Die Wölfe vor den Toren - Astrid Fritz - E-Book

Die Wölfe vor den Toren E-Book

Astrid Fritz

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Erfolgsserie um die Armenapthekerin Serafina aus Freiburg geht weiter. Februar 1418: Die Menschen leiden unter der beißenden Kälte. Erschreckend nah heulen des Nachts die ausgehungerten Wölfe und reißen die ersten Schafe. Dann fällt ihnen in dem Dörfchen Würi, gleich vor der Stadt, der junge Badersohn Jörgelin zum Opfer. Zum Schock gesellen sich Spukgeschichten über Werwölfe. Man hängt zur Abschreckung sogar einen Wolf an den Galgen. Das Töten geht weiter. Als die junge Heilerin Mia stirbt, kommen der Armenapothekerin Serafina und ihrem Mann, Stadtarzt Achaz, Zweifel, ob die Tiere für das Morden verantwortlich sind oder wer anders sein Unwesen treibt. Das erste Mal ermitteln sie als Ehepaar gemeinsam. In der Würi stoßen die beiden jedoch auf eine Mauer des Schweigens, der sie mit Spürsinn, Wissen und Hartnäckigkeit begegnen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 322

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Astrid Fritz

Die Wölfe vor den Toren

Ein Fall für Serafina

Historischer Roman

Über dieses Buch

Die Wölfe gehen um vor den Toren von Freiburg ...

 

Freiburg, Februar 1418: Die Menschen leiden unter der beißenden Kälte. Erschreckend nah heulen des Nachts die ausgehungerten Wölfe und reißen die ersten Schafe. Dann fällt ihnen in dem Dorf Würi, gleich vor der Stadt, der junge Badersohn zum Opfer. Zum Schock gesellen sich gruselige Spukgeschichten über Werwölfe. Was könnte das blutige Treiben der Tiere stoppen? Als die junge Heilerin Mia stirbt, kommen der Armenapothekerin Serafina und ihrem Mann, Stadtarzt Achaz, Zweifel, ob die Wölfe für das Morden verantwortlich sind. In der Würi stoßen die beiden jedoch auf eine Mauer des Schweigens.

 

Der sechste Band der Erfolgsserie um die energisch-charmante Armenapothekerin Serafina, die nun zusammen mit ihrem Mann, dem Medicus Achaz, ermittelt.

 

«Serafina ist eine sympathische Heldin mit dem Herzen auf dem rechten Fleck.» (Münchner Merkur)

Vita

Astrid Fritz studierte Germanistik und Romanistik in München, Avignon und Freiburg. Als Fachredakteurin arbeitete sie anschließend in Darmstadt und Freiburg und verbrachte mit ihrer Familie drei Jahre in Santiago de Chile. Zu ihren großen Erfolgen zählen «Die Hexe von Freiburg», «Die Tochter der Hexe» und «Die Vagabundin». Astrid Fritz lebt in der Nähe von Stuttgart.

 

Mehr über Astrid Fritz erfährt man auf www.astrid-fritz.de

Dramatis Personae

Die Hauptpersonen

Serafina Stadlerin: Sie kann’s nicht lassen: Selbst als verheiratete Stadtarztgattin und Armenapothekerin hält es die ehemalige Begine nicht in ihrem trauten Heim im Haus Zum Pilger. Wo immer es in Freiburg nicht mit rechten Dingen zugeht, steckt sie vorwitzig ihre Nase hinein. Und hat dabei so manches Mal den richtigen Riecher.

Adalbert Achaz: Studierter Medicus, Freiburger Stadtarzt und Ratsherr, der sich vom einsamen Wolf zum liebevollen Ehemann gemausert hat und die häusliche Gemütlichkeit mit seiner Serafina aufs Höchste schätzt. Kommt es hart auf hart, steht er ihr an Kühnheit und Wagemut indessen in nichts nach – obgleich er zum Helden nicht gerade geboren ist. Und zum Jäger schon gar nicht.

Kräuterfrau Gisla: Die rüstige Alte sieht oftmals mehr als andere. Dank ihres unerschrockenen Auftretens auch in misslichen Situationen rückt sie diesmal vom Freundeskreis in den Kreis der Hauptpersonen auf. Leider macht ihr der strenge Winter doch arg zu schaffen, und so wird sich zum Ende unserer Geschichte ihr Leben entscheidend verändern.

Der Freundeskreis

Irmla: Adalbert Achaz’ bärbeißige alte Magd, ihrem Dienstherrn seit Jahren treu ergeben, zählt zu Serafinas engsten Vertrauten. Sie ist der ruhende Pol im Haus Zum Pilger und gerät nur außer Fassung, wenn wieder einmal alle zu spät zum Essen erscheinen.

Ratsherr Laurenz Wetzstein: Zunftmeister der Bäcker und gemeinsam mit seiner Frau gern gesehener Gast im Haus Zum Pilger. Wie immer ist auf den besonnenen, schmerbauchigen kleinen Mann Verlass, wenn die übrigen Ratsherren in ihrer Schwerfälligkeit mal wieder nicht in die Gänge kommen.

Meisterin Catharina: Serafinas treue Weggefährtin aus Beginenzeiten. In mütterlicher Strenge hält sie Aufsicht über die Ordnung der kleinen Schwesternsammlung Zum Christoffel. Wenn es sein muss, weicht sie nicht von Serafinas Seite und nimmt es auch mal in Kauf, sich zwischen blökende Schafe zu setzen.

Grethe: Serafinas engste Freundin aus Beginenzeiten. Die Jüngste der Christoffelsschwestern ist allem zugetan, was mit Kochen, Backen und vor allem Essen zu tun hat, wie ihrem rundlichen Leibesumfang deutlich anzusehen ist. Für Serafina würde sie alles tun, doch dieses Mal springen andere in die Bresche, wenn es für Serafina brenzlig wird.

Die Christoffelsschwestern Heiltrud, Mette, Brida sowie Theresia als Neuzugang aus dem Hurenhaus dürfen sich für diesmal ganz ihren eigenen Aufgaben widmen. Und Mischlingshündchen Michel scheint Winterschlaf zu halten, da er erst gar nicht auftaucht.

Gallus Sackpfeiffer: Oberster Stadtbüttel und ein eher grober Klotz. Hat sich vom einstigen Widersacher Serafinas zu ihrem fast schon treu ergebenen Gefährten gewandelt. Zumal ihn die Erfahrung gelehrt hat, dass sie meistens recht hat.

Die Dorfbewohner aus der Würi

Bannwart Eberhard, genannt Eppe: Mit seinem dunklen Vollbart und dem langen Zottelhaar wirkt der Bannwart und Sprecher des Dorfvogts auf den ersten Blick nicht gerade vertrauenerweckend – zumal ihm auch noch die undankbare Rolle des Hiobsboten zufällt.

Getreidemüller Urban: Der feiste, kahlköpfige Wichtigtuer scheint in der verschworenen Dorfgemeinschaft mehr als unbeliebt, obwohl man ihn dereinst zum Dorfvogt gewählt hat. So nimmt es nicht wunder, dass man ihm schließlich satanische Verwandlungskünste unterstellt.

Urbans Altgeselle Jonas: Der pockennarbige Kerl, nicht gerade ein Ausbund an Freundlichkeit, hat bald gute Gründe, auf Urbans Mühle zu spekulieren.

Dorfschäfer Nickel: Ein armer Tropf, dem seine Hunde und Schafe die engsten Freunde sind. Bekommt leider keine Frau ab, sosehr er sich auch bemüht. Selbst seine Fähigkeit, Warzen gesundzubeten, bringt ihm kein Glück.

Hasenbader Veit: Dem Badstubenpächter und hinkenden Vater des kleinen Jörgelin hat das Leben in letzter Zeit übel mitgespielt. Wer wollte ihm da seine Verbitterung verdenken?

Hasenbaderin Margaretha: Der zartbesaiteten Ehegenossin von Meister Veit verwirrt sich, zur Kinderlosigkeit verdammt, zusehends der Geist, und sie hat gar seltsame Erscheinungen.

Badermagd Sanne: Hübsches, aber schwatzhaftes junges Ding, das ihrem Meister Veit schöne Augen macht und ihm liebend gern kleine Gefälligkeiten erweist.

Baderknecht Cunzi: Jung und reichlich respektlos. Die Magd Sanne steht ihm näher, als ihm lieb ist.

Heilerin Mia: Jung, hübsch, beliebt und unnahbar. Wurde ihr das zum Verhängnis?

Dorfälteste Marie: Die Alte mit der Warze auf der Nase zeigt sich gegenüber Serafina um einiges offener als ihre Dorfgenossinnen.

Tine: Auch die Magd des Schleifmüllers ist, dank Gislas wirkungsvollen Heilkräutern, nicht ganz so verschlossen wie die übrigen Dörfler.

Freiburger Bürgersleute

Magnus Pfefferkorn: Guter Freund des Hauses und Förderer der Christoffelsschwestern. Das Alter hat dem Kaufherrn nicht nur weiße Haare, sondern auch eine ausgeprägte Schwachsichtigkeit der Augen beschert.

Eberhart Grieswirth: Der schwergewichtige Metzgermeister, mit seinen Zipperlein einer der Dauerpatienten des Stadtarztes, ergreift gern einmal das Hasenpanier, wenn es brenzlig wird.

Hebamme Hildegard: Als städtische Hebamme ist sie dem Stadtarzt als tüchtige Frau bekannt, die ihr Handwerk versteht. Was das Schicksal nicht davon abhält, ihr ein völlig unverdientes Ende zu bescheren.

Apotheker Johans: In diesem Band begegnet der Stadtapotheker Serafina in überraschender Freundlichkeit. Warum er mit seiner Konkurrentin in Sachen Heilmittel zähneknirschend Frieden geschlossen hat, ist in Die Tote in der Henkersgasse nachzulesen.

In kleineren Rollen

Der Knabe Jörgelin: Er spielt als Sohn des Getreidemüllers Urban gleich zu Anfang einen wichtigen Part, wenngleich einen gänzlich stummen.

Münsterpfarrer Heinrich Swartz: Der dickleibige Geistliche hat diesmal nur den Segen zur Wolfsjagd zu spenden.

Dorfpfarrer Burkhard: Hat die unerquickliche Aufgabe, auf seinem Kirchhof gleich zweimal hintereinander Gräber im vereisten Boden ausheben zu lassen.

Wundarzt Meister Henslin: Der sonst eher farblose städtische Wundarzt darf für diesmal in einem etwas makabren Rollenspiel kurzzeitig ins Rampenlicht rücken.

Torwächter Ansgar: Nachdem seinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen wird, trägt er entscheidend zur Aufklärung bei.

Tuchermeister Ulrich Kreideweiss: Als oberster aller Zunftmeister führt er die Freiburger Bürgerwehr in die große Schlacht gegen die Wölfe.

Historische Mitspieler am Rande

Schultheiss Paulus von Riehen: Entstammt einem der vornehmen Freiburger Geschlechter und war 1415–1419 Schultheiß der Stadt, also das vom Landesherrn eingesetzte Gerichts- und Stadtoberhaupt.

Abrecht von Kippenheim: Ebenfalls ein Spross der Vornehmen, war einer der jährlich vom Rat gewählten Bürgermeister der Stadt.

Bischof von Basel: Der aus burgundischem Adel stammende Humbert von Neuenburg war von 1395 bis 1417 Fürstbischof und Territorialherr zu Basel. Er tat sich unrühmlich hervor, indem er zwischen 1405 und 1410 die Basler Beginen enteignete und aus seinem Fürstbistum vertrieb.

Prolog

Freitagabend nach Mariä Lichtmess Anno Domini 1418

Der aufgehende Vollmond tauchte die Welt in silbriges Licht und brachte die festgefrorene Schneedecke der Dreisamwiesen zum Glitzern. Dort, im Schutz des Ufergesträuchs, näherten sich die Wolfseltern mit ihrem Nachwuchs der Stadt. Seit etlichen Tagen hatten sie droben im Wald keine Beute mehr gemacht, und so trieb sie der Hunger bis zu der Ansammlung kleiner Holzhäuser vor dem Freiburger Obertor.

Auf dem harschigen Untergrund hinterließen die Tiere kaum Spuren. Sie wirkten mager, trotz des dichten graubraunen Winterfells. Die Fähe führte das Rudel an, Rüde und Jungtiere folgten ihr wie an einer Schnur aufgereiht. Kurz vor dem ersten Haus blieb die Wölfin stehen und nahm Witterung auf. Aus dem Schuppen zu ihrer Linken stieg ihr Schafsgeruch in die Nase. Vorsichtig näherte sie sich der löchrigen Bretterwand, als auch schon von drinnen ein ängstliches Blöken zu hören war. Ansonsten lag die kleine, unbefestigte Vorstadt in tiefem Schlaf.

Das Rudel war ihr gefolgt. Während die Jungen fluchtbereit und dicht beieinander verharrten, glitten die Wolfseltern lautlos an den Brettern entlang, bis der Rüde fand, was er suchte: eine Lücke, groß genug für seine breite Stirn. Er zwängte sich hindurch, nicht ohne das lose Brett mit seiner Schulter noch weiter zur Seite zu schieben.

Sie holten sich nur die Winterlämmer und Jungtiere vom Vorjahr. Ein kräftiger Biss ins Genick oder in die Kehle genügte, um das Beutetier rasch zu töten. Denn sie mussten schnell sein: Bald schon schlugen rundum die Hunde an, doch bis die ersten Menschen, mit Knüppeln und Mistgabeln bewaffnet, laut schreiend auf der Gasse erschienen, zeugte nur noch eine rote Spur bis hin zum Waldrand von dem Blutbad, das die Wölfe im Schafstall angerichtet hatten.

Kapitel 1

Das Wolfsgeheul drang bis in Serafinas Traum, in dem sie durch einen tief verschneiten Wald irrte. Sie erwachte und hörte immer noch das langgezogene Heulen von der Burghalde her, einmal, zweimal, danach herrschte Stille in der stockdunklen Schlafkammer.

Sie spürte, wie Adalbert sich neben ihr mit einem Brummen zur Seite drehte.

«Bist du wach?», flüsterte sie.

«Hm», kam es verschlafen zurück.

«Hast du es gehört? Die Wölfe!»

Adalbert nahm ihre Hand. «Ja, sie haben Hunger. Aber keine Angst, sie kommen nicht in die Stadt. Die Mauern sind zu hoch, die Tore fest verschlossen. Oder hast du schon mal von einem Wolf gehört, der klettern kann?»

«Nein, das nicht. Aber allmählich wird’s mir unheimlich, wie nah diese wilden Tiere inzwischen kommen.»

«Solange ich nachts nicht übers freie Feld laufen muss, schert mich das nicht.» Adalbert kuschelte sich an sie. «Jetzt schlaf endlich, Serafina. Wir haben ein Haus mit dicken Mauern, wir haben es warm, wir haben uns – was wollen wir mehr?»

Sie schwieg. Sein leises Schnarchen verriet ihr nach einer Weile, dass er wieder eingeschlafen war. Doch sie war inzwischen hellwach. Nicht zum ersten Mal hatte das Heulen der Wölfe sie aufgeschreckt, und sie vermochte sich nicht zu erinnern, dies in den Wintern zuvor jemals erlebt zu haben. Wohl aber in der Kindheit in ihrem Heimatdorf bei Radolfzell, wo sie in einem ebensolchen harten Winter hatte mitansehen müssen, was ein Rudel Wölfe im Ziegenpferch des Nachbarn angerichtet hatte. Alles war voller Blut gewesen, zwei schwer verletzte Zicklein waren vor ihren Augen verendet.

Erst gestern hatte Adalbert ihr hierzu einen Vortrag gehalten, in der etwas umständlichen Art, die ihm zu eigen war. In den Wäldern rechts und links des Dreisamtales gebe es immer weniger Beutewild, hatte er erklärt. Seitdem die Einwohnerzahl Freiburgs und der zugehörigen Dörfer rundum zunehme und somit immer mehr Vieh auf die Waldweiden getrieben werde, werde den dort lebenden Tieren der Aufwuchs weggefressen. Und als Folge dieser Waldhut, also der Weidewirtschaft im Wald, verringere sich eben über die Jahre hinweg der Wildbestand. Nicht nur zum Verdruss der herrschaftlichen Jagdgesellschaften, sondern auch zum Nachteil der Wölfe. «Kein Wunder», hatte er seine Rede beendet, die Serafina alles andere als beruhigend fand, «dass sie sich an Schafen, Ziegen und Kälbern gütlich tun. Und sich in langen, kalten Wintern sogar den Städten nähern.»

Mit einem Seufzer drehte sich Serafina im Bett auf die Seite. Würden sich wohl als Nächstes die Bären von den Bergen herunterwagen? Dieser Winter war wirklich schrecklich!

Schon zu Martini im November war die Kälte übers Land gekommen, zunächst mit Massen an Schnee, dann mit nasskaltem Tauwetter, das die Gassen und Landstraßen im Morast versinken ließ, sodass für die Handkarren und Fuhrwerke kein Durchkommen mehr war. Zur Weihnachtszeit hatten heftige Winde neuen Schneefall gebracht und hernach eine eisige Kälte, die einem Stein und Bein gefrieren ließ. Seit Mitte Januar, seit nun schon drei Wochen, waren Dreisam wie Floßgraben zur Gänze zugefroren. Da somit kaum noch Holz vom Schwarzwald herunterkam, kostete das Klafter Scheitholz bereits das Dreifache wie im Herbst, wenn es denn überhaupt welches zu kaufen gab. Nicht wenige Holzfrevler, die der Waldhüter beim Schlagen erwischt hatte, saßen inzwischen im Turmverlies ein. Ebenso wie die Schwarzhändler, die heimlich unter der Hand Brennholz gegen Lebensmittel eintauschten, was streng verboten war.

Immer wieder musste Serafina in diesen Tagen an die Menschen denken, die es nicht so behaglich hatten wie sie. Viele Vorstadtbewohner hatten ihr Nachtlager bei ihrem Vieh im Stall aufgeschlagen, um es einigermaßen warm zu haben, was jetzt wegen der Wölfe nicht ungefährlich war. Den Freiburger Hausarmen und Bettlern, die sonst in ärmlichen Hütten oder gar Bretterverschlägen an der Stadtmauer hausten, mussten sogar Notquartiere unter der Ratsstube und im Kornhaus zugewiesen werden, damit sie nicht erfroren. Zum Glück hatte Adalbert, vorausschauend wie er war, zum Herbst hin so viel Brennholz eingelagert, dass es bis zum Frühjahr reichen würde, obschon sie das Herdfeuer in der Küche Tag und Nacht brennen ließen. Und mit den von Irmla reichlich angelegten Vorräten an eingemachtem Sauerkraut, Trockenfisch und Pökelfleisch würden sie wohl auch nicht hungern müssen.

Nach dem heißen, trockenen Sommer war die Ernte eher spärlich ausgefallen, und das kam nun zur schlimmen Kälte hinzu: Der Bauernmarkt wurde, wie stets im Winter, statt dreimal die Woche nur noch dienstags und samstags ausgerichtet, doch die Lauben waren heuer noch spärlicher bestückt als sonst zur kalten Jahreszeit. Eier, Butter und Käse gab es nur in kleinsten Mengen, und weil der Marktmeister die Preise heraufgesetzt hatte, um den Bauern der Umgebung zumindest ein gewisses Auskommen zu sichern, waren diese Lebensmittel für den gemeinen Mann schier unerschwinglich. Milch kam erst gar nicht zum Verkauf, weil damit das abgemagerte Vieh gefüttert werden musste. Fleisch hingegen gab es im Überfluss: Da bei den Ackerbürgern und Bauern im Umland das Stroh und Heu fürs Vieh vorzeitig zur Neige gegangen war, musste eine große Anzahl älterer Tiere vielerorts notgeschlachtet werden. Für das übrige Vieh schleppte man aus den nahen Wäldern mühsam Laub, Reisig und Waldkräuter, ja selbst Baumnadeln heran, um sie notdürftig am Leben zu erhalten.

Da auch der Stadtbach in der Schneckenvorstadt zugefroren war, hatten die Müller und Badstubenbetreiber, die Gerber, Schleifer und Färber kein fließend Wasser mehr für ihr Handwerk zur Verfügung und konnten ihrer Arbeit nicht nachgehen. Mehl gab es wegen der eingefrorenen Mühlräder also gar nicht mehr zu kaufen, jeder musste sein Korn – davon zumindest hatte die Stadt ausreichend gelagert – mühsam zu Hause von Hand mahlen. Doch das war nur das Geringste, dachte sich Serafina, während sie vergebens versuchte, in den Schlaf zu finden. Die halbe Stadt lag wie erstarrt. Das hatte sie so noch nicht erlebt. Und auch an ihren Sohn Vitus musste sie immer wieder denken, der mit seiner Straßburger Compania als Gaukler durch die Lande zog. Hoffentlich hatten sie irgendwo ein warmes und sicheres Quartier gefunden. Wenigstens wurden seit Lichtmess die Tage spürbar länger, und so blieb zumindest die Gewissheit, dass dieser Winter bald ein Ende finden würde. Dann würde sie wieder hinaus in ihren Kräutergarten vor der Stadt wandern können, zusammen mit ihrem treuen Hündchen Michel, den sie schweren Herzens ihren ehemaligen Mitschwestern von Sankt Christoffel überlassen hatte, damit er sie bei ihren abendlichen Gängen zu den Kranken und Sterbenden beschützte.

 

Am nächsten Morgen erwachte Serafina erst, als Adalbert fertig angezogen neben dem Bett stand.

«Aufstehen, du Nachteule!» Er drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange. «Die Küche ist wunderbar eingeheizt, und auf dem Tisch wartet ein warmer, süßer Milchbrei.»

«Habe ich verschlafen?», fragte sie erschrocken. «Ist Grethe etwa schon da? Wir wollen doch zusammen auf den Markt.»

Er lachte. «Nein, so spät ist es nun auch wieder nicht. Genug Zeit für ein gemütliches Morgenessen.»

Unwillig schälte sie sich aus der dicken Daunendecke. In ihrem Leinenhemd begann sie augenblicklich zu frösteln. Hastig kleidete sie sich an und folgte Adalbert hinunter in die Küche.

«Guten Morgen, liebe Irmla», begrüßte sie die alte Magd, die schon in Adalbert Achaz’ Diensten gestanden hatte, als der noch Leibarzt des Basler Bischofs Humbert von Neuenburg war.

«Guten Morgen, Frau Serafina. Habt Ihr gut geschlafen?»

«Alles andere als das. Habt Ihr heute Nacht etwa nicht die Wölfe gehört?»

Irmla verzog ihr faltiges Gesicht zu einem belustigten Lächeln. «Von so ein bisschen Wolfsgeheul lasse ich mir nicht den Schlaf rauben. Wölfe im Schafspelz auf zwei Beinen sind mir da schon um einiges unangenehmer. Und nun lasst uns essen. Wir sind später dran als sonst.»

Wenn Irmla eines nicht leiden konnte, dann war es, wenn die Mahlzeiten nicht pünktlich eingenommen wurden. Auch sonst hatte sie so ihren eigenen, sturen Kopf, gerade so wie Serafina, und dennoch mochten beide sich von ganzem Herzen.

Sie hatten ihr Morgenmahl gerade beendet, als von der Ratskanzlei, die sich schräg gegenüber ihres Hauses Zum Pilger befand, die Glocke zu läuten begann.

«Nanu?» Adalbert sah erstaunt auf. «Eine Sondersitzung des Magistrats? Und das an einem Samstag?»

Adalbert war nicht nur Stadtarzt, sondern wurde auch Jahr für Jahr in den Rat der Achtundvierzig gewählt. Dies und der Umstand, dass er oft zu Konsultationen nach auswärts gerufen wurde, hatten zur Folge, dass er an manchen Tagen erst spät abends zu Hause war – sehr zu Irmlas und auch Serafinas Missfallen.

«Was könnte es so Dringliches geben?», fragte sie ihn.

Er küsste sie auf die Stirn. «Ich weiß nicht. Aber ich werde danach schnurstracks heimkommen und dir berichten. Versprochen!»

Serafina nickte lächelnd. «Das will ich doch hoffen.»

Kapitel 2

Nachdem Serafina zusammen mit Irmla den Abwasch erledigt und die Küche aufgeräumt hatte, erschien ihre Freundin und ehemalige Mitschwester Grethe, die im Beginenhaus Zum Christoffel für den Einkauf und die Küche zuständig war. Allein von dem kurzen Wegstück vom Brunnengässlein hierher hatte sie eine rotgefrorene Nase. Und das, obwohl sie sich über die Kapuze ihrer grauen Beginenkutte noch ein dickes Wolltuch geschlungen hatte.

«Was ist das nur eisig draußen! Gehen wir am besten gleich los zum Markt», drängte sie. «Sonst lasse ich mich noch häuslich nieder in eurer warmen Küche.»

Wenig später traten sie hinaus auf die Barfüßergasse, die vom Kloster der Franziskaner hinüber zur Großen Gass führte. Eigentlich war die in frostiges Weiß getauchte Stadt unter dem klaren, blauen Himmel ein schöner Anblick, dachte Serafina. Wäre es nur nicht so kalt gewesen, dass einem der Atem gefror. Wer es sich leisten konnte, trug warme Fellhandschuhe und dicke Pelzmützen, selbst die Frauen legten dafür ihre Hauben ab. So auch Serafina.

«Wie geht es eigentlich Brida? Ist sie noch immer krank?», fragte sie die Freundin, als sie bei der Kramlaube die Marktgasse betraten.

«Du kennst sie doch.» Grethe grinste, und auf ihrem runden Herzchengesicht erschienen tiefe Grübchen. «So ein empfindliches Menschlein! Aber dank deinem Kräuterzaubertrank geht es ihr schon besser, obwohl sie es sich nicht anmerken lassen will. Die Meisterin hat sie jetzt übrigens in eine Kammer mit Theresia gesteckt. Kannst dir ja vorstellen, wie wenig die sich von Bridas Jammern beeindrucken lässt.»

Serafina musste lachen. Brida von Stühlingen entstammte einem verarmten Ritterhaus und hatte sich anfangs mit ihrem neuen Leben als Begine sichtlich schwergetan. Inzwischen hatte sie sich eingelebt und auch schon einige Male bewährt, doch die vornehme Herkunft merkte man ihr immer noch an. Und jetzt musste sie sich ausgerechnet mit Theresia die Kammer teilen, der ehemaligen Hübschlerin aus dem Haus Zur Kurzen Freud.

«Mutter Catharina wird sich schon was dabei gedacht haben», erwiderte sie. «Gehen wir zuerst beim Schwarzbeck vorbei? Ich habe Brotteig dabei, sonst muss ich den die ganze Zeit mit mir herumtragen.»

«Einverstanden.» Grethe seufzte gespielt unglücklich. «Was sind das nur für Zeiten, wo man sein Brot beim Bäcker backen lassen muss, anstatt es dort zu kaufen. Nur weil der kein Mehl mehr geliefert bekommt.»

Innerlich musste Serafina ihr recht geben. Nicht nur die Brotlauben, sondern mehr als die Hälfte der Verkaufsbänke waren geschlossen. Keine Hunde, keine bettelnden Kinder streunten mehr zwischen den wenigen Besuchern herum. Damit hatte der Markt schon etwas sehr Trostloses. Nur vor der Gewandlaube stand eine große Traube von Menschen an, um warmes Tuch zu erstehen.

Serafina schüttelte den Kopf. «Es gibt wirklich kaum noch was Frisches zu kaufen. Nur noch verschrumpelte Lageräpfel, Kohlrüben und Nüsse.»

«Selbst bei uns ist inzwischen Schmalhans Küchenmeister», murmelte Grethe und musste dann selbst lachen. «Nun ja, vom Fleisch gefallen bin ich deshalb noch nicht.»

Sie wies auf ihre dralle Gestalt.

Auf dem Weg zum Schwarzbeck, der seine Backstube am Fischmarkt hatte, kam ihnen Apotheker Johans entgegen. Der kleine Mann im viel zu großen Pelzmantel trug heute eine leuchtend rote Gugel, deren endlos langer Kapuzenzipfel wie der Turban eines Sarazenen um den Kopf geschlungen war, was einigermaßen lächerlich aussah. Mit einer tiefen Verbeugung begrüßte er Serafina übertrieben ehrerbietig.

«Wie geht’s, wie steht’s, werte Frau Stadtärztin? Gesund und wohlauf? Wo doch alle Welt der Katarrh plagt bei diesem Wetter …»

«Ich kann nicht klagen, lieber Stadtapotheker,», gab sie ebenso freundlich zurück, wenngleich sie überhaupt keine Lust auf ein Gespräch mit diesem Mann hatte, der im Jahr zuvor ums Haar ihre Armenapotheke hätte schließen lassen. Doch nachdem sie über Theresia herausgefunden hatte, dass er sich seine unglückliche Ehe hin und wieder mit jungen Hübschlerinnen versüßte, hatte sie ihm das Wissen um sein Geheimnis zugesteckt und hernach Ruhe vor ihm gehabt. Mehr noch, er hatte sich vom Saulus zum Paulus gewandelt.

«Und was machen die Geschäfte, Frau Serafina?»

Sie drohte ihm scherzhaft mit dem Finger. «Ihr wisst doch, dass ich meine Salben und Tränke zum Gotteslohn hergebe.»

«So war das nicht gemeint», beeilte er sich zu versichern. «Ich weiß, wie sehr Ihr Euch um die Armen bemüht. Falls es Euch an etwas fehlt, an Geierschmalz oder Krötenpulver etwa, so gebt mir nur Bescheid.»

«Habt Dank, aber ich halte mich eher an die Heilkraft der Kräuter als an solcherlei Ingredienzen. Und jetzt müssen wir weiter. Einen schönen Tag noch, Herr Stadtapotheker.»

«Euch auch, liebe Frau Serafina, Euch auch.»

Nachdem sie scheinbar eilig ihren Weg fortgesetzt hatten, sagte Grethe: «Wie freundlich dieser griesgrämige Zwerg auf einmal zu dir ist.»

«Ach, eigentlich kann er einem leidtun.»

Sie waren am Fischbrunnen angelangt, wo das Brunnenbecken, in dem sonst die Fischkörbe lagerten, mit einer dünnen Eisschicht bedeckt war. Aus der vereisten Laufrinne floss nur noch ein spärliches Rinnsal.

Serafina deutete auf die drei vernagelten Verkaufsstände vor ihnen. Die Fischhändler hatten schlichtweg nichts mehr zu verkaufen. Den kärglichen Fang, den die Fischer hie und da aus den ins Eis geschlagenen Löchern zogen, brachten sie der eigenen Familie oder verkauften ihn unter der Hand, auch wenn dies verboten war.

«Jetzt hat auch noch der letzte Fischhändler seine Laube dichtgemacht», sagte sie.

Missmutig runzelte Grethe die Stirn. «Und was soll ich jetzt künftig freitags zu Mittag kochen? Eier gibt es auch keine mehr zu kaufen. Na ja, immerhin haben wir noch Trinkwasser. Ich frage mich allerdings, wieso aus den Brunnen Wasser fließt, wo doch die Flüsse und Bäche zugefroren sind.»

«Das kommt, weil sowohl die Brunnenstube als auch die Deichelleitungen unter der Erde liegen. Das ist für das Wasser warm genug, damit es fließen kann. Unter dem Eis auf der Dreisam fließt es ja auch.»

Erstaunt sah Grethe sie an. «Was du alles weißt …»

Sie lachte «Das hat mir Adalbert erklärt, wer sonst.»

«Dein Stadtarzt ist schon ein gelehrter Mann. Und liebenswert obendrein. Was hast du nur für ein Glück, Serafina.»

Ja, das hatte sie fürwahr. Seit über einem Jahr war sie nun schon mit Adalbert verheiratet, nachdem sie anderthalb Jahre lang als Begine bei den Christoffelsschwestern gelebt hatte. An die unselige Zeit davor in Konstanz dachte sie mehr als ungern zurück.

«Er meinte auch», fuhr sie fort, «dass es noch einiges kälter werden müsste, bis selbst das Wasser für die Laufbrunnen gefriert.»

«Ich mag gar nicht daran denken, noch kälter!» Grethe schnaubte. «Gehen wir rasch zum Bäcker und Metzger und dann wieder nach Hause. Du könntest doch noch auf ein Weilchen mit ins Christoffelshaus kommen. Mutter Catharina und die anderen würden sich freuen.»

«Warum nicht? Aber wirklich nur kurz. Ich möchte nämlich wissen, warum der Bürgermeister heute eine außerordentliche Sitzung einberufen hat.»

Als sie beim Schwarzbeck ankamen, standen dort schon etliche Weiber an, und es herrschte große Aufregung.

«Der arme Schafshannes! In seinem Stall soll knöcheltief das Blut gestanden haben!» – «Erst vor zwei Tagen in der Würi, jetzt in der Oberen Au.» – «Wann tut die Stadt endlich was?» – «Ach, den hohen Herren ist das doch einerlei, wenn die Dörfler vor die Hunde gehen.»

«Was ist denn geschehen?», fragte Grethe die alte Magd neben sich.

«Sagt bloß, Ihr wisst das noch nicht, liebe Schwester? Letzte Nacht haben die Wölfe dem Hannes von der Oberen Au alle Schafe geholt. Der arme Mann!»

 

Als Serafina nach einem kurzen Besuch bei den Christoffelsschwestern zur elften Stunde heimkehrte, war Adalbert bereits von der Ratsversammlung zurück.

Er berichtete, dass ein Wolfsrudel in der vergangenen Nacht wenngleich nicht alle Schafe, so doch drei Lämmer und zwei alte Muttertiere gerissen und mit sich fortgeschleppt hatte, drüben in der Oberen Au. Der Rat habe jetzt endlich Maßnahmen ergriffen, nachdem schon zuvor ein Pferch in der Würi verwüstet worden war. Da sowohl die Obere Au als auch das Bauerndorf Würi, das sich unmittelbar vor den Toren Freiburgs längs der Dreisam erstreckte, zur Stadt gehörten, dürften nun alle, die keinen festen Stall hätten, ihre Schafe, Ziegen und Kälber in die ummauerte Vorstadt bringen.

«Hab ich das recht verstanden?» Irmla kniff die Augen zusammen. «Dann läuft bald das ganze Viehzeug bei uns in den Gassen herum?»

«Aber nein. Die Tiere von der Oberen Au sollen zu den Wilhelmiten, die von der Würi in die beiden Frauenklöster der Lehener Vorstadt. Der Ausrufer ist schon unterwegs zu den Leuten. Hoffen wir mal», er warf Serafina, die ihm erschrocken zugehört hatte, einen beruhigenden Seitenblick zu, «dass sich damit die Aufregung um die Wölfe legt.»

Kapitel 3

Am selben Abend kehrte Adalbert frohgemut von seinem Hausbesuch bei Magnus Pfefferkorn zurück. Der seit dem schrecklichen Tod seines jüngsten Sohnes vor knapp drei Jahren sichtlich gealterte Kaufmann klagte seit geraumer Zeit über Kopfschmerzen und unerklärliche Schwindelanfälle. Heute nun hatte Adalbert endlich die Ursache gefunden: Pfefferkorn war alterssichtig geworden und musste sich lediglich Augengläser anfertigen lassen, die er dann allerdings trotz seiner Skepsis auch aufsetzen sollte.

Wenn doch immer so schnell geholfen werden könnte, dachte Adalbert und freute sich schon auf einen gemütlichen Abend am Herdfeuer. Als er die Salzgasse hinter sich gelassen hatte, schlug die Kirchturmuhr des Münsters zur sechsten Abendstunde. Sofort beschleunigte er seinen Schritt, da Irmla und Serafina ab diesem Glockenschlag mit dem Abendessen auf ihn warteten.

Doch daraus sollte nichts werden. Vor seinem Haus Zum Pilger entdeckte er im Schein einer Fackel eine hochgewachsene Gestalt, die prompt auf ihn zueilte.

«Medicus Adalbert Achaz? Seid Ihr das?» Der Mann klang aufgeregt.

Er war Adalbert völlig unbekannt. Mit dem dunklen Vollbart und dem langen Zottelhaar unter der Fellmütze sah er zudem nicht gerade vertrauenerweckend aus.

«Ja. Und wer seid Ihr?»

«Ich bin Eberhard, Bannwart in der Würi und Sprecher des dortigen Dorfvogtes, aber alle nennen mich Eppe. Verzeiht, wenn ich Euch hier so im Dunkeln aufgespürt habe, aber es ist mehr als dringlich. Ist das da Eure Arzttasche?»

Kaum hatte Adalbert genickt, wandte Eppe sich um und lief auch schon los. «Dann kommt schnell», rief er über die Schulter zurück.

«Wartet. Ich sollte noch meiner Magd Bescheid geben.»

«Ist bereits getan.»

Fast im Laufschritt ging es zum Obertor.

«Was um Himmels willen ist denn geschehen?», fragte Adalbert währenddessen und musste um Luft ringen. Er war in letzter Zeit doch um einiges behäbiger geworden und sollte sich mehr bewegen.

«Im Oberdorf der Würi, vor Urbans Getreidemühle, liegt ein toter Knabe.»

«Und warum habt Ihr nicht einen unserer geschworenen Wundärzte geholt?»

Die neueste städtische Arztverordnung besagte nämlich, dass zu Schwerverletzten oder ungeklärten Todesfällen zunächst einmal Meister Henslin oder Meister Glotterer hinzugerufen wurden. Ihn selbst, möglichst in Begleitung eines Wundarztes, holte man nur noch bei eindeutig gewaltsamen Toden.

«Nun ja.» Eppe stieß hörbar die Luft aus und zögerte. «Der Leichnam ist übel zugerichtet. Beim Spielen ist der arme Kleine jedenfalls nicht umgekommen.»

Adalbert konnte nicht verhindern, dass ihm nun doch ein gewisser Schreck in die Knochen fuhr. Als Arzt hatte er zwar schon so einiges zu Gesicht bekommen, aber der Anblick von verstümmelten Kindern und jungen Menschen war jedes Mal das Schlimmste.

Sie hatten das Stadttor erreicht, das von zwei Pechpfannen rechts und links des Durchgangs spärlich erleuchtet wurde. Der Torwärter, der den Bannwart zu kennen schien, winkte sie hindurch.

«Ich bringe den Medicus hernach wieder zurück», ließ Eppe den Wächter wissen, was Adalbert einigermaßen beruhigte. «Falls schon Torschluss ist, lass ihn an der Pforte nicht unnötig warten bei dieser Kälte, verstanden?»

Heute war der Mond womöglich noch voller als in der Nacht zuvor, und so hätten sie eigentlich weder Fackel noch Handlampe für das kurze Wegstück hinüber zur Dreisambrücke gebraucht. Auf der anderen Seite des Flusses standen die ersten Häuser der Oberen Würi, darunter auch eine kleinere und eine größere Mühle. Vor Letzterer, ein Stückchen flussaufwärts, hatte sich eine Menschenansammlung gebildet, und das Wehklagen, zumal das der Weiber, zerriss Adalbert schier das Herz, als er nun näher kam. Auf dem allerletzten Stück des Weges musste er sich regelrecht zwingen, einen Schritt vor den anderen zu setzen.

Bannwart Eppe hatte ihm bereits den Weg gebahnt: «Macht Platz, hier kommt der Stadtarzt!»

Mitten vor dem Hoftor des ummauerten Mühlenanwesens, auf dessen Rückseite sich das große Rad am Würibach befand, lag etwas, das auf den ersten Blick wie ein Bündel Lumpen aussah. Nur dass sich um dieses zugedeckte Etwas eine Lache Blut auf dem vereisten Schnee ausgebreitet hatte.

«Lasst die Leute fünf Schritte zurücktreten», bat Adalbert den Bannwart, «damit ich meine Arbeit verrichten kann.»

Eppe tat, wie ihm geheißen, und die Menschen wurden still. Nur noch ein unterdrücktes Schluchzen war zu hören. Adalbert kniete vor dem Bündel nieder, holte tief Luft und schlug die Decke, die jemand über das Kind gebreitet hatte, zurück.

Ja, das Opfer war tot. Mausetot. Dass es sich bei dem Leichnam um ein Kind handelte, war nur noch an der Größe zu erkennen. Alles war voller Blut, verursacht durch zahllose Wunden, die wie Reißwunden aussahen. Das Gesicht war zum Glück weniger schrecklich zugerichtet, dafür die rechte Ohrmuschel abgetrennt. Adalbert überwand sich und schloss dem Knaben die weit aufgerissenen Augen. Da erst bemerkte er, dass gleich unterhalb der Schulter der rechte Arm fehlte – abgerissen mitsamt dem Ärmel des Wollmantels. Nur mühsam unterdrückte er einen Würgereiz, die Lampe in seiner Hand begann zu zittern.

«Seit wann liegt er hier?», fragte er den Bannwart, der tapfer in seiner Nähe ausharrte und dabei starr geradeaus schaute. Der schwarzbärtige Mann, den Adalbert zu Unrecht für einen finsteren Gesellen gehalten hatte, schien sichtlich um Fassung bemüht.

Eppe zuckte die Achseln. «Die Magd vom Großmüller hat ihn gefunden, als sie das Hoftor schließen wollte. Das ist noch nicht lange her. Aber die könnt Ihr nicht fragen, weil sie vor Schreck ohnmächtig geworden ist. Man hat sie in ihre Kammer gebracht.»

«Habt Ihr eine Vermutung, wer der Knabe ist?»

Statt Eppe antwortete ihm ein schwergewichtiger Mann, der jetzt hinter dem Bannwart hervortrat. In seinem stutzerhaften Gewand wirkte er in dieser Umgebung wie ein Pfau in einer Hühnerschar: Über den mi-parti gefärbten Beinkleidern – das eine in leuchtendem Rot, das andere froschgrün – trug er einen halblangen Mantel mit Samtverzierung und weiten, offenen Zattelärmeln, die Füße steckten in übertrieben langen Schnabelschuhen. Aus Ehrerbietung vor dem Toten hatte er seinen Biberpelzhut abgenommen, und so schimmerte sein kahler Schädel im Schein der Fackel ebenso rosig wie sein glatt barbiertes Gesicht.

«Es könnte der Junge vom Hasenbader sein. Der hat nicht weit von hier seine Badstube, mein Knecht ist schon unterwegs zu ihm. Ich war es übrigens, der die Decke geholt hat und die Meute von dem armen Kerlchen ferngehalten hat, solange der Bannwart fort war. Es ist schon unerhört, wie dreist die Leute Maulaffen feilhalten, sobald ein Unglück geschieht.»

Adalbert stimmte ihm zu. Innerlich schüttelte er jedoch den Kopf. Wer trug um Himmels willen bei diesem Wetter Schnabelschuhe!

«Und Ihr seid …?», unterbrach er den Redeschwall des Mannes.

«Meister Urban, der Großmüller, Pächter dieser Getreidemühle in dritter Generation und Dorfvogt der Würi.»

In diesem Augenblick gellte ein Schrei durch die Nacht.

«Mein Sohn! Mein kleiner Jörgelin!»

Ein untersetzter, kräftiger Mann, der stark hinkte, stürzte herbei. Adalbert beeilte sich, den Leichnam wieder vollständig zu bedecken. Der Mann ging heulend in die Knie und wollte schon die Decke wegziehen, doch Eppe riss ihn geistesgegenwärtig in die Höhe und hielt ihn fest.

Adalbert warf dem Bannwart einen dankbaren Blick zu und erhob sich ebenfalls.

«Ihr solltet ihn nicht anschauen. Nicht in diesem Zustand.»

«Ich will wissen, ob das mein Junge ist!» Verzweifelt wehrte sich der Mann gegen den festen Griff des Bannwarts.

«Der Medicus hat recht, Veit», versuchte der ihn zu beruhigen. «Das ist kein schöner Anblick.»

«Dann seid Ihr der Hasenbader?», fragte Adalbert teilnahmsvoll.

Der Mann konnte nur noch kraftlos nicken.

«Trägt Euer Junge einen grauen, kurzen Mantel? Mit einem Flicken am vorderen Saum?»

Statt einer Antwort brach der Bader in lautes Schluchzen aus.

«Bitte!», stieß er schließlich hervor. «Lasst ihn mich anschauen. Mein Weib und ich …»

«Gebt mir eine halbe Stunde», sagte Adalbert so sanft wie möglich, «dann bringe ich Euch den Knaben nach Hause. Und Ihr, Eppe», wandte er sich an den Bannwart, «könntet Ihr vielleicht den armen Mann heimführen zu seinem Weib?»

«Ist wohl das Beste», murmelte der.

«Ich danke Euch. Wir sehen uns dann später.» Er winkte den Dorfvogt heran und wartete kurz, bis sich Bader und Bannwart entfernt hatten. «Wäre es möglich, Meister Urban, dass wir den Jungen zu Euch ins Haus bringen? Ich möchte ihn so zurechtmachen, dass seine Eltern die Totenwache halten können.»

Der Getreidemüller schien nicht sonderlich erbaut. «Eigentlich mag ich keine Blutflecken in meiner Küche haben. Aber gut, bringen wir ihn in die Knechtkammer.»

Die entsetzten Dorfbewohner hatten den Kreis wieder enger um sie geschlossen. Viele von ihnen zitterten vor Kälte und Bestürzung.

«Stimmt es», bestürmten sie den Medicus, «dass da einer mit dem Beil draufgeschlagen hat?» – «Allmächtiger, wer tut so was?» – «Seid ihr dumm? Das waren die Wölfe!»

«Hört zu, Ihr Leute», bat Adalbert um Gehör. «Noch kann ich nichts mit Sicherheit sagen. Geht also zurück in Eure Häuser oder leistet den armen Eltern Beistand in dieser schweren Stunde. Allerdings bräuchten wir zwei Freiwillige, die den Pfarrer von Sankt Einbethen holen. Wer von Euch Männern also Mut hat, jetzt rasch im Dunkeln hinüber nach Adelhausen zu laufen, der hebe die Hand.»

Niemand meldete sich, und Adalbert konnte es ihnen nicht verdenken. Auch ihm wäre es bei dieser Wolfsplage derzeit angst und bange, zur Nacht ins Nachbardorf zu marschieren, auch wenn das nicht allzu weit entfernt lag.

«Mein Knecht und mein Altgeselle gehen», entschied Meister Urban und winkte zwei erschrocken dreinblickende Männer heran. «Holt euch Fackeln und Mistgabeln zur Bewaffnung, und dann ab mit euch zu Pfarrer Burkhard.»

Während der Müller sich bückte, um den Leichnam aufzuheben, entdeckte Adalbert neben der Blutlache etwas Dunkles im Schnee. Im Schein seiner Lampe hob er es auf und erkannte eine kleine, wollene Bundhaube, die dem Knaben gehört haben musste. Wahrscheinlich war sie ihm bei dem verzweifelten Kampf gegen den oder die Wölfe vom Kopf gerissen worden. Denn dass es sich um einen Wolfsangriff handelte, dessen war sich Adalbert fast sicher.

Bedrückt nahm er das Mützchen an sich und folgte dem Müller, der aufrecht und mit unbeweglicher Miene den toten Knaben durch das offene Hoftor trug.

Kapitel 4

Das war kein bestialischer Meuchelmord, das waren Wölfe, habe ich recht?», bemerkte Meister Urban in herablassendem Tonfall, während sie den weitläufigen Hof überquerten. «In meiner Eigenschaft als Dorfvogt dieser Leute erwarte ich von Euch unverblümte Offenheit, lieber Medicus.»

«Nun, es sieht ganz danach aus. Wobei mich wundert, dass sie ihre Beute nicht weggetragen haben. Aber vielleicht war es auch nur ein einziger, unerfahrener Jungwolf, der sich plötzlich gestört fühlte und die Beute zurückließ.»

Wütendes Gebell durchdrang jetzt die Dunkelheit.

«Das sehe ich ebenso», erwiderte Urban. «Übrigens haben meine Hunde vor gut einer Stunde schon einmal so laut angeschlagen. Nur leider verwahrt sich die Dorfgenossenschaft dagegen, dass ich die Hunde frei laufen lasse. Wären sie nicht an der Kette gewesen – sie hätten das Unglück ganz bestimmt verhindern können.»

«Hunde haben gemeinhin Angst vor Wölfen und ziehen bei einem Kampf den Kürzeren», entgegnete Adalbert kühl, dem das großspurige Gebaren des Müllers immer weniger gefiel.

Sie gelangten in eine stickige Kammer neben dem Schweinestall, wo eine Tranlampe unter der verschlossenen Fensterluke vor sich hin rußte. Immerhin war es durch das Vieh gleich nebenan einigermaßen warm im Raum.

Urban legten den Leichnam zwischen zwei Strohsäcken auf dem gestampften Lehmboden ab.

«Was habt Ihr nun vor?», fragte er.

«Ich werde den Knaben so weit herrichten, dass seine Eltern sich ohne Grausen von ihm verabschieden können. Hierzu brauche ich Lappen und Warmwasser.»

«Gut, ich gebe meinem Weib Bescheid.»

Der Müller verschwand nach draußen, wo er den Hunden zubrüllte, sie sollten endlich ihr verdammtes Maul halten.

Erneut kostete es Adalbert große Überwindung, die Decke von dem toten Kind zu nehmen. Er dachte daran, dass es einst auch zu Serafinas gewohnten Aufgaben gehört hatte, Tote zu waschen. Aber die waren sicherlich niemals so grausam zugerichtet gewesen wie dieser Junge hier.

Er kauerte sich nieder und betastete die wenigen unversehrten Stellen am rechten Bein. Der kleine Körper war zwar kalt, aber noch immer nicht erstarrt, auch hatten sich die Augen zuvor leicht schließen lassen. Er war also noch nicht lange tot, und Urbans Mutmaßung, dass der Wolfsangriff die Hunde aufgeschreckt hatte, mochte stimmen. Unter dem angetrockneten Blut war das Gesichtchen kalkweiß, die Kehle eindeutig durchgebissen.

Kurz schloss er die Augen und betete zu Gott, dass Jörgelin nicht lange hatte leiden müssen.

Da kehrte der Müller mit Wasserschüssel und einem Lumpen zurück. Und mit einer mehr als missmutigen Miene.

«Meine Frau hat sich geweigert mitzukommen. Angeblich muss sie sich um unsere immer noch heulende Magd kümmern. Was sind Weiber doch schwächlich.»

«Die meisten sind stärker als wir Mannsbilder», murmelte Adalbert, ohne aufzusehen.

Vorsichtig wusch er das Blut aus dem Gesicht, setzte die Bundhaube über die klaffenden Wunden an Ohr, Hinterkopf und Schläfe und band sie unter dem Kinn zu. Nicht ohne zuvor Hemd- und Mantelkragen hochgeschlagen zu haben, sodass die durchbissene Kehle nicht mehr zu sehen war. Dabei entdeckte er auf dem blutgetränkten Wollstoff gelblich-graue Fellreste, entfernte sie und knotete sie in ein Tüchlein, von denen er stets welche in der Arzttasche vorrätig hatte. Den Leichnam aus der zerfetzten Kleidung zu schälen, darauf verzichtete er – wie der geschundene Körper darunter aussah, konnte er sich lebhaft vorstellen. Zumal dort, wo der Arm abgerissen war. Es gab nun keinen Zweifel mehr.

«Es war mit Sicherheit ein Wolf», teilte er Urban mit, denn er wollte vor den Leuten im Dorf mit offenen Karten spielen. «Und spätestens der Biss in die Kehle war tödlich. Wenn Ihr mir jetzt noch ein sauberes Tuch als Leichentuch geben könntet? Darin wollen wir ihn einwickeln, damit seine Eltern ihn zur Totenwache aufbahren können.»

Urban zog das Tuch von einem der Strohsäcke ab.