mal telefoniert hatte um ihm alles mitzuteilen, was er wissen musste um sich hier einzufinden.
Er hatte ein wenig Mühe sich zurechtzufinden, obwohl er am gestrigen Abend schon hier gewesen war. Er brauchte fast eine halbe Stunde, bis er frühstücken konnte, aber dann ließ er es sich so gut gehen wie nur möglich. Er dachte an die Frau, die so hektisch das Feld verlassen hatte, und grinste breit.
Sein Blick fiel auf eine Tageszeitung, die die Frau scheinbar achtlos auf den Tisch gelegt hatte. Vielleicht hatte sie sie sogar vergessen. Aber egal, warum und weshalb sie dort war, er nahm sie an sich und schlug sie auf. Er staunte, als er die Schlagzeile gelesen hatte, blätterte sie dann hastig durch und zog die Nase hoch, als er sie wieder zusammenfaltete.
„Wow“, gab er von sich und hob die Augenbrauen an „Da fährt man mal knappe 600 Kilometer und hat schon das Gefühl, man wäre in einem anderen Universum. Aber vielleicht sollte ich zuhause auch einfach mal einen Blick in eine Tageszeitung werfen“, redete er mit sich selbst und fuhr erschrocken herum, als jemand hinter ihm zu lachen begann.
„Das kannst du zwar tun, aber ob es sich lohnt möchte ich doch bezweifeln. Heutzutage bekommt man ja jede Info die man sucht über das Internet und alles andere liest du zwar, behältst es aber sowieso nicht. Du musst Lorenz sein. Stimmts?“
Der Mann kam mit ausgestrecktem Arm auf ihn zu und wollte ihm offensichtlich die Hand schütteln. Instinktiv erhob er sich, nickte gleichzeitig und schüttelte dem Fremden die Hand.
„Stimmt. Und wer bist du?“
„Mein Name ist Romeo. Ich bin“, begann er, presste die Lippen aufeinander und befeuchtete sie anschließend „Ich w a r ein Freund des Besitzers, genau wie du.“
„Du kanntest Oskar?“
„Oh ja. Sehr gut sogar. Ich war“, begann er schon wieder und unterbrach sich erneut „Ein paar Monate sehr eng mit ihm befreundet, bevor aus uns einfache Freunde wurden.“
Lorenz schnaubte und senkte den Blick „Ja. Das trifft die Beschreibung auch für mich ganz gut. Wir waren fast ein halbes Jahr ein Paar bevor wir gute Freunde wurden. Und schließlich haben wir uns ziemlich aus den Augen verloren. Heute tut es mir weh das ich mich nicht bei ihm gemeldet habe.“
„Ja“, antwortete der Fremde „Kann ich gut nachvollziehen, aber ich schätze, das ist immer so. Erst wenn es zu spät ist merkt man was man am anderen hatte.“
„Setz dich“, bat Lorenz ihn „Ich dachte, es würde nur noch eine zweite Person erwartet. Mit einer Dritten hatte ich nicht gerechnet.“
„Ich BIN die zweite Person, allerdings habe ich der Anwältin nicht gesagt das ich schon früher ankomme. Ich werde sie einfach nachher anrufen und ihr sagen das ich schon da bin. Eigentlich hatte ich gehofft hier noch ein wenig alleine zu sein. Ich wollte in alte Erinnerungen abtauchen und noch“, er presste die Lippen zusammen und Lorenz wusste genau, was er hatte sagen wollen. Er nickte ihm schon zu.
„Ich verstehe schon. Mir ging es gestern Abend so. Ich war froh das ich alleine war. Wenn du willst, werde ich gleich zuerst einmal in den nächsten Ort fahren und einkaufen. Dann kannst du dich hier in Ruhe umsehen und na ja, das tun, was du tun musst. Möchtest du einen Kaffee?“
Romeo setzte sich auf den Stuhl Lorenz gegenüber und nahm ihm die befüllte Tasse ab.
„Ich habe einfach einen Zug früher genommen und bin gerade mit dem Taxi hier hoch gekommen als ein Auto weggefahren ist.“
„Wir haben versäumt uns vorzustellen, aber ich schätze das sie die Anwältin ist. Heute mittag werden wir es erfahren.“
„Darf ich dich was fragen?“, wollte Romeo wissen und Lorenz nickte schon, bevor er sich die Frage richtig überlegt hatte.
„Was hast du vor?“
„Wie meinst du das?“
„In dem Schreiben vom Anwalt stand was von wegen Einigkeit mit dem anderen Erben. Das bist ja dann wohl du, oder?“
Lorenz schluckte bei dem Wort Erben und senkte den Blick.
„Ja. Das bin ich und ich muss dir gestehen das ich im Augenblick noch nicht weiß wie es weitergeht. Und wenn überhaupt, dann weiß ich nicht wie. Ich habe, zugegebenermaßen, von dieser Materie nicht die geringsten Ahnung.“
„Da geht es dir wie mir“, erklärte Romeo und nahm einen großen Schluck aus der Tasse „Uih. Der weckt aber Tote“, grinste er und wurde gleich wieder ernst „Verdammt. Entschuldige bitte. So war das nicht gemeint. Erstens habe ich noch gar nicht realisiert das es ihn nicht mehr gibt und das er“, er brach für einige Sekunden ab, schluckte die Trauer hinunter und pustete dann die Luft aus den Lungen „Ich hatte in den letzten Jahren nicht so richtig Kontakt mit Oskar, aber jetzt fehlt er mir. Entschuldige“, sagte er, stand auf und verließ die Küche.
Auch Lorenz schluckte und zog anschließend die Nase hoch, um die Tränen im Zaum zu halten. Eine schaffte es trotzdem an die Oberfläche. Lorenz wischte sie mit dem Handrücken der linken Hand aus dem Gesicht, atmete einmal kräftig durch, sah sich noch einmal um und verließ dann ebenfalls die Küche. Er fand den zweiten Mann, der um Oskar trauerte, auf einer schmalen Treppe die zur Terrasse führte sitzend eine Zigarette rauchen.
Lorenz setzte sich schweigend daneben und lehnte einen angebotenen Glimmstängel ab.
„Ich kann schon verstehen weshalb er hier bleiben wollte“, sagte er und Romeo nickte ihm zu. Beide sahen die aufgehende Sonne über den Bergen und genossen die absolute Stille. Kein weiterer Mensch war zu sehen, kein Tier zu hören und auch keine Autoschlange die sich durch enge Straßenschluchten quälten. Nicht einmal das, mit dem Lorenz am Tag zuvor angekommen war und es auf dem rückwärtigen Parkplatz abgestellt hatte. Für den Moment sah es so aus, als wären sie die beiden einzigen Lebewesen auf dem Planeten. Natürlich wussten sie das dem nicht so war und der Eindruck täuschte, aber dennoch genossen sie die Stille und Ruhe.
„Ich bin gerade ein wenig dünnhäutig“, murmelte Romeo und räusperte sich.
Lorenz nickte „Ich auch. Und auf der anderen Seite versuche ich so stark zu sein, das ich mich schon vor mir selbst erschrecke, aber egal, es muss ja weitergehen“, antwortete er und lächelte gequält „Wie dem auch sei, ich werde jetzt, wie gesagt, in die nächste Stadt fahren und ein bisschen was einkaufen. Ich wollte eigentlich mindestens über das Wochenende bleiben, bin mir aber noch nicht sicher. Ich muss zugeben das es hier schon ein bisschen unheimlich ist. Wer weiß, ob ich nicht spätestens morgen Abend die Flucht ergreife“, grinste er ein bisschen schwach und Romeo nickte.
„Ich wollte erst einmal abwarten wie das Gespräch mit der Anwältin abläuft und wenn du dann nichts dagegen hast, würde ich mich dir gerne anschließen. Wer weiß, vielleicht haben wir beide so die Möglichkeit uns von ihm zu verabschieden. Ich schätze, er hätte extrem was dagegen gehabt wenn wir alle mit Trauermiene auf dem Friedhof stehen würden und heulen. Ihm wäre es sicherlich lieber gewesen wenn wir ihn und sein Leben gefeiert hätten. Möglichst laut und möglichst bunt“, sagte er und Lorenz lächelte.
„Oh ja. Das hätte er genossen.“
Schweigend saßen sie nebeneinander, bis Lorenz aufstand „Natürlich kannst du bleiben. Dann sollten wir aber überlegen was wir an Lebensmitteln brauchen. Isst du irgendetwas nicht, oder irgendetwas ganz besonders gerne?“
„Sein Leibgericht war Currywurst mit Pommes“, grinste Romeo „Die ganze Schickimickiküche war nichts für ihn. Er hat immer gesagt, er bereitet sie gerne zu aber für ihn selbst wäre etwas handfestes besser.“
Lorenz lachte leise „Ja, daran kann ich mich auch erinnern. Er war ja selbst etwas handfester, wenn ich das so sagen darf.“
„Darfst du“, flüsterte Romeo und nickte „Da gebe ich dir recht. Besonders feinfühlig war er auch nicht, trotzdem mochten wir ihn alle.“
Wieder nickte Lorenz.
Etwa eine halbe Stunde später verließ er das Gebäude und setzte sich in sein abgestelltes Fahrzeug. Sein Blick fiel erneut auf das Haus, in dem er die letzte Nacht verbracht hatte.
Dunkel, gespenstisch und fast ein wenig mystisch stand es vor ihm, inmitten dieser prachtvollen Bergwelt. Trotz des Sonnenscheins rings herum wirkte es düster, unheilvoll und unheimlich.
Lorenz drehte den Zündschlüssel, horchte dem Motorengeräusch und schämte sich, weil er diese Stille durchbrach. Als er vom Parkplatz fuhr und in den Rückspiegel sah, hätte er schwören können das Oskar an einem der vielen Fenster im ersten Stock stand und ihm zuwinkte. Er lächelte, öffnete das Seitenfenster, streckte den Arm hinaus und winkte zurück. Als er um die nächste Kurve fuhr und das Gebäude nicht mehr in Sichtweite war, brach er in Tränen aus. Es dauerte eine Weile, bis er sich beruhigt hatte und als er endlich die endlosen Serpentinen hinter sich hatte und in den nächsten Ort einfuhr, war er froh, als er einen Supermarkt und den dazugehörigen Parkplatz fand und das Auto abstellen konnte. Er blieb für einen Augenblick sitzen, sammelte sich, schnappte sich dann seine Liste und einen Korb, den sie in Oskars Wohnung gefunden hatten und öffnete die Autotür. Als er ausstieg, hatte er das Gefühl als würde er eine vollkommen andere Luft einatmen als er es bisher getan hatte. Diese hier, die war nicht nur klarer und reiner, nein, sie roch auch anders. Irgendwie würziger.
Lorenz schüttelte über sich selbst den Kopf, stellte den Korb in einen Einkaufswagen und machte sich auf den Weg zum Eingang des Supermarktes. Schon von draußen wurde ihm klar, dass dieser hier anders war als der zuhause. Wahrscheinlich lag es schon alleine daran, dass er nicht zuhause war sondern sehr viel südlicher. Ein Schwall eines anderen Sprache traf ihn mit Wucht, oder war es nur ein anderer Dialekt, katapultierte ihn in die Erinnerung einer Reise, die er fast schon verdrängt hatte, und ließ ihn den Schmerz über den Verlust ein wenig vergessen.
Nachdem er eingekauft hatte, fuhr er auf den Friedhof. Vergeblich suchte er nach Oskars Grab, entdeckte aber einen alten Mann mit krummem Rücken, der schwer an der Gießkanne schleppte, die er für die Blumen auf dem Grab seiner Frau benötigte. Lorenz half ihm und war froh, als er wenigstens die Hälfte dessen verstand, was der Mann ihm bereitwillig erzählte. So wusste er anschließend, das die Frau an einer geheimnisvollen Krankheit verstorben war und er sie auch nach fast zwei Jahren noch immer vermisste. Erst eine Stunde später setzte sich Lorenz wieder in sein Auto und fuhr den Weg zurück.
Als Oskars zuhause sichtbar wurde, presste ihn die Trauer wieder in den Autositz. Er wusste nicht, das Romeo ihn von der Terrasse aus sah und darauf wartete das er ausstieg. Eigentlich wollte er ihm beim Tragen helfen, aber da Lorenz keine Anstalten machte auszusteigen, blieb Romeo stehen und wartete.
Nach etwa zehn Minuten öffnete sich eine Tür und ein paar Beine wurden sichtbar.
„Soll ich dir helfen?“, hörte Lorenz eine Stimme fragen und schüttelte den Kopf, noch bevor er ausgestiegen war.
„Nicht wirklich. So viel war es nun auch wieder nicht. Aber hey, das war fast eine Weltreise. Ich hatte es gar nicht mehr so weit in Erinnerung.“
Romeo lachte „Ich schätze, hier ist alles eine Weltreise entfernt. Zuhause brauche ich nur über die Straße gehen und bin mitten im Leben, aber hier“, er deutete mit einer Hand eine 360 Gradbewegung an, aber außer den Bergen und einem leider immer weiter abschmelzenden Gletscher war nichts zu sehen.
„Meine Güte“, hauchte Romeo, ohne weiter auf Lorenz zu achten „Ich hatte dich wirklich gern, Oskar, aber das du ausgerechnet mir die Hälfte dieser verdammten Hütte vermacht hast, nehme ich dir ja wirklich übel. Du wusstest doch das ich nie gerne hier gewesen bin und wenn, dann nur wegen dir. Ach verdammt, Oskar, musste das sein?“, schimpfte er und lief zur Küche, wo gerade Lorenz mit den Einkäufen eintraf.
„Ich hatte völlig vergessen das ich in einem anderen Land bin. Vor Jahren bin ich die Strecke zwischen meinem Heimatort und hier mindestens ein Mal im Monat gefahren, aber irgendwann ist das Ganze einfach eingeschlafen. Gut, wir haben noch telefoniert, dann und wann, aber als der Brief vom Anwalt kam, da hat mich echt der Schlag getroffen. Ich habe nicht einmal gewusst das er so krank war“, setzte Lorenz zu einer Erklärung an, obwohl er nicht wusste, warum er das tat. Er musste es einfach jemandem erzählen.
„Geht mir nicht anders“, gab Romeo zu und nahm Lorenz eine Tüte aus den Händen, um deren Inhalt im Kühlschrank zu verstauen. Zu seiner Verwunderung sprang das Licht an.
„Oh. War der Elektriker hier?“
„Das geht vom Werk aus. Dazu braucht sich niemand mehr hier hoch zu bewegen. Außerdem habe ich entdeckt das unser gemeinsamer Freund eine Solaranlage und auch ein Windrad sein Eigen nannte. Ganz so abgeschnitten war er dann wohl doch nicht. Hätte ich nicht vermutet.“
„Nachdem das Restaurant dicht gemacht worden ist, dachte ich auch er gibt das alles hier auf und kommt zurück. Ich war ein wenig entsetzt als er mir sagte er würde trotzdem hier bleiben, ich meine, dieses alte Gebäude ist riesig. Was hat eine einzelne Person bloß mit so einer Menge Zimmer gemacht?“
„Keine Ahnung“, antwortete Romeo und pustete die angestaute Luft aus der Lunge „Und es ist mir eigentlich auch egal. Mich selbst hätten jedenfalls keine zehn Pferde mehr hierher gebracht. Das Komische daran ist ja, als ich Oskar kennengelernt habe, da hatte ich gerade die Nase gestrichen voll von all den Menschen um mich herum, vom Lärm der Großstadt und von den winzigen Wohnungen mit viel zu viel Miete. Du weißt sicher, worüber ich rede, oder?“, fragte er und Lorenz sah aus dem schmutzigen Fenster hinter Romeo. Es war egal, aus welchem Fenster man hier sah, man konnte nur Berge sehen. Hohe, graue, manchmal dunkle, schwarze Felsen mit Schnee darauf, aber immer wirkte es kalt.
Lorenz fröstelte, obwohl die Morgensonne im Tal ihn gewärmt hatte. Er rieb sich mit den Händen über die Oberarme und richtete den Blick dann auf Romeo, der ihn auffallend musterte.
„Ist irgendwas?“, fragte er und sah Romeo lächelnd den Kopf schütteln.
„Nein. Ich dachte gerade nur das ich das Gefühl habe dich zu kennen. Wahrscheinlich liegt es daran das Oskar einen gewissen Typ Mann angezogen hat und ich dachte, du würdest mir in ein paar Dingen sehr ähnlich sein, um jetzt festzustellen, das du so ganz anders bist. Zumindest sofern ich das beurteilen kann.“
„Wäre es denn so wichtig das ich dir ähnlich bin?“
Romeo schnaubte „Ich weiß nicht. Schätze, eigentlich nicht, aber trotzdem dachte ich, wir müssten außer Oskar noch einen gemeinsamen Nenner haben. Schließlich waren wir beide mit ihm befreundet.“
Lorenz lächelte nickend „Ich überlege auch die ganze Zeit weshalb er ausgerechnet uns beide hier haben wollte. Das ist doch komisch, oder nicht? Ist ja nicht so als hätte er nur zwei Freunde gehabt, die ihn über die Jahre begleitet haben. Warum wir zwei?“, wollte er wissen und Romeo hob aus Unwissenheit die Schultern an und schüttelte den Kopf.
„Vielleicht weiß die Anwältin mehr, aber eventuell werden wir das auch nie erfahren.“
„Eigentlich wollte ich gar nicht fahren. Ich hatte schon alles gepackt, dann aber beschlossen anzurufen um den Termin abzusagen. Ich wollte und will eigentlich keine Verpflichtungen eingehen, die ich nicht selbst getroffen habe, verstehst du?“
„Ich denke schon. Zumal ja auch noch ein Leben hat. Ein eigenes. Weit von all dem hier entfernt. Glaubt Oskar jetzt wirklich wir würden das alles hinter uns lassen und seinem Beispiel folgen? Das kann unmöglich sein Ernst sein, oder was meinst du?“
„Wenn wir jetzt jede Frage mit einer Gegenfrage beantworten, werden wir kaum auf einen grünen Zweig kommen“, lachte Lorenz und stand vom Stuhl auf „Komm. Wir greifen mal ein wenig vor und sehen uns zumindest das Gebäude mal ein wenig genauer an. Ich schätze, wenn wir wenigstens dieses Wochenende hier bleiben, sollten wir uns ein bisschen auskennen, oder? Ich habe die halbe Nacht nicht geschlafen weil ich dachte, wenn jetzt jemand einbricht, würde ich nicht einmal auf Anhieb die Haustür finden“, gab er lachend von sich und Romeo musste zugeben das es ihm wohl ähnlich ergangen wäre.
Sie sahen sich das Haus an, redeten meist über belanglose Dinge wie das Wetter und die Umgebung und merkten gar nicht, wie schnell die Zeit verflog. Erst, als Lorenz Smartphone klingelte und die Anwältin darum bat, ins Haus gelassen zu werden, wurde ihnen klar, wie viel Zeit sie schon miteinander verbracht hatten. Und wie viel sie, trotz ihrer Trauer, gelacht hatten. Mal über eine Bemerkung des anderen, mal über eine oder mehrere Erinnerungen die Oskar betrafen und ab und an sogar über sich selbst.
Eine halbe Stunde später saßen sie der korrekt gekleideten Anwältin gegenüber, die eine große Kladde vor sich auf dem Tisch liegen hatte und ein Schriftstück nach dem anderen herausnahm, vorlas und dann auf der anderen Seite der Kladde abheftete.
„Jetzt hätten wir zwei Möglichkeiten“, sagte sie gerade und Lorenz fühlte wie die Gedanken in seinem Kopf sich langsam zu einer Masse verknoteten, die ihm Schmerzen bereiteten.
„Das ist zwar alles ein wenig unkonventionell, aber ich habe nichts finden können was die ganze Sache hier illegal macht, also kann ich dem Wunsch meines Klienten wohl durchaus zustimmen“, lächelte sie und nahm ihre strenge Brille von der absolut geraden und bildschön geformten Nase. Sie richtete ihren Blick auf die Männer, die vor ihr am Küchentisch saßen, und nahm einen weiteren Ordner aus ihrer Aktentasche.
„Er macht Ihnen den Vorschlag sich das alles zu überlegen. 14 Tage gibt er Ihnen dazu. Vielleicht könnten Sie hier bleiben und miteinander reden, oder aber sofort abzulehnen. Was dann bedeuten würde, das dieses Erbe hier an die Gemeinde geht. Ich glaube, ich kann Ihnen das sagen, das er das nicht wirklich wollte. Er hätte befürwortet das Sie beide sich dieses Gebäude hier teilen, oder zumindest die Arbeit die damit verbunden ist.“
„Moment Mal“, hörte Lorenz jetzt Romeo sagen „Er hat uns gemeinsam diesen Komplex hier hinterlassen? Was hat er sich denn dabei gedacht?“, irritiert sah Romeo den Fremden an, der sich erst heute Morgen bei ihm vorgestellt hatte. Und jetzt sollte er sich mit ihm ein Erbe teilen, das er nicht haben wollte, von dem er aber wusste, wie sehr es seinem ehemaligen Partner am Herzen gelegen hatte.
„Ja. Das hat er und ich kann Ihnen sagen, das es sich durchaus lohnen würde dieses Erbe anzunehmen. Ich meine, er hinterlässt Ihnen ja nicht nur dieses Hotel mit allem was dazugehört, sondern auch noch eine recht anständige Summe um es zu sanieren oder zu restaurieren. Wie gesagt, er besteht nicht darauf das Sie wieder ein Hotel daraus machen, aber schon das Sie es gemeinsam nutzen und vielleicht dem ein oder anderen in Not geratenen Menschen eine Anlaufstelle bieten. Zumindest das hat er in seinem Testament festgelegt. Ähm“, sagte sie und blätterte ein weiteres Mal in der Kladde um. Ihre Augen signalisierten, das sie las, als Romeo Lorenz ansah.
„Was hat er sich dabei gedacht? Ich, nein, wir“, sagte er und deutete zwischen sich und Lorenz hin und her „Können doch jetzt nicht alle Zelte zuhause abbrechen und hier vollkommen neu wieder anfangen. Ich habe Arbeit in der Stadt, eine Wohnung, meine Familie. Freunde. Mein ganzes soziales Umfeld ist mehrere hundert Kilometer von hier ansässig und jetzt kommt dann mein Ex daher und hinterlässt mir diese Bude und ein bisschen Geld und erwartet das ich alles stehen und liegen lasse, einen Luftsprung mache und mich übermenschlich freue?“, fragte er laut, gut hörbar und mit gereizter Stimme von sich. Er schüttelte den Kopf.
„Das kann er unmöglich erwarten.“
Lorenz sah sich noch einmal um, als würde er das alles zum ersten Mal sehen. Er konnte sich noch daran erinnern, wie Oskar sich gefreut hatte, als er endlich die Beleuchtung für die Tische gefunden hatte, oder die dazu passenden Vasen. Am Telefon hatte er so davon geschwärmt und sie ihm so ausführlich beschrieben das er sie deutlich vor den Augen hatte. Ungefähr so, wie jetzt. Er hörte Oskars Stimme reden, hörte ihn lachen und schimpfen und senkte betreten den Blick, wenn er sich vorstellte, das irgendein völlig Fremder alles hier an sich reißen würde. Er sah einen kleinen, untersetzten Mann mit Hornbrille und Halbglatze kochend vor Wut durch die Gänge laufen und Anweisungen erteilen wie die Angestellten alles handhaben sollten. Nichts gefiel ihm, nichts fand er gut.
„Wir haben doch vorhin schon darüber gesprochen“, begann Lorenz „Das wir uns zumindest bis zum Wochenende hier einquartieren und überlegen was wir machen sollen. Vielleicht sollten wir das wirklich tun.“
„Das ändert aber nichts an der Tatsache das er uns diesen, diesen Klotz hier hinterlassen hat mit der Auflage das wir uns zusammenraufen und das Beste daraus machen. Das kann unmöglich sein Ernst sein“, schimpfte Romeo weiter und Lorenz setzte sich wieder. Er sah den zweiten Mann am Tisch an.
„Mir ist klar das du dich nicht gerade freust. Ich muss das auch erst verdauen und genau aus dem Grund wäre es doch gar nicht mal so schlecht wenn wir hierbleiben und alles auf uns wirken lassen.“
Romeo schien genervt zu sein, aber als er die Anwältin ansah und die ihn noch immer anlächelte, nickte er schließlich.
„Gut. Bis über das Wochenende kann ich es einrichten, aber spätestens am Dienstag sollte ich wieder zuhause sein.“
„Wie ist das denn wenn sich nur einer von uns beiden entscheidet?“, wollte Lorenz wissen und sah der Frau zu die hektisch in ihrem Papierberg zu wühlen begann.
„Oh“, sagte sie schließlich „Wenn ich mich nicht irre dann hat er festgelegt das Sie es nur beide gemeinsam machen können. Wenn einer aussteigt, ist das Arrangement mit der zweiten Person hinfällig, aber ich werde das noch einmal nachprüfen und Ihnen dann Bescheid geben“, sie schlug die Kladde zu und setzte die Lesebrille ab „Aber ich denke, wir werden auch dafür eine Lösung finden, wenn Sie es wünschen.“
Lorenz befeuchtete seine Lippen mit der Zungenspitze „Ich kann mich gut erinnern wie sehr er sich gefreut hat als er dieses Objekt schließlich gefunden hatte. Es war wohl schon länger sein Traum gewesen sich selbständig zu machen, aber niemand von uns hätte damit gerechnet das er in die Gastronomie geht. ICH jedenfalls nicht, aber ob ihr mir das jetzt glaubt, oder nicht, ich finde es irgendwie seltsam wenn ich mir vorstelle das ein Fremder sich hier bedient und alles verändert.“
Romeo schluckte „Da gebe ich dir ja Recht. Trotzdem ist es ein bisschen viel von ihm verlangt, findest du nicht?“
Lorenz musste ihm Recht geben, ob ihm das gefiel oder nicht. Ja, es war ein wenig viel von Oskar verlangt das sich hier zwei völlig Fremde zusammenfinden sollten um etwas zu leiten, von dem sie keine Ahnung hatten und das sie eigentlich auch nicht tun wollten.