Das Siechenhaus - Astrid Fritz - E-Book
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Das Siechenhaus E-Book

Astrid Fritz

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Beschreibung

Ein faszinierendes historisches Thema: Lepra – eine furchtbare Geißel über Jahrhunderte hinweg. Tausend Schritte vor der Stadt: Hier im Freiburger Siechenhaus wohnen die Aussätzigen – sie gelten als lebende Tote. Gerade ist der Bäcker Kannegießer symbolisch zu Grabe getragen worden. Der wähnt sich gesund und bittet Begine Serafina um Hilfe. Serafina will den Wundarzt Achaz hinzuziehen, doch in der Nacht wird Achaz niedergeschlagen und scheint fortan nicht mehr recht bei Verstand. Dabei drängt die Zeit: Selbst wenn Kannegießer gesund ist, unter den anderen Kranken wird er es bald nicht mehr sein. Also fängt Serafina an zu forschen. Gelingt es Serafina, die Wahrheit rechtzeitig ans Licht zu bringen? Wie schon in «Das Aschenkreuz» und «Hostienfrevel» sorgt die neugierige und unerschrockene Begine Serafina wieder für erheblichen Wirbel im spätmittelalterlichen Freiburg.

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Astrid Fritz

Das Siechenhaus

Historischer Roman

Über dieses Buch

Ein faszinierendes historisches Thema: Lepra – eine furchtbare Geißel über Jahrhunderte hinweg.

 

Tausend Schritte vor der Stadt: Hier im Freiburger Siechenhaus wohnen die Aussätzigen – sie gelten als lebende Tote. Gerade ist der Bäcker Kannegießer symbolisch zu Grabe getragen worden. Der wähnt sich gesund und bittet Begine Serafina um Hilfe. Serafina will den Wundarzt Achaz hinzuziehen, doch in der Nacht wird Achaz niedergeschlagen und scheint fortan nicht mehr recht bei Verstand. Dabei drängt die Zeit: Selbst wenn Kannegießer gesund ist, unter den anderen Kranken wird er es bald nicht mehr sein. Also fängt Serafina an zu forschen.

Gelingt es Serafina, die Wahrheit rechtzeitig ans Licht zu bringen?

 

Wie schon in «Das Aschenkreuz» und «Hostienfrevel» sorgt die neugierige und unerschrockene Begine Serafina wieder für erheblichen Wirbel im spätmittelalterlichen Freiburg.

Vita

Astrid Fritz studierte Germanistik und Romanistik in München, Avignon und Freiburg. Als Fachredakteurin arbeitete sie anschließend in Darmstadt und Freiburg und verbrachte mit ihrer Familie drei Jahre in Santiago de Chile. Heute lebt Astrid Fritz in der Nähe von Stuttgart.

Dramatis Personae

Die Hauptpersonen

Serafina Stadlerin: Hat zwar die dreißig eben überschritten, zieht aber selbst in ihrer grauen Beginenkutte noch immer die Männerblicke auf sich. Ihre forsche, neugierige Art bringt sie gern in Teufels Küche, wenn in Freiburg etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Sosehr sie sich in ihrer neuen Heimat auch wohl fühlt, holt sie ihre nicht eben ehrenvolle Vergangenheit immer wieder ein. Dass der neue Stadtarzt sie von früher kennt, macht es nicht leichter – zumal es zwischen den beiden mitunter heftig knistert.

Adalbert Achaz: Studierter Medicus und frischgebackener Stadtarzt. Groß und kräftig, stellt er ein reifes, durchaus stattliches Mannsbild dar. Als einsamer Wolf lebt er mit seiner alten Magd zusammen und gibt sich der Frauenwelt gegenüber eher unbeholfen. So braucht es denn auch seine Zeit, bis er sich bei seinen Begegnungen mit Serafina nicht mehr selbst im Wege steht.

Die Schwesternsammlung zu Sankt Christoffel

Grethe: Die Jüngste im Bunde. Fröhlich, großherzig und allem zugetan, was mit Kochen, Backen und vor allem Essen zu tun hat. Letzteres ist ihrem rundlichen Leibesumfang deutlich anzusehen. Für Serafina ist sie schnell zur guten Freundin geworden.

Brida von Stühlingen: Der Neuzugang. Verwöhnte junge Halbwaise aus einem inzwischen verarmten Rittergeschlecht. Da ihr Vater sie nicht mehr standesgemäß verheiraten kann, landet sie gegen ihren Willen bei den Beginen und lässt diese das deutlich spüren. Womit sie bei Serafina gerade an die Richtige gerät.

Heiltrud: Sie gibt die frömmlerische, sauertöpfische Meckertante, doch Serafina weiß inzwischen, wie man sie zu nehmen hat.

Die alte Mette: Ein ängstliches, kränkliches Persönchen, das sich als Magd krumm und bucklig geschuftet hat. Darf jetzt ihren Lebensabend mit leichteren Arbeiten wie Kerzenziehen gestalten.

Mutter Catharina: Hält als strenge, aber mütterlich gerechte Meisterin Aufsicht über die Ordnung des kleinen Konvents. Vor allem im Streitschlichten hat sie ein begnadetes Händchen und lässt auch mal fünfe gerade sein. Da auch sie ihr kleines Geheimnis im früheren Leben hat, wird sie in Serafinas Herzensangelegenheiten zur weisen Ratgeberin.

Mischlingshündchen Michel: Einziges männliches Mitglied im Beginenhaus. Sobald es brenzlig wird, ist er mit dabei – wenn auch nicht immer an Serafinas Seite.

Und natürlich Serafina – siehe oben

Serafinas Bekanntenkreis

Kräuterfrau Gisla: Klein und wendig und dank ihrer Kräutertränke fit im hohen Alter. Von ihr bekommt Serafina so manch guten Tipp, nicht nur in der Kräuterheilkunde.

Ratsherr Laurenz Wetzstein: Zunftmeister der Bäcker und Gerichtsherr. Schmerbauchiger kleiner Mann, der als besonnen und gerecht gilt. Für Serafina ein Fels in der Brandung, wenn den übrigen Freiburger Ratsherren wieder einmal nicht zu trauen ist.

Irmla: Adalbert Achaz’ bärbeißige alte Magd. Aus rauem Holz geschnitzt, ihrem Dienstherrn dafür umso treuer ergeben. Auch Serafina hat es inzwischen geschafft, ihr Herz zu gewinnen.

Bettelzwerg Barnabas: Der seltsame Kauz und stadtbekannte Narr, der Serafina stets in großer Verehrung zugeneigt war, darf für diesmal nicht mehr mitspielen.

Bei den Aussätzigen im Gutleuthaus

Siechenmeister Ulrich Ulmer: Selbst Siecher unter Siechen, ist er von seinem Schicksal schon deutlich gezeichnet. Dennoch hält der bedächtige, freundliche Mann tapfer an seinen Visionen fest und sein Haus gut in Schuss.

Siechenmeisterin Mutter Klara: Als einzig (noch) Gesunde führt sie im Haushalt das energische Kommando. Obwohl nicht allzu helle im Kopf, schafft sie es, ihre Krankenschar zu unmündigen Kindern zu degradieren.

Konrad Kannegießer: Bäckermeister, treusorgender Ehemann und Vater, dazu großzügiger Gönner der Beginen. Zum Lohn, dass er sich in seiner Backstube krumm gearbeitet hat, droht ihm ein Lebensabend unter den Aussätzigen. Dafür wird er schon mal symbolisch im Münster zu Grabe getragen.

Matthis, der Hausknecht: Ein mürrischer, ungehobelter Kerl, der kaum einen Gruß herausbringt – da hat selbst Serafinas Liebreiz keinen Erfolg mehr.

Niklas: Den einstigen Schäfer hat der Aussatz bereits erblinden lassen, was ihn aber beileibe nicht hindert, weiblichen Reizen zu erliegen.

Jäcklin: Ihn hat der Fluch des Aussatzes bereits in jungen Jahren getroffen. Der einstige Stallknecht auf Brida von Stühlingens Rittergut erlaubt sich, was er sich in seinem gesunden Leben nie erlaubt hätte.

Hannes: Für einen Aussätzigen ist der aufdringliche Kerl noch recht gut beieinander.

Bruder Andres, Bruder Martin: Infolge ihres weit fortgeschrittenen Krankheitsstadiums als Prüfmeister bei der Siechenschau eingesetzt. Ihr Anblick allerdings versetzt sensible Seelchen wie Brida in höchste Schrecken.

Freiburger Bürgersleute

Die Kannegießerin Annchen: Die Bäckersfrau ist zwar nicht mehr ganz jung, aber noch recht knusprig. Kleidet sich gern ein wenig über ihren Stand. Dass man ihr den Mann genommen hat, lässt sie viel und oft weinen.

Bäckergeselle Heintzeman: Zorniger junger Mann mit Bärenkräften. Gerät allzu schnell mal außer sich.

Bader Pfitzauf von der Klingelhut-Badstube: Weiberheld und Hansdampf in wahrlich allen Gassen. Geht allerdings allzu selbstgewiss ans Werk.

Arbogast von Munderkingen: Der adlige Ratsherr mit Hang zu prächtigem Silberschmuck hat das in diesem Falle höchst undankbare Amt des Gutleuthauspflegers inne.

Andreas Schneehas: Der Silberkrämer, der den Beginen alles andere als wohlgesonnen ist, darf auch in dieser Geschichte wieder als Schöffe bei Gericht fungieren. Hierbei und in seinem Amt als zweiter Gutleuthauspfleger fällt er reichlich undurchsichtige Entscheidungen.

Sachsenheimer: Er ist der dritte der Freiburger Gutleuthauspfleger und tut schlichtweg nichts.

Gerichtsherr Abrecht Thurner: Den Beginen freundlich zugeneigt, gründete doch seine Vorfahrin Margarethe Thurnerin 1316 die historische Sammlung «Der Thurnerin Regelhaus». Der echte Thurner war von etwa 1420–38 Freiburger Schultheiß.

Ratsherr Sigmund Nidank: Gehört zu Serafinas ziemlich besten Feinden. Der aalglatte, mächtige Ratsherr führt diesmal nur ein Schattendasein. Trotzdem stolpert er über seine geheimen Vorlieben und muss die Bühne auf immer verlassen.

In kleineren, dennoch wichtigen Rollen

Bäckerstochter Evchen Kannegießerin: Ein pummeliges, etwa siebenjähriges Mädchen. Ihre Liebe zu kleinen Hunden lässt das schüchterne Kind gesprächiger werden.

Großmutter Veigelin: Kümmert sich rührend um ihr trauriges Enkelkind Evchen.

Spitalbader Johann Blattner: Ein guter Mann mit dem richtigen Riecher.

Münsterpfarrer Heinrich Swartz: Segnet Palmwedel und predigt den Todgeweihten Demut und Geduld.

Bruder Matthäus: Der offenherzige Prior der Wilhelmiten-Mönche ist ein alter und vor allem guter Bekannter von Meisterin Catharina.

Pfännler Marie: Zahnloses altes Weib aus der Oberen Au. Bringt Licht ins Dunkel, weil ihr nachts die Blase drückt.

Metzgermeister Eberhart Grieswirth: Gehört mit seinen Zipperlein zu den Dauerpatienten des Stadtarztes und bringt dessen Gedächtnis wieder auf Trab, ohne es zu wissen.

Die Grieswirthin, sein Eheweib: Schwatzhaft in jeder Beziehung.

Clausmann: Kranker, alter Scherenschleifer, den unsere Schwestern seiner Launen wegen nur zu zweit besuchen. Doch am Ende wird er erstaunlich ruhig.

Wundarzt Meister Henslin: Darf trotz seines niedrigen Standes hin und wieder in besseren Kreisen wandeln – wenn auch nur in schäbigen Hinterzimmern. In unserer Geschichte beweist der eher schlaffe Mensch erstmals Mut.

Gallus Sackpfeiffer: Als Büttel ein grober Klotz, und da Serafina ihm bei seinen Toten allzu oft in die Quere kommt, auch nicht gerade höflich zu ihr.

Der alte Schönbeck: Der Brot- und Feinbäcker, der die Beginen beliefert, bringt allein durch seinen kleinen Auftritt Serafina auf einen zündenden Gedanken.

Bernerwitwe: Die Frau des einstigen Dorfbaders beweint täglich ihren Mann, der im Gutleuthaus unter die Erde gekommen ist.

Der alte Marx: Gefängniswächter im «Loch» des Heilig-Geist-Spitals. Fast schon ein alter Bekannter von Serafina.

Endres: Gefängniswächter im Christoffelsturm. Ein unangenehmer Zeitgenosse, dem seine Spielsucht zum Verhängnis zu werden droht.

Lambrecht: Vom Gerichts- zum Kanzleischreiber aufgestiegen. Sieht er Serafina, denkt er an Mord – und hat damit nicht ganz unrecht.

Ehepaar Pfefferkorn: Die aus Band 1 wohlbekannten Kaufmannsgatten sind diesmal nur als Zaungäste zu Mutter Catharinas Sonntagsessen geladen.

Historische Mitspieler

König Sigismund: Seit 1411 ist der Spross aus dem Geschlecht der Luxemburger römisch-deutscher König, von 1433 an römisch-deutscher Kaiser. Mit dem Konzil zu Konstanz schafft er es tatsächlich, die Einheit der Kirche wiederherzustellen und macht Freiburg eine Zeitlang zur freien Reichsstadt. Für diesmal spielt er hier allerdings nur in einem Possenspiel mit.

Die falschen Päpste: Drei Päpste gaben sich zu jener Zeit die Ehre: zu Rom, zu Avignon und zu Lodi in der Lombardei. Dank König Sigismunds Konzil schafften sie sich selbst wieder ab, um dem künftig Einzigen Platz zu machen – landauf, landab ein äußerst beliebter Stoff für die Possenspiele der Gaukler.

Prolog

Allmächtiger, vergib mir! Ich habe es nicht gern getan!

Du allein weißt, welch schwere Bürde ich auf mich genommen habe. Du allein vermagst in mein Herz zu sehen, das auch in diesem Augenblick wieder nach deinem Trost und deiner Vergebung schreit.

Aber ich schwöre dir, o Herr, ich schwöre dir im geheiligten Namen deines Sohnes, unseres Heilands Jesus Christus: Er hat nicht leiden müssen, es ging ganz schnell. So bin ich von Herzen dankbar, dass ich meine Sache gut gemacht habe. Der Mensch soll nicht unnütz leiden müssen, ist doch die Erde ohnehin ein Jammertal.

Es ist wahrlich nicht schön, Leben zu nehmen – aber hast du selbst mich nicht ausersehen? In jener Nacht, als du mir erschienst und zu mir sprachst?

Doch nun bitte ich dich, du mein Herr und Gott: Gib mir ein Zeichen, auf dass ich weiß, ob ich auch diesmal recht getan habe. Nimm mir die Zweifel, o Herr, an meinem Tun. Du weißt doch, wie sehr es mich quält. Jede Nacht quält mich die Frage, warum gerade ich mit einer solch grausamen Aufgabe betraut bin.

Und so sehne ich mich heute schon nach dem Tag, da ich hiervon entbunden bin. Es wird der Tag sein, wo ich selbst sterbe. Dann werde ich vor deinem Richterstuhl knien, und du sollst mich richten. Mit brennendem Herzen sehne ich diesen Augenblick herbei.

Kapitel 1

«Ich glaub es nicht, das kann nicht sein», rief die junge Frau mit heller Stimme. «Schon wieder kommt ein Papst herein!»

Ihre viel zu roten Lippen, das grelle Wangenrot und der durchsichtige gelbe Schleier, der nachlässig über das offene Haar gelegt war, ließen die Hübschlerin schon von weitem erkennen. Jetzt stemmte das Weib entrüstet die Arme in die Hüfte.

«Ein Heil’ger Vater seid auch Ihr? – Dann wären’s heut schon deren vier!»

Die Ersten rundum begannen zu kichern. Begütigend legte der Mann in der bodenlangen weißen Soutane und dem Käppchen auf dem schütteren Haar die Hände aneinander. Seinen Hirtenstab hatte er vorausschauend gegen das Himmelbett gelehnt, über dem das Wappen der reichen Fernhandelsstadt Konstanz prangte.

«Ob zwei, ob drei, ob vier – der wahre Gottesmann steht hier. So gib mir brav, mein schönes Kind, um Gotteslohn dein Herz geschwind. Lass uns ein wenig kosen nun, in mir beginnt’s zu tosen schon.»

Stürmisch griff er nach ihren prallen Brüsten, wobei sich aus der einen Seite des Mieders ein runder Ball löste und zu Boden kullerte. Das Publikum brach in schallendes Gelächter aus.

«Nichts da.» Die junge Hure wehrte sich mit Händen und Füßen. «Erst will ich bare Münze sehn. Kann nicht für jeden Papst umsonst zu Diensten stehn.»

Auf der Bühne kam es zum Gerangel. Als im Eifer des Gefechts das feuerrote Langhaar der Hure verrutschte, stieß Grethe ihre Freundin in die Seite. «Das ist ja Vitus!»

Serafina lachte, und in ihren Augen blitzte es vor Stolz. «Merkst du das jetzt erst? Seit diesem Frühjahr darf er mitspielen, hat er mir erzählt, wenn auch nur die Weiberrollen. Aber das macht er großartig, findest du nicht?»

Um nur ja nichts zu versäumen vom Spiel um die falschen Päpste des Konstanzer Konzils, hatten Serafina und ihre Mitschwester Grethe sich mühsam bis in die vorderste Reihe der Zuschauer vorgekämpft. Dabei war ihnen in dem Gewühl Brida verlorengegangen, der Neuzugang in ihrem Beginenhaus. Das mochte Ärger geben mit den anderen, hatten sie doch versprochen, auf das Mädchen achtzugeben, solange sie bei den Gauklern weilten.

In diesem Augenblick hatte Vitus sie entdeckt und zwinkerte ihr fröhlich zu, bevor er mit viel zu hoher Stimme zu lamentieren fortfuhr: «Hinweg mit Euch, es ist genug! Das ist doch alles Lug und Trug. Drum ruf ich rasch von nebenan den König Sigismund heran. – Mein König! Mein König!»

Dabei sprang er an den Rand des Bühnenwagens und wedelte auffordernd mit den Armen, bis die Zuschauer lautstark einfielen in seine Rufe. «Mein König! Mein König!», hallte es über den Kirchhof des Münsters, und Serafina hielt sich lachend die Ohren zu.

Der Fortgang des Possenspiels war kaum zu verstehen in dem Getöse auf der Bühne und dem Gelächter der Umstehenden. Da spürte Serafina eine Hand auf ihrem Arm.

«Er ist gut, Euer Junge», flüsterte der Stadtarzt Adalbert Achaz ihr ins Ohr.

«Ja, das ist er.» Sie nickte heftig. Plötzlich musste sie gegen die Tränen ankämpfen. Tränen der Rührung, der Freude, der Wehmut – was auch immer. Viel zu kurz waren die Momente des Wiedersehens, die ihr beschert waren: Gestern erst war Vitus mit seiner Gauklertruppe auf dem Freiburger Frühjahrsmarkt angekommen, morgen früh schon würde er weiterziehen auf Basel zu.

Ein reichlich derangierter König Sigismund tauchte polternd hinter der Bretterwand auf, die die Nachbarkammer im Hurenhaus darstellen sollte. Barfuß war er und nur im losen Hemd bis zu den Knien, indessen mit einer Goldkrone auf dem verstrubbelten Haar, als Zeichen seiner königlichen Würde. Wütend ließ er den Blick über die Menschenmenge zu seinen Füßen schweifen.

«Wer stört? Wer schreit? Ihr freches Volk – dass euch der Satan selber holt.»

«Ein falscher Papst im Hurenhaus», rief jemand hinter Serafina.

«Ein falscher Papst?» König Sigismund starrte den Würdenträger an. «Wie mit den Flöhen scheint das mir – hab ich den einen grad verjagt, ist schon der nächste hier.»

Sprach’s, packte den Hirtenstab und versetzte dem falschen Papst damit drei Schläge auf den Kopf. Der heulte auf und war mit einem Satz vom Bühnenwagen, floh mitten hinein in die Zuschauer. Ein paar Frauen kreischten auf, jemand brüllte: «Nehmt den bloß wieder mit – so einen hatten wir schon mal in unsrer Stadt!»

«Kommt!» Erneut griff Achaz nach Serafinas Arm und zog sie und Grethe fort aus dem Getümmel zur Großen Gass. Dem ungewöhnlich hochgewachsenen und kräftigen Stadtarzt wichen die Leute augenblicklich aus, und als sie sich dem Fischmarkt näherten, wurde es bereits ruhiger.

«Was soll das, Adalbert Achaz? Vielleicht hätten wir das Stück gerne zu Ende gesehen?»

Er grinste über sein bartloses, jungenhaftes Gesicht. «Es ist zu Ende, verehrte Schwester Serafina. Was jetzt noch folgt, ist erfahrungsgemäß ein ausgewachsener Tumult, auf den sich so mancher an diesem schönen Sonntag gefreut haben mag. Wartet lieber hier, bis sich die Meute verlaufen hat.» Er deutete auf eine junge Frau in der aschgrauen Kutte der Beginen, die mit verdrossener Miene am Brunnenrand lehnte. «Ich schätze, die fromme Frau dort gehört zu Euch.»

«Brida!», entfuhr es Grethe. «Dem Himmel sei Dank.»

Serafina nickte dem Stadtarzt zu.

«Ihr lasst uns jetzt besser allein, Achaz», sagte sie und fügte mit spöttischem Unterton hinzu: «Und vielen Dank auch für Eure ritterliche Rettung vor dem Pöbel.»

Nachdem Achaz in Richtung des Wirtshauses Zum Elephanten verschwunden war, sagte Grethe leise: «Ich verwette meinen Beginenschleier, dass der Stadtarzt nur aus einem einzigen Grund den Gauklern zugeschaut hat: Weil er nämlich dich unter den Zuschauern vermutet hat.»

«Wie kommst du bloß darauf?»

«Weil ein so gelehrter Mann ganz gewiss keinen Spaß an albernen Possen hat.»

«Ich glaube, da täuschst du dich. Achaz tut nur manchmal so gelehrt. – Komm, muntern wir Brida ein bisschen auf, sonst beschwert sie sich noch bei der Meisterin, wir hätten sie allein gelassen.»

Grethe schnaubte. «Sieh nur ihr miesepetriges Gesicht. Warum sitzt sie da auch allein am Brunnen? Sie hätte doch längst nach Hause gehen können, zu den anderen.»

Serafina zuckte die Schultern.

«Besser so. Ich möchte auf jeden Fall noch ein paar Worte mit Vitus sprechen. Vielleicht können wir Brida ja überreden, drüben am Weinmarkt ein Krüglein mit uns zu trinken, und dabei könnt ich mich ein Paternoster lang von euch absetzen.»

 

Keine Stunde später bogen Serafina, Grethe und eine laut vor sich hin plappernde Brida in das enge, verwinkelte Brunnengässlein ein. Hier lebten einfache Handwerker wie Schneider, Schuhmacher und Seiler, hier hatten seit mehr als sechs Jahrzehnten die Schwestern zu Sankt Christoffel ihr Domizil. Als Laienschwestern ohne Klausur widmeten sie sich dem Dienst an ihren Mitmenschen: Sie pflegten arme Kranke, kümmerten sich um Sterbende, beteten für die Toten, spendeten überall dort, wo es von Nöten war, geistlichen und menschlichen Trost. Serafina liebte dieses Leben, das sie nun schon seit gut einem Jahr hier in Freiburg führte. Sie kamen viel herum in der Stadt, ihr Tun war unter den Menschen hochgeschätzt, auch wenn ihre Eigenständigkeit so einigen Ratsherren und Geistlichen ein Dorn im Auge war. Vor allem aber hatte Serafina nach all den harten und am Ende nicht gerade ehrenhaften Jahren davor eine Heimstatt, eine neue Lebensaufgabe gefunden.

«Und stellt euch vor», rief Brida in übertriebener Empörung, «obwohl ich doch die Tracht einer freundlichen armen Schwester trage, spricht mich dieser junge Geselle keck an, nachdem er mich angerempelt hat, und lacht mir ins Gesicht. Das ist doch unerhört, nicht wahr, Serafina?»

«Fürwahr», murmelte Serafina. Sie hatte kaum zugehört, so sehr war sie in ihre Gedanken versunken. Bis jetzt war dieser sonnige Frühlingssonntag wundervoll gewesen. Schon kurz nach der Frühmesse bei den Barfüßern hatte sie Vitus getroffen – er hatte vor der Kirche von Sankt Martin auf sie gewartet und in seiner offenen, freundlichen Art jede der Schwestern begrüßt, bevor er sich wieder auf den Weg zu seiner Truppe gemacht hatte. Vor ihren Mitschwestern hatte Serafina ihn als ihr Schwester- und Patenkind ausgegeben. Dass er zu den Fahrenden Leuten gehörte, schien niemanden zu stören. Mutter Catharina, als Meisterin der Schwesternsammlung, hatte ihr sogar erlaubt, gemeinsam mit Grethe und Brida den Vorführungen der Straßburger Compania beizuwohnen, die mit ihren artistischen und musikalischen Künsten die Zuschauer aufs beste zu unterhalten wusste. Mit dem Spiel um die falschen Päpste zu Konstanz war der schöne Nachmittag zu Ende gegangen, und als sie eben ihren Sohn noch einmal in die Arme gezogen hatte, begann der Kummer bereits in ihr zu nagen: Morgen noch vor der Frühmesse würde er sich von ihr verabschieden, um erst im Herbst zum Martinimarkt wiederzukehren.

«Was ist? Willst du uns nicht das Tor aufschließen?» Grethe stieß sie in die Seite. Fahrig nestelte Serafina an ihrem Schlüsselbund, während Michel hinter dem Hoftor freudig und ungeduldig zugleich jaulte. Als der Torflügel endlich aufschwang, schoss das hellbraune Hündchen mit der nach oben geringelten Rute heraus und sprang an Serafina und an Grethe hoch.

«He, nicht so stürmisch», lachte Grethe und schob ihn beiseite. Der Hund gehörte seit vergangenem Sommer zu ihrem kleinen Konvent und diente ihnen als treuer Wach- und Hofhund, doch eigentlich sah er nur Serafina und Grethe als seine Herrinnen an – Serafina, weil sie ihn dereinst aufgelesen hatte, Grethe, weil diese ihm aus der Küche manch kleinen Leckerbissen zusteckte.

«Ich geh eben noch die Hühner und Ziegen füttern, dann helfe ich dir mit dem Abendessen.»

Grethe nickte ihrer Freundin zu. Während Brida sich in Richtung Haustür entfernte, sagte Grethe leise: «Sei nicht traurig wegen Vitus. Er wird wiederkommen.»

«Ich weiß.»

Serafina unterdrückte einen Seufzer, als sie, den Hund im Schlepptau, den kleinen Hof durchquerte. Grethe, die als Einzige hier um ihr Geheimnis mit Vitus wusste, hatte ja recht. Sie konnte Gott danken, dass sie ihren Sohn überhaupt wiedergetroffen hatte nach all den Jahren. Auch andere Mütter mussten ihre Söhne irgendwann hergeben, spätestens, wenn sie erwachsen wurden. Allerdings hatte sie selbst nie das Glück erfahren, ihn aufwachsen zu sehen, hatte man ihn ihr doch, als uneheliches Balg, wenige Monate nach der Geburt weggenommen und in ein Kloster gesteckt. Schon aus diesem Grund sollte sie sich über jeden Augenblick, in dem er in ihrer Nähe war, freuen und dankbar sein.

Dass Vitus schon bald weiterziehen würde, war nicht der einzige Wermutstropfen an diesem schönen Tag: Morgen nach der Frühmesse würde sie zum ersten Mal ohne Mutter Catharina, die neben ihren anderen vielfältigen Aufgaben die jährlichen Rechnungsbücher abschließen musste, ins Gutleuthaus gehen. Der Besuch bei den Aussätzigen draußen vor der Stadt, um die sie sich seit einiger Zeit kümmerten, war immer wieder aufs Neue ein schwerer Gang, und ausgerechnet Brida sollte Serafina künftig begleiten.

«Warum gerade ich?», hatte die junge Frau bei ihrer Morgenbesprechung aufzubegehren gewagt. «Und außerdem: Haben die da draußen nicht einen Kaplan für die geistliche Fürsorge? Da braucht’s uns doch gar nicht.»

«Die da draußen, wie du sie nennst», hatte die Meisterin mit ruhigem Lächeln entgegnet, «sind arme Menschenkinder, und ihre Not zu lindern ist Aufgabe eines jeden, der sich wie wir der Caritas verschrieben hat. Da ist’s nicht mit getan, wenn der Kaplan ihnen einmal am Tag die Messe liest oder die Sakramente spendet. Du solltest dir die heilige Elisabeth zum Vorbild nehmen: Die Königstochter kümmerte sich um die Ärmsten der Armen und pflegte sogar einen Aussätzigen heimlich in ihrem eigenen Bett. Ihr aufopfernder und furchtloser Umgang mit dem entstellten Kranken ist das höchste Zeugnis christlicher Nächstenliebe.»

Als Brida bei diesen Worten ihr zartes, blasses Gesichtchen verzog, hatte Serafina nicht umhin gekonnt, noch eins obenauf zu setzen. «Hast du niemals von Alberich gehört, der im Haus der Sondersiechen zu Jerusalem gedient hat? Um seine Frömmigkeit zu bekunden, hat er den Aussätzigen täglich die Füße gewaschen.» – «Und sogar», hatte Grethe mit einem mühsam unterdrückten Grinsen zugefügt, «seinen Kopf in das Schmutzwasser getaucht und davon getrunken, um seine Demut und Gottesfurcht zu beweisen. Da ist’s ja wohl ein Klacks, dreimal die Woche ins Gutleuthaus zu marschieren.»

Ganz grün war Bridas Gesicht daraufhin geworden, und fast musste Serafina lachen, als sie jetzt daran dachte.

Gerade warf sie den beiden Ziegen einen Arm voll Heu in den Trog, da begann vom Münster her die Totenglocke zu läuten. Kurz darauf hörte sie die Meisterin nach ihr rufen.

«Rasch, Serafina, lass die Tiere und komm mit zum Münster.»

Ausgehfertig in ihren langen Kapuzenumhängen über der aschgrauen Tracht, stand Catharina mit Brida, Mette und Heiltrud vor der Haustür.

«Ist jemand gestorben?» Serafina schloss den Ziegenverschlag hinter sich, tauschte ihren fleckigen Arbeitsschurz gegen den Mantel aus und beeilte sich, zum Hoftor zu kommen.

Die Meisterin schüttelte besorgt den Kopf. «Ich fürchte, es geht um unseren Gönner Konrad Kannegießer.»

«Der Bäckermeister?»

«Ja. Gestern ging das Gerücht, er sei zur Beschau ins Gutleuthaus gebracht worden, seiner fleckigen Haut wegen. Möglicherweise gilt die Totenglocke ihm, und wenn dem so ist, so sollten wir an seiner Seite sein.»

Betroffen starrte Serafina sie an. Kannegießer war ein schon etwas ältlich wirkender Mann mit schütterem Grauhaar, der sich in seiner Bäckerei krumm gearbeitet hatte und dem Serafina hin und wieder eine Kräutermischung vorbeibrachte, wenn sein Husten in der staubigen Backstube mal wieder schlimmer wurde. Ein wenig verschlossen war er, aber im Innersten ein mitfühlender Mensch, der ihre Schwesternsammlung immer wieder mit Spenden unterstützte.

«Lieber gebe ich Euch etwas als den reichen Klöstern, denn Ihr geht dorthin, wo Not ist», waren seine Worte.

Als schönste Gabe hatte er ihnen anderthalb Jahre zuvor ein fruchtbares kleines Feldstück in zinsloser Erbpacht überlassen, drüben in der Lehener Vorstadt, das Serafina nach und nach in einen blühenden Gemüse- und Kräutergarten verwandelt hatte. Neben dem halben Dutzend Hühnern und den beiden Ziegen war dies zu ihrer ureigenen Aufgabe geworden, wobei ihr zugutekam, dass sie als Kind auf dem Land großgeworden war.

«Dann hat er den Aussatz?», brachte sie entsetzt hervor, während sie hinter der Meisterin durch das halb geöffnete Tor hinausschlüpfte.

«Wir werden sehen.»

Seitdem Serafina die Meisterin bei den Besuchen im Gutleuthaus begleitete, wusste sie, was es bedeutete, wenn bei der Siechenschau das Urteil immundus et leprosus gefällt wurde: nichts anderes nämlich als das Todesurteil. Mit der Aussegnung und der Totenmesse nahm der Erkrankte sozusagen Abschied von der Welt der Lebenden – und das auf immer. Begleitet von einem Priester wurde er mit Kreuz und Weihwasser zur Kirche geführt, wo er sich während des feierlichen Gottesdienstes mit verhülltem Gesicht auf eine Bahre legen musste, bevor man ihn anschließend aus der Stadt herausführte.

Fast im Laufschritt eilten Serafina und ihre Mitschwestern zum Münster Unserer Lieben Frau. Als sie dort ankamen, öffneten sich eben die Türflügel zur Vorhalle und entließen eine kleine Prozession nach draußen: Vorweg schritt der dicke, behäbige Münsterpfarrer Heinrich Swartz mit zwei Altardienern, hinter Konrad Kannegießer folgte in gehörigem Abstand ein knappes Dutzend Menschen mit betroffenen Gesichtern. Man hatte dem armen Mann bereits alles überreicht, was ihn als Aussätzigen kenntlich machen sollte: Seine untersetzte Gestalt war in den bodenlangen, schwarzgrauen Kapuzenmantel der Sondersiechen gehüllt, der gänzlich schmucklos und wohl schon von einigen Vorgängern getragen worden war, über der Kapuze saß ein breiter Filzhut, die behandschuhten Hände hielten Klapper und Stab. Jetzt zitterten seine Hände, und er schien sich nur mühsam auf den Beinen halten zu können.

«Also doch», entfuhr es der Meisterin. Sie schlug das Kreuz, und die anderen taten es ihr nach. Wirklich elend sah der Bäckermeister aus: bleich und eingefallen das frisch barbierte Gesicht, die Augen rot gerändert und vertränt, vor allem aber waren da diese rotbraunen kleinen Flecke auf Stirn und Wangen.

Nach einem kurzen Wortwechsel zwischen dem Münsterpfarrer und Serafinas Meisterin reihten sie sich hinter dem Kranken ein, und der Zug setzte sich in Bewegung. Viele waren es nicht, die Kannegießer auf diesem schweren Weg begleiteten. Neben der laut schluchzenden Kannegießerin, die ihre kleine Tochter an der Hand hielt – ein pummeliges, etwa siebenjähriges Mädchen –, waren da nur noch der Bäckergeselle, einige Zunftbrüder und drei Ratsherren in ihrer vornehmen Amtstracht. Als Zunftmeister der Bäcker trug Ratsherr Wetzstein die Totenfahne vorweg, seine sonst so freundliche Miene war niedergeschlagen; die anderen beiden, mutmaßte Serafina, hatten wohl das hohe Amt der Gutleuthauspflege inne, womit ihnen die Rechts- und Vermögensgeschäfte des Siechenhauses oblagen. Freunde und mitfühlende Nachbarn schien Kannegießer zu dieser schweren Stunde wohl nicht mehr zu haben. Dafür mussten sie an einem Spalier von Schaulustigen vorübergehen, die den Kirchhof säumten und den armen Bäckermeister aus gehörigem Abstand begafften, als sei er eine Missbildung, die man auf dem Jahrmarkt ausstellte.

Den ganzen Weg durch die Stadt bis hinaus vor das Schneckentor betete ihre kleine Schar zusammen mit dem Pfarrer, der das Kreuz hoch vor sich her trug. Ab und an legte Mutter Catharina tröstend ihre Hand auf des Bäckers Schulter. Am Tor dann wartete eine Maultierkarre, die mit einer Bettlade und allerlei Hausrat bestückt war.

Konrad Kannegießer konnte gottfroh sein, wenigstens einen Platz im Gutleuthaus gefunden zu haben, dem Siechenhaus tausend Schritte vor der Stadt an der Landstraße auf Basel zu. Dort war immerhin für ihn gesorgt, dort war er aufgehoben in einer brüderlichen Gemeinschaft – ansonsten nämlich hätte der Stadtverweis eine einsame Wanderschaft auf Lebenszeit bedeutet. Was keineswegs als Strafe zu verstehen war. Man wusste sich nicht anders zu helfen, um die Gesunden zu schützen, und war voller Mitgefühl für die Aussätzigen – standen die «guten Leute», die «armen Kinder Gottes» durch ihr Elend dem Allmächtigen doch besonders nahe.

Das Wehklagen der Kannegießerin, die dicht neben Serafina einherschritt, war verebbt. Serafina warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Annchen Kannegießer war ungefähr in ihrem Alter, zählte nicht viel mehr als dreißig Jahre und war noch erstaunlich hübsch anzusehen mit ihren vollen Lippen, dem glatten, rosigen Gesicht und ihrer drallen Gestalt. Sie schminkte sich und kleidete sich gern ein wenig über ihren Stand, heute jedoch trug sie ein schlichtes dunkles Gewand und ein schwarzes Tuch über ihrer Haube, das sie sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Serafina hätte ihr und dem kleinen Mädchen gerne Trost zugesprochen, doch das musste warten. In dieser Stunde ging es allein um ihren Mann.

Dumpf hallten ihre Schritte auf der gedeckten Holzbrücke, die vor der Stadt über die Dreisam führte, und übertönten die Gebete, die sie jetzt nur noch leise vor sich hin murmelten. Kannegießer indessen hatte längst aufgehört zu beten. Mutter Catharina hielt sich so dicht neben ihm, dass es aussah, als würde sie ihn stützen. Tatsächlich strauchelte er, als sie nach rechts auf die Landstraße nach Basel hin einbogen, der tiefstehenden Sonne entgegen, und Catharina fing ihn am Arm auf.

Serafina fragte sich, was in Konrad Kannegießer, dem angesehenen Bäckermeister aus der Hinteren Wolfshöhle, wohl vorgehen mochte. Wahrscheinlich sah er sich geradewegs in die Hölle marschieren, und ein wenig war es das auch, das Leben der Siechen draußen auf dem Felde, außerhalb der Stadt.

Kapitel 2

Am nächsten Tag machte sich Serafina nach der Frühmesse und einem kargen Morgenimbiss, der jetzt zur Fastenzeit nur aus trocken Brot und Dünnbier bestand, mit Brida auf den Weg. Der Himmel hatte sich zugezogen.

Nicht weniger dunkel sah es in ihrem Innersten aus. Der Abschied von Vitus war kurz und tränenreich gewesen. Noch in der Morgendämmerung hatte er an das Tor von Sankt Christoffel geklopft, und sie hatten sich weinend in den Armen gelegen, bis Serafina ihn von sich schob.

«Jetzt geh, Vitus. Geh mit Gott und gib auf dich acht. Und komm gesund wieder zu Martini.»

Dann war sie, ohne sich noch einmal umzudrehen, ins Haus zurückgerannt, wo sich die anderen schon für die Frühmesse richteten. Auf Bridas anmaßende Frage, ob es ihr denn gar nichts ausmache, dass ihr Patenkind mit solch unehrlichem Hudelvolk durch die Welt ziehe, hatte sie nichts geantwortet, war nur stumm in Schuhe und Mantel geschlüpft. Erst als Grethe auf dem Weg in die nahe Kirche der Franziskanerbrüder nach ihrer Hand gegriffen hatte, war ihr ein wenig leichter geworden. In ihrem Herzen war Vitus immer bei ihr.

Doch nicht nur der Abschiedsschmerz plagte sie, als sie jetzt mit Brida auf das Gutleuthaus zuwanderte. Gestochen klar traten ihr wieder die traurigen Bilder vom Vorabend vor Augen. Zwischen den weitgeöffneten Torflügeln des Siechenhauses hatte Meister Ulrich Ulmer sie bereits erwartet, die Kapuze unter seinem Hut tief ins Gesicht gezogen, um die anwesenden hohen Herren nicht unnötig in Schrecken zu versetzen. Dennoch war seine knotige, fleckige Haut nicht zu verbergen gewesen. Bei seinem Anblick und erst recht angesichts der hinter ihm versammelten Krankenschar hatte Brida einen spitzen Schrei ausgestoßen, Annchen Kannegießerin und ihre Tochter hatten am ganzen Leib zu zittern begonnen, und der Bäckermeister selbst war angesichts seines Schicksals lautlos in sich zusammengesackt.

«Einen Stuhl! So hol doch einer einen Stuhl!», hatte Ratsherr Wetzstein gerufen, die Hände um das Totenbanner gekrampft. Serafina und die Meisterin hatten Kannegießer schließlich wieder auf die Beine geholfen und auf einen Holzschemel gesetzt, den einer der Kranken herausgebracht hatte, woraufhin Pfarrer Swartz ihn noch einmal gesegnet und zur Geduld gemahnt hatte: Er möge demütig sein Schicksal annehmen und in dieser seiner neuen Heimstatt ein gottgefälliges Leben führen.

«So murret denn nicht wider Gott, Konrad Kannegießer, sondern dankt ihm vielmehr von Herzen für seine väterliche Heimsuchung, denn Ihr seid zu Eurem eigenen Heil heimgesucht, seid auserwählt, schon während des irdischen Lebens Eure Sünden abzubüßen, seid den Leiden Christi näher als jeder von uns! Dass der Herr Euch an einen Ort geführt hat, an dem für Euch gesorgt ist, wird Euch Euer Kreuz und Euren Schmerz leichter ertragen lassen.»

Der arme Bäckermeister hatte nach einem Hustenanfall nur wortlos genickt, und während der Siechenmeister ihm die Hausordnung mit seinen zahlreichen Geboten und Pflichten, Verboten und Strafen verlas, waren ihm die Tränen über das Gesicht gelaufen. Längst hatte sich Brida von dem Geschehen abgewandt, sich auf die nahe Landstraße geflüchtet, und nachdem man sich kurz darauf von dem Kranken verabschiedet hatte, hatte Mutter Catharina die Neue hierfür mit strengen Worten zurechtgewiesen.

 

Serafina und Brida hatten die Dreisambrücke hinter sich gelassen und durchquerten nun die Untere Wühri. Das zu Freiburg gehörige Dörfchen, eine lose Ansammlung von niedrigen Häusern, von Scheunen und Mühlen entlang des Wühribaches, zog sich bis zum Haslacher Bann. Vor dem Brücklewirtshaus, einer üblen Spelunke, aus der schon zu dieser frühen Stunde trunkenes Gelächter drang, blieb Serafina stehen und ergriff Bridas Hand.

Nach dem gestrigen Abend ahnte sie, dass die junge Frau nicht eben geschaffen war für die schwere Aufgabe, die sie erwartete. Ja, Serafina bezweifelte sogar, ob Brida überhaupt für den Dienst am Nächsten geeignet sei. Sie war eine Halbwaise aus einem Seitenzweig derer von Stühlingen, einem verarmten Ritterhaus, das ständig in Geldnöten steckte. Vor zwei Wochen hatte ihr Vater sie der Meisterin anvertraut, da sich niemand zur Ehe gefunden hatte, und Serafina konnte sich denken, mit welchem Widerwillen sie sich dem Entschluss des Vaters gefügt hatte. Nicht nur, dass sich Brida für jegliche Schmutzarbeit in Haus und Hof zu schade war – gewiss hatten sie daheim für alles und jedes einen fleißigen Dienstboten gehabt –, es fehlte ihr auch der Wille, sich in ihre Gemeinschaft einzuordnen und den Sinn ihres kleinen Konvents zu verstehen. Serafina schwankte zwischen Ärger und Unverständnis darüber, dass ausgerechnet sie Brida von Stühlingen unter ihre Fittiche nehmen musste. Sollte die Neue doch lieber der alten Mette beim Kerzenziehen oder Heiltrud beim Wäschewaschen in den Bürgerhaushalten zur Hand gehen, um wenigstens zu ihrem Lebensunterhalt beizutragen. Und hin und wieder könnte man sie ja durchaus zu den Alten und Sterbenden mitnehmen.

Sie holte tief Luft. «Es wird dir gewiss nicht leichtfallen, mit diesen Menschen zusammenzusitzen, um zu beten und zu singen oder dir ihre Sorgen anzuhören. An ihren Anblick wirst du dich trotzdem gewöhnen müssen. Auch mich hat das anfangs einige Überwindung gekostet. Aber glaub mir, du musst keine Angst vor ihnen haben. Es ist ein Irrtum, dass man sich sofort ansteckt, wenn man sie berührt. Gefahr droht nur, wenn man mit ihnen zusammenlebt – gemeinsam isst oder trinkt oder sich im selben Wasser wäscht. Zudem haben sie strikte Anweisung, einen nicht anzuhauchen, sondern den Mund beim Sprechen wegzudrehen. Also mach dir nicht unnötig Sorgen.»

Brida sah sie aus ihren großen rehbraunen Augen an. Dann verzog sie wie ein maulendes Kleinkind das Gesicht.

«Ich wollte eigentlich gar nicht zu euch», stieß sie hervor.

«Das kann ich mir denken. Aber jetzt bist du da und fügst dich ein, verstanden?», entgegnete Serafina unwillig. Ein wenig sanfter fügte sie hinzu: «Nun komm schon. Aller Anfang ist schwer.»

Sie überquerten den Bach und erreichten bald schon die Gutleutmühle, die letzte der zahlreichen Mühlen am Weg. Hier, hinter Zenteners Tor, ging die Freiburger Gemarkung zu Ende, hier hatte das Zollhäuschen seinen Platz, dessen diensthabender Zöllner gelangweilt am offenen Gatter lehnte, hier endlich befand sich die Heimstatt der sogenannten Siechen auf dem Felde. Das Anwesen zu ihrer Linken hatte etwas Klosterähnliches: Es war gänzlich ummauert, und an das längs zur Straße gelegene Wohnhaus war im rechten Winkel eine Kapelle mit zierlichem Dachreiter angebaut. Doch anders als in den Klöstern stand die Kapelle tagsüber allen Freiburgern und Reisenden offen, und der steinerne Opferstock mit dem Almosenschüsselchen vor dem Portal lud die Barmherzigen unter ihnen zu einer kleinen Spende ein.

Das Siechenhaus selbst war zweigeteilt. Ein schweres Holztor führte zwischen zwei Gebäudeteilen in den Hof – im linken befanden sich neben Stube, Küche und Keller die Weiber- und Männerschlafsäle, im rechten die Wohnung des Siechenmeisters und seiner Frau sowie die Gästekammern für aussätzige Wanderer, die hier durchzogen und für eine Nacht aufgenommen und verpflegt wurden.

Von ihrer Meisterin wusste Serafina, dass in alten Zeiten an dieser Stelle nur eine Handvoll schäbiger Hütten inmitten der Felder gestanden hatte, doch mit Hilfe der Stadt und einiger großherziger Wohltäter war daraus nach und nach ein stattliches Anwesen erwachsen, mit Werkstätten, Scheuer und Ställen, mit eigenem Brunnen, Backhaus und Badstube. In dem weitläufigen Hof gab es einen ordentlich bewirtschafteten Gemüsegarten und einen kleinen Friedhof, und ein Eisentürchen in der hohen Umfassungsmauer führte zum hauseigenen Weinberg. Wer von den Kranken irgend konnte, arbeitete dort oder draußen auf den zugehörigen Feldern oder mochte sogar sein altes Handwerk ausüben – Beschäftigungen, die als Einziges an das frühere Leben erinnerten und vom eigenen Leid ablenkten.

Hatten gestern in der Abendsonne die unverputzten Mauern noch in freundlichem Hellbraun geschimmert, so wirkte heute an diesem trüben Tag alles düster und unnahbar. Nur einen Steinwurf entfernt, auf den Matten jenseits des Bachs, schoben sich die Umrisse der Freiburger Richtstätte mit seinem dreibeinigen Galgen in den Himmel.

Serafina gab sich einen Ruck. Entschlossen läutete sie das Glöckchen neben dem Eingang. Auf dem Schlussstein des Torbogens über ihnen prangte das Wappen mit der Klapper und gab jedem Fremden zu verstehen, dass hier die Sondersiechen lebten.

Der Meister selbst öffnete ihnen.

«Gott zum Gruße, Schwester Serafina. Wie schön, dass Ihr auch heute wieder vorbeischaut. Und Ihr müsst Schwester Brida sein, nicht wahr?»

Trotz der freundlichen Worte war Brida augenblicklich einen Schritt zurückgewichen. Anders als gestern empfing Meister Ulmer sie barhäuptig, sein halblanges Haar wies kahle Stellen auf wie bei einem räudigen Hund, noch deutlicher als am Vortag war zu sehen, wie sehr sein schwieliges, fleckiges Gesicht schon von der Krankheit gezeichnet war. Auf zehn Jahre war sein Amt vorgesehen, aber er würde schwerlich diese Zeit erfüllen können, wie er Serafina und der Meisterin einmal anvertraut hatte. Indessen wusste Serafina, dass das noch gar nichts war gegen den Anblick so manch anderer Kranker hier, und sie hoffte, dass Brida sich zusammenreißen würde.

«Gott zum Gruße, Meister Ulmer», erwiderte sie. «Sind wir zu früh, oder habt Ihr das Morgenessen schon beendet?»

«Nein, Ihr kommt gerade recht. Nur herein mit Euch, meine Schwestern und Brüder erwarten Euch schon.»

Mit bedächtigen Schritten führte sie der hochgewachsene, dürre und ein wenig krumm gewordene Mann durch die Hofeinfahrt zur Haustür, die offen stand. Von innen drang gedämpftes Stimmengemurmel an ihr Ohr.

Jetzt, nach Frühmesse und Morgenessen, waren alle in der Stube versammelt, bevor es an die Arbeit gehen würde. Ein gutes Dutzend Aussätziger lebte derzeit im Gutleuthaus, dazu die Frau des Siechenmeisters, sein Knecht, eine Magd, die auch die Einkäufe in der Stadt übernahm, sowie ein Kleinkind, das hier geboren war. Beim Anblick des Knaben schnürte es Serafina jedes Mal die Kehle zusammen: Niemals würde er mit Gleichaltrigen durch die Gassen toben, niemals eine Schule besuchen oder ein Handwerk erlernen. Und das nur, weil man glaubte, dass ein Neugeborenes den Aussatz schon in sich trug. Was aber, fragte sich Serafina, wenn der Knabe kerngesund auf die Welt gekommen war? Dann würde er sich eines nahen oder fernen Tages mit dieser teuflischen Krankheit anstecken, weil man ihn nicht ins Findelhaus gebracht hatte.

«Sie sind da! Die Neue ist da! Endlich!», hörten die Schwestern es durcheinanderrufen, als sie über die Schwelle der großen Stube traten. Die Stimmen der Siechen klangen kratzig, auch das eine Folge der Krankheit. Aufmunternd drückte Serafina Bridas Hand, dann zog sie sie mit sich hinein.

Da saßen sie, nach Frauen und Männern getrennt, in ihrer schlichten Hauskleidung am langgestreckten, klobigen Holztisch und starrten sie erwartungsvoll an: bleich, mit fleckiger Haut und entzündeten oder hervorstehenden Augen. Bei gut der Hälfte war die Krankheit schon weit fortgeschritten, und Serafina erinnerte sich wieder, wie zutiefst erschrocken sie selbst bei ihrem ersten Besuch gewesen war. Löwengesichter nannte man die, deren ledrige Gesichter voller Schwären und Knoten sich zu einer grausigen Maske gewandelt hatten, ohne Augenbrauen und Wimpern, die Lippen geschwollen und aufgeworfen, die Nase klumpig oder schon eingefallen. Dazu ragten aus etlichen Hemdsärmeln Klauenhände, deren Finger zu krummen Stumpen abgefault waren, bei anderen steckten die verstümmelten Füße in unförmigem Schuhwerk. Und hier wie überall im Haus stand der Geruch nach Verwesung in der Luft.

Dennoch – so groß ihr Elend auch war, hatten die meisten von ihnen die Hoffnung auf eine wundersame Heilung nicht aufgegeben, ganz, wie es im Neuen Testament zu lesen stand: Und siehe, ein Aussätziger kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, so du willst, kannst du mich wohl reinigen. Und Jesus streckte seine Hand aus, rührte ihn an und sprach: Ich will’s tun, sei gereinigt! Und alsbald ward er von seinem Aussatz rein.

Brida stand der Ekel ins Gesicht geschrieben.

«Ist sie hübsch, die Neue?», fragte Niklas, der Schäfer, der bereits erblindet war. Sein Nebensitzer lachte. «Noch frisch und knusprig – aber die Schönste bleibt doch unsre Schwester Serafina.»

«Halt dein vorlautes Maul, Hannes», wies die Siechenmeisterin den vierschrötigen Mann, der einst Fuhrmann gewesen war, zurecht. «Sonst zahlst einen Strafpfennig.»

Mutter Klara war die Einzige im Raum, die kerngesund schien. Sie war klein und ziemlich dick, und dass sie ihre Kranken gut im Griff hatte, hatte Serafina inzwischen erkannt, auch wenn ihr die Siechenmeisterin nicht allzu helle im Kopf erschien. Wohlgenährt waren im Übrigen die meisten, gab es doch zweimal täglich eine üppige Mahlzeit mit reichlich Fleisch, Gemüse und Wein, bis auf die Freitage sogar jetzt zur Fastenzeit. Dafür wirkte die Hauskleidung umso schäbiger und ließ nicht mehr erkennen, welchem Stand man im früheren Leben angehört hatte – für die einen ein kleiner Ausgleich an Gerechtigkeit, für die anderen, wie Bäcker Kannegießer, eine zusätzliche Demütigung. Der saß denn auch in sich zusammengesunken neben Matthis, dem Hausknecht, als Serafina an den Tisch trat.

«Gott zum Gruße euch allen und einen guten Tag.»

«Gott zum Gruße und willkommen!», schallte es in rauem Krächzen zurück.

«Wie ihr wisst», Serafina zog die widerstrebende Brida neben sich, «komme ich in nächster Zeit ohne unsere Meisterin Catharina. Dafür begleitet mich jetzt Schwester Brida, die vor kurzem unserer Schwesternsammlung beigetreten ist.»

«Die kenn ich», rief Jäcklin, den es bereits in jungen Jahren getroffen hatte und dessen nackte Unterarme zahlreiche kleine Verletzungen und eitrige Entzündungen bedeckten. «Die Brida von Stühlingen. Bei der ihrem Vater hab ich als Stallknecht gearbeitet.»

Energisch schlug Mutter Klara auf den Tisch. «Schweigst du wohl, wenn du nicht gefragt wirst? – So lasst uns jetzt das Morgenlob singen und hernach beten.»

Gesang war es kaum zu nennen, was nun aus den heiseren Kehlen drang, dafür war Bridas Stimme umso lauter zu hören, gerade so, als wolle sie gegen ihre Angst und ihr Entsetzen ansingen. Was sie fühlte, war ihrem schmalen Gesichtchen nämlich deutlich anzusehen, und Serafina konnte es ihr nicht einmal verdenken.

Anschließend beteten sie gemeinsam für die Wohltäter der Guten Leut und für die bereits verstorbenen Brüder und Schwestern sieben Paternoster, Ave Maria und Credo, bevor Serafina mit ihrer warmen Stimme aus dem Büchlein mit den Heiligenlegenden vorlas, das sie immer mitbrachte. Damit wäre ihr Besuch beendet gewesen, hätte Mutter Catharina nicht schon bald durchgesetzt, dass man sich hernach auf einem Stuhl zu den Kranken gesellte und sie nach ihrem Befinden fragte, bevor es dann für die Guten Leut hinaus an die Arbeit ging, um zwei Stunden später wieder zur Mittagsandacht zusammengerufen zu werden.

Für Brida wurde dieser Augenblick sichtlich zur Feuerprobe, hatte sie doch zuvor beim Beten und Singen andächtig die Augen geschlossen gehalten. Nun aber musste sie all den Kranken und Schwerstkranken in die Augen sehen, während Serafina sich ohne Scheu an die Runde wandte und nach dem Fortgang der Frühjahrsarbeit im Garten und in den Reben fragte, den Knaben auf den Schoß nahm oder sich erkundigte, wer von ihnen am heutigen Tag fürs Almosensammeln eingeteilt war. Mit verkrampften Händen saß Brida auf ihrem Stuhl, die Lippen zusammengepresst, die Augen starr nach vorn gerichtet. An ihrer Schläfe pulsierte ein Äderchen, und Serafina konnte hören, wie unruhig ihr Atem ging.