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Auf Burg Holderstein erlebt Antonia, was man eine ideale Kindheit nennt: Trotz des frühen Verlusts der Mutter erfährt sie als Jüngste unter vier Geschwistern ein harmonisches Familienleben. Der Höhepunkt des Tages ist für sie, den Unterrichtsstunden des Kammerfräuleins zu entkommen und mit ihrem Freund Phillip in die Natur auszureiten. Als Phillip ihr eines Tages von einem gewissen Martin Luther erzählt, der die Grundsätze der katholischen Kirche anzweifelt und dessen Flugschriften schon die Runde machen, ahnt sie noch nicht, dass ihre heile Welt in Kürze zusammenbrechen wird. Ihr wird ihr Zuhause genommen, ihr wird Phillip genommen, und sie wird zu einem Leben gezwungen, für das sie sich niemals freiwillig entschieden hätte: ein Leben im Kloster, noch dazu ein hochgefährliches. Denn längst haben sich die Bauern im Land zusammengeschlossen und bekämpfen alles, was mit dem alten Glauben zusammenhängt. Aber Antonia wäre nicht Antonia, wenn sie nicht bis zuletzt an ihrer eigenen Überzeugung festhalten würde: dass am Ende alles gut werden kann, wenn man es nur will.
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Seitenzahl: 591
Veröffentlichungsjahr: 2012
Astrid Fritz
Die Himmelsbraut
Historischer Roman
Ihr Verlagsname
Auf Burg Holderstein erlebt Antonia, was man eine ideale Kindheit nennt: Trotz des frühen Verlusts der Mutter erfährt sie als Jüngste unter vier Geschwistern ein harmonisches Familienleben. Der Höhepunkt des Tages ist für sie, den Unterrichtsstunden des Kammerfräuleins zu entkommen und mit ihrem Freund Phillip in die Natur auszureiten. Als Phillip ihr eines Tages von einem gewissen Martin Luther erzählt, der die Grundsätze der katholischen Kirche anzweifelt und dessen Flugschriften schon die Runde machen, ahnt sie noch nicht, dass ihre heile Welt in Kürze zusammenbrechen wird. Ihr wird ihr Zuhause genommen, ihr wird Phillip genommen, und sie wird zu einem Leben gezwungen, für das sie sich niemals freiwillig entschieden hätte: ein Leben im Kloster, noch dazu ein hochgefährliches. Denn längst haben sich die Bauern im Land zusammengeschlossen und bekämpfen alles, was mit dem alten Glauben zusammenhängt. Aber Antonia wäre nicht Antonia, wenn sie nicht bis zuletzt an ihrer eigenen Überzeugung festhalten würde: dass am Ende alles gut werden kann, wenn man es nur will.
Astrid Fritz studierte Germanistik und Romanistik in München, Avignon und Freiburg. Als Fachredakteurin arbeitete sie anschließend in Darmstadt und Freiburg und verbrachte mit ihrer Familie drei Jahre in Santiago de Chile. Heute lebt Astrid Fritz in der Nähe von Stuttgart. Mehr Informationen finden Sie unter www.astridfritz.de
Lena?»
Antonia ließ das Messer sinken, mit dem sie den Berg von Wurzelgemüse in feine Scheiben schnitt. Seit zwei Tagen hockte sie nun schon fast ununterbrochen in dieser muffigen Küche, während draußen der Frühling Einzug hielt, und bereitete zusammen mit der alten Köchin, ihren beiden Schwestern und dem Küchenmädchen das Osterfestessen vor.
«Lena?», wiederholte sie. «Was ist mit dir?»
Im nächsten Augenblick stieß ihre Schwester einen seltsamen Laut aus und kippte rücklings von der Bank. Reglos lag sie auf dem Boden, die Arme ausgestreckt wie der Herr Jesus am Kreuz. Ihr alabasterfarbenes Gesicht schimmerte noch heller als sonst auf den dunkelroten Tonfliesen.
Mit einem Satz war Antonia bei ihr. Magdalenas Körper fühlte sich eiskalt an.
«Sie ist tot! Herr im Himmel, sie ist tot!»
«Unsinn.» Grit, die Köchin, beugte ihre alten Knochen zu dem reglosen Mädchen hinunter, mit nachdrücklichem Ächzen, und klopfte ihm mit der flachen Hand gegen die Wangen.
«Lena, komm zu dir. Nun mach schon.»
Endlich öffnete Magdalena die Augen und begann zu lächeln. «Ich hab den Herrn gesehen», murmelte sie, dann fielen ihr die Augen wieder zu.
«Wir bringen sie nach draußen, an die frische Luft», entschied Grit. «Los, helft mir.»
Zu viert schleppten sie Magdalena aus der Küche hinaus in den Hof. Dort setzten sie sie behutsam auf die sonnenbeschienene Holzbank. Kraftlos sank Magdalenas Oberkörper zur Seite. Als sie endlich wieder bei sich war, begann sie zu weinen.
Die Köchin verzog missbilligend die Mundwinkel.
«Das musste ja so kommen. Wie kann sie es nur so übertreiben mit dem Fasten? Zum Glück hat das jetzt mit Ostern ein End’.»
«Ich hol den Vater», sagte Antonia.
«Tu das. Er soll ihr nur ordentlich den Kopf zurechtsetzen.»
Antonia rannte über den Hof und musste an sich halten, nicht im Laufschritt durch das Stalltor zu stürmen. Dort, im Halbdunkel, umstanden die Männer die junge Fuchsstute, die heute zum ersten Mal fohlen sollte. Noch war es nicht so weit, wie Antonia fachkundig erkannte. Schweißnass glänzte das Fell der Stute, über ihre Flanken glitt unablässig ein Zittern. Junker Kilian von Holderstein strich ihr beruhigend über die Nüstern, während Antonias Vater ihr die Schweifrübe in die Höhe hielt und in ihrer Spalte tastete. Neben ihm erkannte Antonia zu ihrer Freude Phillip, Kilians jüngeren Bruder. Jetzt hob er die Hand zum Gruß und lachte sie an.
«Vater, Ihr müsst kommen», stieß sie hervor, ohne Phillips Gruß zu erwidern. «Lena – sie ist umgefallen!»
«Übernimm du», wies Albrecht von Oberthann den Altknecht an und folgte Antonia hinüber zum Herrenhaus. Magdalena war mittlerweile wieder bei klarem Bewusstsein. Die Tränen liefen ihr noch immer über das Gesicht, während die Köchin versuchte, ihr einen Becher mit Gemüsebrühe einzuflößen.
Antonias Vater nahm ihr den Becher aus der Hand.
«Sie muss was Anständiges essen, Fasten hin oder her. Schlag ihr drei Eier mit Rotwein auf, danach kochst du einen Milchbrei.»
Grit nickte und verschwand im Haus.
«Und ihr beiden», wandte er sich an Antonia und deren älteste Schwester Katharina, «ihr solltet besser auf Magdalena achtgeben. Nicht dass sie heute wieder die ganze Osternacht durchwacht.»
«Mit Lena wird es immer schlimmer», sagte Antonia. Sie saß mit Phillip in dem aufgelassenen Steinbruch, der die erste Wärme der Frühlingssonne auf sie abstrahlte. Von hier, ihrem Lieblingsplatz, hatten sie einen freien Blick auf das Gestüt zu ihren Füßen und hinüber zu Burg Holderstein, die auf der anderen Seite des Tals über dem Dörfchen Unterthann und den benachbarten Weinbergen thronte. Inzwischen standen die Apfel- und Kirschbäume in voller Blüte, die Wiesen leuchteten in solch frischem Grün und Löwenzahngelb, als hätte ein Maler sie über Nacht mit neuer Farbe bestrichen. An klaren Tagen wie heute konnte man ungehindert über die Obstwiesen und Weingärten der Vorberge bis hinunter in die Rheinebene sehen, ja sogar bis zu den blauen Schatten der Vogesen. Anmutig und licht war die Landschaft hier, bevor sie, schon gleich hinter Holderstein, in den dunklen, unwirtlichen Bergwald überging.
«Seit Fastnacht hat sie nur noch Brot und Wasser zu sich genommen», fuhr Antonia fort. «Hat nicht mal an den Sonntagen richtig essen wollen. Und nachts hat sie auf dem kalten Fußboden ihre Bußübungen gemacht, bis sie zu heulen anfing.»
Phillip verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. «An Magdalena regnet’s gern, weil sie weinte um den Herrn.»
«Sei still!»
Sie konnte diesen Spruch nicht mehr hören, den die Dorfkinder oft genug der Schwester hinterhergerufen hatten – sie selbst, zu ihrer Schande, nicht selten vorneweg.
Phillip zuckte die Schultern. Schweigend beobachteten sie die Jährlinge, die zwischen den Obstbäumen übermütig ihre Kräfte maßen. Bald würde man sie von der Herde der Mutterstuten trennen.
«Hast du gewusst», Phillip kickte ein Steinchen den Hang hinab, «dass euer Vater einen Bräutigam für sie gefunden hat?»
«Was? Wer soll das sein?»
«Der Sohn des Landschreibers von Oberkirch. Ich hab gehört, wie unsere Väter darüber gesprochen haben. Im Sommer sollen sich die beiden kennenlernen.»
«Lena und heiraten! Die ist doch mit der Kirche verheiratet.»
«Das hat sie von eurer Mutter. Kilian sagt, dass eure Mutter jeden Tag in die Kirche gegangen ist und jeden Sonntag zur Beichte.»
«Mag sein. Ich kann mich an meine Mutter gar nicht recht erinnern.»
Phillip stieß sie in die Seite. «Was ist eigentlich mit dir? Hast du schon einen zum Heiraten im Auge?»
Antonia sah ihn erstaunt an. Über solcherlei Dinge hatten sie noch nie gesprochen. Phillip lächelte ein wenig verlegen, und sie stellte fest, wie schmuck er heute aussah mit seinem sauberen blau-roten Gewand und dem frischgewaschenen hellbraunen Haar, das ihm in dichten Locken bis über die Schultern fiel. Sie selbst hatte noch keine Zeit gefunden, sich vor dem morgigen Osterfest zu baden oder zu kämmen, und konnte plötzlich den Küchendunst der letzten Tage an sich riechen.
«Wann musst du wieder in die Stadt?», lenkte sie von seiner Frage ab.
«Übermorgen. Leider.»
Sein Lächeln wich einem mürrischen Gesichtsausdruck.
Antonia wusste, wie schwer es ihm jedes Mal fiel, wieder nach Offenburg zu reiten. Seit gut drei Jahren besuchte er dort die Klosterschule der Franziskanerbrüder, und so groß seine Freude am Lernen war, so litt er doch unter dem Eingesperrtsein und dem streng geregelten Tagesablauf. Wenigstens durfte er die Sonntage zu Hause verbringen, sofern er nicht zu Messdienst und Chorgesang verpflichtet war.
«Es ist ja nur noch bis zum Sommer», tröstete sie mehr sich selbst als den Freund. «Und dann sind wir die ganze Erntezeit zusammen.»
«Ja – aber was kommt danach? Danach schickt Vater mich sonst wohin. Zu irgendeinem fremden Herrn, damit ich ganz standesgemäß das Waffenhandwerk und das höfische Leben kennenlerne.»
Antonia wollte gar nicht daran denken, in welche Gefahren er sich als Knappe begeben würde, wenn er seinem Herrn beim Turnier oder Kampf zur Seite stand.
«Wir müssen zurück. Ich will mich für die Osternachtmesse richten.»
«Aber bis zum Kirchgang ist doch noch Zeit.»
«Nicht wenn wir vorher am Stall vorbeigehen. Ich möcht gern sehen, ob das Fohlen schon da ist.»
«Na gut.» Er half ihr auf die Beine. Seine Hände waren warm und kräftig. «Lass uns wetten, ob es eine Stute oder ein Hengst wird. Ich sage: Hengst.»
Sie musste lachen. «Da bleibt mir ja nur noch die Stute. Um was wollen wir wetten?»
«Wer gewinnt, darf sich was wünschen.»
«Und was wünschst du dir?», fragte sie neugierig.
«Einen Kuss.»
Wenn Antonia behauptete, sie könne sich kaum noch an ihre Mutter erinnern, entsprach das nicht ganz der Wahrheit. Zwar war sie erst sechs Jahre alt gewesen, als ihre Mutter im Kindbett mitsamt dem Neugeborenen verstorben war, aber eines hatte sie tatsächlich noch heute vor Augen: wie die Mutter jeden Morgen in aller Frühe in Richtung Dorfkirche verschwand – mit Magdalena an der Hand, bei Eis und Schnee, bei Sturm oder strömendem Regen. Weder ihre älteste Schwester Katharina noch sie selbst hätte daran Gefallen gefunden, und Bernward, ihr Bruder, gleich gar nicht, der damals schon ein hoch aufgeschossener Junge von zwölf, dreizehn Jahren gewesen war. Magdalenas große hellblaue Augen indessen hatten jedes Mal zu strahlen begonnen, wenn die Mutter, mit engelsgleichem Gesicht, die Hand nach ihr ausgestreckt und gesagt hatte: «Komm, gehen wir zum lieben Gott.»
Zu jener Zeit musste es auch gewesen sein, dass Magdalena erstmals in diese seltsamen Zustände geriet. Das konnte bei Tisch geschehen, bei der Handarbeit oder sogar mitten im Gehen. Es sah aus, als würde sie die Luft anhalten, dann entspannten sich ihre Züge, der Blick ging ins Leere, und ihr Antlitz mit der hellen Haut, dem fein geschwungenen Mund und der geraden Nase unter der hohen Stirn schien wie verklärt von einem jenseitigen Licht. In diesen Momenten der Entrückung mochte man sie ansprechen oder berühren, wie man wollte – für die Welt war sie etliche Atemzüge lang nicht mehr erreichbar.
Antonia erinnerte sich noch genau, wie ihr Vater, ansonsten ein gutmütiger Mensch, einmal beim Sonntagsessen nach dem Kirchgang die Faust auf die Tischplatte hatte krachen lassen.
«Willst du uns zum Narren halten, oder was? Ich habe dich etwas gefragt und erwarte gefälligst eine Antwort.»
Magdalena war bei dem Faustschlag zusammengezuckt und hatte zu weinen begonnen.
«Es tut mir leid, Vater. Ich hatte Euch nicht gehört.»
Am Ende hatte Albrecht von Oberthann noch einen lautstarken Streit mit ihrer Mutter vom Zaun gebrochen, vor den Augen der Kinder und des Gesindes, und dabei seiner Frau vorgeworfen, sie mache das Kind mit ihrem Glaubenseifer noch völlig verrückt. Magdalena solle sich gleich ihren Schwestern in den Tugenden der Haushaltsführung üben und den Kirchgang auf die Sonn- und Feiertage beschränken. Ansonsten werde er sie, wenn das mit ihrer Schwarmgeisterei so weitergehe, in ein fremdes Frauenzimmer geben.
Doch Antonias Schwester ließ sich nicht beirren und trug fortan ihren vollen Namen Maria Magdalena wie eine Bestimmung. Was Antonia einigermaßen lächerlich fand, schließlich hörte sie auf diesen Namen einzig und allein deswegen, weil sie am Magdalenentag getauft worden war. Jedenfalls durfte sie künftig niemand mehr Lena nennen, außer Antonia.
Nach Mutters Tod, über den Magdalena von allen Geschwistern am wenigsten hinwegkam, hatte sie sich nur noch mehr in den Glauben vertieft. Sie ging weiterhin täglich zur Kirche, und an den Hochfesten verteilte sie an vorbeiziehende Bettler kleine Almosen vor dem Tor des Gestüts, ohne die alte Köchin oder den Vater um Erlaubnis zu bitten. Anstatt mit den anderen Kindern beim Blindekuhspiel, Fangen oder Verstecken herumzutoben, kauerte sie nach der Arbeit unter der Linde im Hof und erfand ihre eigenen Spiele. Aus Hölzchen und Steinchen wurden Eroberer und Glaubensstreiter, die den Sarazenen im Morgenland oder den Wilden in der neuen Welt Gottes Wort nahebrachten. Hin und wieder überredete sie Antonia dazu mitzumachen, wenn sie sich, mit einem Blumenkranz auf dem umschleierten Kopf, in eine Jungfer von hohem Geblüt verwandelte, die in fernen Ländern gegen böse Barbaren kämpfte und am Ende den Märtyrertod erlitt. Wobei Antonia abwechselnd die Rolle des Barbaren oder des edlen Kreuzritters geben musste und dies anfangs sogar mit einiger Begeisterung tat.
Einmal waren sie hierzu ins Land der Mauren gewandert, von dem Magdalena wusste, dass es hinter den Schwarzwaldbergen lag, waren das Tal hinaufmarschiert, bis sie vom Weg abkamen und in den dunklen Tann gerieten. Oben bei der alten Wolfskapelle waren sie von der Dunkelheit überrascht worden. Hatten sich zu Tode gefürchtet vor dem spitzbärtigen Moospfaffen, der hier in den Wäldern nachts herumgeisterte mit seinem Pilgerstab und moosbewachsenen Hut, und erst recht vor den Wölfen, deren schauerliches Geheul sie schon bald überall zu hören glaubten.
Vielleicht hätten sie nie wieder heimgefunden, hätte Bernward sie nicht aufgespürt. Beide waren inzwischen vollkommen durchgefroren und Magdalena fast verrückt vor Angst. Sowohl von Grit als auch von ihrem Vater hatten sie hierauf jede zwei saftige Maulschellen geerntet, und Magdalena hatte ein neues, weniger gefährliches Spiel erfunden: das Spiel um den gottesfürchtigen und entbehrungsreichen Alltag von Nonnen, Mönchen und Einsiedlern. Bevorzugter Schauplatz hierfür war der feuchtkalte Gewölbekeller, in dem der Wein lagerte, oder der kleine Kuhstall, der tagsüber leerstand.
So herzlich Antonia ihrer um ein gutes Jahr älteren Schwester zugetan war (weit mehr als Katharina, der Ältesten), verlor sie an diesen frommen Anwandlungen doch irgendwann den Spaß und spielte wieder mehr mit den anderen Kindern. Das war denn auch die Zeit gewesen, da Antonia sich lustig zu machen begann über Magdalena und sich hin und wieder an die Spitze der Dorfkinder setzte, um ihrer zu spotten. Das tat ihr zwar hinterher jedes Mal aufrichtig leid, und sie entschuldigte sich bei ihrer Schwester, doch bereits deren sanfte, gütige Art, diese Entschuldigung anzunehmen, vermochte Antonia zu den nächsten Schmähworten zu reizen.
Mit etwa zwölf Jahren dann empfing Magdalena erstmals den «Gruß», den himmlischen Gnadenerweis. Antonia glaubte sich zu erinnern, dass das im Hungerwinter des Jahres 1517 gewesen war, nachdem Gewitter, heftige Stürme und sintflutartiger Regen überall im Lande die Ernten verdorben hatten. Nicht wenige Bauern waren schon ins Ungarische ausgewandert, andere versuchten mit Holzdiebstahl und Wilderei zu überleben. Drüben im Wirtembergischen, hieß es, lasse der grausame Herzog Ulrich solchen Frevlern die Augen ausstechen.
Auch in der Haushaltung des Ritters und seines Gutsverwalters wurde das Getreide knapp, und die Erwachsenen schritten mit sorgenvoller Miene einher. In jenen Wochen zog sich Magdalena, kaum hatte sie ihre Arbeitspflichten hinter sich gebracht, in die Schlafkammer zurück, um in Kälte und Dunkelheit ihre Gebete zu verrichten. Dort fand Antonia sie eines Abends. Im Schein der Handlampe stand Magdalena vor ihr mit dem Rücken zur Wand, gänzlich nackt, mit ausgebreiteten Armen und einem verzückten Lächeln auf dem Gesicht. Aus ihren halb geöffneten Lippen stiegen Atemwölkchen in die eisige Luft.
«Was tust du da?», rief Antonia erschrocken. «Du holst dir ja den Tod!»
«Mir ist nicht kalt», erwiderte sie leise. «Denk dir, Antonia, ich war an einem unsagbar wonnevollen Ort. Da war ein Licht, und es ist durch all meine Adern geflossen. In diesem Licht hat der Allmächtige zu mir gesprochen, ich habe seine Offenbarung mit allen Sinnen erfahren dürfen, habe ihren süßen Duft sogar auf der Zunge schmecken können.»
Antonia zog sie entgeistert in ihr gemeinsames Bett und deckte sie bis zum Hals zu.
Von diesem Tag an blieb Magdalenas einziges großes Ziel, erneut mit Gott ins Gespräch zu kommen. Dass ihr Vater sie über all dem doch nie fortgeschickt hatte, trotz seiner Drohung, verwunderte Antonia. Vielleicht lag es daran, dass er meinte, ihre Glaubensinbrunst würde sich wieder legen. Ganz sicher aber daran, dass er seine drei Töchter allesamt inniglich liebte – Magdalena vielleicht noch ein klein wenig mehr als die anderen, da sie so sehr seiner viel zu früh verstorbenen Frau glich, in ihrem zarten Körperbau, den hellblauen Augen, dem feinen, blonden Haar, das in der Sonne golden glänzte.
Auch wenn Magdalenas Glückseligkeit im Glauben echt schien, so hätte Antonia sie doch niemals darum beneidet. Viel zu sehr hing sie am diesseitigen Leben, an diesem Leben in Freiheit und voll kindlicher Freuden, dazu in einem Landstrich, der wahrlich vom Herrgott begnadet war. Hier in den Vorbergen des Schwarzwalds waren die Winter kurz, wenn auch schneereich, was zu herrlichen Schlittenfahrten verlockte; das Frühjahr trieb einen hinaus in die blühenden Wiesengründe, die schattigen Täler waldaufwärts boten in den warmen Sommermonaten willkommene Abkühlung; im Herbst endlich wurden die Trauben in den Rebgärten prall und saftig, und die Äste der Obstbäume bogen sich unter ihrer Last an Zwetschgen, Äpfeln und Birnen. Jedes Jahr verdarben Phillip und Antonia sich in ihrer Gier den Magen, doch jedes Jahr aufs Neue war die Verlockung zu groß.
Nein, sie hätte ihr Leben mit niemandem tauschen mögen. Und auch jetzt, an diesem sonnigen Tag vor Ostern, fieberte sie nichts mehr entgegen als der warmen Jahreszeit auf diesem schönen Fleckchen Erde, das ihre Heimat war. Die einzige Enttäuschung an diesem Tag war gewesen, dass das Fohlen als Stute zur Welt gekommen war. Zu gern hätte sie erfahren, ob es Phillip ernst gewesen war mit seinem Kuss.
Der sonntägliche Kirchgang vom Gestüt hinunter ins Dorf, das auf der anderen Seite des Bachlaufs lag, glich jedes Mal fast einer Prozession. Vorweg schritt Magdalena, zwischen ihrem Vater und dem Kammerfräulein von Fleckenstein, das nach dem Tod der Mutter die Erziehung der Mädchen und die Aufsicht über das Gesinde übernommen hatte. Hernach folgten Grit mit Katharina und Bernward, falls er denn zu Hause weilte, das Küchenmädchen mit der Hofmagd und der Wäscherin, dann der Hufschmied, der Sattler, die beiden Pferdeknechte. Als Letztes marschierte Antonia mit Phillip, der es sich nicht nehmen ließ, den doch beträchtlichen Umweg über das Gestüt zu nehmen, um Antonia abzuholen. Mitunter hatte er seinen Bruder Kilian und seine kleine Schwester Almuth, ein verwöhntes Gör, im Schlepptau, doch am liebsten war es Antonia natürlich, wenn er allein kam. Dann trödelten sie, bis der Abstand zu den anderen immer größer wurde, und erreichten das Portal der kleinen Kirche erst beim letzten Glockenschlag. Dort knuffte Phillip sie freundschaftlich, um eiligst in der Seitenpforte zu verschwinden, von der man in die herrschaftliche Empore gelangte.
An diesem Sonntag nach Ostern wartete sie indessen vergeblich darauf, dass Phillip sie abholte. Auch den folgenden Sonntag kam er nicht, stattdessen erschien Kilian. Von ihm erfuhr sie die Gründe für Phillips Abwesenheit – besser gesagt, musste sie ihm wie immer jeden Satz aus der Nase ziehen.
«Letzten Sonntag hatte er Altardienst.»
«Und heute?»
«Zwei Tage Karzer.»
«Was?»
«Er hat in der Schulstunde Widerworte gewagt. Gegen seinen Magister.»
«Was hat er denn gesagt?»
Kilian zuckte die schmächtigen Schultern.
«Irgendwas gegen den Ablasshandel. Mehr weiß ich auch nicht.»
Den Rest des Weges trotteten sie stumm nebeneinander her, unter einem grauen Himmel, aus dem es zu nieseln begann. Antonia hatte plötzlich das untrügliche Gefühl, dass ihre Kindheit im Begriff war, zu Ende zu gehen. Und damit jene unbeschwerte Zeit, die sie zusammen mit Phillip verbracht hatte.
Von klein auf waren sie beide, nicht anders als alle Kinder aus Unterthann und von den umliegenden Höfen, durch die Natur gestromert, barfuß, mit schmutzigem Gesicht und Dreck unter den Fingernägeln. Später dann, zu Pferd, hatten sie den Umkreis ihrer Streifzüge erweitert. Hatten im Wald wilde Tiere aufgespürt, Bachläufe zum Baden aufgestaut oder sich gemeinsam vor der schönen, weiß gewandeten Waldfrau Melusine gegruselt, die in den Abendstunden durch das Unterholz spukte und auf Erlösung harrte.
Antonia konnte sich nicht erinnern, dass sich ihr Vater je Sorgen um sie gemacht hätte. Schließlich befand sie sich in der Obhut von Phillip, der um zwei Jahre älter war, und vermochte zu reiten wie ein Kerl. Kilian hatte es ihr auf einer alten, erfahrenen Stute beigebracht – Kilian, der Seltsame, der Eigenbrötler, der ohne Worte mit den Pferden sprach und abgesehen von der Reiterei rein gar nichts auf ritterliche Stärken und Eignungen gab. Als Knabe hatte sein Vater ihn zu den Cisterciensern nach Tennenbach bringen wollen, aber er hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt. Kilian gehörte zu der Sorte Mensch, der weder Feinde noch Freunde hatte und auch niemanden zu brauchen schien, solange er nur bei seinen Pferden sein konnte. Die Einzigen, denen er sich hin und wieder anschloss, waren Phillip und Antonia.
Auch wenn sie am liebsten mit Philipp allein war, hatte Antonia nichts dagegen, dass Kilian sie bei ihren Ausritten begleitete, da sie ihn in seiner seltsamen Art mochte. Schweigsam, dabei höchst aufmerksam, pflegte er neben ihnen herzureiten und spürte dabei die wundersamsten Dinge auf: eine Höhle, einen Dachsbau, eine unbekannte Quelle, ein Rudel Rotwild im Dickicht des Waldes. Er und Phillip waren Antonia im Laufe der Kindheit zu älteren Brüdern geworden, viel mehr noch als Bernward, ihr leiblicher Bruder, zu dem der Altersunterschied sehr groß war.
Zu ihrem Glück waren weder Phillip noch seine beiden Brüder Kilian und Wieghart, wie bei vielen Rittern noch immer üblich, mit dem siebten Lebensjahr als Pagen an den Hof hoher Herren geschickt worden. Reichsritter Markwart von Holderstein konnte die Hilfe seiner Söhne auf der Burg und auf seinem Gestüt nicht entbehren, außerdem wäre eine Ausbildung in der Fremde zu kostspielig geworden. So wurden sie von einem jungen fahrenden Ritter mit Namen Egino zu Hause erzogen.
Als Kind war sie oft mit dabei gewesen, wenn Phillip und Kilian ihre Leibesübungen in der Vorburg oder auf den Wiesen hinter dem Dorfweiher durchführten. Dabei ging es anfangs vor allem um körperliche Ertüchtigung, um tägliches Laufen, Schwimmen und Ringen; auch Steinwurf und Faustkampf gehörten dazu. Später mussten sie sich in den Reitkünsten und im Bogenschießen für die Jagd vervollkommnen oder lernen, wie man Vogelfallen aufstellte und mit Jagdhunden umging.
Bei den weniger kämpferischen Übungen erlaubte Egino hin und wieder, dass Antonia teilnahm. In den Erholungspausen setzten sie sich dann unter einen Baum oder in die Schutzhütte am Weiher, lauschten alten Ritter- und Heldensagen oder Eginos Gesang und Saitenspiel. Kilian hatte sich übrigens schon sehr bald als äußerst begabt im Lautenschlagen gezeigt, während Phillip das Instrument reichlich unbeholfen handhabte und mit seinem misstönenden Gesang eher Lacherfolge erntete als Beifall.
Vielleicht waren es gerade diese Jahre gewesen, die ihre Bande vor allem zu Phillip immer enger hatten werden lassen. Jetzt musste sie schmerzhaft erkennen, dass diese Zeit dem Ende zuging.
Auf dem Kirchhof verabschiedete sich Kilian.
«Warte noch.» Antonia hielt ihn am Arm fest. «Weißt du vielleicht, wohin Phillip nach dem Sommer gehen wird?»
Er schüttelte den Kopf. «Nein.»
«Warum musst du eigentlich nicht fort, zum Dienst als Knappe? Du bist doch zwei Jahre älter als Phillip.»
«Weißt du es denn nicht?»
«Nein, was?»
«Ich soll eines Tages die Pferdezucht übernehmen. Dein Bruder Bernward will nicht, obschon es an ihm wäre, in die Fußstapfen eures Vaters zu treten.»
Unwillkürlich blickte Antonia hinüber zum Kirchenportal, wo Bernward gerade auf ihren Vater, den er inzwischen um Kopfeslänge überragte, einredete. Dass ihr Bruder nicht allzu geschickt mit Pferden umging, war ihr schon früh aufgefallen. Vor vier Jahren nun hatte er dem Vater tatsächlich die Erlaubnis abgerungen, an der Artistenfakultät zu Freiburg zu studieren, hatte ihm aber versprechen müssen, nach dem Magister heimzukehren. Ganz offensichtlich wollte Bernward dieses Versprechen nun brechen, was auch die gereizte Stimmung zwischen Vater und Sohn bei Bernwards letzten Besuchen erklärte.
«Dann kommt er nicht zu uns zurück?»
«Nein.»
«Was soll das heißen?»
«Er bleibt an der Universität, will die Medizin studieren. Hat sogar eine Empfehlung von einem berühmten Professor dort, den mein Vater kennt. Ein gewisser Bernhard Schiller von Herdern.»
Nach dieser ungewöhnlich langen Rede verschwand Kilian in Richtung Seitenpforte.
Antonia sah ihm nach. Ihre Stimmung an diesem verregneten Sonntag war nun vollends verdorben. Alles um sie herum löste sich auf, nichts schien mehr Bestand zu haben: Ihr großer Bruder würde im fernen Freiburg bleiben, bald würde Phillip fortgehen, und Katharina sollte demnächst heiraten. Ja, sogar Magdalena war offenbar schon ein Bräutigam zugedacht, und sie selbst war wahrscheinlich als Nächstes an der Reihe.
Am dritten Wochenende nach Ostern kam Phillip endlich wieder nach Hause, diesmal bereits am Sonnabend gegen Nachmittag. Er platzte mitten hinein in die Vorbereitungen zu einem Festessen: Katharinas Bräutigam und dessen Vater hatten sich angesagt, wollten sogar über Nacht bleiben und am nächsten Morgen das Hochamt mit ihnen besuchen. Der Unterricht bei Fräulein von Fleckenstein war eigens wegen der Gäste abgesagt, stattdessen halfen die Schwestern, den Wohnraum auf Hochglanz zu bringen. Sie kehrten das alte Stroh vom Fußboden, entfernten die Spinnweben aus den Ecken und polierten das Essgeschirr, während die Mägde körbeweise Eier und Gemüse in die Küche schleppten. Von dort drang schon ein verführerischer Bratenduft heraus. Alles sollte vom Feinsten sein und blitzen und strahlen, wenn Katharinas Zukünftiger eintraf. Und schon bald danach, zu Pfingsten, war für Magdalena der Oberkircher Land- und Gerichtsschreiber Birkelnuss mit Frau und Sohn bei ihnen eingeladen – ihrem Vater konnte es plötzlich gar nicht schnell genug gehen, seine Töchter zu verheiraten!
Es war das Kammerfräulein, das Phillip auf sein stürmisches Klopfen hin die Tür öffnete und eintreten ließ.
«Ah, der Junker von Holderstein! Wenn Ihr zum Hausherrn wollt – der ist im Pferdestall.»
«Ich wollte eigentlich zu Antonia.»
Phillip strich sich das vom Wind zerzauste Haar aus dem Gesicht und schenkte Antonia, die gerade den riesigen Eichenholztisch mit Baumöl einrieb, ein Lächeln.
Das Fräulein runzelte die Stirn.
«Ihr kommt etwas ungelegen, Junker Phillip. Wir erwarten den Kaufherrn Wertheimer zu Besuch, mit seinem Sohn. Da brauchen wir jede Hand.»
Antonia ließ den Lappen sinken und verzog das Gesicht. Wenn es nach Fräulein von Fleckenstein ging, kam Phillip immer ungelegen. Das Fräulein missbilligte nämlich ihre Freundschaft zutiefst, da Antonia ihrer Ansicht nach aus dem Alter heraus war, mit einem jungen Burschen durch die Gegend zu ziehen. «Unschicklich» nannte ihre Lehrerin und Erzieherin das.
Ungeduldig trat Phillip von einem Bein aufs andere. «Bitte, nur auf eine Stunde. Die Pferde stehen schon gesattelt vor der Tür.»
«Ich werde Vater fragen», beschied Antonia und schlüpfte an dem Kammerfräulein vorbei zur Tür hinaus.
Keine Viertelstunde später saßen sie beide im Sattel und trabten zum Tor hinaus.
«Was für eine sauertöpfische Kuh», schimpfte Antonia.
Phillip lachte. «Sie muss eben auch ihre Pflichten tun. Erst recht, wenn sich hoher Besuch ansagt.»
«Hoher Besuch!» Antonia schnaubte. «Eingebildete Spieß- und Schildbürger sind das, dieser Wertheimer und sein Sohn. Das dritte Mal schon kreuzen sie hier auf.»
«Dann muss es ja ernst sein mit den Heiratsabsichten.»
«Leider. Ich würde Katharina was Besseres gönnen als diesen Adalbert. Hast ihn mal gesehen? Ein aufgeblasener fetter Kerl ist das, und hält sich dabei für das schönste Mannsbild von Offenburg.»
«Ich kenne die Wertheimer-Sippe. Wir beliefern sie mit Wein. So schlecht hat es deine Schwester mit denen gar nicht getroffen.»
Antonia biss sich auf die Lippen. Genau so dachte Katharina auch. Die freute sich jetzt schon auf ihr künftiges Leben in der Reichsstadt Offenburg, wo die Wertheimers eines jener vornehmen, in bunten Farben verputzten Patrizierhäuser an der Marktstraße bewohnten und wo ihrer Meinung nach mehr Abwechslung geboten wurde als in ihrem stillen Tal. Oft genug hatte ihre Schwester gejammert, was für ein elendes Bauernleben sie hier führten, auf diesem Hof, wo im Haus die Hühner umherflatterten und es draußen nach Schweine- und Pferdemist stank. Wo sie als Haustochter nicht viel mehr als eine Küchen- und Hausmagd war und nachts auch noch mit dem Kammerfräulein das Bett teilen musste. Dabei war Katharina undankbar. Sie konnte schließlich froh sein, nicht oben auf der engen, zugigen Burg zu leben, wo im Hochsommer das Wasser versiegte und im Winter der eisige Bergwind durch die Fensterlöcher pfiff. Oder im Dorf, in einem der windschiefen, armseligen Häuschen hinter dem Palisadenzaun, wo nach starken Regenfällen alles in Matsch und Tierkot versank. Sie bewohnten immerhin ein Steinhaus, in dem es unter dem Dach sogar zwei Schlafkammern gab und für das Gesinde eigens einen Raum über den Stallungen. Und überhaupt stank es hier gar nicht, schon gar nicht nach Schweinen, denn sie hatten nur Hühner, ein Joch Ochsen und zwei Milchkühe. Und der Pferdemist duftete wunderbar nach Heu.
«Was schaust du so grimmig?» Phillip lenkte seinen glänzenden Rappen auf den Feldweg, der kurz vor dem Bachübergang in Richtung Wald führte. «Machen wir am besten die kleine Runde zum Drachenfels. Wir haben deinem Vater versprochen, dass wir bald zurück sind.»
Vom Rheintal wehte ein feuchtkalter Wind herauf, und Antonia zog sich die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf.
«Musstest du wirklich in den Karzer?»
Phillip winkte ab. «Nur für zwei Tage. Ich hab’s überlebt, wie du siehst.»
«Aber – was hast du so Schlimmes getan?»
«Ich hab mich mal wieder mit dem Bruder Magister angelegt.»
«Und warum?»
«Nun ja, ich hatte ihm gesagt, dass der Ablassbrief nicht dem Seelenheil des Käufers dient, sondern dem Protz und Prunk der päpstlichen Paläste. Außerdem ist es wider die Heilige Schrift, dass klingende Münzen statt frommer Werke den Sündenerlass bewirken sollen.»
«Das hast du wahrhaftig gesagt?»
«Es entspricht der Wahrheit. Das ewige Seelenheil darf kein Geschäft sein zwischen Mensch, Kirche und dem Herrgott. Gottes Gnade ist vielmehr ein Geschenk an den, der glaubt.»
Antonia brachte ihr Pferd zum Stehen. In ihrem Kopf begann es zu schwindeln.
«Wie kommst du nur auf solche Gedanken? Das ist Lästerung gegen den Papst und die heilige Kirche.»
«Es sind die Gedanken eines klugen Mannes. Er heißt Martin Luther, ein Augustinermönch und Bibelgelehrter. Überall in den Städten machen Flugschriften von ihm die Runde, in deutscher Sprache fürs Volk geschrieben. Leider haben sich seine Traktate noch nicht bis hierherauf verirrt. In der Stadt sind sie an jeder Ecke für fünf Weißpfennige zu haben.»
«Du machst mir Angst. Wer solcherlei Dinge ausspricht, begibt sich in Gefahr. Du siehst doch selbst: Nur ein paar Worte, und du landest im Karzer.»
Philipp grinste breit. «Oder in der Freiheit.»
Er trabte seinen Rappen an und bog in ein kleines, mit Waldmeister bestandenes Seitental ab. Im Mai war es hier, als würde man auf einem weißen Teppich wandeln.
«Das verstehe ich nicht!» Antonia hatte Mühe aufzuholen.
«Ich sag’s dir oben. Lass sehen, wer zuerst am Drachenfels ist.»
Damit gab er seinem Pferd die Sporen und preschte los. Mit seinem kräftigen, großen Rappen konnte Antonias zierliche Stute kaum mithalten, sosehr sich das Tier auch mühte aufzuholen und so lauthals Antonia es auch anfeuerte. Bis auf Schweifhöhe arbeitete die Stute sich am Ende immerhin an den Rappen heran, doch da hatten sie bereits die kleine Hochfläche unterhalb des Drachenfelsen erreicht.
Schnaubend fielen die Pferde in Schritt.
«Das ist ungerecht», keuchte Antonia. «Wenn du nicht so schnell losgaloppiert wärest und der Weg nur ein bisschen länger gewesen wäre, dann hätte ich dich überholt.»
«Wenn, wenn …» Phillip glitt vom Pferd. «Lassen wir sie ein wenig grasen.»
Antonia tat es ihm nach und tätschelte der Stute den Hals. «Und jetzt sag mir, was du mir sagen wolltest.»
«Erst krieg ich einen Kuss. Ich hab das Wettrennen nämlich gewonnen.»
«Das war nicht ausgemacht.»
«Trotzdem.»
Er baute sich dicht vor ihr auf und schloss die Augen. Seine Wangen waren erhitzt von dem scharfen Ritt.
Nur einen winzigen Moment zögerte Antonia. Ihr Herz klopfte heftig, als sie seine Lippen mit ihrem Mund berührte. Sie waren viel weicher, als sie gedacht hatte.
Sie trat einen Schritt zurück.
«Jetzt erzähl.»
Phillip öffnete langsam die Augen und strahlte sie an.
«Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich hatte nach meinem Arrest beim Vorsteher antreten müssen. Dem hab ich gesagt, dass ich die Schule verlassen will, und damit war er mehr als einverstanden.»
«Das heißt – du musst nicht wieder zurück?»
«Ja. Genau das heißt es.»
Da küsste sie ihn, ohne nachzudenken, ein zweites Mal.
Phillip hätte vor Glück sogar den Knecht umarmen mögen, der ihm vor dem oberen Burgtor die beiden Pferde abnahm. Drei Wochen lang hatte er sich über den versäumten Kuss zu Ostern gegrämt, hatte gegrübelt, warum sich Antonia bei der Wette um das Fohlen so etwas Albernes wie einen Kranz aus Wiesenblumen gewünscht hatte.
Heute nun war das Versäumte mehr als wettgemacht, auch wenn es nur ein allzu kurzer Augenblick der Wonne gewesen war. Wie zart und warm sich ihre Lippen angefühlt hatten, wie wunderbar ihre Haut nach Wind und irgendwie auch nach Waldmeister geduftet hatte! Zugleich verwirrte ihn, dass er in jenem Moment das Verlangen nach mehr verspürt hatte, danach, sie ganz und gar zu umfassen, ihren schlanken und dennoch kraftvollen Körper in den Armen zu spüren. Bislang hatte er Antonia wie eine Schwester betrachtet, mit der er so vieles teilen konnte: seine Liebe zu Wald und Flur, seine Gedanken, seine Ängste und Ärgernisse. Jetzt aber war etwas Neues hinzugekommen, etwas, wovon Antonia ganz sicher nichts ahnte.
Dabei hatte sich seine Freundin aus Kindertagen eigentlich gar nicht verändert in ihrer neugierigen, manchmal auch ungestümen Art – außer vielleicht dass ihr Körper sich ein klein wenig zu runden begann und ihre Beine noch länger geworden waren. In seinen Augen war sie auf betörende Weise zu einer jungen Frau geworden. Wie bildschön sie aussah mit ihrem dunklen rotbraunen Haar, das sich kräuselte, wenn sie es nicht jeden Morgen glattzog, mit ihrer leicht nach oben gebogenen Nase, auf die die Junisonne jedes Jahr winzige Sommersprossen zu zaubern begann, mit ihren vollen Lippen, die ebenso herzhaft lachen wie spöttisch grinsen konnten. Mit das Schönste aber waren ihre tiefgrünen Augen. Wie das Wasser eines Waldweihers an einem wolkenlosen Tag schimmerten sie. Dass er nun die ganze Frühjahrs- und Sommerzeit mit ihr würde verbringen dürfen war fast mehr an Hochgefühl, als er ertragen konnte.
Eilig durchquerte er den Burghof, sprang die steilen Holzstufen zum Eingang des Palas hinauf und stieß die Tür auf. Aus dem Vorraum schlug ihm kalte Luft entgegen, kälter noch als draußen. Er zögerte kurz. In der Hand hielt er das Entlassungsschreiben des Klostervorstehers. Sein Vater, den er bei seiner Ankunft heute Mittag nicht angetroffen hatte, würde hierüber keineswegs erbaut sein. Ach was, dachte Phillip, das soll mich nicht scheren. Was hatte der Unterricht noch für einen Sinn? In der lateinischen Grammatik kannte er sich inzwischen fast besser aus als der Bruder Magister selbst, und nicht zuletzt würde man nun ein gutes Sümmchen an Schulgeld einsparen – ein Vorteil, der bei seinem sparsamen Vater noch immer gezählt hatte.
Phillip betrat den Saal. Die Steinbank der Fensternische, in der um diese Zeit seine Mutter zu sitzen pflegte, mit einer Wolldecke bis über die Hüfte, war leer. Und auch sonst war niemand im Raum bis auf den Hausknecht, der das Feuer im Kamin schürte.
«Geht es meiner Mutter wieder schlechter?»
«Ja, Herr. Sie liegt im Bett.»
Es war nichts Neues, dass sich seine Mutter mitten am Tag in ihre dunkle Kammer zurückzog. Niemand nahm es mehr so recht ernst, wenn sie über all ihre Zipperlein klagte. Mal zwickte es hier, mal brannte es dort, heute konnte sie ihre Finger nicht mehr bewegen, morgen ihren Hals. Weder der Dorfbader noch der studierte Offenburger Stadtarzt, der hin und wieder vorbeischaute, vermochten die Ursachen ihres Leidens zu finden. Und so schrieb man es letztendlich ihrem schwarzgalligen Gemüt zu, das seit Almuths Geburt von ihr Besitz ergriffen hatte.
«Ist mein Vater immer noch unten in der Mühle?»
«Ja, Herr. Aber zum Essen will er zurück sein.»
Phillips Blick fiel auf die goldenen Sporen und den Kampfgürtel seines Vaters, die neben dem Kamin an der Wand hingen und dort verstaubten – nutzlos gewordene Insignien seiner Ritterwürde. Jedes Mal, wenn er sie betrachtete, tat ihm sein Vater leid. Der verwand nur schwer, dass ihr Dasein in nichts mehr dem ihrer Ahnen glich, die noch ganz im Glanz ritterlicher Lebensart zu großartigen Tanzfesten und Turnieren geladen hatten. «Die alte Ritterseligkeit ist vorbei», pflegte er in letzter Zeit zu klagen, kaum hatte er einen Becher zu viel getrunken. «Vorbei und vorüber mit dem Tod des letzten wahren Ritters, unseres Kaisers Maximilian – Gott hab ihn selig!»
Dabei lag auch Markwart von Holdersteins letzter Auftritt als wagemutiger Kämpfer und Krieger viele Jahre zurück und hätte ihm fast das Leben gekostet: Ein Streitross der Pfälzer hatte ihn bei der Schlacht vor Landshut unter sich begraben. Nur durch Gottes Hilfe und das Geschick des Feldschers war er seinen Verletzungen nicht erlegen, doch seither zog er das linke Bein nach.
Dass er fortan keine Heerfolge mehr zu leisten vermochte, war das eine. Viel mehr indessen bedrückte ihn, dass schon unter seinen Vorvätern der Umfang ihrer Güter und Grundherrschaften immer geringer geworden und mittlerweile zusammengeschrumpft war auf Burg und Gestüt, auf das Dörfchen Unterthann, auf die Kornmühle, den Rebhof mit seinen Weinbergen, drei Weiler oben im Wald und einige Einödhöfe in den Seitentälern des Durenbachs. Von ihrer Gemarkung im Rheintal waren ihnen nur ein paar Tagwerk an Ackerland, Matten und Wiesen geblieben, was gerade so reichte, um ihren Bedarf an Korn und den ihrer Tiere an Futter zu decken.
In alten Zeiten hatte die Feste Holderstein noch zu den zahlreichen Burgen im Land gehört, die die Schwarzwaldübergänge sicherten. Doch seitdem die Edlen von Hohengeroldseck die wichtigen Handelsstraßen überwachten und instand hielten, hatte ein Teufelskreis eingesetzt. Die Herrschaft Holderstein, an einer Nebenstrecke gelegen, verfiel der Bedeutungslosigkeit, wurde zerrieben zwischen den so viel mächtigeren Herrschaften wie den Markgrafen zu Baden, den Habsburgern und den Fürstenbergern, den Bischöfen zu Straßburg, den Geroldseckern und noch etlichen Ritterschaften dazu. Ihre Einnahmen an Schutzgeldern und Wegezoll versiegten, Höfe und Gewanne wurden erst verpfändet, schließlich verkauft, was wiederum die Einkünfte aus den bäuerlichen Abgaben noch weiter verringerte. Am Ende war ihnen lediglich der Stolz geblieben, freier Reichsritter zu sein, nur dem Kaiser zu Gehorsam.
Wahrscheinlich wären die Holdersteiner wie so viele Ritter dieser Zeit längst vollends auf den Hund gekommen und würden als Glücks- und Strauchritter unter Berufung auf das alte Fehderecht anderen Rittern nachstellen oder gar Fuhrleute und Pilger ausrauben – wäre da nicht ihre glückliche Hand für die Pferdezucht gewesen.
In der dritten Generation nun schon betrieben sie eine kleine, aber erlesene Zucht. Ihre Pferde waren kräftig und wendig zugleich, dazu ausdauernd und unerschrocken. Sie taugten damit gleichermaßen für den Kriegsdienst wie für die Arbeit auf dem Feld. Markwart von Holderstein hatte seine drei Söhne nie darüber im Unklaren gelassen, wem sie diesen Erfolg zu einem gut Teil zu verdanken hatte, nämlich Antonias Familie. Antonias Urgroßvater war noch Freibauer droben auf Oberthann gewesen. Nachdem er sich auf Seiten der Holdersteiner in einer Fehde große Verdienste erworben hatte, hatte man ihn in den Stand eines Edelknechts erhoben und ihm den gepachteten Grund zu freiem Eigen übergeben. Damals hatte er begonnen, Pferde zu züchten, im Auftrag der Holdersteiner, und seinem Sohn schließlich, Antonias Großvater, war das ehrenvolle Amt des Gutsverwalters angetragen worden. Seither waren sich die beiden Familien eng verbunden.
Phillip trat in die Fensternische und ließ seinen Blick über das Ortenauer Land schweifen, über das dunkle Wolkenfetzen hinwegglitten. Die größte Enttäuschung für seinen Vater mochte sein, dass keiner der Söhne die ritterliche Standesehre nach seinem Wunschbild fortführte. Als Ritter ohne Land und Leute hätte sich Phillip sein Lebtag lang fremden Dienstherren anheimstellen müssen – da zog er es doch vor, eines Tages wie Bernward an der Universtät zu studieren, um diese Welt besser begreifen zu können. Kilian konnte sich ebenfalls nicht für tollkühne Schlachten und Turniere oder höfische Traditionen begeistern. Er war ein Landmann im besten Sinne – nur leider würde er damit nie etwas anderes als der Pferdeknecht ihres ältesten Bruders Wighart sein. Und Wighart selbst, der künftige Herr zu Holderstein, in den der Vater als Erstgeborenen all seine Hoffnungen gesetzt hatte, erwies sich leider nur auf den ersten Blick als christlicher Rittersmann.
Im Gegensatz zu ihm und Kilian hatte es Wighart nicht schnell genug gehen können, sich in sämtlichen Kampf- und Waffentechniken zu beweisen. Schon als kleiner Junge war es sein erklärtes Ziel gewesen, einmal Ritterhauptmann oder Waffenmeister im kaiserlichen Heer zu werden, und ihr Vater hatte dies nach Kräften gefördert. Einen ganzen Kerl hatte er aus seinem Ältesten machen wollen, einen, der im Kampf seinen Mann stand und sich nicht, wie er selbst, mit etlichen Gulden vom Kriegsdienst würde loskaufen müssen. Den Besuch einer Klosterschule hatte Wighart für unnötig befunden und jedem, der es hören wollte, entgegengehalten, dass zu viel Lernen weibisch mache und ein Ritter kein Latein brauche. Auch die Bibelstunden bei ihrem Burgkaplan hatte er meistenteils geschwänzt, sich dafür umso eifriger bei Eginos Lektionen gezeigt, vor allem in der Wappen- und Waffenkunde, hatte sich von ihm sogar ein wenig die frankreichische und engländische Sprache beibringen lassen. Mit zwölf endlich hatte der Vater ihn fortgelassen, zu Kilians großer Erleichterung, denn der hatte unter Wigharts großspuriger, überheblicher Art am meisten zu leiden gehabt. Weit weg, zu Rudolf von Holderstein, einem Vetter des Vaters und Hofmeister des Markgrafen Christoph, war er als Edelknabe in Obhut gegeben worden.
Noch nicht einmal zwei Jahre hatte Wighart auf dem markgräflichen Burgschloss in Baden verbracht, als er begann, unverfroren gegen das höfische Protokoll zu verstoßen, sei es bei Tisch, sei es bei der Jagd oder bei Gesellschaften. Phillip wusste dies alles nur vom Hörensagen, denn er selbst war zu jener Zeit noch ein Kind gewesen. An ein Ereignis erinnerte er sich jedoch gut, war doch sein Vater, dieser große, starke, bärbeißige Mann, hierüber vor Enttäuschung fast in Tränen ausgebrochen: Bei einem Trinkgelage hatte Wighart mit dem bischöflichen Statthalter von Oberkirch Streit angezettelt und ihm dabei die goldene Kette vom Hals gerissen. Ein Bauer wäre hierfür zum Tode verurteilt worden, doch angesichts seines Standes und seiner Jugend war Gnade vor Recht ergangen. Allerdings hatte Wighart die markgräfliche Residenz verlassen müssen und ward dem Ritter Berthold von Baach zur Lehre gegeben. Der schien von dem wilden, ungezügelten Wesen des jungen Knappen regelrecht angetan zu sein.
Was Phillip nie erwartet hätte: Wighart war seinem neuen Herrn tatsächlich treu geblieben und im vergangenen Herbst von ihm nach einem erfolgreichen Turnier sogar feierlich zum Ritter geschlagen worden. Ritter Wighart von Holderstein – in welch dünkelhafter Eitelkeit er seither seinen Namen nannte! Drei der besten Holdersteiner Rösser mitsamt ihrem erfahrensten Pferdeknecht hatte er sich für sein neues Leben ausgesucht, und die Ausrüstung an Gewändern und Waffen, Helm und Harnisch, Sätteln und Zaumzeug hatte den Vater Unsummen gekostet. Allein die Rüstung hatte den Gegenwert von zwölf Reitpferden gehabt! Geld, das man nach Phillips Dafürhalten besser in die alte Burg gesteckt hätte, wo das Holz der Tore und Dachschindeln verrottete, wo in dem verfallenen Mauerwerk Greifvögel und sonstiges Getier nisteten. Aber Markwart von Holderstein hatte sich von seiner großzügigsten Seite gezeigt. So voller Stolz auf seinen Ältesten war er gewesen, als der, im Beisein der Familie, seinen Eid geschworen hatte, fortan als freier Ritter für Gott und den Kaiser zu kämpfen und die Rechte aller Stände zu verteidigen. In Phillips Ohren hatte das indessen wie Hohn geklungen.
Das Schlagen der Saaltür ließ ihn zusammenschrecken. Er fuhr herum.
«Wighart! Was für eine Überraschung!»
Phillip hätte nicht behaupten können, sich über das Wiedersehen zu freuen. Das letzte Mal, als Wighart auf der Burg erschienen war, hatte er sogleich einen heftigen Streit mit Kilian angezettelt. Es war um dessen Vorhaben gegangen, neues Blut in die Zucht zu bringen. Kilian wollte einen Hengst der hiesigen Wälderpferde anschaffen, jener zähen, schweren Füchse, die oben im Wald zum Holzrücken herangezogen wurden. «Damit unsere Pferde aussehen wie Bauernzossen?», hatte Wighart gehöhnt und am Ende die Faust auf den Tisch gedonnert: «Das verbiete ich dir als künftiger Herr auf Holderstein!»
«Was führt dich nach Hause?», fragte Phillip ihn jetzt in gespielter Freundlichkeit. Sein Bruder grinste nur über das kantige Gesicht, mit einem Ausdruck, der zu sagen schien: Was geht’s dich an? Lässig warf er seinen Hut auf die Tischplatte und schenkte sich von dem Rotwein ein, der dort immer für Gäste bereitstand.
«Komm her, Kleiner, trink einen Schluck mit mir.»
Phillip hasste es, von ihm «Kleiner» genannt zu werden. Dennoch trat er an den Tisch, nahm den halbvollen Becher entgegen und trank ihn in einem Zug leer.
Wighart schenkte nach. «Du wirst mich künftig öfters hier sehen. Wird Zeit, dass ich meine Burg und mein Erbe in Besitz nehme. Falls dir das also nicht passt, solltest du dir baldmöglichst einen Dienstherrn suchen.»
Phillip kniff die Augen zusammen.
«Bist du nicht mehr Berthold von Baach verpflichtet?»
«Nein, und deshalb werd ich auch mein Domizil hier aufschlagen. Aber keine Angst, Kleiner», er schlug Phillip hart auf die Schulter, «ich werd euch nicht Tag und Nacht auf der Pelle sitzen. Ich hab mich nämlich dem Raueneck angeschlossen, und da werden wir viel unterwegs sein.»
Bestürzt starrte Phillip ihn an. Dass es so weit kommen würde, hatte er immer befürchtet. Ritter Franz von Raueneck verdiente sein Brot bekanntermaßen durch Wegelagerei und Brandschatzungen und hatte sich weit über die Ortenau hinaus einen Schreckensruf erworben als wahrer Blutzapfen.
«Du meinst nicht etwa Franz von Raueneck, diesen Strauchritter und Malefizkerl?»
Sein Bruder lachte laut auf.
«Das ist doch alles nur dummes Neidgeschwätz! Raueneck und seine Mannen bieten sich den Kaufherren als Schutztruppe an.»
«Mag sein. Aber in erster Linie geht er auf Rachefeldzüge gegen die eigenen Standesgenossen.»
«Du schwatzt daher wie ein Blinder von der Farbe, du halber Ritter. Hast keine Ahnung von der Welt da draußen.» Wigharts Tonfall war ärgerlich geworden. «Was hältst du da eigentlich die ganze Zeit in der Hand?»
«Das geht nur Vater was an.»
«Du vergisst, dass ich der Älteste bin. Was Vater angeht, geht auch mich was an. Also, was ist das?»
«Die Entlassung von den Franziskanern.»
Wieder verzog Wighart den Mund zu einem breiten Grinsen. «Aha! Dann ist dir die Schule also zu schwer geworden? Hätt ich mir denken können.»
«Das sagt gerade der Richtige. Über dich ist doch unser Burgkaplan schier verzweifelt. Hast ja nicht mal den Ablativus vom Accusativus unterscheiden können.»
«Na und? Wozu brauch ich das als Ritter? – Los, gib her!»
Wiederwillig überließ Phillip ihm das Schreiben. Wighart zog das Band ab und entrollte das Papier.
«Ich glaub es nicht!», rief er aus, nachdem er das Schreiben mit halblautem Gemurmel durchgelesen hatte. Er warf es Phillip vor die Füße.
«Mein kleiner Bruder hat sich der Lutherey verschrieben! Da wird unser Vater aber in Begeisterung ausbrechen, dass du diesem Mönchlein aus Wittenberg nachplapperst.»
Phillip bückte sich nach der Papierrolle. Von wegen nachplappern! Etliche Stunden hatte er damit verbracht, Luthers Sermon von Ablass und Gnade aufmerksam zu studieren und sich hierzu seine eigenen Gedanken zu machen. Aber dieses seinem Bruder auseinanderzusetzen war Perlen vor die Säue geworfen. Je älter sie wurden, desto tiefer tat sich der Graben zwischen ihnen auf.
«Weißt du was?», sagte er leise. «Auch dir könnte es nicht schaden, hin und wieder den Verstand einzusetzen statt immer nur Faust oder Schwert.»
Damit verließ er den Saal. Die Freude über den bevorstehenden Sommer mit Antonia hatte einen schalen Beigeschmack bekommen.
«Potzhundertgift – bist du von allen guten Geistern verlassen? Dich solchermaßen mit den Franziskanern anzulegen?»
Markwart von Holdersteins Stimme donnerte so laut durch die kleine Stube, dass sich das schwarz-weiße Schoßhündchen seiner Gemahlin unter der Kommode verkroch. Aufgebracht marschierte er hin und her.
«Dazu ist das Ganze höchst beschämend. Hast du vergessen, dass der Klostervorsteher ein Oheim deiner Mutter ist?»
«Nein, das habe ich nicht, Vater. Aber es ist auch nicht meine Schuld, wenn er einen solch unfähigen Mann auf die Schüler loslässt. Das ist – das ist, als ob unser alter Burgkaplan uns Knaben hätte das Reiten beibringen sollen.»
Phillip bemerkte, wie sein Vater sich auf die Lippen biss, als ob er ein Grinsen unterdrückte. Seine Wut schien verraucht.
«Was also willst du künftig tun? Unter dem Lindenbaum sitzen und Däumchen drehen?»
«Nein, Vater. Ich helfe Euch in den Weinbergen, bei der Heuernte, beim Holzrücken im Wald – was immer Ihr wollt.»
Der Ritter schüttelte den Kopf.
«Hör zu, mein Junge. Du bist fünfzehn Jahre alt, allerhöchste Zeit also, als Knappe und Kammerjunker zu gehen. Wir werden damit nicht bis zum Herbst warten.»
Phillip sah seinen Vater entgeistert an. Damit hatte er nicht gerechnet.
«Ihr meint – jetzt gleich?»
«So bald wie möglich. Ich denke, es wird nicht allzu schwer sein, dich anständig unterzubringen. Ein Dummkopf bist du ja nicht.»
«Dann lasst mich wenigstens auf Burg Hohengeroldseck.»
Markwart von Holderstein ließ seinen massigen Körper auf den Stuhl sinken und fuhr sich durch das dunkle Barthaar. «Ich weiß wohl, dass du in der Nähe bleiben möchtest. Aber Gangolf von Geroldseck hat sein Angebot zurückgezogen.»
«Warum?»
«Weil dein Bruder sich diesem Katzbalger und Haudegen angeschlossen hat. Der Raueneck hatte im Winter Konrad von Waldstein angegriffen, einen der Geroldsecker Dienstmannen, und dessen Wasserburg im Schuttertal ums Haar geplündert.»
«Dann wisst Ihr also von Wighart und Raueneck?»
«Ja. Und du kannst mir glauben, dass mich Wigharts Entscheidung mehr bekümmert als dein schmählicher Abgang bei den Franziskanern. Das macht unsere Stellung hier in der Ortenau nicht eben leichter.»
Phillip unterdrückte einen Seufzer. Wie er seinen Vater kannte, hatte der längst jemanden für ihn im Auge.
«Was schlagt Ihr also vor?», stieß er schließlich hervor.
«Ich denke da an den Grafenhof Neu-Eberstein. Ritter Wendel von Rothenbach, der Oberstallmeister und Leibwächter des alten Grafen Bernhard, hätte nichts dagegen, dich aufzunehmen. Doch noch ist nichts beschlossen.»
Phillips Hände ballten sich zu Fäusten. Die Burg Neu-Eberstein lag gut zwei Tagesritte von hier entfernt!
«Noch vor Pfingsten werden wir beide die Ebersteiner aufsuchen», fuhr sein Vater fort. «Und nun geh hinüber zu deiner kranken Mutter und berichte ihr, was wir besprochen haben. Wir sehen uns dann beim Abendessen.»
Wir brauchen keine römische Messe! Wir wollen das Wort Gottes in unsrer eigenen Sprache hören!»
Der Müllersohn, ein kräftiger, untersetzter Kerl, baute sich vor Pfarrer Johans auf, der eben die Einsetzungsworte der Eucharistiefeier zu Ende gesprochen hatte.
«Gottes Wort ist für alle da!», brüllte ein anderer, den Antonia nicht kannte. «Auch für uns Bauern, denen der Schnabel nicht auf Lateinisch gewachsen ist!»
«So soll’s sein!» Das war Sebald, der Taglöhner. «Auf dass der Heilige Geist in Deutsch auf uns niederkomme!»
Unter den Kirchgängern war Unruhe ausgebrochen. Zwanzig, dreißig Männer drängten nun vor den Altar, allen voran der Müllersohn Endres und der Taglöhner Sebald, und zeterten lauthals gegen die unfrömmig heruntergeschnurrten Gottesdienste der Pfaffen im Land, die dazu noch für jede heilige Handlung ihren Schäfchen das Geld aus dem Beutel zogen.
Antonias Blick ging zu Magdalena, die entsetzt die Augen aufgerissen hatte, dann hinauf zur Empore, wo Phillip mit aufmerksamer Miene das Ganze verfolgte. Es war nicht das erste Mal, dass ungebührliche Zwischenrufe die Heilige Messe störten. Seit einiger Zeit empörten sich immer mehr Bauern und Handwerksleute gegen ihren Pfarrer. Zum heutigen Pfingstfest allerdings fanden sich unter den Aufwieglern erstmals etliche, die Antonia nicht kannte und die von weit her gekommen sein mussten.
Die beiden Ministranten hielten in ihren Verrichtungen inne und starrten hilflos auf den Dorfpfarrer. Der begann zu keifen, mit hochrotem Kopf.
«Hinweg mit euch!» So kräftig der kleine, dicke Mann nur konnte, schlug er gegen Sebalds Schultern. «Hinweg mit euch gottlosem Volk!»
«Wer ist hier gottlos, hochwürdiger Herr Pfarrer?», schrie Endres zurück. «Wo deine Magd doch jede Nacht die Beine für dich breitmacht!»
Endlich eilte der Messner zu Hilfe. Mit einem Besen bewaffnet ging er gegen die Männer an. Die Ministranten lösten sich aus ihrer Starre und schubsten und stießen ebenfalls, einige Hunde fingen zu kläffen an, Kinder zu krakeelen, Weiber zu schreien, und endlich tauchten in diesem vollendeten Durcheinander zwei von Holdersteins Dienstleuten auf. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die Aufrührer durch das Kirchenportal nach draußen zu drängen.
Dorfpfarrer Johans wischte sich den Schweiß von der Stirn, bekreuzigte sich und straffte die Schultern:
«Pater noster qui es in cælis …»
«… sanctificetur Nomen Tuum, adveniat Regnum Tuum …», fielen die Gläubigen in das Gebet ein und sanken auf die Knie. Ohne weitere Unterbrechungen vermochte Pfarrer Johans die Kommunion zu spenden und das Hochamt zu Ende zu bringen. Mit der Mahnung, künftig die Hunde und Ziegen daheim zu lassen, zumindest an den Hochfesten des Herrn, entließ er seine Gemeinde.
«Das war nicht recht von den Männern», sagte Magdalena, während sie hinausgingen. Ihre zarten Hände umschlossen den Rosenkranz, als ob sie daran Halt suchten. «Es ist nicht recht, solcherart gegen einen geweihten Priester zu gehen. Der Herr möge ihnen verzeihen.»
Antonia zuckte die Schultern. «Wenn sie den Sinn der Worte doch nicht verstehen.»
«Mag sein, dass sie des Lateinischen nicht mächtig sind. Und doch können sie den feierlichen Worten und Klängen mit Andacht lauschen.»
Sie hatten den Vorplatz erreicht, wo sich die Menschen in kleinen Gruppen sammelten und sich über den Vorfall die Köpfe heißredeten. Zum Pfingstfest hatten sich die Kirchgänger feierlich herausgeputzt: die Männer ganz in Schwarz, mit breitkrempigen Filzhüten, die Frauen mit vor der Brust gekreuzten bunten Schultertüchern über dem schwarzen Gewand. Wer unter den Ehefrauen von besserem Stand war, trug stolz eine rotsamtene, golddurchwirkte Haube.
Antonia sah sich nach Phillip um. Vielleicht blieb ihnen ja noch ein wenig Zeit, bevor er zurück auf die Burg musste.
Das Kammerfräulein schien es zu bemerken. «Du weißt hoffentlich noch, dass wir heute Besuch bekommen.»
«Wegen mir kommt dieser Landschreiber aus Oberkirch gewiss nicht zu uns heraus», gab Antonia schnippisch zurück. Dabei betrachtete sie ihre Schwester. Mit ihren fast sechzehn Jahren sollte Magdalena eigentlich in dem Alter sein, wo sich der Körper eines Mädchens zu formen begann. Indessen tat sich nichts bei ihr, im Gegenteil: Sie wurde immer noch zarter und zerbrechlicher.
Seit Ostern war es mit Magdalenas Frommherzigkeit noch ärger geworden. Kurz nach ihrem Ohnmachtsanfall in der Küche hatte sie zu Antonia erstmals von Jesus Christus als ihrem Bräutigam gesprochen, hatte damit begonnen, sich stundenlang vor dem Kruzifix ihrer Schlafkammer auf den kalten Boden zu knien und sich in die Leiden des Herrn zu versenken. Manchmal hatte Antonia regelrecht Angst um ihre Schwester. Ihr war, als hätte Magdalena keinen größeren Wunsch, als die Welt und alles Irdische zu verlassen.
In diesem Augenblick schob sich Phillip durch die Reihen der Kirchgänger und riss sie aus ihren Gedanken.
«Wollen wir einen Spaziergang machen? In die Weinberge?», fragte er. Sein Gesicht war blass.
«Gern.» Antonia blickte hinüber zu ihrem Vater, der mit dem Dorfschultes ins Gespräch vertieft war.
«Dein Vater erlaubt es, ich hab ihn schon gefragt.»
Ohne sich weiter um die verdrießliche Miene des Kammerfräuleins zu kümmern, machte sich Antonia mit Phillip auf den Weg hinauf zum Weinberg, an dessen Flanke das Dorf lag. Phillip trottete ungewöhnlich schweigsam neben ihr her, und sie ahnte, dass ihn etwas bedrückte. Nachdem sie die sonnige kleine Wiese oberhalb der Rebstöcke erreicht hatten, wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.
«Es wird Sommer», sagte sie. Von hier war es nur ein Steinwurf zur Burg, die sich auf dem Bergsporn nebenan erhob. Sie ließen sich ins Gras sinken. Der leichte Wind trug die Stimmen der Dorfbewohner fort von ihnen, nicht einmal ein Blätterrascheln war hier oben zu hören.
«Sieh mal!» Antonia deutete auf den Bergfried, wo in einer Lücke zwischen den Buckelquadern ein Adlerhorst klebte. «Sie machen ihre ersten Flugversuche.»
Deutlich waren die beiden Jungvögel mit ihren auffällig weißen Flügelfedern zu erkennen, die geschickt von Mauervorsprung zu Mauervorsprung segelten.
«Sie sind also wieder da», stellte sie freudig fest.
«Sie brüten dort jedes Jahr.»
«Nein, letztes Jahr nicht», beharrte Antonia.
Phillip lachte, aber es wirkte erzwungen. «Du hast recht.»
Sie überließen sich der Stille und beobachteten die Flugkünste der jungen Steinadler. Antonia wusste aus Erfahrung, dass sie ihren Freund nicht bedrängen sollte. Wenn er sein Herz ausschütten wollte, dann musste es von ihm selbst ausgehen. Doch heute mochte sie nicht so lange warten.
«Was ist mit dir?»
Phillip verschränkte die Hände ineinander und starrte zu Boden. «Ich geh fort. Schon gleich nach der Heuernte.»
«Aber – das ist ja bald!»
«Ich weiß. Nächste Woche fangen wir an.»
Sein Tonfall, seine zusammengekauerte Haltung verrieten ihr, dass er nicht auf eine der Nachbarburgen gehen würde.
«Wohin also?», fragte sie leise.
«Zu den Grafen von Eberstein.»
«Wo ist das?»
«Zwei Tagesritte von hier. Im Murgtal.»
Ebenso gut hätte er von Hispanien oder dem welschen Frankreich sprechen können. Alles, was weiter entfernt als Offenburg oder Oberkirch lag, war für Antonia aus der Welt.
Phillip erhob sich. «Gehn wir. Ich bring dich auf den Hof zurück.»
Früher waren sie oft Hand in Hand den steilen Weg hinuntergerannt, immer schneller, bis der Erste von ihnen gestolpert war und sich lachend ins weiche Gras hatte fallen lassen. Doch das war Ewigkeiten her. Seit ihrem Kuss hatte sich eine seltsame Scheu zwischen ihnen eingeschlichen.
Kaum hatten sie die letzte Kehre des Weinbergpfades genommen, sahen sie den Menschenauflauf, der sich vor dem Bildstock von Sankt Urban, dem Schutzpatron der Weingärtner, gesammelt hatte. Ein Wanderprediger hatte sich also wieder einmal auf den Weg zu ihnen ins Tal heraufgemacht. Diese Männer in ihren zerrissenen Kutten hatten stets großen Zulauf unter den einfachen Menschen, sangen, predigten und beteten sie doch in deutscher Sprache. Schon von Weitem aber bemerkte Antonia, dass etwas nicht stimmte. Anstatt dem Prediger zu lauschen, bedrängten die Männer und Frauen ihn, unter Flüchen und aufgebrachtem Geschrei. Hilflos klammerte sich der Mann im Mönchshabit an einen schweren Handkarren, während sich sein Knecht hinter einen Baum flüchtete. Wie einen Schutzschild hielt er ein großes rotes Kreuz vor sich, mit blutigen Nägeln und einer Dornenkrone daran.
Phillip pfiff durch die Zähne. «Ein Ablasskrämer!»
In diesem Augenblick ging der päpstliche Ablassprediger zu Boden, und der Erste prügelte mit einem hölzernen Bengel auf ihn ein.
«Hau ihn tot, den verhurten Kelchbuben!» – «Der Kuttenfurzer soll sich vorher sein Silber in den Arsch schieben, damit seine Seel’ nicht ins Fegefeuer kommt!» – «Wer reich ist, kauft sich los von der Sünd’, und unsereins kommt in die Höll’.»
Unter den gut zwei Dutzend Menschen erkannte Antonia einige der Aufrührer vom Gottesdienst. Der mit dem Prügel in der Faust war Sebald.
«Du musst ihm helfen, Phillip. Sie bringen ihn sonst um.»