Sommerdunkel - Nasha Berend - E-Book

Sommerdunkel E-Book

Nasha Berend

0,0
3,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als der Maler Arvid auf den arbeitslosen Elian trifft, stoßen zwei Welten aufeinander, die kaum Parallelen aufweisen. Trotzdem freunden sich die beiden an. Jeder zeigt dem anderen seine Umgebung mit seinen Augen. Während Elian in einem Wohnblock zuhause ist, der seine besten Tage längst hinter sich hat und der von Arbeitslosigkeit geprägt ist, lebt Arvid, der ohne jegliche finanzielle Probleme durch sein Leben geht, in einer großen Wohnung, in einem Haus, das sein Onkel ihm vererbt hat. Zusammen mit den Mietern der anderen drei Wohnungen. Einer älteren Dame, einem noch älteren Mann und einer kleinen Familie, die aber bald nach dem Ableben des Onkels auszieht. Arvid gibt sich keine Mühe seine Art zu leben und zu lieben zu verstecken oder gar zu verleugnen. Entweder man kommt damit zurecht, wie die alte Dame und ihr Nachbar, oder man zieht die Konsequenzen wie die Familie. Aber eines Tages gerät das Leben der Hausbewohner durch etwas, das uns alle treffen könnte, in Schieflage. Jetzt ist Zusammenhalt gefragt, egal wer man ist. Und ganz plötzlich kann man aufeinander zugehen, oder etwa doch nicht?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Vorwort
Arvid
Hunger
Spaziergang
Schlaflose Nächte
Ernsthaft?
Modelle
Elian
Kommt nicht in Frage
Regenstürme
HILFE!
Warten
Nachbarschaft
Lebenslügen
Monika und Jonas
Rotraud
Vorschläge
Stundenpläne
Unerwartete Hilfe
Sowas wie ein Lottogewinn
Zusammenhalt

Wortzähler: 62244

 

Copyright © Nasha Berend

 

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

Impressum:

Nasha Berend

Buschstraße

39649 Hansestadt Gardelegen

E-Mail: [email protected]

 

 

 

 

Umschlaggestaltung: Dirk Dresbach

Fotos: Copyright © Dresbach

 

 

 

 

 

 

Sommerdunkel

 

 

von

 

Nasha Berend

 

 

Über das Buch

 

Als der Maler Arvid auf den arbeitslosen Elian trifft, stoßen zwei Welten aufeinander, die kaum Parallelen aufweisen. Trotzdem freunden sich die beiden an. Jeder zeigt dem anderen seine Umgebung mit seinen Augen. Während Elian in einem Wohnblock zuhause ist, der seine besten Tage längst hinter sich hat und der von Arbeitslosigkeit geprägt ist, lebt Arvid, der ohne jegliche finanzielle Probleme durch sein Leben geht, in einer großen Wohnung, in einem Haus, das sein Onkel ihm vererbt hat. Zusammen mit den Mietern der anderen drei Wohnungen. Einer älteren Dame, einem noch älteren Mann und einer kleinen Familie, die aber bald nach dem Ableben des Onkels auszieht. Arvid gibt sich keine Mühe seine Art zu leben und zu lieben zu verstecken oder gar zu verleugnen. Entweder man kommt damit zurecht, wie die alte Dame und ihr Nachbar, oder man zieht die Konsequenzen wie die Familie. Aber eines Tages gerät das Leben der Hausbewohner durch etwas, das uns alle treffen könnte, in Schieflage. Jetzt ist Zusammenhalt gefragt, egal wer man ist. Und ganz plötzlich kann man aufeinander zugehen, oder etwa doch nicht?

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorwort

Als ich anfing, diese Geschichte zu schreiben, lebte mein Bruder schon ein Jahr lang mit der Diagnose Lungenkrebs und COPD. Da wir ein recht enges Verhältnis zueinander hatten, stand es für mich völlig außer Frage ihn zu pflegen, als er im September ´21 von einem auf den anderen Tag zum Pflegefall wurde.

Ich widme deshalb dieses Buch meinem Bruder Peter.

13.12.1953 – 14.5.2022

 

 

 

 

 

 

 

 

Sommerdunkel

 

 

Nasha Berend

 

 

 

 

Arvid

 

Arvid krempelte die Ärmel an seinem alten und völlig verfleckten Hemd bis über die Ellbogen und knotete dann die offenen, vorderen Hälften über der Hüfte. Er stellte sich an das offene Fenster in diesem lichtdurchfluteten Raum und atmete einige Male tief ein und wieder aus. Dabei schloss er die Augen und legte den Kopf in den Nacken.

Plötzlich öffnete er sie wieder, wendete sich um und trat vor die große, schwere Holzstaffelei, die er vor x Jahren auf einem Flohmarkt in Paris erworben hatte. Keine Ahnung, wieso er sie damals unbedingt haben wollte, aber er hatte sich noch nie in seinem Leben etwas derartig gewünscht, wie diese unnötige Staffelei. Er hatte kurzerhand sein ganzes Geld dafür ausgegeben und in Kauf genommen, das er die letzten Urlaubstage wohl auf einer Parkbank verbringen und sich seine Mahlzeiten erbetteln würde. Das alles war ihm egal gewesen.

Jetzt stand er genau vor dieser Staffelei und nahm einen großen Pinsel aus der Halterung, den er vorsichtig in der rechten Hand drehte und mit den Fingerkuppen der linken Hand die Borsten berührte. Sein Blick fiel auf die gestern vorbereitete Leinwand, dann schnappte er sich seine Mischpalette und tunkte den Pinsel in die Farbe, die er vor nicht einmal zehn Minuten auf die Palette gedrückt hatte.

Mit unglaublich eleganten Pinselstrichen begann er zu malen. Scheinbar ohne Plan und Ziel, aber je öfter er den breiten Pinsel über die Leinwand gleiten ließ, umso eher konnte man die Umrisse eines Gebäudes erkennen. Nur eine halbe Stunde später waren es schon mehr als ein halbes Dutzend und am gleichen Abend erkannte man einen Straßenzug in einer x-beliebigen Stadt. Vielleicht in einer Altstadt, eventuell etwas außerhalb einer großen Metropole, aber auf jeden Fall wurde auf dem großen Bild eine regnerische Abendstimmung festgehalten. Als Arvid sein altes, kariertes Hemd öffnete und achtlos auf den Boden fallen ließ, war es schon spät und das Licht im Raum alles andere als optimal. Aus diesem Grund hatte er große Strahler in jeder Ecke des Raumes anbringen lassen und simulierte so das Tageslicht. An manchen Tagen gelang ihm das sogar, an anderen, so wie heute, eher nicht. Natürlich hätten diese hellen Strahler auch an diesem Tag ihren Dienst getan, aber irgendetwas hinderte ihn daran, sie zu bedienen. Ihm war nicht nach Licht und schon gar nicht um diese fortgeschrittene Tageszeit. Eher war das Gegenteil der Fall. Er knipste das Deckenlicht aus, als er den Raum verließ und schloss hinter sich die Tür.

Er duschte, zog sich um und verließ gegen 21 Uhr seine geräumige Dachgeschosswohnung, die ihm irgendein entfernter Verwandter vererbt hatte und in der er schon einige Zeit zuhause war. Ursprünglich hatte er nie in diesen Großstadtdschungel gewollt, aber angesichts der Tatsache das ihm die Wohnung gehörte, dachte er nicht weiter über seine eigenen Wünsche nach. Die ebenfalls geerbte Summe machte es ihm möglich einfach nur noch seinem Hobby nachzugehen und den ungeliebten Job an den Nagel zu hängen. Noch wusste er zwar nicht wie lange die Geldsumme reichen würde, aber ein paar Jahre brauchte er sich noch keine Sorgen machen.

„Hey“, rief ihm jemand zu und winkte von der anderen Seite der Straße zu ihm hinüber „Alles in Ordnung?“

Arvid winkte zurück und nickte einfach nur, ohne ein Wort zu sagen. Er bog links um die Ecke und stieß mit einer älteren Frau zusammen, die mit zwei Plastiktüten unterwegs war.

Sie lächelte ihn an „Auch so spät noch unterwegs?“, wollte sie wissen und sah ihm in sein ernstes Gesicht. Er nickte.

„Vergessen einzukaufen“, knurrte er ihr zu und hörte sie lachen.

„Na, dann müssen Sie sich sputen. Lange habe die Läden ja nicht mehr auf.“

„Brauche nicht viel“, murmelte er und tat schon ein paar Schritte.

„Wenn Sie nichts mehr kriegen, wissen Sie ja wo ich wohne. Ich koche für mich alleine und dann immer zu viel“, stöhnte sie leise und schüttelte den Kopf. Sie versuchte, die Hand zum Gruß zu heben, was ihr aber durch die schwere Tüte darin nicht gelang. Sie sah besorgt hinter ihm her und presste die Lippen zusammen „Armer Kerl“, knurrte sie und seufzte leise, bevor sie sich wieder umdrehte und nach Hause lief. Sie bewohnte eine Wohnung unter seiner und bekam seinen unsteten Lebenswandel mit, obwohl sie keinen großen Wert darauf legte. Manchmal arbeitete er bis spät in die Nacht und schlief dann am anderen Tag bis fast zum Mittag. Sie konnte seine Schritte hören, wenn er wieder mal durch die vereinsamte Wohnung tigerte und dabei Laufspuren in seinem selbst auferlegten Käfig hinterließ. An manchen Tagen war sie kurz davor bei ihm zu klingeln und ihn aus einem fadenscheinigen Grund aus seiner Komfortzone zu locken, hatte sich aber bisher dagegen entschieden. Es ging sie nichts an wie er seine Tage verbrachte und noch weniger, wie seine Nächte aussahen. Obwohl, wenn sie so darüber nachdachte, dann waren die wahrscheinlich genauso traurig wie ihre Eigenen. Sie achtete zwar nicht zwingend darauf, wer sich in welcher Wohnung aufhielt und ob der- oder diejenige Gäste empfing, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals eine fremde Stimme oder gar fremde Schritte aus seiner Wohnung gehört zu haben.

Während sie ihre Einkäufe verräumte, dachte sie an den stillen jungen Mann, von dem sie nur wusste, dass er malte und selten Besuch erhielt. Schon bei seinem Einzug hatte sie die wenigen Möbel bestaunt, die ausgeladen worden waren. Eigentlich sahen die meisten Dinge aus, als kämen sie vom Sperrmüll oder von Flohmärkten, machten aber trotzdem nicht gerade einen ärmlichen Eindruck. Sie wusste auch noch, dass sie sich gewundert hatte, als eine riesige, hölzerne Staffelei ausgeladen wurde und so viele Leinwände, dass sie schon befürchtete, er würde damit den ganzen Hausflur schmücken.

In dem Moment, als sie darüber nachdachte und zu lächeln begann, tat er ihr noch mehr leid als sonst. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht. Wenn er die Bilder aufhängen würde, die er zweifelsohne in seiner lichtdurchfluteten Wohnung malt. Manches Mal waberte der Geruch nach frischer Farbe und Terpentin durch den gesamten Hausflur und machte die restlichen Eigentümer wütend. Sie wollten endlich wieder die Wohnqualität haben, die sie vor dem Einzug dieses eigenartigen Künstlers hatten.

Sie pustete die Luft aus den Lungen und schüttelte über ihre seltsamen Nachbarn den Kopf. Leise wiederholte sie die Dinge, die sie über den jungen Mann gesagt hatten, von dem niemand im Haus mehr wusste als den Namen. Und den auch nur, weil er auf der Klingel stand.

A. Resselmann.

Ansonsten hatte er noch keinerlei Spuren in diesem Haus hinterlassen. Schade eigentlich.

 

 

 

 

Hunger

 

Arvid öffnete die Tür der kleinen, aber feinen Pizzeria, in der er ein Mal in der Woche zu Abend aß. Ein Schwall von Gerüchen schlug ihm entgegen und für einen Augenblick überlegte er, seine Routine zu durchbrechen und irgendwo anders zu essen. Es war voll. Sehr voll.

Arvid sah sich kurz um, ob nicht doch irgendwo ein Platz für ihn war und war schon kurz davor kehrtzumachen, als ein Bediensteter ihn ansprach.

„Ach herrje“, hörte er den Mann sagen „Hätten Sie heute mittag angerufen, dann hätten wir einen Platz reserviert.“

„Ich dachte“, begann Arvid mit seiner ruhigen und tiefen Stimme „Das ich das nicht mehr nötig hätte. Ich komme jetzt seit fast einem Jahr hierher. Immer am gleichen Tag, immer um die gleiche Uhrzeit.“

Beschämte senkte der Angestellte seinen Kopf und nickte dann.

„Ich weiß selbst nicht, weshalb es heute so voll ist, aber es ist wie es ist. Tut mir leid.“

„Nicht so dramatisch“, sagte Arvid lächelnd und sah einen Mann, der das Gespräch mit dem Kellner wohl mitbekommen hatte. Er winkte ihm zu und deutete auf den freien Stuhl an seinem Tisch.

„Du kannst dich gerne hierher setzen“, rief er ihm zu und wartete auf eine Reaktion. Der Angestellte lächelte.

„Das ist eine gute Idee.“

Arvid dachte kurz nach, suchte in seinem Gedächtnis nach dem Gesicht des Mannes, weil er wissen wollte, ob sie sich kannten, dann nickte er „Ja. Warum nicht.“

Der Mann am Tisch stand auf und streckte ihm die Hand entgegen. Obwohl Arvid diese Geste etwas befremdlich fand, ergriff er die Hand und schüttelte sie.

„Resselmann“, hörte der Fremde ihn sagen und nickte erfreut.

„Ich weiß. Du bist Arvid Resselmann. Der Künstler aus dem Haus hier um die Ecke.“

Arvid hob erstaunt die Augenbrauen „Kennen wir uns?“

„Nein. Nicht wirklich. Trotzdem hat die Buschtrommel bei deinem Einzug wunderbar funktioniert. Ich glaube, es gab keinen Einwohner dieses Stadtteiles, der nicht wusste das du deine Habseligkeiten hierher gewuchtet hast“, grinste er und bot Arvid den Stuhl zum dritten Mal an. Dieses Mal setzte sich der junge Mann, weil er mehr von der Geschichte hören wollte.

„Die Buschtrommel?“, fragte er grinsend und der Mann am Tisch nickte ihm erneut zu.

„Hier ist nichts geheim, solange man Nachbarn hat. Glaub mir, die sind schlimmer als jedes Elternteil, Geschwister und sämtliche Verwandte zusammen. Sobald man sich an der Nase kratzt wissen sie Bescheid, denn sie warten hinter ihren schneeweißen Gardinen nur darauf etwas zu entdecken das so nicht sein darf. Zumindest in ihrer Vorstellungskraft“, versuchte der Fremde zu erklären und Arvid lachte leise.

„Ich dachte eigentlich, in einer Stadt kennt einen niemand und keiner achtet auf den anderen.“

„Suchst du nach sowas?“

Arvid holte tief Luft und nickte nach einigen Sekunden.

Der Mann am Tisch zog aus Nervosität die Nase hoch.

„Ich bin übrigens Elian. Elian DuLac. Ich wohne nicht weit von hier und esse hier ein Mal in der Woche, weil es die beste Pizza ist, die ich je gegessen habe.“

Arvid nickte ihm bestätigend zu „Das sehe ich auch so, obwohl“, sagte er verschwörerisch und streckte den Kopf etwas vor „Am Montmartre gibt es eine kleine Pizzeria, etwas versteckt in einem Hinterhof“, begann er und hätte beschwören können das Elians Augen aufblitzten „Für diese Pizza würde ich jede andere stehen lassen.“

„Sogar diese hier?“, flüsterte Elian und Arvid nickte.

„Ja. Sogar diese hier.“

„Dann klingt das nach einer guten Anlaufadresse wenn meine verdammte Pechsträhne irgendwann abreißt.“

„Pechsträhne?“

Elian holte tief Luft und machte eine abwertende Geste mit den Händen. Arvid wurde klar, dass er das Thema wechselte, als er mit geneigtem Kopf wissen wollte, wie er das Wetter fand.

Ohne das sie etwas bestellt hatten, stand plötzlich ein Kellner am Tisch und lächelte sie nacheinander an, während er ihnen jeweils eine Pizza auf den Platz stellte und Arvid auch noch ein Getränk reichte.

„So, wie es aussieht, wissen die schon was wir immer wollen“, grinste Elian und rieb sich die Hände. Er sah auf seine Pizza und sog den Duft tief ein „Ich liebe diesen Geruch“, gab er von sich und fächelte sich noch mehr davon zu. Auch Arvid spürte erst jetzt, wie hungrig er war, und schnupperte ebenfalls an seinem Essen.

„Ich wünsche dir guten Appetit, Elian“, sagte er und griff zu seinem Besteck. Nur Sekunden später waren beide in ihre Mahlzeit vertieft und achteten nicht mehr auf den jeweils anderen. Etwa 15 Minuten schwiegen sie sich an.

„Darf ich dich fragen woher du kommst?“, hörte Arvid seinen Tischnachbarn fragen und nickte ihm zu. Er kaute, schluckte und hob dann den Blick auf Elian.

„Eigentlich komme ich aus einem kleinen Kaff in Süddeutschland. Ich bin mir nicht einmal sicher ob es auf einer Landkarte verzeichnet ist und ob ein Navigationsgerät es findet, möchte ich auch bezweifeln“, grinste er, schnitt ein weiteres Stück seiner Pizza ab und stopfte es sich genüsslich in den Mund. Er beobachtete vorsichtig den Mann vor sich, der ebenso genießerisch sein Essen genoss.

„Ist deine Familie noch dort?“

Wieder nickte Arvid „Meine Eltern leben noch dort. Meine Schwester ist schon vor Jahren ausgezogen. Die hatte keine Lust mehr auf diesen kleinbürgerlichen Mief.“

Elian schnaubte „Das kenne ich. Glaub mir. Dort, wo ich aufgewachsen bin kennt jeder jeden und jeder glaubt das er alles vom Nachbarn weiß. Nach außen hin tun sie freundlich und hilfsbereit und wenn du ihnen den Rücken zudrehst, stechen sie dir einen Dolch hinein und würden dich ohne zu zögern an den Teufel verkaufen.“

Arvid lachte „Genau so. Und wenn du nicht das tust, das sie erwarten, tuscheln sie hinter deinem Rücken und zeigen mit den Fingern auf dich.“

Dieses Mal war es Elian, der zustimmte.

„Und mich hatten sie ganz besonders auf dem Schirm“, grinste er und wischte sich mit der Zungenspitze einige kleinere Pizzareste von den Lippen „Ich war etwas pummelig und trug eine Zahnspange. Zu allem übel musste ich die Klamotten meines älteren Bruders auftragen. Das war ihnen schon ein Dorn im Auge, aber als ich dann auch noch früh begann mich mit Mädchen zu treffen, weil ich die Jungs in meinem Alter für dämlich hielt, da war alles vorbei. Die hatten mich derartig auf dem Kieker, das ich kaum einen Schritt machen konnte, ohne das mich irgendwer gesehen hat“, erklärte er und grinste dabei.

„Wenn meine Mutter wissen wollte wo ich war, brauchte sie nur die Nachbarin fragen, die tagein, tagaus in ihrem Fenster lag und die Straße beobachtete. Die und ihre Freundinnen, die wussten genau wo ich mich befand. Sie beobachteten mich weil sie mich für einen Sittenstrolch hielten, eben weil ich mich mit den Mädels getroffen habe.“

„Und mich haben sie begafft, weil ich schnell begriffen habe, das viele Menschen sich von Äußerlichkeiten täuschen lassen. Also habe ich mein Taschengeld gespart, habe in den Ferien gejobbt und habe mir dafür Klamotten und irgendwelches Musikequipment gekauft, damit ich dazugehöre. Ich muss schon so 16 oder 17 gewesen sein als ich anfing, mich für Kunst zu interessieren. Von da an habe ich mein Geld für Stifte, Pinsel, Farben und dergleichen ausgegeben. Egal wie viel ich verdient habe, am Ende des Monats hatte ich eine Menge Zeug mehr, dafür aber sehr viel weniger Geld“, lachte er und Elian stimmte mit ein.

„Ja. So kann es einem gehen, wenn man auf dem Land aufwächst.“

„Ich wünsche mir ja manchmal, mir kämen die ganzen Gerüchte von damals zu Ohren. Gäb bestimmt eine tolle Geschichte“, grinste Arvid und steckte sich den letzten Bissen seiner Pizza in den Mund.

„Ich will gar nicht wissen was die damals alles über mich geredet haben“, gab Elian zu und lehnte sich zufrieden in seinem Stuhl zurück.

„Jetzt noch einen Eisbecher und mir geht es richtig gut. Leider ist der in meinem Budget nicht mehr drin“, seufzte Elian und zog seinen Geldbeutel aus der Tasche. Arvid schüttelte den Kopf.

„Lass stecken. Ich weiß schon gar nicht mehr, wann ich mich das letzte Mal während des Essens so nett unterhalten habe. Und wenn du nichts weiter vor hast, dann würde ich dich auch gerne zu einem Eis einladen.“

„Nur weil ich das gerade erwähnt habe, musst du das aber nicht tun. Ich habe mich daran gewöhnt jeden Cent zweimal umzudrehen, sonst könnte ich mir diese Ausflüge hier gar nicht leisten.“

„Ich tue das nicht für dich, sondern mehr für mich. Wie schon gesagt, ich habe mich schon lange nicht mehr so ungezwungen unterhalten können, Elian. Mir würde es wirklich eine Freude machen dich einzuladen um mich bei dir zu bedanken.“

Elian biss sich auf die Unterlippe und Arvid konnte sehen, dass er zögerte. Er winkte nach der Bedienung und ließ sich die Rechnung für den Tisch geben. Niemand schien daran Anstoß zu nehmen als er das komplette Essen und die Getränke zahlte und sie gemeinsam die Pizzeria verließen. Keine neugierigen Nachbarn hinter wehenden Gardinen und keine brodelnde Gerüchteküche. Einfach nur zwei Männer, die jetzt nebeneinander auf dem Gehsteig liefen und sich leise miteinander unterhielten.

 

 

Spaziergang

 

An der nächsten Straßenkreuzung blieb Elian stehen und steckte verunsichert die Hände in die Hosentaschen. Erst jetzt, bei genauerem hinsehen, sah Arvid, das die Kleidung die der Mann trug, nicht gerade dem modischen Standard entsprach und sicherlich schon einige Jahre alt war.

„Na komm“, sagte er und griff nach dem Arm des Mannes, der sich ihm erst vor etwa einer Stunde als Elian DuLac vorgestellt hatte „Wir gehen jetzt ein Eis essen und wenn uns danach ist, dann schnappen wir uns einen Kaffeebecher und setzen uns anschließend noch ein wenig auf eine Parkbank an der Uferpromenade, oder hast du noch was anderes vor?“, wollte er wissen und verdrehte schon die Augen, bevor er die Frage ausgesprochen hatte „Entschuldige bitte, ich rede immer etwas zu viel wenn ich nervös bin.“

„Du bist nervös?“, lachte Elian leise und kopfschüttelnd „Was soll ich denn dann erst sagen? Weißt du“, machte er weiter „Es ist schon eine ganze Weile her das mich jemand wie einen Menschen behandelt hat. Die meisten, die mir begegnen, die, wie soll ich sagen? Die sehen nur das, was sie sehen wollen.“

„Und was wäre das?“

„Na ja“, antwortete Elian und folgte Arvid, als dieser über die Straße lief und auf ihn wartete „Dir wird sicher aufgefallen sein das ich ein bisschen abgerissen bin und nicht gerade im Geld schwimme.“

„Ja und?“

Elian seufzte. Er gab Arvid noch einige Antworten auf genau so viele Fragen, aber jedes Mal, wenn er antwortete, schien Arvid nicht zu begreifen, was sie bedeuten sollte. Entweder konnte er nicht verstehen, was er sagen wollte, oder er wollte es schlichtweg nicht begreifen. Obwohl er als Künstler sicherlich auch nicht im Geld schwamm, schien er jedoch nicht gerade am Hungertuch zu nagen. Elian traute sich nicht nachzufragen, und es ging ihn auch nichts an, also sollte er sich wohl einfach darüber freuen, eine Bekanntschaft gemacht zu haben, in der es nicht um Geld und Prestige ging. Das alles schien für Arvid keine Rolle zu spielen.

Sie liefen noch ein paar Schritte, dann blieb Arvid stehen und deutete mit einer Geste an, dass er Elian den Vortritt ließ.

„Was ist hier?“, wollte der wissen und Arvid lächelte.

„Die beste Eisdiele die ich finden konnte seit ich hier eingetroffen bin. Ich bin bekennender Eisliebhaber und könnte täglich welches verdrücken, aber da ich mir fast sicher bin das das nicht gesund ist, beschränke ich mich auf zwei Mal wöchentlich und dann darf es auch gerne etwas besonderes sein. Und genau DAS“, sagte er und zwinkerte Elian zu „Das bekommst du hier.“

Sie gingen hintereinander durch eine schmale Gasse. Elian war davon überzeugt, das er hätte rückwärts diese Gasse verlassen müssen, wenn ihnen jemand entgegenkommen würde.

„Ist das hier eine Einbahnstraße?“, wollte er lachend wissen und sah Arvid tatsächlich nicken.

„Allerdings. Wenn du die Eisdiele verlassen möchtest, nimmst du einen anderen Weg.“

„Wie hast du die gefunden? Ich meine, ich bin schon seit einer kleinen Ewigkeit in diesem Viertel und habe die noch nie gesehen.“

„Bist du hier geboren?“

„Nein“.

Arvid spürte, das Elian nichts erzählen wollte und unterließ die ständige Fragerei. Er ging sich damit schon selbst auf die Nerven und konnte nachvollziehen, wie Elian sich dabei fühlte. Deshalb presste er die Lippen aufeinander und hoffte, das er endlich damit aufhören würde, so viele Fragen zu stellen.

„Grüß dich, Arvid“, wurden sie bei Eintritt in die Eisdiele von einer jungen, blonden und sehr attraktiven Frau begrüßt, die Arvid sofort in ihre Arme schloss und an sich drückte „Lange nicht gesehen. Ich dachte schon, du hättest uns vergessen, oder noch schlimmer, du wärst umgezogen ohne dich von uns zu verabschieden.“

„Nicht doch, Amelia. Das würde ich doch nie tun. Ich würde euch immer in Kenntnis setzen, wenn derartiges geschieht. Das weißt du doch.“

„Uih“, sagte sie jetzt lächelnd und neigte den Kopf zur Seite, während sie Elian auffallend musterte „Was bringst du uns denn hier für eine Augenweide? Ich hoffe doch sehr, das er ebenso wie du hier Stammgast wird. Dann hätte ich wenigstens ein paar Stunden in der Woche wo hier für mich alleine die Sonne scheint“, erklärte sie und zwinkerte Elian ungeniert zu. Im ersten Augenblick, wusste der nicht, was er erwidern sollte, aber Arvid begann zu lachen.

„Weiß dein Mann eigentlich das du hier so hemmungslos flirtest?“

Amelia grinste breit und deutete mit dem Kopf auf eine Tür hinter sich „Da er sich die meiste Zeit im Kühlraum befindet, muss er sich nicht wundern wenn ich mir manchmal etwas suche das ich nicht erst auftauen muss“, grinste sie „Na kommt. Ich muss euch aber warnen. So wie ich meinen mir Angetrauten kenne, wird er euch mit Freude jede Sorte auftischen, die er in dieser Woche kreiert hat und das waren nicht wenige“, sagte sie seufzend „Aber manche davon kann man sich höchstens für die Familie oder sehr, sehr gute Freunde und Kunden leisten, aber ganz sicher nicht für jemanden, der seine Kunst der Zubereitung nicht zu schätzen weiß. Also bitte, lobt ihn immer brav und artig und schmiert ihm eine Menge Honig ums Maul“, kicherte sie und öffnete jetzt diese Tür „Aurelio? Sieh mal, wer hier ist.“

„Ich hab keine Zeit, Amelia. Diese verdammte alte Maschine ist schon wieder hinüber“, hörten sie eine Männerstimme knurren, bevor sie ihn überhaupt gesehen hatten „Arvid!“, rief er dann erfreut und kam mit großen Schritten auf sie zu „Freut mich dich zu sehen, mein Freund. Alles wieder okay? Wir hatten dich schon auf die Verlustliste gesetzt. Hast du etwa eine bessere Eisdiele gefunden als uns? Sag jetzt bloß nichts falsches.“

Arvid schüttelte lachend den Kopf „Nein. Keine andere Eisdiele. Leider hat mich eine Magen-Darm-Geschichte in der letzten Woche daran gehindert das Haus zu verlassen. Aber jetzt geht es mir wieder gut und ich genieße den Abend. Darf ich euch jemanden vorstellen, den ich vorhin in meiner Lieblingspizzeria kennengelernt habe? Da war es so voll, das er mir einen Platz an seinem Tisch angeboten hat, sonst hätte ich mir so eine köstliche Pizza in einer Pappschachtel mitnehmen müssen. Und du weißt, wie sehr ich das verabscheue.“

Amelia verzog ihr Gesicht „Magen-Darm? Ist denn jetzt alles wieder in Ordnung?“

„Alles bestens. Danke der Nachfrage.“

„Nach was wäre dir denn heute, mein Freund? Fruchtig, cremig, exotisch oder vielleicht sogar ein wenig experimentell?“, wollte dieser Aurelio wissen und sah Arvid an, der tat, als müsse er noch überlegen.

„Sagen wir es mal so. Ich wäre dafür, das wir uns langsam aber stetig durch deine neuen Angebote löffeln. Wäre das nach deinem Geschmack?“

„Das klingt hervorragend. Aber ihr müsst mir einen Gefallen tun, ja? Sagt mir bitte ehrlich was ihr davon haltet. Ich habe bei diversen Personen immer den Eindruck“, grinste er und legte einen Arm um seine Frau „Mir immer ein wenig nach dem Mund reden, versteht ihr?“

„Aber Darling“, lächelte Amelia zuckersüß „Wie kommst du denn auf die Idee?“

„Seitdem ich dir das Heringseis untergejubelt habe und du mir mit angeekelt verzogenem Gesicht glaubhaft versichert hast, es würde fantastisch schmecken und ich müsse es unbedingt auf die Speisekarte setzen. Seitdem glaube ich dir nicht mehr.“

Arvid lachte laut „Heringseis?“

„Ich hatte schon einige Male den Eindruck als würde mich meine Liebste hier ein bisschen auf den Arm nehmen. Sie legt wohl Wert auf gutes Wetter, wenn ihr versteht was ich meine“, zwinkerte er den Männern zu und holte dann tief Luft „So gerne wie ich mit euch plaudern würde, aber ich habe keine Zeit. Langsam kommt unser Maschinenpark in die Jahre und ist immer häufiger kaputt. Dann fahren wir nur mit halber Kraft, aber immer noch besser mit wenig Maschinen, als ganz ohne. Mein Urgroßvater hat das Eis noch mit einer herkömmlichen Haushaltsmaschine in der Küche meiner Urgroßmutter hergestellt und die war nicht immer davon begeistert“, lachte er, schlug Arvid gegen den Oberarm und streckte Elian die Hand entgegen. Er lächelte höflich.

„Es freut mich immer, neue Gäste zu empfangen. Scheu dich nicht davor hier einfach hineinzuschneien wenn dir danach ist. Freunde von Arvid sind auch unsere Freunde, in Ordnung?“, wollte er noch wissen und bevor Elian etwas erwidern konnte, war der Mann schon wieder verschwunden und die Tür geschlossen.

Eine knappe viertel Stunde später staunte Elian nicht schlecht, als er ein Gemälde gegenüber der Eingangstür bewunderte und Amelia ihm verriet, das Arvid das Bild gemalt hatte.

„Ich habe ihm die Gegend beschrieben, aus der Aurelio kommt und er hat diese Erinnerungen in einem Gemälde festgehalten. Als meine Schwiegermutter das Bild gesehen hat, dachte ich für einen Augenblick, sie fällt ihn Ohnmacht. Sie war so begeistert, das sie es mir abkaufen wollte, aber das habe ich natürlich nicht zugelassen. Sie ist unverrichteter Dinge wieder nach Hause gefahren.“

„Du hast das gemalt?“, fragte Elian und Arvid räusperte sich, als Amelia zustimmte.

„Ja, das hat er. In unserer Privatwohnung hängt noch ein Bild von ihm, aber das ist, wie der Name schon sagt, privat“, grinste sie und wurde tatsächlich ein wenig rot. Sie wendete sich auch sofort ab und verschwand im hinteren Bereich der Eisdiele.

Auch hier befanden sich einige Gäste an den Tischen. Vor ihnen standen meist große Eisbecher, mal mit mehr, mal mit weniger bunter Deko. Nur eines war auffällig. Kaum jemand sprach ein Wort. Die meisten Gesichter sprachen allerdings eine eindeutige Sprache, denn dort spiegelte sich Freude wieder. Freude und Genuss.

Elian sah noch einmal zu dem Bild und richtete sich dann seinem Eisbecher zu.

„Meine Güte. Da hat er es aber gut gemeint“, gab er von sich und Arvid nickte.

„Das ist immer ein Streitthema zwischen Amelia und Aurelio. Sie sagt, die Portionen sind zu groß, er sagt, so sind sie genau richtig.“

„Aber dann wirft der Laden wohl nicht allzu viel Gewinn ab.“

„Das ist dann der nächste Streitpunkt zwischen den beiden. Sie möchte endlich ein bisschen Geld zur Seite legen, ihm reicht das, was er hat. Wenn er in Rente geht, möchte er zurück nach Italien, sie möchte dann reisen. Die kabbeln sich wie die Kinder, aber bisher ging es immer gut aus.“

„Na ja. Ganz Unrecht hat sie sicher nicht, wenn sie etwas sparen möchte, oder?“

„Nein, bestimmt nicht, aber auf der anderen Seite kann ich Aurelio nur zustimmen. Manchmal muss man einfach mit dem zufrieden sein was man hat. Man sollte nicht immer nach höherem streben, verstehst du?“

Elian nickte „Ich würde mir wünschen ich könnte etwas zurücklegen. Könnte ich noch einmal von vorne anfangen, dann ginge es mir nicht so dreckig wie heute.“

„Du wirst deine Chance noch kriegen, davon bin ich überzeugt. Versprich mir nur, das du nicht nach den Sternen greifst, wenn du es vermeiden kannst. Bleib lieber auf dem Teppich, auch wenn der Himmel verlockender klingt.“

„Schön ausgedrückt“, seufzte Elian „Aber im Moment glaube ich nicht daran, das sich für mich noch einmal irgendetwas tut.“

Arvid zog die Nase hoch „Gib die Hoffnung nicht auf. Eines Tages wird sich das Blatt wenden. Glaub mir. Ich weiß genau, worüber ich rede.“

„Ach ja?“

„Ja“, nickte Arvid und wendete sich wieder seinem Eisbecher zu. Bis sie die Eisdiele verließen, war es ein wenig frostig zwischen ihnen geworden, aber als Amelia ihnen zwei Kaffee zum Mitnehmen reichte und sie dabei anlächelte, verschwand die schlechte Stimmung wieder. Gemeinsam unternahmen sie noch einen ausgedehnten Spaziergang am Flussufer und suchten sich eine Parkbank aus, von der aus sie das Wasser beobachten konnten, dass unaufhörlich, tagein, tagaus, Stunde um Stunde, Jahr für Jahr im immer gleichen Flussbett in die gleiche Richtung floss. Dort tranken sie den mitgebrachten Kaffee und trennten sich erst, als sie Telefonnummern und Adressen getauscht hatten. Da war es kurz vor Mitternacht.

 

 

 

 

Schlaflose Nächte

 

Zuhause angekommen ließ Arvid sich auf das alte Sofa fallen, das er von seinem Onkel übernommen hatte. Wenn er ehrlich war, dann hatte er die meisten Teile von ihm übernommen. Irgendwie schienen die Möbelstücke hierher zu gehören. Sie waren ein wenig verwachsen mit dieser Wohnung und jede Neuanschaffung sollte wohl überlegt sein. Zu Beginn hatte Arvid noch überlegt alles an einen gemeinnützigen Verein zu spenden, der sich um notleidende Familien kümmerte, aber als er mit seinen eigenen Habseligkeiten angekommen war und einziehen wollte, war es ihm plötzlich falsch vorgekommen die geerbten Dinge zu verschenken. Wahrscheinlich standen einige von ihnen schon länger an Ort und Stelle, als er alt war. Und seine eigenen Sachen waren jetzt auch nicht unbedingt Designerstücke, die man unbedingt der Welt präsentieren musste. Einige Möbelstücke waren aus Secondhandläden, andere aus den Kleinanzeigen verschiedener Tageszeitungen und andere hatte er vom Sperrmüll. Vieles hatte er eingelagert, anderes hatte er selbst weiterverschenkt, wenn er mitbekam, das jemand dringend etwas benötigte.

Arvid lachte leise, als er an das entsetzte Gesicht seiner betagten Nachbarin dachte, als er das schäbige und abgewetzte Sofa die Treppen hinaufbefördert hatte. Er war sich nicht sicher, ob sie gesehen hatte, dass er es etwa 2 Stunden später wieder hinunter transportierte. Und das der alte Schrank, der nur ein paar Tage vor dem Umzug noch seine Dienste getan hatte, schon auf dem Gehweg sein jähes Ende fand und nach einem unglücklichen Sturz in sämtliche Bestandteile zerfiel, das sah sie wohl auch nicht. Noch Tage später hatte sie, wenn sie sich begegneten, den Kopf so hoch gehoben, dass er befürchtete, bei einem Regenguss würde sie Wasser durch die Nase einatmen.

Jetzt lachte er lauter und sah sich noch einmal im Raum um.

„Du hättest es verdient das ich dich besser kennengelernt hätte“, rief er in den Raum „Leider war dein Bruder immer ein bisschen stur und hat es nicht wirklich zugelassen. Ich kann mich eigentlich nur an ein Zusammentreffen mit dir erinnern und das war an meiner Konfirmation. Damals dachte ich, Papa fängt mitten in der Kirche eine Schlägerei mit dir an, aber das ist das letzte Bild, das ich von dir im Kopf habe. Ich frage mich die ganze Zeit, warum du ausgerechnet MICH als Alleinerbe eingesetzt hast. Allerdings kann ich dir glaubhaft versichern, das dein Bruder nicht allzu gut auf dich zu sprechen ist, immerhin habe ich meinen Heimatort verlassen, um mich im Großstadtdschungel zurechtzufinden. Fern ab meiner Familie, in einer völlig fremden Umgebung und ohne elterlichen Beistand. Und das nur, weil du mir dieses kleine Vermögen hinterlassen hast und diese Wohnung“, sagte er und stütze den Oberkörper auf den Unterarmen auf, die er auf den Oberschenkeln platziert hatte.

„Hast du gewusst, was du tust? Warst du dir bewusst, das ich sonst wahrscheinlich vor die Hunde gegangen wäre? Ich wäre an der Trennung zerbrochen, weil alles dort mit Erinnerungen gepflastert war. An manchen Tagen konnte ich nicht einmal mehr die Wohnung verlassen, weil ich sonst regelrechte Flashbacks hatte, sobald ich auch nur eine Türklinke berühren musste. Ich ..“, begann er, war aber nicht imstande seinen Satz zu beenden, weil ihn die Erinnerungen überrollten. Er schloss kurz seine Augen, konnte aber diese Eindrücke nicht verscheuchen. Nach einigen Minuten schluckte er, öffnete die Augen wieder und dachte an Elian. Warum war er wohl in diese Lage geraten? Er hätte ja einfach fragen können, aber er hatte das Gefühl gehabt, dass Elian noch nicht dazu bereit war, mit ihm darüber zu sprechen, also hatte er auch keine unangenehmen Fragen gestellt. Er ärgerte sich, war auf der anderen Seite aber froh es gelassen zu haben. Mit einem Fremden würde er auch nicht über alles sprechen.

Sein Blick ging zur Uhr. Es war gerade mal halb zwei Uhr nachts. Ob Elian wohlbehalten nach Hause gekommen war? Ganz kurz war er versucht ihn anzurufen, legte dann aber das Stück Papier mit Adresse und der Telefonnummer zur Seite und stellte sich vor eines der großen und hohen Fenster im Wohnzimmer.

Er hätte es nie geglaubt, aber die Lichter der Stadt hatten ihren ganz eigenen Reiz und machten ihn irgendwie melancholisch. Vor einigen Monaten hatte seine Mutter ihm noch prophezeit das er sich als Landpomeranze dort kaum wohlfühlen würde, wo so viele Menschen eingepfercht auf einem Fleck wohnten. Sie hatte ihm das so oft erzählt, dass er es fast selbst geglaubt hätte, aber schließlich hatte er auf sein Bauchgefühl gehört und seine Sachen gepackt. Bis zur letzten Minute hatte seine Mutter versucht, ihm den Umzug madig zu machen und er war fast ein bisschen stolz darauf, das er sich nicht hatte beeinflussen lassen, aber in Augenblicken wie diesem hier, fehlten ihm seine Eltern. Dann wäre er gerne zu ihnen gefahren, hätte mit ihnen einen Drink zu sich genommen und hätte geredet und geredet, bis er schließlich wieder froh darüber war, in sein eigenes Reich zurückzukehren. Erneut sah er auf die Uhr, verwarf den Gedanken aber schnell, die beiden anzurufen und sich nach ihnen zu erkundigen.

Gedanklich schrieb er eine Notiz für sich selbst: Eltern anrufen nicht vergessen und setzte sich dann wieder auf das Sofa seines verstorbenen Onkels. Er nahm ein Buch von einem Stapel und blätterte darin herum, ohne etwas zu lesen. Sollte ihn später jemand fragen, welches Buch er in den Händen gehalten hatte, er hätte es nicht gewusst.

Gegen zwei Uhr morgens legte er den Kopf zurück und schloss für einen Moment die Augen. Das Buch ließ er einfach neben sich liegen.

Gegen drei schreckte er hoch und starrte etwas verwirrt auf das deckenhohe Bücherregal an der Wand vor sich. Es war nicht nur mit seinen eigenen Büchern vollgestopft, sondern auch mit denen seines Onkels. Der war wohl genau so ein Büchernarr gewesen wie er selbst. Das war auch der Grund, weshalb Arvid keines der Bücher aussortiert hatte, sondern sie einfach nur zusammengeschoben hatte, um für seine eigenen Platz zu schaffen.

Erschrocken sprang er auf, als mitten in diese fast schon unheimliche Stille hinein sein Handy zu klingeln begann.

---ENDE DER LESEPROBE---