Der Totentanz zu Freiburg - Astrid Fritz - E-Book

Der Totentanz zu Freiburg E-Book

Astrid Fritz

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Beschreibung

Der neue Band der beliebten historischen Krimi-Reihe: Armenapothekerin Serafina ermittelt in Freiburg. September 1419: Armenapothekerin Serafina und Stadtarzt Adalbert Achaz sind glückliche Eltern der einjährigen Kathrin. Gemeinsam schauen sie sich ein Possenspiel auf dem Michaelismarkt an, in dem Serafinas Sohn Vitus die Magd spielt. Grell geschminkt und mit einer roten Perücke verkleidet, verfolgt die Magd mit einem Brotmesser in der Hand im Stück einen Bauern. Das Publikum duckt sich lachend weg, die Magd flieht von dannen. Dann folgt der Schock:  Ein Zuschauer liegt da, mit einem Messer in der Brust. Es ist der reiche Gerbermeister Oblathus. Damit beginnt ein ganz persönlicher Albtraum für Serafina.

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EPUB

Seitenzahl: 324

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Astrid Fritz

Der Totentanz zu Freiburg

Historischer Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Der Sohn steht unter Mordverdacht

September 1419: Armenapothekerin Serafina und Stadtarzt Adalbert Achaz sind glückliche Eltern der einjährigen Kathrin. Gemeinsam schauen sie sich ein Possenspiel auf dem Michaelismarkt an, in dem Serafinas Sohn Vitus mitspielt. Grell geschminkt und mit einer roten Perücke verkleidet verfolgt er als Magd mit einem Brotmesser in der Hand auf der Bühne einen Bauern. Das Publikum duckt sich lachend weg, die Magd flieht von dannen. Doch dann, zur Bestürzung aller, liegt plötzlich ein Zuschauer da. Tot, mit einem Messer in der Brust. Es ist der reiche Gerbermeister Oblathus. Damit beginnt ein ganz persönlicher Albtraum für Serafina.

Armenapothekerin Serafina und Medicus Achaz ermitteln wieder: Der siebte Band der beliebten historischen Krimi-Reihe im mittelalterlichen Freiburg.

Vita

Astrid Fritz studierte Germanistik und Romanistik in München, Avignon und Freiburg. Als Fachredakteurin arbeitete sie anschließend in Darmstadt und Freiburg und verbrachte mit ihrer Familie drei Jahre in Santiago de Chile. Zu ihren großen Erfolgen zählen «Die Hexe von Freiburg», «Die Tochter der Hexe», «Turm aus Licht», «Der dunkle Himmel». Astrid Fritz lebt in der Nähe von Stuttgart.

 

Mehr über Astrid Fritz erfährt man auf www.astrid-fritz.de

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Coverabbildung Das Freiburger Münster von Osten mit der Münsterbauhütte,Friedrich Eibner,1854/akg-images; Rekha/Arcangel; iStock; Shutterstock; Dorota Gorecka/Trevillion

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00943-1

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Dramatis Personae

Die Hauptpersonen

Serafina Achazin:Für die einstige Hübschlerin, spätere Begine und jetzige Stadtarztgattin Serafina haben sich ihre schönsten Träume erfüllt. Ganz im Familienglück, hat die Heldin unserer Geschichten ihren wagemutigen Nachforschungen bei ungeklärten Todesfällen endgültig abgeschworen und blüht in ihrer neuen Rolle völlig auf. Doch erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.

Adalbert Achaz: Auch der studierte Medicus, Freiburger Stadtarzt und Ratsherr schwelgt im Glück. Doch so viel sei hier schon verraten: Die Behaglichkeit im Haus Zum Pilger, dem Zuhause der Familie, findet ein jähes Ende, und es bleibt ihm keine andere Wahl, als seine geliebte Serafina in ihren Ermittlungen zu unterstützen.

Vitus Stadler: Der mehr oder weniger heimliche Sohn von Serafina zieht noch immer mit der Straßburger Compania als Gaukler durch die Lande. Für diesmal darf der mittlerweile fast Zwanzigjährige wieder unter den Hauptfiguren aufgeführt werden. Dabei erntet er für seinen Auftritt als Possenspieler alles andere als Beifall.

Und erstmals unter den Hauptfiguren: das einjährige Kathrinchen, der von allen geliebte Neuzugang der Familie Achaz.

Der Freundeskreis

Irmla: Die einst so bärbeißige alte Magd des Stadtarztes gehört mittlerweile zum Familien- und Freundeskreis. Auch bei diesem Abenteuer beweist sie, dass Serafina und Adalbert sich voll und ganz auf sie verlassen können.

Gisla: Die rüstige Kräuterfrau hat sich im Haushalt der Familie Achaz gut eingelebt und dank Kathrinchen noch im hohen Alter neue erfüllende Aufgaben gefunden.

Meisterin Catharina: Die sonst so mütterlich-strenge Oberin der Christoffelsschwestern steht Serafina treu zur Seite und sieht dabei angesichts der ernsten Lage über manche Unziemlichkeit hinweg.

Grethe: Die Jüngste der Christoffelsschwestern und Serafinas engste Freundin aus Beginenzeiten zeigt nicht nur großes Talent als Köchin, sondern auch als Verkleidungskünstlerin, womit sie nicht nur Serafina verblüfft.

Die Christoffelsschwestern Heiltrud, Mette, Brida sowie Theresia widmen sich auch diesmal ganz ihren Aufgaben als Beginen. Wobei Brida von Stühlingen, Halbwaise aus einem verarmten Rittergeschlecht, durch ihre Totenwache doch ein klein wenig zur Aufhellung der Umstände beitragen kann.

Bruder Matthäus: Der Prior des Wilhelmitenklosters ist vor allem Meisterin Catharina äußerst zugetan, aber auch Serafina und ihrem Sohn Vitus so eng verbunden, dass er als Nothelfer einspringt und dafür sogar eine Lüge vor dem Herrn in Kauf nimmt.

Gallus Sackpfeiffer: Wieder darf der raubauzige oberste Stadtbüttel zeigen, dass er das Herz trotz allem am rechten Fleck hat. Der einstige Widersacher Serafinas ist ihr und Adalbert treu ergeben.

Laurenz Wetzstein: Der Zunftmeister der Bäcker, Ratsherr und langjährige Freund Adalberts kämpft als Schöffe gegen Windmühlen und schwerfällige Gerichtsherren an. Dies aber unermüdlich.

Ottilia Wetzsteinin: Die Frau des Bäckermeisters ist den Christoffelsschwestern als Wohltäterin herzlich verbunden und hat auch für Serafina immer ein offenes Ohr.

Michel, das Mischlingshündchen der Beginen, darf endlich wieder seiner Aufgabe als Wachhund nachkommen.

Freiburger Bürgersleute

Andreas Schneehas: Der Silberkrämer, dessen Profilierungssucht ihn einst fast um Kopf und Kragen gebracht hat, ist wieder obenauf und darf erneut als Heimlicher Rat und Gerichtsherr sein Unwesen treiben. Sein Busenfreund Quintlin, der Goldschmied, spinnt die Fäden diesmal nur im Hintergrund.

Kaufmann Simon Schwarzfärber: Der eher unscheinbare, schmächtige Kaufmann ist untröstlich über den Tod seines engsten Freundes und hört nicht auf, Serafina und Adalbert ins Handwerk zu pfuschen.

Ezechiel Oblathus: Dem im Wortsinne stinkreichen Rotgerbermeister und Wohltäter der Stadt ist nur ein kurzer, wenngleich spektakulärer Auftritt vergönnt. Hat womöglich eine gewisse Vorliebe damit zu tun?

Benedicta Oblathus: Die schwergewichtige Frau des Rotgerbermeisters gibt sich alle Mühe, die Fassung zu bewahren und ihre kleine Familie zusammenzuhalten.

Filibertus Gschydlin: Der Sattlermeister und eitle Gernegroß hat seine Finanzen leider nicht im Griff und muss am Ende die Zeche dafür zahlen.

Magnus Pfefferkorn: Der in Serafinas erstem Abenteuer so hart vom Schicksal gebeutelte Kaufmann unterstützt Laurenz Wetzstein im Kampf gegen die Windmühlen, wenn auch um einiges zaghafter als der Bäckermeister.

Jordan: Der ritterliche Elephantenwirt muss sich diesmal nicht für Serafina in Gefahr begeben, sondern darf in aller Ruhe auf dem Jahrmarkt Bier ausschenken und dabei die Augen offen halten.

Eberhart Grieswirth: Der dicke Metzgermeister und Dauerpatient des Stadtarztes ist eigentlich vor allem mit Biertrinken beschäftigt.

Die Straßburger Compania

Don Giacomo: Der Prinzipal der Gauklertruppe hat in dieser Geschichte so einiges zu verdauen.

Madlena: Die bildschöne Tochter des Prinzipals ist seit Langem Vitus’ Braut, gerät aber zum großen Kummer des jungen Mannes auf Abwege.

Alessandro: Der hitzköpfige Seiltänzer überschätzt sich gewaltig und gerät aus der Balance.

Antonia: Die Schwester des Seiltänzers und Gewandschneiderin der Truppe bringt sich selbst um ihre Zukunft bei der Straßburger Compania.

Carlos: Er gibt den listigen Bauern und sollte eigentlich am Ende des Possenspiels tot umfallen.

Und natürlich Vitus, siehe oben, dem zu seinem Leidwesen immer die Weiberrollen zugeschustert werden.

In kleineren, dennoch wichtigen Rollen

Cunrat:Der junge Geselle von Sattlermeister Gschydlin ist leider in die falsche Frau verliebt.

Bertlin: Kloakenkehrer und jüngerer Bruder des Roten Matthes, eines Übeltäters, der seit dem Meuchelmord in der Henkersgasse verschollen ist; Bertlin darf hier beweisen, was wirklich in ihm steckt.

Hannes: Der junge Knecht im Hause Oblathus erträumt sich eine bessere Zukunft und geht dafür ein hohes Risiko ein.

Fortunata: Die Wahrsagerin kann leider nicht in die Zukunft sehen, sonst hätte sie Serafina viel Kummer erspart. Dafür steuert sie einen kleinen, aber wichtigen Hinweis bei.

Adelheid von Ederlin: Die ehemalige Christoffelsschwester ist eher vergeistigter Mystik zugeneigt als tätiger Nächstenliebe und daher schon vor längerer Zeit zu den Nonnen von Adelhausen übergelaufen. Jetzt darf sie ihre Fähigkeit als Kindsmagd unter Beweis stellen.

Heinrich Swartz:Auf die recht vergnügliche Pflicht, ein Possenspiel auf Unbotmäßigkeiten zu prüfen, folgt für den Münsterpfarrer prompt die unerquickliche Aufgabe einer Notabsolution.

Historische Mitspieler am Rande

Paulus von Riehen: Entstammt einem vornehmen Freiburger Geschlecht und war 1415 bis 1419 Schultheiß der Stadt, sprich: das vom Landesherrn eingesetzte Gerichts- und Stadtoberhaupt.

Abrecht von Kippenheim: Ebenfalls ein Spross der Vornehmen, stellte er mehrfach den jährlich vom Rat gewählten Bürgermeister der Stadt.

Johans von Gloter: Ob der höchst gebildete Freiburger Stadt- und Kanzleischreiber tatsächlich der Völlerei gefrönt hat, ist historisch nicht belegt. Dafür beweist er in unserer Geschichte als Ratsherr bei Gericht einen gewissen Schneid.

König Sigismund: Seit 1411 ist der Spross aus dem Geschlecht der Luxemburger römisch-deutscher König, von 1433 an römisch-deutscher Kaiser. Mit dem Konzil zu Konstanz schafft er es tatsächlich, die Einheit der Kirche wiederherzustellen, und macht Freiburg für eine Zeit lang zur Reichsstadt.

Kapitel 1

An einem Samstag Ende September 1419

Ein warmer Wind trieb kleine schneeweiße Wolken über den tiefblauen Himmel und ließ die Blätter der Obstbäume, die dem Garten der Christoffelsschwestern Schatten spendeten, leise rascheln. Serafina lehnte am Zaun, den Hund Michel zu ihren Füßen, und winkte ihrer Freundin Grethe nach.

Was für ein herrlicher Tag! Die Luft war rein und klar, von der drückenden Hitze des Hochsommers war nichts mehr zu spüren. Gemeinsam hatten Grethe und sie einen Korb voll Buschbohnen geerntet, aus denen ihre Freundin, zusammen mit gebratenem Speck und Knoblauch, ein schmackhaftes Mittagessen bereiten wollte. Schmackhaft würde die Mahlzeit mit Sicherheit werden, denn Grethe war eine begnadete Köchin. Dass ihr die eigenen Gerichte zusagten, war ihrem rundlichen Leibesumfang deutlich anzusehen.

Serafina selbst hatte sich nur eine Brotzeit mitgenommen, um den Tag zu nutzen und ihr Kräuterbeet von Unkraut zu befreien und den Boden zu lockern. Am Nachmittag würde Adalbert sie abholen kommen. Fast ebenso sehr wie das Mischen der Salben und Arzneien für ihre kleine Armenapotheke liebte sie die Arbeit hier im Garten in der Lehener Vorstadt, der ihr, auch nachdem sie aus der Schwesternsammlung ausgetreten war, zur freien Verfügung stand. Die Stunden hier draußen bedeuteten jedes Mal ein Labsal im Vergleich zum Lärm und Gestank in der Stadt.

Michel winselte der davonschlendernden Grethe jammervoll nach, und Serafina lachte. «Sag bloß, du wolltest mit ihr nach Hause. Glaubst du etwa, du würdest beim Kochen etwas vom Speck abbekommen?»

Wie zur Antwort wedelte Michel mit seiner lustig nach oben geringelten Rute. Der kleine hellbraune Mischlingshund war ihr vor gut vier Jahren im Dreisamtal zugelaufen und gehörte seither als einziger männlicher Mitbewohner zum Beginenhaus Sankt Christoffel. Da Adalbert sich immer so um sie sorgte, hatte sie ihm versprechen müssen, den Hund als ihren Bewacher mitzunehmen, wann immer sie allein im Garten arbeitete. Und ein verlässlicher Bewacher war Michel allemal, hatte er ihr doch schon einige Male aus der Patsche geholfen.

«Komm, gehen wir zurück in den Schatten.»

In der Wiege unter dem alten Apfelbaum rührte sich etwas. Zwei dralle Ärmchen reckten sich in die Luft, und gerade als sich Serafina über die Wiege beugte, schlug Kathrin ihre großen blauen Augen auf. Als sie die Hundeschnauze neben sich entdeckte, begann sie zu strahlen.

«Wau, wau!», rief sie begeistert.

Serafina hob sie hoch und drückte sie voller Liebe an sich.

«Ja, das ist der Michel, und er passt auf uns beide auf. Dann hat mein kleiner Schatz also endlich ausgeschlafen?»

Das Mädchen gluckste und strampelte mit den nackten Beinchen. Serafina mochte kaum glauben, dass ihre Tochter nun schon ein gutes Jahr alt war. Und wie schwer sie inzwischen geworden war!

Sie setzte das Kind auf der Decke ab, die sie vor der Sitzbank ausgebreitet hatte, und hockte sich dazu.

«Jetzt essen wir beide erst einmal zu Mittag.»

Seit Kurzem stillte Serafina nicht mehr, und so hatte sie neben Brot und Hartkäse auch einen Tiegel voll Haferbrei mitgebracht, den Kathrin jetzt Löffel für Löffel hungrig verschlang. Dabei saß sie kerzengerade und voller Aufmerksamkeit auf ihrem dicken Windelhintern.

Wie bei allem, was ihre Tochter tat, ging Serafina wieder einmal vor Mutterglück das Herz auf. In ihrem Leben hatte sie so viel Unbill erfahren, dass sie noch immer nicht fassen konnte, wie reich sie nun beschenkt war. Ihr Umzug von Konstanz nach Freiburg vor viereinhalb Jahren war das Beste, was ihr hatte zuteilwerden können. Die Beginen hatten ihr ein neues Zuhause gegeben, und mit Sicherheit würde sie noch heute bei den frommen Schwestern im Brunnengässlein leben, hätte sie sich nicht in den Freiburger Stadtarzt Adalbert Achaz verliebt, mit dem sie, nach einigen Irrungen und Wirrungen, zusammengekommen und inzwischen verheiratet war. Zu diesem großen Glück, das sie noch immer jeden Tag aufs Neue genoss, hatte der Herrgott sie beide auch noch mit einem gesunden, aufgeweckten Kind gesegnet, obwohl Serafina die dreißig längst überschritten hatte. Schon die Schwangerschaft hatte sie als etwas Wunderbares und ohne Beschwernisse erlebt, ganz so, wie sie in Adalberts klugen Büchern als causa optima beschrieben war. Die Geburt war zwar schmerzvoll gewesen, aber ohne Komplikationen, und die Stillzeit das reinste Himmelreich – mit Adalbert als liebevollen Kindsvater an ihrer Seite und mit Gisla und Irmla als zwei Gevatterinnen, die ihr und nun auch der Kleinen jeden Wunsch von den Augen ablasen.

Mit Adalberts Einverständnis hatten sie ihre Tochter auf den Namen Kathrin getauft, nach ihrer Taufpatin Catharina, der Meisterin der Christoffelsschwestern. Neben Adalbert war Catharina, diese kluge, herzensgute Frau, der vielleicht wichtigste Mensch in Serafinas Leben, nach all den schwierigen Jahren in Konstanz, in denen sie aus der Not heraus der unrühmlichen Profession als Hübschlerin nachgegangen war. Niemals hatte die Meisterin ihr daraus einen Vorwurf gemacht, sondern es im Gegenteil als eine wichtige Zeit der Prüfung angesehen. So war sie Serafina im Laufe der Zeit zu einer mütterlichen Freundin und Ratgeberin geworden.

«Ach Kathrin, was haben wir beide es doch gut getroffen!»

Fröhlich drückte sie der Kleinen einen Kuss auf die Stirn. Dann wischte sie ihr mit einem Tuch Mund und Wangen sauber, was Kathrin gar nicht mochte, weshalb sie sogleich empört das Gesichtchen verzog.

Anfangs hatten Serafina und Adalbert im Scherz oft gestritten, wem sie ähnlich sah: Serafinas Meinung nach kam sie eindeutig nach dem Vater, mit dieser spitzen Nase, der hohen Stirn und dem erstaunten Gesichtsausdruck beim Gähnen. Adalbert hingegen fand, dass Kathrin ganz die Mutter sei, da er nie zuvor so einen bildhübschen Säugling gesehen habe. Tatsächlich war Kathrins Haar inzwischen immer dichter und lockiger geworden, die Augen hatten ihr tiefes Blau behalten – gerade so wie bei Serafina. Auch sie selbst hatte als Kind blonde Locken gehabt, die allerdings mit dem Alter immer dunkler und glatter geworden waren.

Kaum hatte Serafina von ihr abgelassen, krabbelte die Kleine erstaunlich geschwind auf Michel zu und patschte ihm mit ihren Händchen auf den Kopf.

«Du darfst nicht so grob sein, mein Schatz», lachte Serafina. «Schau mal: Streich ihm nur ganz zart über das Fell.»

Im Grunde wusste sie, dass Michel ihrem Kind niemals etwas zuleide tun würde. Doch Kathrin hatte längst etwas anderes im Sinn. Sie krabbelte zu der Holzbank, die am Stamm des Apfelbaums lehnte, und zog sich daran hoch. Mit einer Hand hielt sie sich fest, mit der anderen winkte sie Serafina stolz zu.

Wie groß sie dabei wirkte! Nein, ihre Tochter hatte so gar nichts mehr von einem hilflosen Säugling. Acht Milchzähne besaß sie schon, schlief die Nächte durch und lernte jede Woche etwas Neues hinzu. So setzte sie sich neuerdings ihre Haube selbst auf, winkte jedem zu, den sie mochte, beim Abschied oder auch einfach so, und sprach schon die ersten Worte. Etwa Wauwau, womit auch Katzen gemeint sein konnten, Dada, wenn sie auf etwas zeigte, oder Baba zu ihrem geliebten Stoffball. Und natürlich immer wieder Mammam, wenn sie Hunger hatte oder nach ihrer Mutter verlangte. Nur mit dem Laufenlernen wollte es noch nicht so recht klappen. So hangelte sie sich zwar überall hoch, doch anstatt freihändig zu stehen, wenn sie losließ, plumpste sie jedes Mal auf ihr Hinterteil. Was sie nicht selten in zorniges Weinen ausbrechen ließ.

«Dada!», rief sie in diesem Moment und zeigte auf Michel, der sie aufmerksam beobachtete. «Wauwau!»

Der wedelte prompt mit dem Schwanz, woraufhin Serafina lachen musste. Wahrscheinlich hörte der Hund jetzt auch schon auf den Namen «Wauwau».

Serafina brach sich ein Stück Brot ab, legte eine Scheibe Käse darauf und biss hungrig hinein. Jetzt hätte sie nichts gegen Grethes Bohnen mit Speck gehabt. Derweil krabbelte Kathrin zu ihr zurück auf die Decke und griff nach dem Viertellaib Brot.

«Brobro!», rief sie.

Serafina war begeistert. «Mein süßer Schatz, du kennst ja ein neues Wort! Richtig, das ist Brot.» Sie brach ein kleines Eckchen ab und reichte es ihr. «Sag mal: Brot.»

«Brobro.»

Gerührt zog Serafina ihre Kleine an sich. War es nicht ein Geschenk des Himmels, dass sie Kathrin heranwachsen sehen durfte? Mit Vitus war ihr das nicht vergönnt gewesen. Ihren inzwischen fast zwanzigjährigen Sohn hatte sie als blutjunges Mädchen im Radolfzeller Armenspital zur Welt gebracht, wo man ihn ihr nach wenigen Monaten Stillzeit ohne Vorankündigung weggenommen und in ein Konstanzer Kloster gebracht hatte, wie sie später erfuhr. Vitus war nämlich die Frucht einer Schändung durch vier junge, betrunkene Unholde gewesen, und trotzdem hatte sie ihn von seinem ersten Atemzug an geliebt. Nur aus diesem Grund, nur, um ihren Jungen gegen ein Schmiergeld sonntags für einen kurzen Augenblick besuchen zu dürfen, war sie in die Bischofsstadt am Bodensee gezogen und dort prompt aus Not und Armut auf die schiefe Bahn geraten. Das Schlimmste sollte indessen noch kommen: Eines Tages war Vitus, bereits zum Knaben herangewachsen, spurlos verschwunden. Einer der Mönche hatte ihm überaus gehässig zugesteckt, dass seine Mutter nichts als eine Hure sei, woraufhin er aus dem Kloster geflohen war und sich einer Gauklertruppe angeschlossen hatte.

Es tat immer noch sehr weh, wenn sie an jene Zeit zurückdachte, und manchmal suchten die schrecklichen Erlebnisse sie sogar in ihren Träumen heim. Doch dann sagte sie sich jedes Mal, dass sich am Ende alles wunderbar gefügt hatte. Zum Martinimarkt vor fast vier Jahren hatte sie ihren Sohn schließlich wiedergefunden, als er mit seiner Straßburger Compania Freiburg aufsuchte. Sie hätte den schlaksigen, blonden Sechzehnjährigen womöglich gar nicht erkannt, wäre da nicht das sichelförmige Muttermal auf der linken Schulter gewesen … Niemals würde sie dieses berührende Wiedersehen vergessen, und seither trafen sie sich ein- bis zweimal im Jahr, wenn die Compania in Freiburg oder irgendwo in der Nähe aufspielte. Gegenüber ihren Mitschwestern und Freiburger Bekannten hatte Serafina ihn stets als ihr Schwester- und Patenkind ausgegeben, auch wenn sie und Vitus es gerne anders gehabt hätten. Nur Adalbert, Grethe, Mutter Catharina sowie die Magd Irmla und ihre gute alte Freundin, die Kräuterfrau Gisla, die seit anderthalb Jahren bei ihnen wohnte, wussten, wer Vitus in Wirklichkeit war und damit auch von ihrer unrühmlichen Vergangenheit.

Verstohlen wischte sich Serafina über die Augen.

«Bald wirst du deinen großen Bruder kennenlernen», sagte sie leise zu Kathrin. «Er kommt mit seiner Truppe zum Michaelismarkt und spielt uns etwas Lustiges vor.»

Wenn der Magistrat denn seine Erlaubnis gibt, fügte sie im Stillen hinzu. Noch war nämlich gar nicht entschieden, ob die Gaukler nächste Woche auftreten durften. Dabei hatte sie ihren Sohn schon ein ganzes Jahr nicht mehr gesehen. Zuletzt zu Kathrins Taufe, als er eigens für einen Tag und eine Nacht von Breisach herübergekommen war. Diesmal aber wollte er länger bleiben, hatte er in einem liebevollen Brief voller Vorfreude angekündigt.

Innerlich schickte sie ein Stoßgebet zu ihrer Lieblingsheiligen Barbara, bevor sie sich erhob.

«So, mein lieber Schatz, jetzt ist Schluss mit faul herumsitzen. Wir müssen noch ein bisschen was arbeiten, bevor dein Vater uns abholen kommt. Hilfst du mir dabei?»

Kapitel 2

Die Sonne hatte schon merklich an Kraft verloren, als Michel laut zu bellen begann. Serafina blickte von ihrem Beet mit den Heilkräutern auf: Ein kräftiger und sehr großer Mann näherte sich dem Zaun. Schon allein an dessen aufrechtem, ruhigem Gang erkannte sie ihren geliebten Adalbert. Das Bellen des Hundes ging denn auch sofort in freudiges Winseln über.

«Na, du Zerberus, hast du die beiden Frauen gut bewacht?», hörte sie Adalbert am Gartentörchen sagen, bevor er es aufschob. Wie immer saß seine flache, dunkelgrüne Gelehrtenkappe reichlich schief auf seinem Kopf.

Sie legte die Hacke zur Seite. «Sieh mal, Kathrinchen, wer da kommt.»

Die Kleine, die bis dahin eifrig mit ihrer Schippe einen Erdhaufen bearbeitet hatte, hielt inne. «Wauwau», rief sie freudig.

«Aber Kathrin, das ist dein Vater!»

Mitsamt der Schippe nahm Serafina sie auf den Arm und ging Adalbert entgegen.

Der strahlte seine Tochter aus seinen hellbraunen Augen an, um sie sogleich Serafina abzunehmen. Ungeachtet Kathrins verschmierter Ärmchen und Beinchen, drückte er sie an sich.

«Ich habe dich beim Mittagessen sehr vermisst, mein kleiner Sonnenschein», flüsterte er ihr ins Ohr.

In gespielter Enttäuschung verzog Serafina das Gesicht. «Und mich?»

Adalbert lachte und küsste sie zärtlich auf die Wange. «Dich auch, liebe Frau. Entschuldige, dass ich jetzt erst komme. Aber mein Lieblingspatient Grieswirth hat mich mal wieder mit seinen ewigen Verdauungsproblemen aufgehalten. Und auf dem Weg hierher habe ich unseren Freund Laurenz getroffen, mit dem ich noch ein Schwätzchen halten musste. Er lässt dich und die Kleine herzlich grüßen, wir sollen doch bald mal wieder bei ihnen vorbeischauen.»

Laurenz Wetzstein, Zunftmeister der hiesigen Bäcker, war Adalberts bester Freund und der zweite Taufpate ihrer Tochter.

«Aber ja, sehr gerne.»

Kathrin fing an zu quengeln und fuchtelte mit ihrer Schippe vor Adalberts Nase herum.

«Ich glaube», sagte Serafina mit einem Lächeln, «sie will noch weiter im Kräuterbeet arbeiten.»

«Dann soll sie das tun. Und wir beide setzen uns noch ein Weilchen auf die Bank. Bis zum Abendessen ist ja noch Zeit.»

«Hauptsache, wir kommen keinen Glockenschlag zu spät. Da ist mit unserer Irmla nicht zu spaßen.»

Sie brachten Kathrin zum Kräuterbeet zurück, dann nahmen sie unter dem Apfelbaum Platz. Adalbert legte den Arm um Serafinas Schultern und beobachtete voller Vaterstolz das emsige Treiben seiner kleinen Tochter.

«Es ist zu schön, dass wir den Garten nutzen dürfen», murmelte er. «Für Kathrin ist das ein kleines Paradies.»

Serafina nickte. «Das stimmt. Du solltest viel öfter mit uns hier herauskommen. Übrigens kennt sie jetzt ein neues Wort.»

Sie bückte sich zu dem letzten Brotkanten auf der Decke und rief: «Kathrin, schau einmal her. Was ist das?»

Die Kleine sah zu ihr herüber, schien zu überlegen, dann klatschte sie in die Hände und rief laut und deutlich: «Brobro!»

«Hast du gehört? Brobro für Brot!»

Adalbert grinste. «Sie ist halt ebenso klug wie ihre Mutter. Hoffen wir nur, dass sie später nicht auch so wagemutig wird wie du.»

«Ach Adalbert, ich habe schon lange nichts Unbedachtes mehr getan.»

Er zog sie fester an sich. «Das wird hoffentlich auch so bleiben.»

Mit einem zufriedenen Seufzer kuschelte sie sich an seine Brust. Ja, sie führte im Hause Achaz als Mutter, Ehefrau und nicht zuletzt als Armenapothekerin schon ein sehr behagliches Leben. Es gefiel ihr, und sie spürte auch, wie gut es ihr bekam. Sie war um einiges ruhiger geworden. Aber auch das Leben in der Stadt schien ruhiger geworden zu sein seit jenem Februar vor anderthalb Jahren, als ein angeblicher Werwolf sein Unwesen trieb. Oder verriet ihr Adalbert womöglich nicht mehr alles, was in der Stadt und drum herum so vor sich ging? Aber das konnte ihr auch einerlei sein – sie lebte nur noch für dieses Glück der zweiten Mutterschaft, die sie nun endlich voller Inbrunst genießen durfte.

Ein Händchen zupfte an ihren Rockfalten. Kathrin stand vor ihnen, mit der anderen Hand hielt sie sich an der Bank fest. Dabei kaute sie mit vollen Backen auf dem letzten Eckchen Brot herum, das sie sich wohl von der Decke geschnappt hatte.

Adalbert strich ihr durch die blonden Locken. «Na, mein Sonnenschein? Hast du endlich Feierabend gemacht? Komm, lass auch die andere Hand los. Ich weiß, du kannst das.»

Serafina schüttelte den Kopf. «Sie kann immer noch nicht freihändig stehen. Dabei hat sie doch so früh sitzen gelernt. Ich verstehe das nicht. Die Enkelin von Pfefferkorns konnte mit einem Jahr schon ganz ohne Hilfe laufen.»

«Ach Serafina, unsere Kathrin ist gerade mal ein Jahr und zwei Wochen alt! Sei doch nicht so ungeduldig.»

«Du hast ja recht», erwiderte sie. Sie wusste schließlich nicht einmal genau, wann Vitus laufen gelernt hatte.

«Aber», Adalbert erhob sich, «wir können ja mal ein bisschen üben. Komm, Kathrin, bis zum Törchen und zurück.»

Er griff nach ihrer Hand, und sie marschierten los. Das Bild des hochgewachsenen Mannes, der sich ganz krumm machte, und des wie eine Ente daherwatschelnden kleinen Wesens an seiner Seite brachte sie jedes Mal aufs Neue zum Lachen. Tapfer stapfte Kathrin auf ihren nackten Füßen durch das kurz geschnittene Gras bis zum Gartentor, dort drehten die beiden sich um, und Serafina erkannte deutlich die höchste Konzentration in dem Kindergesicht. Kurz vor der Bank ließ Adalbert ihre Hand los, und schon ein Schrittchen später plumpste Kathrin wieder einmal auf ihr Hinterteil. Diesmal begann sie, aufgebracht zu schreien.

Tröstend nahm Adalbert sie auf den Arm.

«Du lernst das schon noch, glaub mir.» Mit einem Augenzwinkern wandte er sich an Serafina. «Sie ist nicht nur so klug und schön wie du, sie verliert auch genauso schnell die Geduld. Übrigens», er machte eine bedeutsame Pause, «habe ich eine gute Nachricht. Eigentlich wollte ich es dir zu Hause bei einem Krüglein Wein sagen, aber ich kann’s dir einfach nicht so lange vorenthalten: Der Bürgermeister hat den Auftritt der Straßburger Compania für nächste Woche genehmigt, sogar für alle vier Tage! Bald wirst du also auch deinen Vitus wieder in den Arm nehmen können.»

Kapitel 3

Der Geruch des Essigs, mit dem Adalbert Achaz sich vor jedem Patientenbesuch die Hände reinigte, war fast verflogen, und so schloss er Tür und Fenster zum Hinterhof. Zufrieden blickte er sich in seinem Behandlungszimmer um. Alles stand wieder an Ort und Stelle, ganz so, wie er es liebte, kein Stäubchen fand sich auf Tisch oder Regal, die kolbenförmigen Gläser für die Urinschau glänzten frisch poliert. Der Feierabend konnte beginnen.

In seinem kleinen Reich im Erdgeschoss des Hauses Zum Pilger, das nur wenige Schritte von der städtischen Kanzlei entfernt lag, war jeder willkommen, doch Putzen und Aufräumen durften hier weder Serafina noch seine langjährige Magd Irmla. Er musste unwillkürlich schmunzeln, als er daran dachte, dass Serafina es mit ihrer kleinen Armenapotheke, die sie sich in der Eingangshalle eingerichtet hatte, ebenso hielt. So grundverschieden sie beide im Wesen waren – in ihren Gewohnheiten und Ansichten hatten sie doch manches gemein.

In der halb offenen Tür zur Diele hielt er inne. Das Bild, das sich seinen Augen darbot, war zu schön: Mitten auf dem Arbeitstisch thronte Kathrin, von Serafina nur mit leichter Hand festgehalten, und war mit Feuereifer dabei, etwas in einem Mörser zu zerstoßen. Vor lauter Anspannung waren ihre runden Bäckchen gerötet.

«Sehr gut machst du das», hörte er Serafina sagen. «Du bist mir ja schon eine richtige Hilfe.»

Ein Gefühl der Wärme stieg in ihm auf. Was er ihr zwei Tage zuvor im Beginengärtlein gesagt hatte, stimmte eigentlich nicht mehr: Serafina war mit ihrer Mutterschaft um so vieles geduldiger und gelassener geworden. Selbst äußerlich hatte sie sich verändert, war ein wenig voller und rundlicher geworden, was ihr mehr als gut stand. Wie sehr er diese Frau liebte! Fast drei Jahre waren sie nun schon verheiratet, und er dankte Gott noch immer jeden Tag, dass er ihr, nach ihrer unseligen ersten Begegnung damals im Konstanzer Frauenhaus, hier in Freiburg wieder begegnet war, zu seinem Erstaunen in der grauen Kutte der Beginen. Und nun hatte sie ihn auch noch mit dem Glück eines gemeinsamen Kindes beschenkt…

Er trat näher. «Na, machst du aus unserer Kathrin schon eine kleine Apothekerin?»

«Ein Medicus kann sie ja als Frau leider nicht werden.» Sie lächelte verschmitzt. Dann deutete sie auf die grünen Einsprengsel, die sich rund um den Mörser auf der Arbeitsplatte verteilt hatten. «Nur mit der Reinlichkeit hat sie es noch nicht so sehr. Vielleicht also doch besser Gärtnerin.»

Adalbert lachte, und sofort streckte Kathrin ihre Ärmchen nach ihm aus. Er hob sie hoch und drehte sich mit ihr im Kreis, bis sie vor Vergnügen quietschte.

Ein wenig außer Atem, setzte er sie wieder auf dem Tisch ab.

«Wollen wir noch ein wenig hinausgehen? Bis zum Abendessen ist noch Zeit.»

«Schauen wir, wie weit die Vorbereitungen für den Jahrmarkt sind. Ich sage Irmla und Gisla Bescheid, dass wir einen Spaziergang machen.» Sie gab ihm einen Kuss. «Ach Adalbert, ich glaube es kaum, dass Vitus morgen nach Freiburg kommt.»

Wenig später – Serafina hatte sich noch das Haar hochgesteckt und mit ihrer Festtagshaube bedeckt – verließen sie das Haus, Adalbert mit der Kleinen auf seinen Schultern. Die Sonne hatte sich bereits hinter den Dächern zurückgezogen, doch die Wärme des Tages hielt sich noch zwischen den Hauswänden. Sie waren nicht die Einzigen an diesem milden Montagabend, die den Einfall hatten, den Feierabend mit einem Spaziergang durch die Gassen einzuläuten. Auf dem kleinen Platz zwischen Kanzlei und Barfüßerkloster, aus dessen Kirche die Mönchsgesänge der abendlichen Vesper drangen, spielten Kinder Fangen und Verstecken, während die Erwachsenen in Gruppen beieinanderstanden oder plaudernd dahinschlenderten.

Was für ein friedliches Bild, dachte Adalbert plötzlich. Seitdem Freiburg als Reichsstadt nicht mehr den Habsburgern unterstand, hatte es hier keine Kriege und Fehden mehr gegeben. Ja selbst Mord und Totschlag schienen sich von der Stadt neuerdings fernzuhalten und damit die oft so grausigen Spektakel der Ehren-, Schand- und Leibesstrafen. Auch wenn manch einer Letzteres bedauern mochte.

Von allen Seiten wurden sie mal freundlich, mal ehrerbietig gegrüßt, während sie die staubige Barfüßergasse hinter sich ließen. Noch immer waren in Freiburg nur der Kirchhof, die herrschaftliche Salzgasse sowie die breite Marktgasse, die sich nun vor ihnen auftat, gepflastert oder zumindest gekiest – andernorts konnte man nach starken Regenfällen oder während der Schneeschmelze schon einmal bis zu den Knöcheln im Morast stecken bleiben. Die ganz Vornehmen ließen sich dann mit der Sänfte durch die Stadt tragen, anstatt sich Trippen unter die Schuhe zu schnallen. Jetzt aber hatte es schon längere Zeit nicht mehr richtig geregnet, und Adalbert hoffte, dass das spätsommerliche Wetter für den Michaelismarkt anhielt, der morgen Nachmittag eröffnet würde und bis zum Freitag dauerte.

Er freute sich mit Serafina, dass sie nun bald schon nach so langer Zeit ihren Sohn wiedersehen durfte. Mehr noch: Auch er selbst freute sich von ganzem Herzen auf dieses Wiedersehen, hatte er den Jungen doch spätestens seit ihrem gemeinsamen Abenteuer in der Höllenschlucht schätzen und lieben gelernt. Nicht nur ihm, sondern auch Mutter Catharina und dem Prior der Wilhelmiten hatte Vitus damals auf tollkühne Weise das Leben gerettet.

Als hätte Serafina seine Gedanken gelesen, fragte sie ihn: «Was glaubst du, wann Vitus mit seiner Compania morgen eintrifft?»

«Ich denke, das hängt davon ab, wo sie heute zu Gast waren. Aber er wird bestimmt, sobald sie da sind, gleich als Erstes bei uns vorbeischauen.»

Auf der Großen Gass waren die Läden der Verkaufsstände zwar bereits geschlossen, die Vorbereitungen zum Michaelismarkt dafür in vollem Gange. Auch wenn dieser Krämermarkt nicht die Bedeutung des großen Jahrmarkts zu Martini hatte, zu dem Kaufleute von weit her eintrafen, so ließ es sich die Stadt doch nicht nehmen, zumindest die wichtigsten Straßen und Plätze vom Unrat zu befreien und die Brunnen zu putzen. Rechts und links der hölzernen Lauben, die vom Christoffelstor bis zum Martinstor entlang der Straßenmitte standen und in denen die Breisgauer Krämer ihre Waren feilbieten würden, rumpelten jetzt überall die Dreckkarren über das Pflaster. Eine ganze Heerschar von Stadtknechten und Mistdirnen war damit beschäftigt, Stallmist und Tierkadaver, Schlacht- und Küchenabfälle aufzuladen und aus der Stadt zu schaffen. Sozusagen nebenher fing man frei laufende Schweine ein und trieb sie zum Heiliggeistspital, wo sie darauf warteten, bis morgen Mittag von ihren Besitzern ausgelöst oder vom Spitalmetzger geschlachtet zu werden. Streunende Hunde ohne Marke am Hals wurden hingegen meist sofort erschlagen, doch zum Glück waren weit und breit keine zu sehen.

Sein Blick fiel auf die Freitreppe des Spitals, auf der ein Bettelmönch gegen die ach so gefährlichen Versuchungen der Jahrmärkte wetterte, aber bis auf ein paar alte Weiblein hörte ihm niemand zu. Unwillkürlich musste Adalbert an Bruder Thomas denken, jenem Hassprediger aus Basel, der nicht nur ums Haar ihre Hochzeit verhindert, sondern sie alle in große Gefahr gebracht hatte, mit seiner Hetze gegen die hiesigen Beginen …

«Sieh mal.» Serafina hakte sich bei ihm unter, und er schmiegte sich für einen kurzen Moment an sie. «Dort drüben schmücken sie schon die Lauben mit bunten Wimpeln. Ach, wie sehr ich mich auf Morgen freue!»

«Ich auch, liebe Serafina, ich auch. Gehen wir noch hinüber zum Kirchhof?»

«Von mir aus gerne. Unsere Kathrin scheint ja noch hellwach zu sein.»

Wie zum Beweis begann die Kleine auf Adalberts Schultern mit den Beinchen zu wackeln, sodass er ihre Knöchel fester umfassen musste.

In der Münstergasse lagen die hölzernen Lugstühle der hiesigen Kaufleute still und verlassen, doch zu Füßen der herrlichen Freiburger Pfarrkirche herrschte wiederum geschäftiges Treiben. Vor den Buden entlang der Friedhofsmauer klaubten Mistknechte den Unrat der letzten Tage auf, während bei der Kornlaube unter den neugierigen Blicken der umherschlendernden Müßiggänger gerade der Tanzboden aufgebaut wurde, mitsamt einer girlandengeschmückten Empore für die Musikanten. Gleich daneben hatte Elephantenwirt Jordan, in dessen Gasthaus sie Hochzeit gefeiert hatten, sein buntes Zelt aufgeschlagen und ließ es sich nicht nehmen, jetzt schon seinen Gerstensaft auszuschenken.

Zu ihrer Freude trafen sie dort auf das Ehepaar Wetzstein, in Begleitung des dicken Metzgermeisters Grieswirth. Der hatte sie bereits kommen sehen und den Henkelkrug in ihre Richtung erhoben:

«Hopfen und Malz – Gott erhalt’s. Lieber Medicus, liebe Frau Serafina.»

Adalbert musste lachen. «Ja, ja, Meister, wenn’s denn der Gesundheit dient!»

«Das tut es, Achaz, worauf Ihr Gift nehmen könnt.»

Sie begrüßten einander herzlich, wobei Laurenz Wetzstein, ein kleiner, schmerbäuchiger Mann, sogleich die Arme nach Kathrin ausstreckte.

«Da ist ja mein Engelchen! Magst du zu deinem Götti kommen?»

Gemeinhin zeigte sich Kathrin anderen Menschen gegenüber eher in stoischer Zurückhaltung, doch ihren Patenonkel und dessen Frau mochte sie sehr gerne. Den beiden waren eigene Kinder nie vergönnt gewesen, umso glücklicher waren sie nun über ihre Patenschaft.

«Ein wunderbarer Gedanke, lieber Laurenz.» Adalbert übergab seinem Freund das Kind. «Mir tun nämlich schon die Schultern weh. Was ist, Serafina, trinken wir ein Krüglein Bier in dieser netten Runde?»

«Warum nicht? Aber wirklich nur eines.»

Als er mit zwei Krügen zu Serafina zurückkehrte, war sie bereits mit Ottilia Wetzstein in ein Gespräch über Kräuter und Salben vertieft. Sie kannte die Wetzsteinin, die seit Jahren eine großzügige Gönnerin der Christoffelsschwestern war, noch aus ihrer Beginenzeit und mochte die offene und herzliche Frau sehr. Und seit der Tauffeier duzten sie einander auch.

Derweil war Kathrin dem Patenonkel wohl doch zu schwer geworden, denn er hatte sich, mit der Kleinen auf dem Schoß, auf einer nahen Holzbank niedergelassen und mit ihm der vom Biergenuss schon rotwangige Grieswirth.

«Sie ist ganz schön groß geworden», grinste Laurenz Adalbert fast entschuldigend an.

«Jetzt geh her.» Er schlug ihm auf die Schulter. «Deine Mehlsäcke sind um einiges schwerer. Zum Wohl, meine lieben Freunde!»

Sie prosteten sich zu. Am Ausschank ein paar Schritte weiter wurde in diesem Augenblick eine herrische Stimme laut.

«Der hat uns gerade noch gefehlt», entfuhr es Adalbert und trat ein wenig näher heran.

«Der Markt beginnt erst morgen Nachmittag», hörte er den Silberkrämer Andreas Schneehas aufgebracht sagen. «Oder habt Ihr etwa eine Lizenz für den heutigen Abend?»

«Nein, die habe ich nicht, werter Ratsherr», erwiderte Jordan ruhig. «Aber die guten Leute, die hier rundum aufbauen, freuen sich über ein frisches Bier.»

Schneehas hatte sich damals bei dem unheilvollen Komplott gegen die Beginen, die er als gott- und gesetzlose Ketzerinnen betrachtete, als Brandstifter hervorgetan und war dafür aus dem Rat der Achtundvierzig ausgeschlossen worden. Doch kaum war Gras über diese Sache gewachsen, mischte er wieder wie Phönix aus der Asche in der Freiburger Obrigkeit mit und war zu Johanni sogar erneut in den Magistrat gewählt worden. Obwohl Adalbert diesen verdrießlichen Menschen ganz und gar nicht mochte, versuchte er zu beschwichtigen.

«Lieber Schneehas, ich bitte Euch: Jetzt lasst doch fünfe grade sein!»

«Ja glaubt Ihr, jeder kann hier machen, was er will?», schnaubte der Silberkrämer und reckte das Kinn. Dann machte er plötzlich einen Bückling in Richtung Tanzboden, von wo sich Schultheiß Paulus von Riehen näherte.

«Ihr kommt gerade recht, Schultheiß», rief Schneehas.

«Das sehe ich auch so», lächelte Paulus von Riehen, der einem vornehmen Freiburger Rittergeschlecht entstammte, und nickte dem Elephantenwirt ein wenig von oben herab zu. «Mir ist nämlich gerade nach einem guten, kühlen Bier zumute. Liebe Ratsherren», er blickte in die Runde, und Adalbert sah, wie sich Serafina kaum das Lachen verkneifen konnte, «ich gebe für jeden ein Krüglein aus.»

Da konnte auch Adalbert nicht länger an sich halten und grinste über das ganze Gesicht.

Kapitel 4

Beschwingt kehrten sie nach Hause zurück, wo es schon in der Diele köstlich nach Hühnersuppe roch. Da hörte Serafina aus der Küche eine junge, wohlvertraute Männerstimme. Und am Haken hing ein buntscheckiger Gauklerumhang.

«Vitus!»

Sie stürmte nach oben. Neben ihrer alten Freundin Gisla saß tatsächlich ihr Sohn am Küchentisch und ließ sich gerade von Irmla einen Becher Most einschenken.

«Was für eine schöne Überraschung!»

Überschwänglich schloss sie Vitus in die Arme.

«Nicht so fest», lachte der. «Ich bekomme keine Luft mehr.»

«Lass dich anschauen, mein Junge!» Sie zog ihn von der Bank hoch und stellte sich dicht vor ihn. «Breite Schultern hast du bekommen, wie ein richtiger Mann. Aber sonst bist du viel zu mager. Bekommst du denn genug zu essen?»

«Das habe ich ihn auch gefragt», mischte sich die Magd stirnrunzelnd ein. «Wie ein ausgehungertes Fohlen sieht er aus. Aber er wollte ja nicht einmal ein Stück Brot haben, bevor Ihr nicht hier seid. Zur Feier des Tages hat Gisla übrigens in der guten Stube eingedeckt, gehen wir also hinüber.»

Daran, dass Irmla hier im Haus das Regiment führte, hatte sich Serafina zu Anfang ihrer Ehe erst gewöhnen müssen. Inzwischen aber empfand sie das als durchaus angenehm, ließ es ihr doch die Zeit, sich mehr um die Kräuter, um Achaz und nun auch um Kathrin zu kümmern.

Sie griff sich den Mostkrug, nahm ihren Sohn beim Arm und führte ihn nach nebenan. Vor lauter Freude standen ihr die Tränen in den Augen.

«Wie kommt es, dass ihr bereits heute da seid?», fragte sie, während sie an dem großen Eichenholztisch Platz nahmen, der heute sogar mit einem weißen Leinentuch bedeckt war. «Oder bist du etwa vorausmarschiert?»

«Nein, nein, wir waren in der Stadt Kenzingen, also nicht allzu weit weg. Heute Nachmittag sind wir dann hier in Freiburg angekommen und haben wie immer unser Lager am Schießrain an der Dreisam aufgeschlagen.»

Sein Blick ging zur Tür, durch die in diesem Moment Adalbert mit einer schlaftrunkenen Kathrin im Arm eintrat, und er sprang von der Bank auf.

«Herzlich willkommen!» Adalbert setzte die Kleine auf Serafinas Schoß ab. «Eine schönere Überraschung hättest du uns nicht machen können, als schon heute zu kommen.»

Ein wenig ungelenk zog er Vitus an sich und strahlte dabei über das ganze Gesicht. Wieder einmal dachte Serafina, was für ein Glück sie mit ihrem Ehemann hatte.

«Musst du nach dem Abendessen gleich zurück zu deiner Truppe?», fragte er Vitus, der in die Knie ging, um die müde quengelnde Kathrin zu begrüßen.

«Nein, der Prinzipal der Compania hat mir erlaubt, bei euch zu übernachten.»

«Wenn das kein Grund zum Feiern ist! Da holen wir nach dem Essen doch gleich den guten Burgunderwein aus dem Keller.»

«Dazu sag ich nicht nein.» Vitus strich seiner kleinen Schwester zart über die Wangen. Er wirkte zutiefst gerührt. «Was bist du nur für ein großes Mädchen geworden!»

Weinerlich verzog die Kleine das Gesicht.

«Sag bloß, du erkennst mich nicht mehr, wo ich doch bei deiner Taufe dabei war», rief er scherzhaft und schnitt lustige Grimassen, woraufhin sie tatsächlich glucksend zu lachen begann. «Ich bin Vitus, dein …»

Erschrocken brach er ab, da Gisla und Irmla mit dem Abendessen hereinkamen.