Das Erbe der Königin - Philippa Gregory - E-Book

Das Erbe der Königin E-Book

Gregory Philippa

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Beschreibung

Der Preis für die Krone Englands kann das eigene Leben sein

England, 1539: Jeder bei Hofe weiß, dass die Frauen Heinrichs VIII. gefährlich leben: Hat er einmal das Augenmerk auf eine andere gerichtet, so schwebt die Königin an seiner Seite in Lebensgefahr. Die deutsche Anna von Kleve kommt als vierte Gemahlin des Herrschers nach England. Die schüchterne junge Frau ist fasziniert vom höfischen Leben, doch schon bald begreift sie, welche Abgründe hinter der schillernden Fassade lauern. Neben Anna versuchen auch die Hofdamen Jane Boleyn und Katherine Howard, sich bei Heinrich durchzusetzen. Ihnen allen ist bewusst: Nur eine kann die Gunst Heinrichs, die Krone Englands und den Kampf um Leben und Tod gewinnen ...

Ein historischer Roman aus der Plantagenet-und-Tudor-Reihe von Bestsellerautorin Philippa Gregory. Ebenfalls bei beHEARTBEAT lieferbar: "Die Hofnärrin", "Der Geliebte der Königin" und "Die ewige Prinzessin".

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Inhalt

Cover

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Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Jane Boleyn, Blickling Hall, Norfolk, Juli 1539

Anna, Herzogin von Kleve, Düren, Herzogtum Kleve, Juli 1539

Katherine, Norfolk House, Lambeth, Juli 1539

Jane Boleyn, Blickling Hall, Norfolk, November 1539

Anna, Düsseldorf, Residenz der Herzöge von Kleve, November 1539

Katherine, Norfolk House, Lambeth, November 1539

Jane Boleyn, Greenwich, Dezember 1539

Katherine, Norfolk House, Lambeth, Dezember 1539

Anna, Calais, Dezember 1539

Jane Boleyn, Calais, Dezember 1539

Katherine, Norfolk House, Lambeth, Dezember 1539

Anna, Calais, Dezember 1539

Jane Boleyn, Rochester, Dezember 1539

Katherine, Rochester, Neujahr 1539

Jane Boleyn, Rochester, Neujahr 1539

Katherine, Rochester, Neujahr 1539

Jane Boleyn, Rochester, Neujahr 1539

Anna, Neujahrstag, Strasse nach Dartford, 1540

Katherine, Dartford, 2. Januar 1540

Anna, Blackheath, 3. Januar 1540

Katherine, Greenwich-Palast, 3. Januar 1540

Jane Boleyn, Greenwich-Palast, Samstag, 3. Januar 1540

Anna, Greenwich-Palast, 3. Januar 1540

Katherine, Greenwich, Dienstag, 6. Januar 1540

Anna, Greenwich-Palast, Dienstag, 6. Januar 1540

Jane Boleyn, Greenwich-Palast, 6. Januar 1540

Anna, Greenwich-Palast, 6. Januar 1540

Katherine, Greenwich-Palast, 7. Januar 1540

Jane Boleyn, Whitehall-Palast, Januar 1540

Anna, Whitehall-Palast, Januar 1540

Katherine, Whitehall-Palast, Januar 1540

Anna, Whitehall-Palast, Sonntag, 11. Januar 1540

Jane Boleyn, Whitehall, Februar 1540

Katherine, Whitehall, Februar 1540

Anna, Hampton Court, März 1540

Jane Boleyn, Hampton Court, März 1540

Katherine, Hampton Court, März 1540

Anna, Hampton Court, März 1540

Jane Boleyn, Hampton Court, März 1540

Katherine, Hampton Court, März 1540

Anna, Hampton Court, März 1540

Katherine, Hampton Court, März 1540

Jane Boleyn, Hampton Court, März 1540

Katherine, Westminster-Palast, April 1540

Anna, Westminster, April 1540

Jane Boleyn, Westminster, Mai 1540

Anna, Westminster, Juni 1540

Jane Boleyn, Westminster, Juni 1540

Katherine, Norfolk House, Lambeth, Juni 1540

Anna, Westminster, 10. Juni 1540

Jane Boleyn, Westminster, 24. Juni 1540

Anna, Richmond-Palast, Juli 1540

Jane Boleyn, Westminster, 7. Juli 1540

Anna von Kleve, Richmond, 8. Juli 1540

Jane Boleyn, Richmond, 8. Juli 1540

Katherine Howard, Norfolk House, Lambeth, 9. Juli 1540

Anna von Kleve, Richmond, 12. Juli 1540

Katherine, Norfolk House, Lambeth, 12. Juli 1540

Anna von Kleve, Richmond, 13. Juli 1540

Königin Katherine, Oatlands-Palast, 28. Juli 1540

Jane Boleyn, Oatlands-Palast, 30. Juli 1540

Anna von Kleve, Richmond, 6. August 1540

Katherine, Hampton Court, August 1540

Jane Boleyn, Schloss Windsor, Oktober 1540

Katherine, Hampton Court, Oktober 1540

Anna, Richmond, Oktober 1540

Jane Boleyn, Hampton Court, Oktober 1540

Katherine, Hampton Court, Oktober 1540

Jane Boleyn, Hampton Court, Oktober 1540

Anna, Richmond-Palast, November 1540

Jane Boleyn, Hampton Court, Weihnachten 1540

Katherine, Hampton Court, Weihnachten 1540

Jane Boleyn, Hampton Court, Weihnachten 1540

Anna, Hampton Court, Weihnachten 1540

Jane Boleyn, Hampton Court, Neujahr 1541

Anna, Richmond, Februar 1541

Katherine, Hampton Court, März 1541

Jane Boleyn, Hampton Court, März 1541

Katherine, Hampton Court, März 1541

Anna, Richmond-Palast, März 1541

Jane Boleyn, Hampton Court, April 1541

Katherine, Hampton Court, April 1541

Jane Boleyn, Hampton Court, April 1541

Anna von Kleve, Richmond-Palast, April 1541

Jane Boleyn, Hampton Court, April 1541

Katherine, Hampton Court, April 1541

Anna von Kleve, Richmond-Palast, Mai 1541

Jane Boleyn, Hampton Court, Juni 1541

Anna, Richmond-Palast, Juni 1541

Jane Boleyn, Hampton Court, Juli 1541

Katherine, Lincoln Castle, August 1541

Jane Boleyn, Pontefract Castle, August 1541

Anna, Richmond-Palast, September 1541

Katherine, King’s Manor, York, September 1541

Jane Boleyn, Ampthill, Oktober 1541

Anna, Richmond-Palast, November 1541

Katherine, Hampton Court, November 1541

Jane Boleyn, Hampton Court, November 1541

Anna, Richmond-Palast, November 1541

Katherine, Kloster Syon, November 1541

Jane Boleyn, Tower, London, November 1541

Anna, Richmond, Dezember 1541

Katherine, Kloster Syon, Weihnachten 1541

Jane Boleyn, Tower, Januar 1542

Anna, Richmond, Februar 1542

Jane Boleyn, Tower, Februar 1542

Katherine, Syon, Februar 1542

Jane Boleyn, Tower, 13. Februar 1542

Sechs Jahre später

Anmerkung der Autorin

Anmerkung der Übersetzerin

Weitere Titel der Autorinbei beHEARTBEAT

Die Hofnärrin

Der Geliebte der Königin

Die ewige Prinzessin

Über dieses Buch

Der Preis für die Krone Englands kann das eigene Leben sein

England, 1539: Jeder bei Hofe weiß, dass die Frauen Heinrichs VIII. gefährlich leben: Hat er einmal das Augenmerk auf eine andere gerichtet, so schwebt die Königin an seiner Seite in Lebensgefahr. Die deutsche Anna von Kleve kommt als vierte Gemahlin des Herrschers nach England. Die schüchterne junge Frau ist fasziniert vom höfischen Leben, doch schon bald begreift sie, welche Abgründe hinter der schillernden Fassade lauern. Neben Anna versuchen auch die Hofdamen Jane Boleyn und Katherine Howard, sich bei Heinrich durchzusetzen. Ihnen allen ist bewusst: Nur eine kann die Gunst Heinrichs, die Krone Englands und den Kampf um Leben und Tod gewinnen …

Über die Autorin

Philippa Gregory, 1954 in Kenia geboren, studierte Geschichte in Brighton und promovierte an der Universität Edinburgh über englische Literatur des 18. Jahrhunderts. Sie arbeitete als Journalistin und Produzentin für Fernsehen und Radio und verfasste Kinderbücher, Kurzgeschichten, Reiseberichte sowie Drehbücher. Bekannt ist sie aber vor allem für ihre historischen Romane, darunter die Titel der Plantagenet und Tudor Reihe, in denen insbesondere die Rosenkriege und das elisabethanische Zeitalter thematisiert werden.

Homepage der Autorin: http://www.philippagregory.com.

Philippa Gregory

DAS ERBEDER KÖNIGIN

Aus dem Englischen vonBarbara Först

beHEARTBEAT

Digitale Neuausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2006 by Philippa Gregory, Ltd.

Titel der Originalausgabe: »The Boleyn Inheritance«

Originalverlag: HarperCollins Publishers Ltd., London

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2010/2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Andrea Kalbe

Covergestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de unter Verwendung eines Motives © Richard Jenkins

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-6702-7

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

JANE BOLEYN, BLICKLING HALL, NORFOLK, JULI 1539

Heiß ist es heute. Über die Felder und Marschen trägt der Wind einen Pesthauch heran. Lebte mein Gemahl noch, so müssten wir bei dieser Hitze nicht im Haus hocken und eine bleierne Morgendämmerung oder einen stumpfroten Sonnenuntergang betrachten. Stattdessen würden wir den königlichen Hof auf seiner Sommerreise durch das Hügelland von Hampshire und Sussex begleiten, durch die schönsten und fruchtbarsten Landschaften Englands. Wir würden über Hügelkämme reiten und nach dem Meere Ausschau halten. Am Morgen würden wir auf die Jagd gehen, mittags unter dem dichten Baldachin der Bäume speisen und abends auf einem adeligen Landsitz im gelben Kerzenschein tanzen. Denn wir standen mit den mächtigsten Familien des Landes auf vertrautem Fuß, wir waren Günstlinge des Königs, Verwandte der Königin. Wir waren beliebt: wir, die Boleyns, die meistbeneidete und geistreichste Familie bei Hofe. Keine Frau konnte George erblicken, ohne sich in ihn zu verlieben, kein Mann vermochte Anne zu widerstehen - und alle schmeichelten mir als dem Torwächter zu ihrer Gunst. George mit seinen dunklen Haaren und Augen sah einfach blendend aus. Stets ritt er die besten Pferde und stets an der Seite der Königin. Anne befand sich auf dem Höhepunkt ihrer Schönheit, sie war geistreich und so verführerisch wie dunkler Honig. Und ich folgte den beiden, wohin sie auch gingen.

Sie pflegten gemeinsam auszureiten: Schulter an Schulter stürmten sie dahin, und oft vernahm ich ihr Lachen, das lauter klang als die Hufe ihrer galoppierenden Pferde. Zuweilen, wenn ich sie zusammen sah - so prächtig, so begehrenswert -, wusste ich nicht, wen von beiden ich mehr liebte.

Der ganze Hof war vernarrt in die beiden, in ihr verführerisches Aussehen, in ihre ausschweifende Lebensart. Sie waren Spieler, die das Risiko liebten, glühende Kirchenreformer, geübt in der Kunst des Streitgesprächs, und sie bevorzugten gewagte Lektüre. Vom König bis zur Küchenmagd gab es keinen Menschen bei Hofe, der von ihnen nicht geblendet war. Selbst jetzt, drei Jahre später, kann ich es immer noch nicht fassen, dass ich sie nie wiedersehen soll. Solche jungen, lebenslustigen Menschen können doch nicht so einfach sterben? In meiner Erinnerung jagen sie immer noch auf ihren Pferden dahin. Und warum sollte ich mich nicht nach der Vergangenheit zurücksehnen? Es ist doch erst drei Jahre her, seit ich sie zum letzten Mal sah: drei Jahre, zwei Monate und neun Tage, seit er mir lässig über die Hand strich, lächelte und zum Abschied sagte: »Einen guten Tag, Frau, ich muss gehen, ich habe heute so viel zu tun.« Es war ein Maimorgen, wir bereiteten das Turnier vor. Ich wusste, dass er und seine Schwester in Gefahr waren, doch ich wusste nicht, wie schlimm es stand.

Jeden Tag in meinem neuen Leben wandere ich zur Wegkreuzung im Dorf, wo an der Straße nach London ein schmutziger Meilenstein steht. Die von Schlamm und Flechten überwucherten Buchstaben verkünden: ›London, 120 Meilen‹. Das ist so weit fort, so weit, weit fort. Jeden Tag beuge ich mich hinunter und berühre den Stein wie einen Talisman, und dann gehe ich zurück zu meines Vaters Haus, das mir, die ich in den größten Schlössern des Königs gelebt habe, nun allzu klein erscheint. Ich lebe dort von den Almosen meines Bruders, vom Wohlwollen seiner Frau, die sich keinen Deut um mich schert, und von einer Rente, die mir Thomas Cromwell zahlt, dieser Emporkömmling und Geldverleiher, der mittlerweile des Königs bester Freund ist. Ich bin die arme Nachbarin, die im Schatten des prächtigen Hauses lebt, das einst mein Eigen war, ein Boleyn-Haus, eines unserer vielen Häuser. Ich lebe zurückgezogen, bescheiden, eine Frau, die kein eigenes Haus hat und die kein Mann haben will.

Das bin ich: Eine Frau von fast dreißig Jahren, mit einem von Enttäuschung gezeichneten Gesicht, Mutter eines abwesenden Sohnes, Witwe ohne Aussicht auf Wiederverheiratung, einzige Überlebende einer vom Unglück befallenen Familie, Erbin von Schmach und Schande.

Mein Traum ist, dass diese Schande eines Tages vorübergeht. Dass ein Bote in Howard-Livree ebendiese Straße entlanggeritten kommt und mir einen Brief bringt, einen Brief des Herzogs von Norfolk, der mich an den Hof zurückbeordert, einen Brief, der mir mitteilt, dass ich wieder eine Aufgabe habe: den Dienst im innersten Zirkel einer Königin. Es gelte, Geheimnisse weiterzutragen und Intrigen auszuhecken, kurz, ein doppelzüngiger Höfling zu sein, was er, der Herzog, so gut beherrscht - und ich als seine gehorsame Schülerin ebenfalls. Mein Traum ist, dass die Welt sich wandeln, dass das Rad des Glücks sich drehen wird, bis wir wieder oben sind und ich zu meinem Recht gekommen bin. Ich habe den Herzog bereits einmal gerettet, als wir in höchster Gefahr waren, und im Gegenzug hat er für mich das Gleiche getan. Unser größter Schmerz war, dass wir die beiden nicht retten konnten, die ich nur noch in meinen Träumen reiten und lachen und tanzen sehe.

Noch einmal berühre ich den Meilenstein und stelle mir vor, dass morgen schon der Bote kommt. Er wird mir ein Schreiben überreichen, das im Siegel das Wappen der Howards trägt, tief in das glänzende Wachs eingeprägt. »Eine Botschaft für Jane Boleyn, Komtess Rochford?«, wird er fragen und dabei zweifelnd auf meinen einfachen Rock schauen, dessen Saum vom Straßenstaub beschmutzt ist.

»Ich nehme sie entgegen«, werde ich antworten. »Ich bin die Komtess Rochford. Ich warte schon seit einer Ewigkeit.« Und dann werde ich es in die Hand nehmen: mein Erbe.

ANNA, HERZOGINVON KLEVE, DÜREN, HERZOGTUM KLEVE, JULI 1539

Ich wage kaum, zu atmen. Ich bin so reglos wie ein Stein, trage ein starres Lächeln auf dem Gesicht, habe die Augen weit aufgerissen. Kühn schaue ich den Künstler an und hoffe, dass ich vertrauenswürdig wirke, dass mein offener Blick Ehrlichkeit ausdrückt, aber nicht unbescheiden wirkt. Mein geborgter Schmuck war das Beste, was meine Mutter auftreiben konnte: Er soll einem kritischen Betrachter zeigen, dass wir nicht ganz mittellos sind, obwohl mein Bruder meinem zukünftigen Gemahl keine Mitgift anbieten wird. Der König wird mich um meiner angenehmen Erscheinung und meiner politischen Verbindungen willen zur Gemahlin nehmen müssen. Sonst habe ich nichts zu bieten. Aber er muss mich heiraten. Ich bin fest entschlossen, die erwählte Braut zu sein. Denn von hier fortzukommen, bedeutet mir alles.

Auf der anderen Seite des Zimmers wartet meine Schwester auf ihre Sitzung. Sorgfältig vermeidet sie jeden Blick auf mein Bildnis, das sich unter den raschen Strichen des Künstlers formt. Möge Gott mir vergeben, aber ich bete darum, dass die Wahl des Königs nicht auf sie fällt. Sie ist ebenso erpicht darauf wie ich, Kleve zu verlassen und in einem Sprung auf den prächtigen Thron Englands zu gelangen, aber sie hat es nicht so nötig wie ich. Kein Mädchen auf der ganzen Welt hat es so nötig wie ich.

Damit soll nichts gegen meinen Bruder gesagt sein, weder jetzt noch künftig. Er ist der mustergültige Sohn meiner Mutter und ein würdiger Erbe des Herzogtums Kleve. Während der letzten Lebensmonate meines Vaters, als dieser zunehmend dem Wahnsinn verfiel, war es mein Bruder, der ihn in seiner Kammer zu Boden rang und die Tür zusperrte und dem Volk weismachte, sein Herrscher leide an einem Fieber. Es war mein Bruder, der meiner Mutter verbot, die Ärzte kommen zu lassen. Selbst den Priestern, die den Teufel aus dem wirren Geist meines bedauernswerten Vaters austreiben sollten, wurde der Zutritt verweigert. Es war mein Bruder, der listenreich, aber schäbig darauf beharrte, wir sollten sagen, unser Vater sei ein Trinker, damit unser Ruf nicht durch den Makel des Wahnsinns getrübt werde. Es wäre unserem Vorwärtskommen in dieser Welt nicht förderlich, wenn auch nur der geringste Zweifel gegen unser Geschlecht bestünde, sagte er. Nur, wenn wir unseren eigenen Vater verunglimpften, wenn wir ihn einen Säufer nennen würden, ihm die dringend benötigte Hilfe versagten, dann könnten wir es zu etwas bringen, hat mein Bruder gesagt. Auf diese Weise kann ich eine gute Partie machen. Auf diese Weise kann meine Schwester eine gute Partie machen. Auf diese Weise kann mein Bruder eine gute Partie machen, und die Zukunft unseres Hauses ist gesichert - auch wenn mein Vater dafür seine Dämonen allein und ohne Hilfe bekämpfen musste.

Hinter seiner Zimmertür wimmerte er, dass er jetzt brav sein wolle - ob wir ihn denn nicht herauslassen könnten? Doch mein Bruder entgegnete stets mit fester Stimme, dass er nicht herauskönne. Damals fragte ich mich, ob wir nicht in einem schrecklichen Irrtum befangen waren, ob mein Bruder nicht ebenso wahnsinnig war wie mein Vater, und meine Mutter dazu, und ob nicht ich die einzige Vernünftige in unserem Hause war - denn nur ich war fassungslos ob unserer Haltung. Doch ich behielt meine Gedanken für mich.

Seit meiner frühesten Kindheit habe ich unter der Fuchtel meines Bruders gelitten. Natürlich stand immer schon fest, dass er eines Tages über die Herzogtümer Rhein und Maas herrschen würde. Sie sind gewiss nicht groß, liegen aber im Herzen Europas, und jede mächtige Nation und jeder große Herrscher buhlen daher um unsere Freundschaft, ob Frankreich, das habsburgische Spanien oder Österreich, ob der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, der Papst höchstselbst oder nun Heinrich von England. Kleve ist das Schlüsselloch zum Herzen Europas, und der Herzog von Kleve ist der Schlüssel dazu. Kein Wunder, dass mein Bruder sich so viel einbildet, er hat alles Recht dazu! Nur frage ich mich manchmal, ob er nicht in Wahrheit ein unbedeutendes Prinzlein ist, das bei dem großen Festmahl der Christenheit am unteren Ende der Tafel sitzt und eben noch geduldet wird. Aber diese Gedanken vertraue ich niemandem an, nicht einmal meiner Schwester Amalie.

Weil mein Bruder ein so mächtiger Mann ist, herrscht er über meine Mutter: Sie ist sein Lordkanzler, sein Majordomus, sein Papst. Mit ihrem Segen gebietet er über meine Schwester und mich, weil er der Sohn und Erbe ist, wir jedoch nur eine Bürde sind. Er ist ein junger Mann, dem eine Zukunft voller Macht und Möglichkeiten offensteht, und wir sind junge Frauen, denen vorbestimmt ist, Ehefrauen und bestenfalls Mütter zu werden - oder abhängige alte Jungfern, was die schlimmste Aussicht ist. Meine ältere Schwester Sybille hat den Ausbruch geschafft: Sie hat unser Haus verlassen, sobald ihre arrangierte Ehe geschlossen wurde, und muss nun die Tyrannei brüderlicher Aufmerksamkeit nicht mehr ertragen. Und ich werde als Nächste gehen. Ich muss die Nächste sein. Ich muss von diesem Joch befreit werden. Sie können doch nicht so grausam sein, statt meiner Amalie nach England zu schicken! Auch für sie wird die Gelegenheit kommen, auch sie wird einmal an der Reihe sein. Aber die nächste Schwester in der Reihe bin ich, also muss der englische König mich nehmen. Ich weiß gar nicht, warum sie ihm Amalie überhaupt angeboten haben - es sei denn, sie wollten mir Angst einjagen, damit ich noch unterwürfiger werde. Sollte dies der Grund gewesen sein, dann haben sie wahrlich Erfolg gehabt, denn ich habe schreckliche Angst davor, dass mir eine Jüngere vorgezogen wird, und mein Bruder wäre schuld daran. Aber indem er mich so quält, handelt er gegen seine eigenen Interessen.

Mein Bruder ist im wahrsten Sinne ein Zwergenherrscher. Nachdem mein Vater verstorben war, trat er in dessen Fußstapfen, aber er vermag sie nicht auszufüllen. Mein Vater war in einer größeren Welt zu Hause, er war Gast an den Königshöfen Frankreichs und Spaniens, er bereiste ganz Europa. Mein Bruder, der es vorzieht, zu Hause zu bleiben, glaubt, die Welt könne ihm nichts Größeres bieten als sein Herzogtum. Er glaubt, es gäbe kein besseres Buch als die Bibel, keine besseren Kirchen als die unseren mit ihren schmucklosen, kahlen Wänden, keinen besseren geistigen Führer als sein eigenes Gewissen. Da er nur einen kleinen Hof regiert, bekommen die wenigen Diener das ganze Ausmaß seiner Herrschsucht zu spüren. Da er nur ein geringes Erbe erhielt, legt er großen Wert auf seine Würde, und ich, der jegliche Würde abgeht, bekomme die volle Wucht dieser Geisteshaltung zu spüren. Wenn er fröhlich ist oder betrunken, dann nennt er mich die rebellischste seiner Untertanen und tätschelt mich mit schwerer Hand. Wenn er jedoch nüchtern ist oder gereizt, dann bin ich ein Mädchen, das seinen Platz nicht kennt, und er droht, mich in meinem Gemach einzuschließen.

Das ist dieser Tage in Kleve keine leere Drohung. Dieser Mann hat seinen eigenen Vater eingesperrt. Ich glaube, er wäre fähig, auch mich gefangen zu halten. Und wenn ich hinter meiner Tür weinte, würde dann jemand kommen und mich herauslassen?

Meister Holbein bedeutet mir mit einem kurzen Nicken, dass ich aufstehen und meiner Schwester den Platz überlassen kann. Mein Porträt zu betrachten, ist mir nicht erlaubt. Keine von uns darf sehen, was er dem König nach England sendet. Es ist nicht die Aufgabe des Meisters, uns zu schmeicheln oder uns als Schönheiten zu malen. Er ist gekommen, um nach bestem Vermögen unser genaues Abbild zu zeichnen, damit der König von England entscheiden kann, welche ihm besser gefällt. Als wären wir flandrische Stuten, die zum Deckhengst nach England gebracht werden sollen!

Meister Holbein - der sich zurücklehnt, während meine Schwester zum Stuhl eilt, der ein frisches Blatt nimmt und die Spitze seines Kreidestiftes prüft - hat uns alle gemalt, sämtliche Kandidatinnen für den Posten der Königin von England. Er hat Christina von Dänemark gemalt und Louise de Guise, Marie de Vendôme und Anne de Guise. Ich bin also nicht die erste junge Frau, deren Nase er mit ausgestrecktem Zeichenstift und zugekniffenem Auge ausgemessen hat. Und meine Schwester Amalie wird wohl nicht das letzte Modell sein. Vielleicht wird der Meister auf dem Heimweg nach England noch einmal in Frankreich Station machen und ein weiteres einfältig lächelndes Mädchen mit seinem finsteren Blick vermessen, ihr Abbild einfangen und getreulich ihre Makel darstellen. Es hat keinen Sinn, dass ich mich erniedrigt fühle, weil ich wie eine Lage Barchentstoff zur Begutachtung ausgelegt werde.

»Gefällt es Euch nicht, gemalt zu werden? Seid Ihr schüchtern?«, hat der Meister in den ersten Minuten der Sitzung in barschem Ton gefragt, denn mein Lächeln war erloschen, nachdem er mich betrachtet hatte wie ein Stück Fleisch auf dem Abtropfbrett.

Ich habe ihm nicht gesagt, was ich fühlte. Es hat keinen Sinn, einem Spion etwas anzuvertrauen. »Ich will ihn heiraten.« Mehr habe ich nicht gesagt. Der Meister zog eine kritische Augenbraue hoch. »Ich male nur die Bilder«, bemerkte er. »Euer Begehr solltet Ihr lieber seinen Gesandten mitteilen: den Botschaftern Nicholas Wotton und Richard Beard. Es hat keinen Sinn, mir so etwas zu sagen.«

Ich habe genickt, als würde ich seinen Ratschlag beherzigen. Den Botschaftern werde ich gar nichts sagen.

Nun sitze ich auf dem Fensterplatz. Ich trage mein bestes Kleid, mir ist heiß, und mein Mieder ist eng geschnürt. Zwei Mägde waren vonnöten, um die Bänder festzuziehen. Wenn mein Porträt fertig ist, werden sie die Knoten aufschneiden müssen! Ich schaue zu, wie Amalie ihren Kopf zur Seite neigt und Meister Holbein kokett anlächelt. Ich hoffe bei Gott, dass er sie nicht mag. Ich hoffe bei Gott, dass er sie nicht so malt, wie sie aussieht: fülliger und hübscher als ich. Für sie ist es nicht wirklich von Bedeutung, ob sie nach England gehen darf. Oh! Was für ein Triumph, wenn sie als jüngste Tochter eines armen kleinen Herzogtums mit einem Schritt zur Königin von England aufsteigen würde! Es wäre ein Höhenflug, der sie und unsere Familie und das ganze Volk von Kleve erheben würde. Aber sie hat es nicht so nötig wie ich. Für sie ist es keine Frage der Not, nur für mich. Fast möchte ich sagen: eine Frage der Verzweiflung.

Ich habe versprochen, Meister Holbeins Bild nicht anzuschauen, deshalb wende ich den Blick ab. Dies kann man mir zugutehalten: Wenn ich mein Wort gebe, dann halte ich es auch, obwohl ich nur ein junges Ding bin. Also schaue ich aus dem Fenster in den Schlosshof. Draußen im Wald erschallen die Jagdhörner, das große vergitterte Tor schwingt auf, die Jäger kehren zurück, mein Bruder reitet an der Spitze. Er schaut zum Fenster empor und hat mich gesehen, bevor ich zurückweichen kann. Sogleich weiß ich, dass ich ihn erzürnt habe. Er denkt, ich sollte nicht am Fenster sitzen, wo mich alle Welt sehen kann. Obwohl ich sehr schnell war, bin ich sicher, dass er genau gesehen hat, wie eng ich geschnürt bin und dass mein Kleid einen tiefen, rechteckigen Ausschnitt hat, obwohl mich eine Musselinkrause bis zum Kinn bedeckt.

Ich erschrecke vor dem finsteren Blick, den er mir zuwirft. Nun ist er äußerst ungehalten über mein Benehmen, wird es aber nicht sagen. Er wird sich nicht über das Kleid beschweren, für dessen Wahl ich Gründe anzuführen wüsste, nein, er wird etwas anderes finden, das er mir vorwerfen kann. Heute noch oder morgen wird meine Mutter mich in ihr Gemach rufen, und er wird hinter ihrem Stuhl stehen oder am Fenster. Auf jeden Fall wird es so wirken, als hätte dies gar nichts mit ihm zu tun und wäre ihm höchst gleichgültig. Sie aber wird in missbilligendem Ton zu mir sagen: »Anna, wie ich höre, hast du …«, und wird irgendein Vergehen aufwärmen, das Tage zurückliegt und das ich längst vergessen habe. Aber es wird etwas sein, wovon er weiß und das er sich bis zu diesem Zeitpunkt aufgespart hat, sodass ich im Unrecht bin und vielleicht sogar bestraft werde. Und er wird kein Wort darüber verlieren, dass er mich eng geschnürt und mit tiefem Ausschnitt am Fenster gesehen hat, obwohl dies in seinen Augen mein wahres Vergehen ist.

Als ich noch ein kleines Mädchen war, pflegte mein Vater mich seinen weißen Falken zu nennen, seinen Gerfalken: ein Greifvogel, der in den Schneewüsten des eisigen Nordens zu Hause ist. Wenn er mich über den Büchern sah oder beim Nähen, dann lachte er und rief: »Oh, mein kleiner Falke, bist du eingesperrt? Komm mit mir, ich lasse dich frei!«, und nicht einmal meine Mutter konnte mich zurückhalten, wenn ich aus dem Schulzimmer stürmte, um bei ihm zu sein.

Ich wünsche mir so sehr, dass er mich jetzt wieder rufen könnte.

Ich weiß, dass meine Mutter mich für ein törichtes junges Ding hält und dass mein Bruder noch Schlimmeres von mir denkt … Wenn ich aber Königin von England würde, könnte der König sich darauf verlassen, dass ich meinen Platz kenne. Ich würde weder französischen Moden anhängen noch italienische Tänze einführen. Sie könnten auf mich bauen, und der König könnte mir seine Ehre anvertrauen. Ich weiß, wie wichtig Ehre für einen Mann ist, und ich hege keinen anderen Wunsch, als brav zu sein, eine brave Königin. Aber ich glaube doch, dass der König von England mir trotz aller Strenge erlauben würde, am Fenster meines eigenen Schlosses zu sitzen. Was man auch von Heinrich von England sagen mag - er zumindest, so glaube ich, würde mir offen mitteilen, wenn ich ihn gekränkt hätte, und nicht meiner Mutter auftragen, mich wegen eines vorgeblichen Vergehens zu züchtigen.

KATHERINE, NORFOLK HOUSE, LAMBETH, JULI 1539

Mal überlegen: Was habe ich?

Ich besitze eine feine goldene Kette von meiner früh verstorbenen Mutter, die ich in meiner besonderen Schmuckschatulle aufbewahre. Leider ist die Schatulle leer bis auf diese Kette, aber ich werde bestimmt mehr Schmuck geschenkt bekommen. Ich besitze drei Kleider, eines davon neu. Ich habe ein Stück französische Spitze von meinem Vater aus Calais bekommen. Ich habe ein halbes Dutzend Bänder. Und, was noch wichtiger ist, ich habe mich. Ich habe mich, und das ist herrlich! Heute bin ich vierzehn Jahre alt geworden, man stelle sich das vor! Vierzehn! Vierzehn, jung, von adeliger, wenn auch trauriger Herkunft, nicht reich - aber verliebt, herrlich verliebt. Meine Großmutter, die Herzogin, wird mir etwas zum Geburtstag schenken, da bin ich sicher. Ich bin ihr Liebling, und sie möchte, dass ich schön aussehe. Vielleicht einen Seidenstoff für ein Kleid, vielleicht ein Geldstück, damit ich mir Spitze kaufen kann? Meine Freundinnen im Mädchengemach geben heute Abend mir zu Ehren ein Fest, wenn wir eigentlich schlafen sollen. Die jungen Männer werden ein geheimes Klopfzeichen geben, und wir werden sie einlassen, und ich werde »Oh nein!« rufen, als ob ich mit den Mädchen allein sein wollte, als ob ich nicht wie wahnsinnig verliebt wäre, verliebt in Francis Dereham. Als ob ich nicht den ganzen Tag auf den Abend gewartet hätte, damit ich ihn endlich sehen kann. Fünf Stunden noch, dann kommt er. Aber nein! Ich habe gerade auf die kostbare französische Uhr meiner Großmutter geschaut. Es sind nur noch vier Stunden und achtundvierzig Minuten.

Siebenundvierzig Minuten.

Sechsundvierzig. Ich bin wirklich verblüfft, wie sehr ich ihm zugetan bin - so sehr, dass ich tatsächlich die vergehenden Stunden zähle, bis wir endlich zusammen sein können. Das muss doch leidenschaftliche Liebe sein! Und ich muss doch ein ungewöhnlich empfindsames Mädchen sein, da ich so tiefe Gefühle hegen kann.

Fünfundvierzig; aber das Warten wird mir allmählich grässlich langweilig.

Ich habe ihm natürlich nichts von meinen Gefühlen erzählt. Ich würde mich ja zu Tode schämen, wenn ich es ihm selbst sagen müsste. Ich glaube, ich werde ohnehin sterben, weil ich ihn so sehr liebe. Ich habe es niemandem erzählt außer meiner besten Freundin Agnes Restwold und sie zur Verschwiegenheit verpflichtet - andernfalls soll sie den Tod erleiden, den Tod eines Verräters. Sie sagt, sie wolle eher gehängt und geköpft und gevierteilt werden, als dass sie irgendeiner Seele erzählt, dass ich verliebt bin. Sie sagt, sie werde eher auf den Richtblock steigen wie meine Cousine Anne, als dass sie mein Geheimnis preisgibt. Sie sagt, sie müssten sie schon aufs Streckbrett spannen, bevor sie mich verrate. Ich habe es auch Margaret Morton erzählt, und sie sagt, dass sie es selbst im Tode nicht verraten würde, und wenn man sie in die Bärengrube würfe! Sie schwört, sich eher auf dem Scheiterhaufen verbrennen zu lassen, als dass sie es weitersagt. Das ist gut, denn es bedeutet, dass eine von ihnen es Francis mit Sicherheit erzählen wird, bevor er heute Abend kommt - und so wird er erfahren, dass ich ihn mag.

Ich kenne ihn nun schon seit Monaten, ein halbes Leben lang. Am Anfang haben wir uns nur angeschaut, aber jetzt lächelt er und grüßt freundlich. Einmal hat er mich sogar beim Namen genannt. Er kommt zusammen mit den anderen jungen Männern unseres Hauses zu Besuch in den Mädchensaal, und er glaubt, dass er in Joan Bulmer verliebt ist, die Augen hat wie ein Frosch. Wenn sie ihre Gunst nicht so großzügig verteilte, würde kein Mann sie ein zweites Mal ansehen. Aber sie ist frei, sehr frei in ihrer Art, und deshalb bin ich es, die er kein zweites Mal ansieht. Das ist ungerecht. So ungerecht. Sie ist gute zehn Jahre älter als ich und verheiratet und weiß daher, wie man Männer anlockt, während ich noch viel zu lernen habe. Dereham ist auch schon über zwanzig. Alle halten mich für ein Kind, aber ich bin kein Kind mehr, das werde ich ihnen schon zeigen. Ich bin vierzehn, ich bin zur Liebe bereit. Ich bin bereit für einen Liebhaber, und ich bin so verliebt in Francis Dereham, dass ich sterben muss, wenn ich ihn nicht sofort sehe! Vier Stunden und vierzig Minuten.

Von heute an muss alles anders werden. Jetzt, da ich vierzehn geworden bin, wird sich alles ändern. Es muss sich ändern, das weiß ich. Ich werde meine neue französische Haube aufsetzen, und ich werde Francis Dereham sagen, dass ich vierzehn bin, und er wird mich als das sehen, was ich in Wahrheit bin: eine Frau, eine Frau mit einiger Erfahrung, eine erwachsene Frau … Und dann werden wir ja sehen, wie lange er noch bei dem alten Froschgesicht bleibt, wenn er doch nur auf die andere Seite des Saales zu kommen braucht, um sich in mein Bett zu legen.

Er ist nicht mein erster Liebhaber, das ist wohl wahr; aber für Henry Manox habe ich nie so tief empfunden, und wenn er das behauptet, dann lügt er. Henry Manox war gut genug für mich, als ich ein einfaches Landmädchen war, ein Kind noch, das Tafelklavier spielen lernte und von Küssen nichts wusste. Denkt nur, als er mich zum ersten Mal küsste, da mochte ich es nicht einmal und bat ihn, aufzuhören. Und als er mir die Hand unter das Hemdchen schob, war ich so erschrocken, dass ich laut aufschrie und weinte. Ich war erst elf, wie konnte er da von mir erwarten, dass ich die Freuden einer Frau kannte? Doch jetzt weiß ich Bescheid. Drei Jahre mit den anderen Mädchen im Saal haben mich alle Tricks gelehrt. Ich weiß, was ein Mann will, und ich weiß, wie ich ihn reizen kann, und ich weiß auch, wann ich aufhören muss.

Mein guter Ruf ist meine Mitgift - meine Großmutter würde betonen, dass ich keine andere besitze (fiese, alte Katze!)-, und niemand soll jemals sagen können, Katherine Howard wüsste nicht, was sie sich und ihrer Familie schuldig ist. Ich bin jetzt eine Frau, ich bin kein Kind mehr. Henry Manox wollte mein Liebhaber sein, als ich noch ein unschuldiges Kind vom Lande war, als ich noch fast nichts wusste. Ich hätte ihn auch gewähren lassen, nachdem er mich wochenlang bestochen und bedrängt hatte, bis zum Letzten zu gehen, aber dann hat er schließlich doch aufgehört, weil er Angst hatte, erwischt zu werden. Die Leute hätten ihn verurteilt, weil er über zwanzig war und ich erst elf. Deshalb wollten wir warten, bis ich dreizehn würde. Aber jetzt lebe ich im Norfolk House in Lambeth und bin nicht mehr in Sussex begraben. Jeden Tag könnte es geschehen, dass der König höchstpersönlich an unserer Tür vorbeireitet, nebenan wohnt der Erzbischof, und mein eigener Onkel Thomas Howard, der Herzog von Norfolk, kommt mit großem Gefolge zu Besuch - und einmal hat er sich sogar an meinen Namen erinnert! Ich bin Henry Manox jetzt turmhoch überlegen. Ich bin kein dummes Ding vom Lande mehr, das er zu Küssen und mehr zwingen kann. Ich habe eine höhere Stellung erklommen. Ich weiß, was sich im Schlafzimmer abspielt. Ich bin eine Howard, und ich habe eine glänzende Zukunft vor mir.

Doch ausgerechnet jetzt, wo ich alt genug bin, um an den Hof zu gehen - und als eine Howard würde ich selbstredend der Königin dienen -, ausgerechnet jetzt haben wir keine Königin mehr! Das ist eine Katastrophe. Wir haben keine Königin, denn Königin Jane starb nach der Geburt ihres Kindes - womit sie ja nur ihre Pflichten verweigert hat! -, und so gibt es am Hof keine freien Posten für Ehrenjungfrauen. Das ist so ein schreckliches Pech, ich glaube, kein Mädchen hat jemals so viel Pech gehabt wie ich. Da bin ich nun endlich vierzehn und könnte Ehrenjungfer werden, und dann stirbt einfach die Königin, und jahrelang wird der Hof Trauer tragen. Manchmal habe ich das Gefühl, als hätte sich die ganze Welt gegen mich verschworen, als wollten alle, dass ich als alte Jungfer ende!

Was für einen Sinn hat meine Schönheit, wenn ich niemals einem Edelmann begegne? Wie soll jemals ein Mann von mir bezaubert werden, wenn mich keiner zu Gesicht bekommt? Hätte ich meine Liebe nicht, meinen süßen, schönen Francis, dann würde ich völlig verzweifeln, ich ginge noch heute in die Themse.

Aber zum Glück habe ich wenigstens Francis, auf den ich hoffen kann, und eine Welt, um die es sich lohnt zu kämpfen. Und wenn Gott wirklich alles weiß und sieht, dann kann er mir meine Schönheit nur für eine glänzende Zukunft geschenkt haben. Er hat doch wohl Großes mit mir vor? Weil ich erst vierzehn bin und schon vollkommen? Gott in seiner Weisheit wird doch sicherlich nicht zulassen, dass ich in Lambeth versauere?

JANE BOLEYN, BLICKLING HALL, NORFOLK, NOVEMBER 1539

Endlich kommt er doch. Als die Tage kürzer werden und ich schon beginne, einen weiteren Winter auf dem Land zu fürchten, kommt er: der Brief, den ich so ersehnt habe. Mir kommt es vor, als hätte ich ein Leben lang auf ihn gewartet. Nun kann mein Leben von Neuem beginnen. Ich werde wieder das Licht guter Kerzen genießen und die Wärme der Kohlenpfannen, ich werde wieder einem großen Kreis von Freunden und Rivalen angehören und gute Musik, gutes Essen und Tanz erleben. Ich werde an den Hof zurückbeordert, Gott sei Dank, und werde der neuen Königin dienen. Der Herzog, mein Patron und Mentor, hat mir wieder eine Stellung im Dienst der Königin besorgt. Ich werde Teil des Hofstaats sein. Ich werde der neuen Königin Anna von England dienen.

Der Name tönt wie eine Alarmglocke: Königin Anna - Königin Anne. Sicherlich durchlebten die Ratgeber seiner Majestät einen erschrockenen Moment, als sie den Namen der neuen Königin vernahmen. Sicherlich erinnerten sie sich, wie viel Unglück die frühere Anne über uns brachte. Wie sie den König entehrte und den Ruin ihrer Familie herbeiführte, gar nicht zu reden von meinem Verlust. Meinem unerträglichen Verlust. Aber nein, wie ich sehe, ist eine tote Königin am Hof rasch vergessen. Sobald die neue Königin Anna eingetroffen ist, wird die andere Anne, meine Königin Anne, meine Schwester, meine geliebte Freundin und Peinigerin, nicht mehr sein als eine ferne Erinnerung - meine Erinnerung. Manchmal kommt es mir vor, als sei ich die Einzige im Lande, die sich erinnert. Manchmal kommt es mir vor, als sei ich die Einzige, die beobachtet und überlegt, die Einzige, die mit einem Gedächtnis gestraft ist.

Ich träume oft von ihr. Ich träume, dass sie wieder jung ist, dass sie lacht und sich um nichts schert als ihr Vergnügen. Die Haube hat sie zurückgeschoben, um ihr dunkles Haar zu zeigen, ihre Ärmel sind modisch lang, ihr Akzent stets übertrieben französisch. Am Hals trägt sie ein perlfarbenes »B«, zum Zeichen, dass Englands Königin eine Boleyn ist, so wie ich. Ich träume, dass wir in einem sonnigen Garten lustwandeln, und George ist fröhlich. Er hat mich untergehakt, und Anne lächelt uns beide an. Ich träume, dass wir reicher werden, als wir uns je vorgestellt haben, dass wir Häuser besitzen, Schlösser und Ländereien. Sie reißen Klöster ab, damit wir Steine für unsere Häuser bekommen, sie schmelzen Kruzifixe ein und fertigen uns Schmuck daraus. Wir fischen in den Klosterteichen, und unsere Hunde toben auf dem Kirchanger. Äbte und Klostervorsteher geben für uns ihre Häuser auf, und sogar Heiligtümer sind nicht länger heilig, stattdessen werden wir angebetet. Die Ländereien werden uns zu unserem Nutz und Frommen übergeben. An diesem Punkt wache ich stets auf und liege noch lange wach, vor Angst zitternd. Dieser Traum ist so herrlich; doch beim Erwachen überfällt mich eisige Furcht.

Aber genug der Träume! Ich werde wieder bei Hofe sein. Wieder einmal werde ich die engste Vertraute einer Königin sein, die treueste Gefährtin in ihren Privatgemächern. Ich werde alles mitbekommen, alles wissen. Ich werde wieder im Mittelpunkt des Lebens stehen, ich werde Hofdame der neuen Königin Anna sein und ihr so treu dienen, wie ich den drei anderen Königinnen Heinrichs gedient habe. Wenn er seinen Mut zusammennehmen kann und eine neue Ehe eingeht, ohne die Geister der Vergangenheit zu fürchten, dann sollte mir das auch gelingen.

Und ich werde meinem Verwandten dienen, meinem angeheirateten Onkel Thomas Howard, dem Herzog von Norfolk, dem zweitmächtigsten Manne Englands. Er ist ein Soldat, bekannt und berüchtigt für seine schnellen Vorstöße und seine grausamen Angriffe. Ein Höfling, der sein Fähnlein nie nach dem Winde hängt, sondern treu dem König, seiner eigenen Familie und seinen Interessen dient. Ein Edelmann aus so erhabener Familie, dass er ebenso wie ein Tudor Anspruch auf den Thron erheben könnte. Er ist mein Verwandter und mein Schutzherr und Gebieter. Er hat mich einmal davor bewahrt, wegen Hochverrats hingerichtet zu werden, er riet mir damals, was ich tun sollte und wie ich es tun sollte. Er nahm sich meiner an, als ich ins Straucheln kam, und rettete mich aus der Finsternis des Towers, brachte mich in Sicherheit. Seitdem habe ich mein Leben ihm geweiht. Er weiß, dass ich ihm gehöre. Und nun hat er wieder eine Aufgabe für mich, und ich werde meine Schuld bei ihm abtragen.

ANNA, DÜSSELDORF, RESIDENZDER HERZÖGEVON KLEVE, NOVEMBER 1539

Ich habe es geschafft! Seine Wahl fiel auf mich. Ich werde Königin von England! Ich habe meinen Fußriemen abgestreift wie ein freier Falke, und ich werde davonfliegen. Amalie drückt ihr Taschentuch an die Augen, weil sie eine Erkältung hat, aber so wirken möchte, als hätte sie bei der Nachricht von meiner baldigen Abreise geweint. Sie ist eine Lügnerin! Es tut ihr gar nicht leid, dass ich gehe. Als einzige Herzogin von Kleve wird ihre Stellung sehr viel besser sein als die einer jüngeren Schwester. Und wenn ich erst einmal verheiratet bin, steigen auch ihre Chancen, eine gute Partie zu machen. Auch meine Mutter wirkt nicht allzu glücklich, aber sie hat wirklich arge Sorgen. Seit Monaten ist sie nervös. Ich würde gern sagen, dass es meinetwegen ist, aber darum geht es nicht. Sie sorgt sich wegen der Kosten der Reise und wegen meines Hochzeitskleides, denn alles muss aus der Staatskasse meines Bruders bezahlt werden. Meine Mutter ist sowohl Schatzkanzler als auch Haushälterin meines Bruders. Und auch wenn England auf die Forderung einer Mitgift verzichtet, kostet diese Hochzeit unser Land mehr, als meine Mutter zu zahlen bereit ist.

»Selbst wenn die Trompeter umsonst spielen, muss ich sie doch verköstigen«, sagt sie verärgert, als wären die Trompeter ein exotisches und teures Schoßtier, auf dem ich in meiner Eitelkeit bestanden habe, während sie in Wahrheit eine Leihgabe meiner Schwester Sybille sind. Sie hat mir auch ganz offen geschrieben, dass es ihrem guten Ruf in Sachsen abträglich wäre, wenn ich zur Hochzeit mit einem der mächtigsten Könige Europas in einem schäbigen Lastkarren aufbräche, ohne Begleitung von Fanfarenstößen.

Mein Bruder schweigt dazu. Meine Heirat mit dem englischen König ist für ihn ein großer Triumph und für sein Herzogtum ein großer Schritt. Er ist mit den anderen protestantischen Fürsten und Herzögen Deutschlands verbündet, und sie hoffen, dass meine Ehe England dazu bringt, ihrem Bund beizutreten. Wenn alle protestantischen Kräfte Europas vereint wären, könnten sie Frankreich oder die habsburgischen Länder angreifen und die Reformation weiter verbreiten. Sie könnten sogar bis nach Rom kommen, sie könnten der Macht des Papstes in seiner eigenen Stadt Einhalt gebieten. Wer kann voraussagen, welche Herrlichkeit Gottes uns geschenkt wird, wenn ich nur meinem Ehemann, der offenbar nie zufrieden war, eine brave Frau sein kann?

»Auch im Dienste an deinem Ehemann musst du deine Pflicht vor Gott erfüllen«, sagt mein Bruder großspurig.

Ich warte auf eine nähere Erklärung. »Er nimmt stets den Glauben seiner Ehefrau an«, fährt mein Bruder fort. »Als er mit der spanischen Prinzessin verheiratet war, wurde er vom Papst höchstselbst ›Verteidiger des Glaubens‹ genannt. Als er Lady Anne Boleyn ehelichte, brachte sie ihn vom Aberglauben ab und auf den rechten Weg der Reformation. Mit Königin Jane wurde er wieder Katholik, und wenn sie nicht gestorben wäre, hätte er sich sicherlich mit dem Papst ausgesöhnt. Und obwohl man ihn derzeit nicht als Freund des Papstes bezeichnen kann, ist sein Land doch praktisch katholisch. Wenn du ihn aber anleitest, so wie es deine Aufgabe ist, dann wird er sich voll und ganz zum protestantischen Glauben bekehren und sich uns anschließen.«

»Ich werde mein Bestes tun«, sage ich ohne rechte Überzeugung. »Aber ich bin erst vierundzwanzig. Er ist ein Mann von siebenundvierzig Jahren und seit seiner Jugend König. Vielleicht hört er gar nicht auf mich.«

»Ich weiß, dass du deine Pflicht tun wirst«, versucht mein Bruder sich selbst zu überzeugen, doch als die Zeit meines Abschieds näher rückt, werden seine Zweifel immer stärker.

»Ihr sorgt Euch doch wohl nicht um ihre Sicherheit?«, höre ich meine Mutter eines Abends sagen, als er mit seinem Weinkrug dasitzt und in den Kamin starrt, als sähe er in den Flammen meine Zukunft.

»Wenn sie sich gut benimmt, wird ihr wohl nichts geschehen. Aber er ist ein König, dessen Wille in seinem Land Gesetz ist. Er tut, was er will.«

»Ihr meint, was er seinen Frauen antut?«, fragt sie mit gedämpfter Stimme.

Er zuckt nervös die Achseln.

»Sie würde ihm niemals Grund geben, an ihr zu zweifeln.«

»Sie muss sich vorsehen. Er wird Macht über ihr Leben und ihren Tod haben. Er wird ihr antun können, was er will. Er wird sie vollkommen beherrschen.«

Ich sitze von beiden unbemerkt im dunklen Teil der Halle, und diese verräterische Bemerkung meines Bruders zwingt mir ein Lächeln ab. Endlich verstehe ich, was ihn in all diesen Monaten so beschäftigt hat: Er wird mich vermissen. Er wird mich vermissen wie ein Herr seinen nutzlosen Jagdhund, den er irgendwann in einem Wutanfall ersäuft. Er ist es so gewöhnt, mich zu drangsalieren und an mir herumzumäkeln und mich an jedem Tage dutzendfach zu plagen, dass ihm der Gedanke, ein anderer Mann könnte in Zukunft solche Macht über mich besitzen, unerträglich ist. Wenn er mich jemals geliebt hätte, dann würde ich dieses Gefühl Eifersucht nennen, und es wäre leicht zu verstehen. Aber mein Bruder liebt mich nicht. Er hegt vielmehr eine Art immerwährenden Groll, der ihm dermaßen zur Gewohnheit geworden ist, dass mein Fortgang ihm die gleiche Erleichterung bringt wie das Ziehen eines wehen Zahns.

»Wenigstens wird sie uns in England von Nutzen sein«, sagt er roh. »Hier ist sie doch mehr als nutzlos. Sie muss ihn zum reformierten Glauben bekehren. Sie muss ihn dazu bringen, dass er bekennender Lutheraner wird. Falls sie nicht ohnehin alles verdirbt.«

»Was sollte sie denn verderben?«, entgegnet meine Mutter. »Sie muss doch nur ein Kind von ihm bekommen. Dazu bedarf es keiner besonderen Fähigkeiten. Sie ist gesund, und sie blutet regelmäßig, und mit vierundzwanzig ist sie gerade im richtigen Alter fürs Kinderkriegen.« Sie überlegt einen Augenblick. »Er wird sie gewiss begehren«, fährt sie billigend fort. »Sie hat eine gute Figur, und sie hält sich gut, dafür habe ich gesorgt. Er ist ein Mann, der der Fleischeslust verfallen ist und sich leicht in das Äußere einer Frau verliebt. Vermutlich wird er sie zunächst vor allem fleischlich begehren, und sei es allein deshalb, weil sie neu für ihn ist und Jungfrau.«

Mein Bruder springt vom Stuhl auf. »Schande!«, ruft er aus, und seine Wangen brennen nicht nur von der Hitze des Feuers. Alle verstummen, als sie seine erhobene Stimme vernehmen, dann wenden sie sich rasch ab und versuchen, ihn nicht anzustarren. Leise erhebe ich mich von meinem Schemel und gleite zur hinteren Wand der Halle. Wenn er in Zorn gerät, sollte ich mich besser davonstehlen.

»Sohn, ich wollte nichts Falsches sagen«, versucht meine Mutter ihn zu besänftigen. »Ich meinte doch nur, dass sie höchstwahrscheinlich ihre Pflicht erfüllen und ihm gefallen wird …«

»Ich kann es nicht ertragen, dass sie …« Er bricht ab. »Ich kann es nicht ertragen! Sie darf sich nicht aufreizend verhalten!«, sagt er heftig. »Sagt ihr das! Sie darf nichts Unehrenhaftes, nichts Schamloses tun. Ihr müsst ihr einbläuen, dass sie zuallererst meine Schwester und Eure Tochter ist, dann erst seine Ehefrau! Sie soll sich kühl und geziemend betragen. Sie soll nicht seine Dirne werden, sie soll nicht die Rolle einer schamlosen, gierigen …«

»Nein, nein«, beeilt sich meine Mutter zu sagen. »Nein, natürlich nicht. So ist sie auch gar nicht, Wilhelm, mein Herr, mein lieber Sohn. Ihr wisst doch, dass sie in Gottesfurcht und Respekt vor den Älteren erzogen wurde.«

»Nun, dann sagt es ihr noch einmal!«, ruft er. Nichts kann ihn jetzt noch beruhigen. Ich sollte besser zusehen, dass ich verschwinde. Er wäre außer sich vor Wut, wenn er wüsste, dass ich ihn in diesem Zustand gesehen habe. Ich greife hinter mich und ertaste die beruhigende Wärme des dicken Gobelins, der die hintere Wand bedeckt. Langsam schiebe ich mich vorwärts, mein dunkles Kleid verbirgt mich vor ihren Blicken.

»Ich habe sie gesehen, als dieser Maler hier war«, sagt mein Bruder mit belegter Stimme. »Wie sie sich brüstete, in ihrer Eitelkeit spreizte. Geschnürt … ganz … eng geschnürt. Ihre Brüste … ausgestellt … im Versuch, anziehend zu wirken. Sie ist zur Sünde fähig, Mutter. Sie ist bereit für … bereit für … Ihr Wesen ist von Natur aus erfüllt von …« Er kann es nicht aussprechen.

»Nein, nein«, wendet meine Mutter sanft ein. »Sie will uns nur Ehre machen.«

»… Wollust.«

Das Wort ist losgelöst, es fällt in die Stille der Halle, als könnte es zu jedem gehören: als gehörte es zu meinem Bruder und nicht zu mir.

Ich habe inzwischen die Tür erreicht. Vorsichtig hebe ich den Riegel an, bemüht, mit dem Finger der anderen Hand sein Klappern zu dämpfen. Drei Hofdamen erheben sich unauffällig und stellen sich vor mich, decken meinen Rückzug vor dem Paar am Kamin. Lautlos öffnet sich die Tür in gut geölten Angeln. Der kalte Luftzug bringt die Kerzen am Kamin zum Flackern, aber mein Bruder und meine Mutter starren einander an, immer noch im Entsetzen des verbotenen Wortes befangen, und wenden sich nicht um.

»Seid Ihr sicher?«, höre ich sie ihn fragen.

Ich schließe die Tür, bevor ich seine Antwort hören kann, und eile leise in unsere Mädchengemächer, wo die Kammerjungfern mit meiner Schwester am Kamin sitzen und Karten spielen. Als ich die Tür aufreiße und hineinstürze, verschwinden die Karten rasch vom Tisch, doch dann erkennen sie, wer da gekommen ist, und lachen vor Erleichterung, dass sie nicht erwischt worden sind: Denn in den Landen meines Bruders ist unverheirateten Frauen das Glücksspiel verboten.

»Ich gehe zu Bett, ich habe Kopfschmerzen. Man soll mich nicht stören«, erkläre ich hastig.

Amalie nickt. »Du kannst es ja versuchen«, sagt sie wissend. »Was hast du denn nun wieder angestellt?«

»Nichts«, erwidere ich. »Wie immer. Nichts.«

Rasch gehe ich durch die Zimmer in unsere Schlafkammer und werfe meine Kleider in die Truhe am Fußende des Bettes. Dann springe ich im Hemd ins Bett, ziehe die Vorhänge zu und decke mich bis zum Hals zu. Fröstelnd liege ich zwischen den kalten Leinenlaken und warte auf den Befehl, der mit Sicherheit kommen wird.

Nur wenige Augenblicke später öffnet Amalie die Tür. »Du sollst in Mutters Gemächer kommen«, sagt sie triumphierend.

»Sag ihr, dass ich krank bin. Du hättest sagen sollen, dass ich zu Bett gegangen bin.«

»Habe ich ja. Sie aber sagt, du sollst aufstehen, einen Umhang überwerfen und zu ihr kommen. Was hast du denn nun wieder angestellt?«

Finster erwidere ich ihren heiteren Blick. »Nichts.« Widerwillig stehe ich auf. »Nichts. Wie immer habe ich nichts getan.« Ich nehme meinen Umhang vom Haken hinter der Tür und schnüre die Bänder vom Kinn bis zu den Knien.

»Hast du ihm Widerworte gegeben?«, fragt Amalie hämisch. »Warum musst du auch immer mit ihm streiten?«

Ich gehe ohne ein weiteres Wort, durchquere das nun stille Mädchengemach und steige die Treppe hinab zu den Gemächern meiner Mutter, die im selben Turm liegen, nur ein Stockwerk tiefer.

Zunächst sieht es so aus, als wäre sie allein im Zimmer, doch dann sehe ich die halb geschlossene Tür ihrer Schlafkammer, und ich brauche ihn gar nicht zu hören oder zu sehen - ich weiß, dass er sich dort verborgen hält und zuschaut.

Als ich hereinkomme, hat sie mir den Rücken zugekehrt, und als sie sich umdreht, hält sie die Birkenrute in der Hand, und ihr Gesicht ist streng.

»Ich habe nichts getan«, sage ich sofort.

Sie seufzt gereizt. »Kind, ist das eine Art, ein Zimmer zu betreten?«

Ich senke meinen Kopf. »Hohe Frau Mutter«, sage ich leise und ehrerbietig.

»Ich bin unzufrieden mit dir«, sagt sie.

Nun schaue ich auf. »Das tut mir leid. Worin habe ich gefehlt?«

»Du bist berufen, eine heilige Pflicht zu tun. Du musst deinen Ehemann dem reformierten Bekenntnis zuführen.«

Ich nicke.

»Du bist in eine hohe Ehrenstellung berufen, und du musst deine Manieren bilden, damit du sie verdienst.«

Unbestreitbar. Wieder senke ich den Kopf.

»Du hast ein ungebärdiges Wesen«, fährt sie fort.

Nur zu wahr.

»Dir fehlen die rechten weiblichen Wesenszüge: Unterwerfung, Gehorsam, Pflichtgefühl.«

Wieder wahr.

»Und du hast, so fürchte ich, einen schamlosen Zug an dir«, sagt sie, nun sehr leise.

»Den habe ich nicht, Mutter«, entgegne ich ebenso leise. »Das ist nicht wahr.«

»Du hast ihn. Der König von England wird keine schamlose Frau dulden. Englands Königin muss eine Frau sein, deren Charakter makellos ist. Sie muss über jeden Vorwurf erhaben sein.«

»Hohe Frau Mutter, ich …«

»Anna, gib Acht!« Sie ist lauter geworden, und endlich höre ich einen Klang von Ernst in ihrer Stimme. »Hör genau zu! Er ließ Lady Anne Boleyn hinrichten, weil sie untreu war, er beschuldigte sie, ihn mit dem halben Hof hintergangen zu haben, sogar mit ihrem eigenen Bruder. Er machte sie zur Königin, und dann stürzte er sie, ohne einen anderen Beweis oder Zeugen als seinen eigenen Willen. Er beschuldigte sie des Inzests und der Hexerei, zwei der schlimmsten Verbrechen! Er ist ein Mann, dem sein Ruf über alles geht. Die nächste Königin von England muss über jeden Zweifel erhaben sein. Wir können nicht für deine Sicherheit garantieren, wenn auch nur ein Wort gegen dich gesagt werden kann!«

»Hohe Frau …«

»Küsse die Rute«, sagt sie, bevor ich etwas einwenden kann.

Ich berühre mit den Lippen den Stock, den sie mir hinhält. Hinter ihrer Kammertür höre ich ihn seufzen, ganz leise seufzen.

»Halte dich am Stuhl fest«, befiehlt sie.

Ich beuge mich vor und ergreife mit beiden Händen den Stuhlsitz. Feinfühlig, wie eine Dame, die ein Taschentuch entfaltet, greift sie den Saum meines Umhangs und hebt ihn über meine Hüften, dann mein Nachthemd. Mein Gesäß ist nun nackt, und wenn mein Bruder gerade in diesem Moment durch die halb offene Tür blickt, kann er mich sehen, zur Schau gestellt wie ein Mädchen in einem Hurenhaus. Die Gerte pfeift durch die Luft, dann spüre ich einen sengenden Schmerz an den Schenkeln. Ich schreie auf, dann beiße ich mir auf die Lippen. Mit knirschenden Zähnen warte ich auf den nächsten Streich. Das zischende Geräusch und wieder der beißende Schmerz, wie ein Schwerthieb in einem unwürdigen Duell. Zwei. Der nächste Hieb saust zu schnell nieder; gegen meinen Willen schreie ich auf. Nun kommen auch die Tränen, heiß und sprudelnd wie Blut.

»Steh gerade, Anna«, sagt sie mit kühler Stimme und zieht Hemd und Umhang hinab.

Die Tränen laufen mir übers Gesicht, ich höre mich schluchzen wie ein Kind.

»Geh auf dein Zimmer und lies die Bibel«, sagt sie. »Denke besonders an deine königliche Berufung. Cäsars Frau, Anna. Cäsars Frau.«

Ich muss vor ihr knicksen. Die ungeschickte Bewegung ruft von Neuem den Schmerz hervor. Ich wimmere wie ein geprügelter Hund. Ich gehe zur Tür und öffne sie. Der Wind reißt mir die Türklinke aus der Hand, und die Böe bläst die innere Tür zum Schlafgemach auf. Dort steht mein Bruder, halb verborgen, mit angespanntem Gesicht, als sei er derjenige gewesen, der die Birkenrutenschläge empfing. Seine Lippen sind fest zusammengepresst, als hätte er sich am Schreien hindern müssen. Einen schrecklichen Moment lang schaut er mich an, und ich lese auf seinem Gesicht ein verzweifeltes Verlangen. Ich schlage die Augen nieder, ich wende mich ab, als hätte ich ihn nicht gesehen, als wäre er gar nicht da. Was er auch von mir will, ich weiß, dass ich es nicht hören will. Ich stolpere aus dem Zimmer, mein Hemd klebt an den blutigen Striemen auf meinen Oberschenkeln. Ich will unbedingt fort von ihnen.

KATHERINE, NORFOLK HOUSE, LAMBETH, NOVEMBER 1539

»Ich werde dich meine Frau nennen.«

»Ich werde dich meinen Gemahl nennen.«

Es ist so dunkel, dass ich nicht sehen kann, ob er lächelt, aber ich spüre, wie er die Lippen verzieht, als er mich wieder küsst.

»Ich werde dir einen Ring kaufen, den kannst du an einer Kette tragen, dass ihn keiner sieht.«

»Ich werde dir eine Samtkappe schenken, mit Perlen bestickt.«

Er kichert.

»Um Himmels willen, gebt endlich Ruhe und lasst uns schlafen!«, tönt eine ärgerliche Stimme von der anderen Seite des Schlafsaales. Es ist wahrscheinlich Joan Bulmer. Sie vermisst nun diese Küsse, die ich auf meinen Lippen spüre, auf meinen Augenlidern, meinen Ohren, auf meinem Hals, meinen Brüsten, überall. Sie vermisst wohl diesen Liebhaber, der einmal der ihre war und nun mir gehört.

»Soll ich hinübergehen und ihr einen Gutenachtkuss geben?«, flüstert er.

»Pssst!«, mahne ich und verschließe ihm den Mund mit meinen Lippen.

Wir liegen in meinem Bett, in die Laken verwickelt, sind im schläfrigen »Danach«, Kleider und Bettzeug zerwühlt, der Duft seines Haares, seines Körpers, seines Schweißes auf mir. Francis Dereham ist nun mein, wie ich es mir geschworen habe.

»Du weißt, wenn wir einander vor Gott versprechen, zu heiraten, und wenn ich dir einen Ring gebe, dann gilt diese Heirat ebenso viel wie eine kirchliche Trauung?«, fragt er ernst.

Ich schlafe langsam ein. Seine Hand liebkost meinen Bauch, ich spüre, wie ich mich rege und seufze, und ich öffne meine Beine, um noch einmal die Wärme seiner Berührung zu kosten.

»Ja«, sage ich, meine aber seine Liebkosung.

Er versteht mich falsch, er ist immer so rechtschaffen. »Sollen wir es also tun? Sollen wir im Geheimen heiraten und immer zusammen sein? Und wenn ich erst mein Glück gemacht habe, sagen wir es allen und leben als Mann und Frau zusammen?«

»Ja, ja.« Ich fange an, vor Lust ein wenig zu stöhnen, ich denke an nichts anderes als an das Spiel seiner geschickten Finger. »Oh ja.«

Am Morgen muss er seine Kleider zusammenraffen und sich schleunigst davonmachen, bevor die Magd meiner Großmutter mit pompöser Feierlichkeit auftritt, um die Tür unseres Schlafsaals aufzuschließen. Francis schafft es noch, wenige Augenblicke, bevor wir ihre schweren Schritte auf der Treppe hören. Edward Waldgrave hingegen ist nicht so schnell und muss sich unter Marys Bett verstecken und hoffen, dass die herabhängenden Laken ihn verbergen.

»Ihr seid ja fröhlich heute Morgen«, sagt Mrs Franks argwöhnisch, während wir unser Kichern unterdrücken. »Aber diejenigen, die morgens lachen, müssen am Abend weinen.«

»Das ist heidnischer Aberglaube«, widerspricht Mary Lascelles, die immer so furchtbar ernsthaft ist. »Und für diese Mädchen gäbe es überhaupt nichts zu lachen, wenn sie einmal gründlich ihr Gewissen erforschen würden.«

Wir schauen so düster drein, wie wir können, und folgen Mrs Franks hinunter in die Kapelle, wo die Morgenandacht gehalten wird. Francis ist schon da, er kniet in der Bank und ist so schön wie ein Engel. Er wirft mir einen Blick zu, und mein Herz hüpft vor Freude. Es ist so herrlich, dass er in mich verliebt ist!

Als der Gottesdienst vorbei ist und alles zum Frühstück eilt, bleibe ich stehen, um die Bänder an meinem Schuh neu zu binden. Dabei sehe ich, dass auch er wieder kniet, als sei er ins Gebet versunken. Langsam bläst der Priester die Kerzen aus, packt seine Sachen zusammen und watschelt den Gang entlang. Endlich sind wir allein.

Francis kommt zu mir und streckt seine Hand aus. Es ist ein so wunderbar feierlicher Augenblick, fast wie in einem Theaterstück. Ich wünschte, ich könnte uns jetzt sehen, besonders mein ernstes Gesicht. »Katherine, willst du mich heiraten?«, fragt er.

Ich fühle mich so erwachsen. Ich bin es, die dies hier tut, ich übernehme die Herrschaft über mein Schicksal. Niemand hat sich je um mich gekümmert, alle haben mich vergessen, eingesperrt in diesem Haus. Aber ich habe mir meinen Ehemann selbst erwählt, ich werde mein Glück selbst machen. Ich bin wie meine Cousine Mary Boleyn, die heimlich einen Mann heiratete, den keiner leiden konnte, und die dann das gesamte Vermögen der Boleyns erbte. »Ja«, sage ich. »Ich will.« Ich bin wie meine Cousine, die Königin Anne, die auf eine Ehe mit dem mächtigsten Manne des Landes erpicht war, als niemand dies für möglich hielt. »Ja, ich will«, sage ich.

Was Francis mit »Heirat«, meint, weiß ich nicht so genau. Ich glaube, er meint, dass ich einen Ring an einer Kette tragen soll, den ich den anderen Mädchen zeigen kann, und dass wir einander versprochen sind. Aber zu meinem Erstaunen führt er mich durch das Kirchenschiff auf den Altar zu. Ich zögere ein wenig, ich weiß nicht, was er vorhat, und ich habe es nicht so mit dem Beten. Wir werden zu spät zum Frühstück kommen, wenn wir uns nicht beeilen, und ich mag das Brot am liebsten, wenn es heiß und frisch aus dem Ofen kommt. Dann aber verstehe ich, dass wir unsere Trauung spielen wollen. Nun wünschte ich, ich hätte heute Morgen mein bestes Kleid angezogen, aber dafür ist es nun zu spät.

»Ich, Francis Dereham, nehme dich, Katherine Howard, zu meiner rechtmäßig angetrauten Ehefrau«, sagt er mit Nachdruck.

Ich lächele ihn an. Wenn ich nur meine beste Haube aufgesetzt hätte, dann wäre ich vollends glücklich.

»Nun sag du es«, drängt er.

»Ich, Katherine Howard, nehme dich, Francis Dereham, zu meinem rechtmäßig angetrauten Ehemann«, sage ich gehorsam.

Er beugt sich herab und küsst mich. Ich fühle, wie meine Knie unter seiner Berührung weich werden. Ich will, dass dieser Kuss ewig dauert. Schon frage ich mich, ob wir nicht in die hochlehnige Kirchenbank meiner Großmutter schlüpfen sollen, damit wir noch ein wenig weitergehen können. Er aber löst sich von mir. »Du verstehst doch, dass wir jetzt verheiratet sind?«, beschwört er mich.

»Das hier ist unsere Hochzeit?«

»Ja.«

Ich muss kichern. »Aber ich bin erst vierzehn.«

»Das tut nichts zur Sache. Du hast dein Jawort im Angesicht Gottes gegeben.« Sehr ernst steckt er die Hand in die Jackentasche und zieht eine Börse hervor. »In dieser Börse sind hundert Pfund«, sagt er feierlich. »Hiermit übergebe ich sie deiner guten Hut. Im neuen Jahr gehe ich nach Irland und mache mein Glück, damit ich dich nach meiner Rückkehr offen vor aller Augen zur Braut nehmen kann.«

Die Börse ist sehr schwer, er hat ein Vermögen für uns gespart. Das ist so aufregend! »Ich soll das Geld sicher aufbewahren?«

»Ja, als gute Ehefrau.«

Das ist so entzückend! Ich schüttele die Börse ein wenig und höre die Münzen klimpern. Ich könnte sie in meine leere Schmuckschatulle tun. »Ich werde dir eine so treue Ehefrau sein! Du wirst überrascht sein!«

»Ja. Und wie ich dir gesagt habe: Dies ist eine rechtmäßige Hochzeit im Angesicht Gottes. Wir sind nun Mann und Frau.«

»Oh ja. Und wenn du dein Glück gemacht hast, können wir richtig heiraten, nicht wahr? Mit einem neuen Kleid und allem, was dazugehört?«