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Astrid Fritz

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Beschreibung

Ein bewegender und spannender historischer Roman aus dem mittelalterlichen Freiburg Begine Serafina hat sich in ihrer neuen Heimat gut eingelebt. Da erschüttert ein schlimmer Frevel Freiburg. Entweihte Hostien – im Münster, dem heiligsten Ort der Stadt! Der alte Kreuzbruder des Gotteshauses - grausam ermordet! Der Verdacht fällt auf einen jüdischen Schuster, der unter der Folter auch alles gesteht, was man von ihm hören will. Serafina indes hat einen anderen Verdächtigen im Blick. Doch dann geschehen Dinge, die Serafina an ihrem heimlichen Verbündeten, dem Stadtarzt Achaz, zweifeln lassen … Nach «Das Aschenkreuz» der zweite Band in der historischen Krimiserie um die scharfsinnige Begine Serafina.

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Astrid Fritz

Hostienfrevel

Historischer Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Ein bewegender und spannender historischer Roman aus dem mittelalterlichen Freiburg

Begine Serafina hat sich in ihrer neuen Heimat gut eingelebt. Da erschüttert ein schlimmer Frevel Freiburg. Entweihte Hostien – im Münster, dem heiligsten Ort der Stadt! Der alte Kreuzbruder des Gotteshauses - grausam ermordet! Der Verdacht fällt auf einen jüdischen Schuster, der unter der Folter auch alles gesteht, was man von ihm hören will. Serafina indes hat einen anderen Verdächtigen im Blick. Doch dann geschehen Dinge, die Serafina an ihrem heimlichen Verbündeten, dem Stadtarzt Achaz, zweifeln lassen …

Nach «Das Aschenkreuz» der zweite Band in der historischen Krimiserie um die scharfsinnige Begine Serafina.

Vita

Astrid Fritz studierte Germanistik und Romanistik in München, Avignon und Freiburg. Anschließend arbeitete sie als Fachredakteurin in Darmstadt und Freiburg und verbrachte drei Jahre in Santiago de Chile, bevor sie Bestsellerautorin wurde. Heute lebt sie in der Nähe von Stuttgart.

Mehr über die Autorin finden Sie unter www.astrid-fritz.de

Weitere Veröffentlichungen:

Die Hexe von Freiburg

Die Tochter der Hexe

Die Gauklerin

Das Mädchen und die Herzogin

Der Ruf des Kondors

Die Vagabundin

Die Bettelprophetin

Der Pestengel von Freiburg

Die Himmelsbraut

Wie der Weihnachtsbaum in die Welt kam

Das Aschenkreuz

Dramatis personæ

Die Hauptpersonen

Serafina Stadlerin: Hat zwar die dreißig eben überschritten, zieht aber mit ihrem hübschen Gesicht und den tiefblauen Augen unter dunklen Brauen noch immer so manche Männerblicke auf sich, selbst in ihrer Beginenkutte. Ihre forsche, neugierige Art bringt sie gern in Teufels Küche. Sie fühlt sich wohl in ihrer neuen Heimatstadt Freiburg, doch ihre Konstanzer Vergangenheit droht sie immer wieder einzuholen.

Adalbert Achaz: Studierter Medicus. Groß und kräftig, stellt er ein reifes, durchaus stattliches Mannsbild dar. Als einsamer Wolf lebt er mit seiner alten Magd zusammen und gibt sich der Frauenwelt gegenüber eher unbeholfen. Der frischgebackene Stadtarzt kommt ebenfalls von Konstanz nach Freiburg, und das anfangs ganz und gar nicht zu Serafinas Freude. So stehen sich die beiden auch mitunter mehr im Wege, als es dem Lauf der Dinge förderlich wäre.

Die Schwesternsammlung zu Sankt Christoffel

Grethe: Die Jüngste im Bunde. Fröhlich, großherzig und allem zugetan, was mit Kochen, Backen und mit Essen überhaupt zu tun hat. Letzteres ist ihrem rundlichen Leibesumfang deutlich anzusehen. Ist für Serafina schnell zur guten Freundin geworden.

Adelheid von Ederlin: Jung und schön, aus vornehmstem Freiburger Geschlecht. Ist künstlerisch begabt und liest heimlich mystische Schriften, was in einer Zeit allseitigen Ketzereiverdachts nicht ungefährlich ist. Ansonsten lässt sie liebend gern andere für sich arbeiten.

Heiltrud: Sie gibt die frömmlerische, sauertöpfische Meckertante, doch Serafina weiß inzwischen, wie sie sie zu nehmen hat.

Mette: Ein ängstliches, kränkliches Persönchen, das sich als Magd krumm und bucklig geschuftet hat. Darf jetzt ihren Lebensabend mit leichteren Arbeiten wie Kerzenziehen gestalten.

Meisterin Catharina: Hält als strenge, aber gutmütig-gerechte Meisterin Aufsicht über die Ordnung des kleinen Konvents. Vor allem im Streitschlichten hat sie ein begnadetes Händchen und lässt auch mal fünfe gerade sein. Hat vielleicht auch sie ihr kleines Geheimnis?

Und natürlich Serafina als Neuzugang – siehe oben.

Serafinas Bekanntenkreis

Bettelzwerg Barnabas: Als seltsamer Kauz und Narr stadtbekannt und Serafina in großer Verehrung zugeneigt. Nur allzu gern unterstützt er sie daher bei ihrer Spurensuche.

Kräuterfrau Gisla: Klein und wendig und dank ihrer Kräutertränke fit im hohen Alter. Von ihr bekommt Serafina manch guten Tipp.

Ratsherr Laurenz Wetzstein: Zunftmeister der Bäcker. Schmerbauchiger kleiner Mann, der als besonnen und gerecht gilt. Für Serafina ein Fels in der Brandung, wenn den übrigen Freiburger Ratsherren wieder einmal nicht zu trauen ist.

Die Wetzsteinin: Laurenz Wetzsteins Ehegenossin. Eine herzliche und auskunftsfreudige Frau, die Serafinas Schwesternsammlung großzügig unterstützt.

Irmla: Adalbert Achaz’ bärbeißige alte Magd. Aus rauem Holz geschnitzt, ihrem Dienstherrn dafür umso treuer ergeben.

Der Rote Luki: Freiburger Betteljunge, der gegen ein paar Silberpfennige alles macht – oder machen lässt

Die Beutlerzwillinge: Enkel der alten Beutlerwitwe. Auf die Bekanntschaft der beiden bildhübschen Tunichtgute, die stets auf Zwist und Händel aus sind, könnte Serafina liebend gerne verzichten.

Freiburger Bürger

Der Judenschuster Mendel: Außer in seinem Handwerk auch sehr rührig im Geldverleih, was ihm unter den Freiburgern nicht nur Freunde beschert. Ansonsten ein fescher Kerl im besten Alter und in Sachen Frauen kein Kostverächter.

Ruth Mendelin: Mendels schüchterne junge Frau, die ihrem Mann ein Kind nach dem anderen gebiert und ansonsten brav schweigt.

Die Juden Löw und Salomon: Mendels Freunde und Glaubensgenossen, die im Fernhandel äußerst erfolgreich sind – sehr zum Leidwesen der christlichen Freiburger Kaufmannschaft.

Glasmaler Fridlin Grasmück: angenehmer, ein wenig schwatzhafter Mensch, der erst vor kurzem als Meister nach Freiburg gekommen ist. Hat ein begnadetes Händchen für die Malerei; weit weniger allerdings für die Frauenwelt.

Benedikta Grasmückin: Fridlins Ehegefährtin – jung, bildschön und maßlos verwöhnt.

Ratsherr Sigmund Nidank: Gehört zu den Edlen der Edlen Freiburgs, wobei seine geheimen Vorlieben alles andere als edel sind. Einem anderen wäre dies längst zum Verhängnis geworden, nicht indessen diesem aalglatten, mächtigen Ratsherrn.

Kornhändler Nikolaus Allgaier: Schwager von Fischhändler Fronfischel. Schwerreicher Maul- und Weiberheld, der in unserer Geschichte eine stumme, dafür umso gewichtigere Rolle spielt.

Allgaier Junior: Frischgebackener Medicus aus Bologna, auf der Suche nach einer Anstellung. Ist seinem Vater Nikolaus Allgaier alles andere als wohlgesinnt.

Fischhändler Sebast Fronfischel: Der nette Mann vom Markt, der über Gott und die Welt zu tratschen weiß. Steht nur leider unter dem Pantoffel seiner ganz und gar nicht netten Ehegefährtin

Else Fronfischelin: Sie hat die Hosen an im Hause Fronfischel. Um im Leben voranzukommen, lässt sie sich keine Steine in den Weg legen, im Gegenteil …

Küster der Münsterpfarrkirche: Freundlicher, älterer Mann von einfachem Gemüt, der sich weidlich ausnutzen lässt und damit eine böse Geschichte ins Rollen bringt.

In kleineren, dennoch wichtigen Rollen

Der alte Kreuzbruder: Wächter des Münsters, dem seine Gebrechlichkeit zum Verhängnis wird.

Silberkrämer Schneehas: Bei den Juden hochverschuldeter Ratsherr. Ausgerechnet er dient als Schöffe dem Gericht.

Bruder Matthäus: Der offenherzige Prior der Wilhelmiten-Mönche ist ein guter alter Bekannter von Meisterin Catharina.

Quintlin, der Goldschmied: Fürchtet um das Seelenheil seiner lieben Frau und fährt aus diesem Grund gegen die Beginen scharfes Geschütz auf.

Metzgermeister Eberhart Grieswirth: Gehört mit allerlei schmerzhaften Zipperlein zu den Dauerpatienten des Stadtarztes.

Hure Theresia: Scheut in ihrem Handwerk nicht davor zurück, auch Außenseitern dienstbar zu sein, was ihr zum Verhängnis zu werden droht.

Clausmann: Kranker alter Scherenschleifer, den unsere Schwestern aus gutem Grund nur zu zweit besuchen.

Beutlerwitwe: Ebenfalls eine von Serafinas Patienten, an deren kranken Fuß sie ihre Heilkünste erprobt.

Witwe Schwenkin: Gehört zu den ewig Gestrigen, die immer noch glauben, die Juden seien auf Knabenblut aus.

Pongratz: Seines Handwerks ein Seiler und für die Christoffelsschwestern die gute Seele von nebenan.

Wundarzt Meister Henslin: Darf trotz seines niedrigen Ranges hin und wieder in besseren Kreisen wandeln (wenn auch nur in schäbigen Hinterzimmern).

Gallus Sackpfeiffer: Als Büttel ein äußerst grober Klotz, was manches Mal allerdings auch hilfreich sein kann.

Rupert: vierschrötiger, zottelbärtiger Kerl, seines Zeichens Hundeschläger und Kloakenkehrer, der zu derben Scherzen neigt.

Historische Mitspieler

Elisabeth Marschelkin: Sie war zu Anfang des 15. Jahrhunderts Meisterin der frommen Schwestern Zum Lämmlein, die sich hauptsächlich durch ihren Gewerbefleiß im Spinnen und Weben hervortaten.

Der Edle Hanman von Todtnau: Anno 1415 Freiburger Schultheiß und damit Gerichtsvorsitzender. Entstammte, wie es in Freiburg für dieses höchste Amt üblich war, einem vornehmen Geschlecht.

Herzog Friedrich IV. von Tirol: Der auch «Friedrich mit der leeren Tasche» genannte Habsburger regierte seit 1402 die österreichischen Vorlande, wozu auch das Breisgau mit Freiburg gehörte. Sein Bündnis mit dem Gegenpapst Johannes XXIII. brachte den Herzog jedoch in arge Bedrängnis. Als dessen Fluchthelfer wurde er zur Strafe von König Sigismund entmachtet, und Freiburg wurde (bis 1427) Freie Reichsstadt – zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte.

König Sigismund: Ab 1411 war der hochgebildete und lebenslustige Spross aus dem Geschlecht der Luxemburger römisch-deutscher König, von 1433 an schließlich römisch-deutscher Kaiser. Auf dem Konzil zu Konstanz schaffte er es tatsächlich, die Einheit der Kirche wiederherzustellen, was dem obigen Freiburger Landesherrn nicht gut bekam.

Prolog

 

Der alte Kreuzbruder, der das Münster bis zum nächtlichen Torschluss zu bewachen hatte, gähnte. Von draußen hörte er den Nachtwächter sein Lied singen: «… Böser Feind, hast keine Macht, Jesus betet, Jesus wacht …»

Wo blieb der Küster nur so lange? Ihm war kalt, und er hatte wieder dieses Reißen in den Gliedern. Statt hier im Halbdunkel auszuharren, wünschte er nichts sehnlicher, als sich endlich auf dem Bett ausstrecken zu dürfen, drüben in seinem bescheidenen Häuschen an der Friedhofsmauer.

Einmal mehr beklagte er sich innerlich, dass er in seinem hohen Alter einem solch harten Broterwerb nachgehen musste. Selbst im Sommer war es hier in Unser Lieben Frauen Münster, der Pfarrkirche der Freiburger, kalt, düster und feucht, während draußen die Sonne brannte, und an manchen Tagen, wenn das Wetter umschlug wie heute, bekam er kaum noch die Knie gebeugt, tappte steifbeinig hin und her wie auf Stelzen. Sich einmal nur, für ein kleines Weilchen, auf den Bänken der Vornehmen oder im Chorgestühl auszuruhen war ihm streng verwehrt.

Nein, das war nicht schön. Doch was blieb ihm anderes übrig, wollte er nicht der Armenfürsorge zur Last fallen? Angehörige, die für ihn aufkamen, hatte er keine.

Er zuckte zusammen. Was war das plötzlich für ein Geräusch? Es klang, als ob sich jemand an einer Tür oder Schublade zu schaffen machte. Ein leises Klopfen, dann wieder das Scharren und Ruckeln. Es kam aus Richtung des Kreuzaltars, dessen Kerzen er bereits gelöscht hatte, nachdem der letzte Kirchgänger fort war.

Im schwachen Schein seiner Tranlampe schlurfte er verunsichert durch die Finsternis. Nur noch ein Ewiges Licht brannte jetzt in der Tiefe des Kirchenschiffs. Huschte dort nicht ein Schatten vom Tabernakel weg? Sein Herz schlug schneller.

«Wer da?», rief er mit brüchiger Stimme. Niemand antwortete. Er lauschte in die Stille, mit gesenktem Kopf und eingezogenen Schultern, bis er mit einem Mal schräg hinter sich eilige Schritte vernahm. Ihr Hall pflanzte sich durch das Kirchenschiff fort, als ihn im nächsten Augenblick auch schon ein dumpfer Schlag gegen den Hinterkopf zu Fall brachte. Ihm wurde schwarz vor Augen. Unter dem dünnen Stoff seines Mantels spürte er die Kälte des Steinbodens, dann etwas Süßes, Klebriges an den Lippen. Jemand flößte ihm eine Flüssigkeit ein, ohne dass er sich zu wehren vermochte. Es schmeckte und roch nach schwerem, altem Wein. Was für ein guter Tropfen, dachte er noch. Ein wirklich guter Tropfen, wäre da nicht dieser bittere Beigeschmack …

Dass er nur wenig später quer durch das Münster geschleift wurde, spürte er schon nicht mehr.

Kapitel 1

 

«Nein, du musst draußen bleiben!», sagte Serafina streng. «Das weißt du doch.»

Der kleine hellbraune Hund, der sie vom Hühnerstall zur Haustür begleitet hatte, legte den Kopf schief und begann mit seiner drollig geringelten Rute zu wedeln. Gleichzeitig hob er bettelnd eine Pfote. Serafina musste lachen und kraulte ihm den Nacken.

«Ach Michel, mach mir’s doch nicht so schwer. Du bist ein Hofhund und kein englisches Schoßhündchen! Außerdem hast du ganz dreckige Pfoten.»

Michel war Serafina im Sommer dieses Jahres zugelaufen und lebte seither als einziges männliches Wesen in der kleinen Schwesternsammlung Zum Christoffel. Er hatte sie einst aus einer mehr als brenzligen Situation gerettet, und zum Dank dafür hatte er bleiben dürfen. Fortan wachte er nicht nur über Haus und Hof, sondern begleitete Serafina und ihre Mitschwestern durch die Freiburger Gassen, wenn sie sich bei Einbruch der Dämmerung auf den Weg zu den Kranken oder Sterbenden der Stadt machten. So klein und zierlich das Tier war, so kämpferisch stellte es sich allem entgegen, was sich den Frauen auf mehr als zwei Schritte näherte. Auch wenn in ihrem Regelbuch verzeichnet stand, dass man das Haus eigentlich nur zu zweit verlassen durfte, war dies mit Michels Einzug nun keine Frage mehr.

«Du bist wie immer die Letzte!» Heiltrud zog Serafina mit einem missbilligenden Kopfschütteln zu sich in den Flur herein. «Nun mach schon!»

Hastig schloss sie die Tür, bevor der Hund womöglich hereinschlüpfen würde. Die Wahrheit war: Zwar mochte auch Heiltrud nicht auf Michels nächtlichen Begleitschutz verzichten, doch leiden konnte sie den einstigen Straßenköter deshalb noch lange nicht.

Sie nahm Serafina das Körbchen mit den Eiern aus der Hand. «Wir werden noch zu spät zur Frühmesse kommen.»

«Ach was.» Serafina kniff ihr in die hagere Wange. «Jetzt schau nicht so grämlich drein. Das wird ein wunderschöner Tag heute, sonnig und warm wie im Frühjahr.»

Sie wechselte die Holzpantinen gegen ihre Straßenschuhe, als sich die Stubentür öffnete und nacheinander Meisterin Catharina, die schöne Adelheid und die krumme alte Mette in den Flur traten. Als Letztes erschien Grethe, die Jüngste im Bunde und Serafinas beste Freundin. Sie alle waren bereits gerichtet an diesem frühen Sonntagmorgen, im langen Kapuzenumhang über der aschgrauen Tracht und mit festem Schuhwerk. Grethe kaute verstohlen mit vollen Backen, und Serafina verkniff sich ein Grinsen. Wahrscheinlich hatte die Gute sich noch rasch einen Zipfel Wurst in den Mund gestopft, als Wegzehrung. Täuschte sie sich, oder war Grethe in letzter Zeit noch rundlicher geworden?

Sie streifte sich ihren Umhang über, während die anderen in die Trippen schlüpften, die auf dem Bänkchen neben der Haustür bereitstanden. Seit etlichen Tagen schon konnte man die Straße nicht mehr ohne diese hölzernen Untersätze betreten, so verschlammt war alles vom ewigen Herbstregen. Durch ihren Hof hatten sie schon kreuz und quer Bretter verlegt, um nicht durch den knöcheltiefen Matsch waten zu müssen.

«Können wir?», fragte die Meisterin über die Schulter blickend.

«Ja», erwiderte Serafina und fuhr rasch mit ihren Schuhen in das Lederband der Holztrippen. In letzter Zeit wurde sie morgens tatsächlich meist als Letzte fertig, was aber nur daran lag, dass sie für die Hühner und Ziegen zuständig war und noch vor der Messe die Eier aus dem Stall holte. Und auch daran, dass sich die Suche nach den Eiern zur kalten Jahreszeit hin immer schwieriger gestaltete. Je weniger die Hennen legten, umso geschickter wussten sie ihre Eier zu verstecken.

«Warte.» Heiltrud zupfte ihr an Schleier und Gebände herum. «Wie das aussieht! Überall stehen Haare heraus. Wird Zeit, dass wir sie dir wieder kurz schneiden.»

Serafina stieß einen übertriebenen Seufzer aus. Einst war ihr langes, kräftiges Haar, das mit seiner dunklen Farbe in auffallendem Gegensatz zu ihren blauen Augen stand, ihr ganzer Stolz gewesen. Und hier, bei den Freiburger Schwestern, wurde es viermal im Jahr fast stoppelkurz geschnitten. Was für ein Frevel!

«Jetzt lass gut sein, Heiltrud.» Sie schob ihre Gefährtin mit sanfter Nachdrücklichkeit in den Hof hinaus, wo die Meisterin schon wartete, um endlich abzuschließen. «Gib lieber acht, dass du nicht vom Brett rutschst.»

Auch wenn ihr Heiltruds verbiesterte Art manchmal gehörig gegen den Strich ging, so hatte sie sie doch längst ins Herz geschlossen – wie die anderen Frauen auch, mit denen sie nun schon seit ihrer Ankunft in Freiburg im Frühjahr in engster Gemeinschaft lebte. Jede von ihnen hatte ihre Eigenheiten und war doch auf ihre Art liebenswert: die schöne Adelheid aus vornehmem Hause, die sich vor jeder handfesten Arbeit drückte, um sich ihren mystischen Schriften zu widmen, die alte, kränkliche Mette, sie sich als Magd krumm geschafft hatte und nun ihren Lebensabend außer mit tätiger Nächstenliebe beim Kerzenziehen in ihrer kleinen Werkstatt verbrachte, dann Catharina, die als gewählte Meisterin auf mütterliche Weise so streng wie nachsichtig Haus und Gemeinschaft zusammenhielt, dazu Grethe, ihre fröhliche, unbeschwerte und stets hungrige Freundin, die als Köchin des Hauses eine wahre Meisterin war, und eben jene verhärmte Heiltrud, der das Schicksal in jungen Jahren übel mitgespielt hatte und die ihren weichen Kern hinter einem griesgrämigen, frömmlerischen Wesen verbarg.

Es musste lustig aussehen, wie sie da jetzt, alle im gleichen dunklen Kapuzenumhang gewandet, hintereinander über die Holzbohlen stapften, quer durch den Hof im Gänsemarsch, wobei Heiltrud, die vor Serafina einherstakste, eher an einen ausgemergelten alten Storch erinnerte. Und wieder einmal, wie so oft, durchfuhr Serafina ein Schauer des Glücks, dass sie an diesem Ort gelandet war. Das war erst vor einem guten halben Jahr gewesen, doch manchmal kam es ihr vor, als lebte sie schon seit Jahren mit diesen Frauen im Haus Zum Christoffel.

Sie traten durch den Torbogen hinaus aufs Brunnengässlein, das still und verschlafen in der kühlen Morgendämmerung lag. Die Läden von Seilermeister Pongratz’ Werkstatt gleich gegenüber waren noch fest verschlossen.

«Es ist wirklich ein herrlicher Morgen!» Grethe deutete nach oben. «Keine einzige Wolke am Himmel. Dazu diese klare Luft!»

Auch die anderen waren stehen geblieben und blickten freudig überrascht in den wolkenlosen Himmel. Bald schon würde sich die Morgensonne über die Dächer der Stadt schieben und ihnen einen milden Herbsttag bescheren. Damit hatte das nasskalte Schmuddelwetter der letzten Wochen wohl hoffentlich vorerst ein Ende, indessen würde es noch Tage dauern, bis die Gassen und Plätze getrocknet waren.

Und bis die fauligen Dämpfe verflogen waren, dachte Serafina und rümpfte die Nase. Selbst in ihrem engen, verwinkelten Gässchen, in dem keine schweren Fuhrwerke den aufgeweichten Boden durchpflügten, stand eine stinkende Brühe in den Mulden und Löchern. Die ansässigen Handwerker, zumeist einfache Schneider, Schuhmacher und Seiler, warfen hier wie anderswo Küchenabfälle und Stallmist einfach vor die Haustür, auch wenn das inzwischen verboten war. Wer keine Abortgrube im Hof besaß, wie die meisten hier, entsorgte heimlich im Dunkeln die Nachttöpfe oder die Schüsseln mit dem Aderlassblut durch das Fenster.

Ein Paradies für Ratten, umherstreunende Schweine und Hunde war das, und was von den Tieren verschmäht wurde, verfaulte und mischte sich mit dem schlammigen Boden zu einem ekligen Morast. Gepflastert waren nämlich nur die vornehme Salzgasse und die Große Gass als Marktgasse, doch selbst dort verstopfte der allgegenwärtige Unflat die Gossen auf der Straßenmitte und hatte bei dem ständigen Regen das Pflaster mit einer glitschigen Masse überzogen. Da halfen die paar Trittsteine hie und da wenig, um sauberen und trockenen Fußes voranzukommen. Kein Wunder, dass sich die vornehmen Geschlechter der Stadt in Sänften durch die Gegend tragen ließen.

Ob es den Menschen je gelingen würde, über ihren eigenen Dreck Herr zu werden?

Grethe schien ihre Gedanken erraten zu haben.

«Wart ab, spätestens kurz vor Martini taucht ein Heer von Mistdirnen und Kloakenkehrern auf und schafft den ganzen Mist auf großen Fasskarren vor die Stadt. Weil dann die fremden Kaufherren zum Jahrmarkt nach Freiburg kommen und es schön haben sollen.»

«Nur leider nicht in unserem Brunnengässlein.» Die Meisterin setzte einen vorsichtigen Schritt über die erste Pfütze und verzog das Gesicht. «Da müssen wir wohl wieder selbst mit Hand anlegen. Dabei schaffen wir Frauen unseren Unrat brav jede Woche vor die Stadt.»

Grethe und Serafina folgten ihr. So zaghaft, wie sie sich durch die verschlammte Gasse arbeiteten, würden sie tatsächlich zu spät zur Messe kommen, auch wenn es bis zur Klosterkirche der Barfüßermönche, unter deren geistlicher Betreuung die Freiburger Regelschwestern standen, nur ein Katzensprung war.

«Was den Martinimarkt betrifft», nahm Grethe den Faden wieder auf und sah dabei ihre Meisterin auffordernd an, «werden wir wieder zusammen hingehen? Das letzte Mal hatten wir so viel Spaß mit all den Gauklern und Spielleuten.»

«O ja, bitte!» Der angeekelte Ausdruck aus Adelheids Gesicht verschwand sofort. «Gleich zu Martini selbst, da ist am meisten los in der Stadt.»

«Meinetwegen.» Catharina lächelte gutmütig. «Aber dir, Grethe, sag ich’s gleich: Nicht dass du wieder heimlich zum Tanzboden verschwindest.»

Serafina starrte angestrengt vor sich hin. Und das nicht etwa, weil sie Angst hatte, ihre Trippen in dem klebrigen Morast zu verlieren.

Grethe stieß sie in die Seite. «Was ist mit dir?»

«Nichts. Gar nichts.»

Dabei hatte sich ihr eben bei den Worten Jahrmarkt und Gaukler die Brust schmerzhaft zusammengezogen. Nein, sie war noch lange nicht darüber hinweg, auch wenn sie es sich in ihrer neuen Freiburger Heimat so gerne einredete. In Konstanz hatte sie sich wenigstens bei ihren Freundinnen ausheulen können, wenn ihr wieder einmal das Herz schwer wurde darüber, dass sie ihren Sohn zuletzt als zehnjährigen Knaben gesehen hatte. Hier indessen musste das ein Geheimnis bleiben – ein Geheimnis, an dem sie noch immer trug wie an einem Mühlstein um den Hals.

Kapitel 2

 

Eigentlich hatte Serafina eine gute Kindheit verlebt. Im berg- und waldreichen Hinterland der Habsburgerstadt Radolfzell am Bodensee war sie auf dem Dorf groß geworden, mit allen Pflichten und Entbehrungen, die Kinder auf dem Land hinzunehmen hatten, aber auch mit vielen Freiheiten. Da ihr Vater, Petermann Stadler, Schultes war und somit ein angesehener Mann, hatten sie auch in kargen Jahren niemals hungern müssen. Und das, obwohl das ganze Haus voller Kinder war und noch dazu eine unverheiratete alte Muhme mitversorgt werden musste.

Sie selbst war die Drittgeborene, nach zwei Brüdern. An ihre Mutter erinnerte sie sich kaum, verlor sie doch zwei Geburten später im Kindbett ihr Leben. Da war Serafina gerade erst vier oder fünf Jahre alt gewesen. Der kleine Säugling folgte der Mutter schon kurz nach der Taufe in die Ewigkeit, und so lebte ihr Vater eine Zeitlang als Witwer allein mit seinen beiden Söhnen Peter und Nikolaus, die schon kräftig auf den Feldern und bei der Stallarbeit mithalfen, sowie Serafina und der nachgeborenen Elisabeth. Damit sich jemand um die Mädchen kümmerte, hatte ihr Vater schließlich seine unverheiratete Base Irmgart auf den Hof geholt, die bald schon mit eiserner Hand regierte. Serafina musste ihr beim Kochen, Putzen und Waschen zur Hand gehen, lernte Brot zu backen, zu buttern, Fleisch zu pökeln und Feldfrüchte einzumachen. Hin und wieder entkam sie dem strengen Blick ihrer Muhme, wenn sie hinausgeschickt wurde, um Löwenzahn für die Hasen und Ziegen zu pflücken oder Beeren, Pilze und Kräuter zu sammeln. Oder im Herbst dann die Nüsse, die für den Winter zu Öl gemahlen wurden.

Die alte Irmgart war es auch gewesen, die ihrem Vater in den Kopf setzte, sich wieder zu verheiraten. Petermann Stadler war ein stattlicher und kluger Mann, den Serafina zeitlebens bewundert hatte. Er wusste über alles Bescheid: über den Lauf der Gestirne, darüber, wie man Bier braute, wie Schleif- und Papiermühlen arbeiteten oder was die Köhler in ihren Meilern draußen im Wald taten. Trotz der Arbeit auf dem Hof und seiner Aufgaben als Dorfschultes hatte er noch immer die Zeit gefunden, seinen beiden Knaben Lesen, Schreiben und ein klein wenig Rechnen beizubringen. Serafina hatte diese Welt der Zahlen und Buchstaben mehr als aufregend gefunden und nach einigem Betteln bei den Unterrichtsstunden still dabeisitzen dürfen. Sie würde nie vergessen, wie ihr Vater Mund und Augen aufgesperrt hatte, als sie ihm eines Abends stockend aus der Heiligen Schrift vorgelesen hatte, wobei sie natürlich keinen Deut all dieser lateinischen Worte verstand.

Wie eine alte Kupplerin hatte ihre Muhme Irmgart eines Tages ein junges Mädchen aus Radolfzell ins Haus geschleppt – nicht sonderlich hübsch, aber gesund und kräftig. Jung genug, um dem nicht mehr ganz so jungen Petermann Stadler noch weiteren Nachwuchs gebären zu können. Auch wenn der Herrgott so manches der Kinder wieder zu sich genommen hatte – auch ihren älteren Bruder Nikolaus, der an den Pocken starb –, so lebten doch mit der neuen Mutter bald sieben Kinder im Haus, aufgeteilt auf zwei Schlafkammern unterm Dach, die sie noch mit der Magd und der Muhme teilten.

Da fiel es nicht weiter auf, dass auch Ursula, Serafinas beste Freundin von Kindesbeinen an, bei ihnen ein und aus ging, als würde sie dazugehören. Die zarte und ein wenig kränkliche Tochter des Schmieds hatte als Einzige im ganzen Dorf keine Geschwister: Ihre Mutter hatte nach ihr eine Fehlgeburt erlitten und konnte seither keine Kinder mehr bekommen. Hierüber war die Frau der Melancholie verfallen, würdigte ihre einzige Tochter keines Blickes, und auch ihr Ehegefährte wurde mehr und mehr zu einem bärbeißigen Sonderling. Diesem freudlosen Haus entfloh Ursula nur allzu oft, ging es doch beim Dorfschultes meist fröhlich zu. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass Serafinas Stiefmutter ihre angeheirateten Kinder nicht sonderlich mochte und sich, eitel und putzsüchtig, wie sie war, zeitlebens zurück in die Stadt sehnte.

So war Serafina älter und größer geworden, hütete die jüngeren Geschwister, bestellte ganz allein den Gemüsegarten, kümmerte sich um Essen und Vorräte und fand doch immer wieder Zeit, mit Ursula und den anderen Kindern durch die Gegend zu streifen. Am Ende pflegte sie die alte Irmgart bis zu deren Tode – da war sie schon zu einem hübschen jungen Mädchen herangewachsen, mit ebenmäßigen Gesichtszügen und einem feingezeichneten Mund. Dazu hatte sie von der Mutter das kräftige dunkle Haar und vom Vater die tiefblauen Augen geerbt. Sie selbst war sich ihres Aussehens nicht bewusst, bemerkte aber sehr wohl die begehrlichen Blicke, die sie seitens der Männerwelt auf sich zog.

Das war auch die Zeit, in der die Stiefmutter sie am liebsten im Haus eingesperrt hätte und ihren Streifzügen durch die Wiesen und Wälder kurzerhand ein Ende machte.

«Du weißt gar nicht, was da draußen alles geschehen kann – kein Mensch kommt dir zu Hilfe, wenn … wenn …»

«Wenn was?» Serafina hatte ihre Stiefmutter herausfordernd angesehen.

«Nun ja, wenn eben die Mannsbilder an dich gehen und mit dir Dinge tun, die du nicht verstehst. Und die dich ins Verderben stürzen.»

Da hatte sie fast laut lachen müssen. Weder ihr noch den anderen Mädchen hier im Dorf hätte man erklären müssen, was in der Natur der Sache lag: Die Rüden bestiegen die läufigen Hündinnen, die Bullen die Kühe, und die Menschen taten, kaum dass sie erwachsen waren, ebendasselbe. Auch ihre Stiefmutter und ihr Vater liebten sich, wenn sie des Samstags nach dem wöchentlichen Bad in ihrer Kammer verschwanden, mit unüberhörbarem Stöhnen, was ihre Brüder oft genug nachäfften, unter dem allseitigen Gelächter der anderen.

Ohnehin hatte Serafina längst keinen Spaß mehr an Kindereien wie Bäche aufstauen oder Waldhütten bauen. Viel spannender war nun, was im Dorf geschah. Nach den Sonntagsgottesdiensten, wenn die Männer im Wirtshaus verschwanden und die Frauen zu Hause in ihren Küchen, trafen sich die Jungen unter der Linde, neckten sich und beäugten sich, wobei sich so mancher Anlass zu einem verstohlenen Kuss fand. Erst recht bei den Dorffesten oder zu Ostern und zur Kirchweih beim Tanz, an Pfingsten beim Wettlauf und Ringstechen, am Johannifeuer zur Sommersonnwende, zur Weinernte, zum Schlachtfest um Martini und im Winter dann nach der Arbeit in den Spinnstuben – Gelegenheiten, einander näherzukommen, gab es zuhauf.

Im Gegensatz zu der schüchternen Ursula fand Serafina nichts dabei, dass die Burschen aus dem Dorf nun ganz anders mit ihnen umgingen als früher. Wobei es, was Serafina betraf, große Unterschiede gab: Die einen starrten sie, wo immer sie auftauchte, unverhohlen an, nicht selten mit einem blöden Grinsen im Gesicht, die anderen blickten scheu zur Seite oder wurden rot bis über beide Ohren, wenn Serafina sie anlachte. Mitunter, wenn zu viel Bier im Spiel war, konnten die frecheren unter den Burschen auch unflätig und grob werden. Doch Serafina wusste sich zu wehren. Obschon sie immer noch recht zierlich und klein gewachsen war, war sie kräftig, wendig und zäh. Das hatte sie schon als Kind so manche Rauferei gewinnen lassen.

Diese unbeschwerte Zeit fand ein jähes Ende, als ihre Stiefmutter sie mit vierzehn Jahren fortschickte, in Stellung als Magd bei einer ihrer weitläufigen Verwandten in Radolfzell. Serafina hatte Rotz und Wasser geheult beim Abschied von den Geschwistern und erst recht von ihrer Freundin.

«Das ist nun mal der Lauf der Dinge», versuchte Ursula sie zu trösten. «Und besser Dienstmädchen in einem feinen Bürgerhaushalt als Stallmagd auf einem verlotterten Hof. Wahrscheinlich hast du sogar ein Riesenglück.»

«Aber warum musst du nicht fort?»

«Weil ich das einzige Kind bin und mich zudem um die kranke Mutter kümmern muss. Glaub mir, das ist auch nicht immer schön.»

So war Serafina denn an Martini, wenn das Gesinde gemeinhin seine neue Stellung antrat, losgewandert, bei kaltem Nieselregen und mit brennendem Schmerz in der Brust. Ihr Vater hatte sie begleitet, ein Handpferd mit ihrem wenigen Gepäck am Strick, wortlos und ebenso traurig wie sie selbst.

 

Das Haus von Bäckermeister Frühauf befand sich an der Gasse zwischen Obertor und Markt. Es war um einiges größer und vornehmer als alle Häuser, die Serafina je von innen gesehen hatte, mit seinem ausladenden steinernen Sockel, der Backstube und Lager beherbergte, und den vielen Räumen in den Stockwerken darüber. Und doch fühlte sich Serafina eingesperrt wie in einem Kerker, denn außer zum Kirchgang und hin und wieder zum Markt kam sie oft tagelang nicht hinaus. Und wenn, sah sie sich ringsum von kahlen Mauern und Hauswänden umgeben. Die Arbeit hingegen war nicht leichter und nicht schwerer als gewohnt: Sie ging der Hausherrin in der Küche zur Hand, war für Feuerholz und Frischwasser zuständig, putzte täglich Backstube, Küche, die vier Schlafkammern und die gute Stube. Ein solcher Raum war ihr bislang unbekannt gewesen und schien ihr gänzlich überflüssig, hatte doch bei ihnen das gemeinschaftliche Leben in der großen Küche stattgefunden.

Frei hatte sie nur am Sonntagnachmittag bis Sonnenuntergang, indessen war das die Zeit, mit der sie am wenigsten anzufangen wusste. Sie kannte keine Menschenseele in Radolfzell, zumal die Anverwandten ihrer Stiefmutter kein einziges Mal zu ihnen aufs Dorf herausgekommen waren, und sie mochte auch niemanden kennenlernen. Den meisten Städtern nämlich galten die Dörfler als dreckig, roh und einfältig, und das ließen die Nachbarn sie auch spüren. So litt sie stumm an Heimweh, den ganzen Herbst und Winter über, sehnte sich nach dem Grün ihrer Hügel und Wälder, dem Duft nach Heu und Sommerregen, nach ihrer Freundin Ursula, ihren Geschwistern und ihrem Vater. Wenn es doch nur bald Ostern wäre – dann würde sie erstmals für einen Tag und eine Nacht nach Hause dürfen!

Dabei waren die Frühaufs nicht einmal unfreundlich zu ihr. Den alten Bäckermeister bekam sie nur bei den Mahlzeiten zu Gesicht, ansonsten stand er in der Backstube oder legte sich zum Schlafen nieder. Auch mit der Meisterin kam sie zurecht, sie war nicht kühler als ihre Stiefmutter, nicht mürrischer als einst ihre alte Muhme. Vier Kinder hatten die Frühaufs, drei Mädchen und einen Jungen. Die beiden kleinen Mädchen waren recht brav, die älteste Tochter hingegen faul und zudem dünkelhaft, vor allem ihr als Magd gegenüber.

Wäre da nur nicht das Kehren der Backstube und des Lagerraums jeden Nachmittag gewesen. Frühaufs Knecht Hamann, ein breitschultriger junger Mann, der nach ihrem Dafürhalten mit einem Spatzenhirn und zwei linken Händen versehen war und mithin für jede Taglohnarbeit besser geeignet als für das Bäckerhandwerk, hatte sie von Anfang an mit den Augen schier verschlungen. Während sie beim Kehren war, pflegte er die Gerätschaften zu putzen. Dabei ging ihm Wälti zur Hand, Frühaufs einziger Sohn, der die städtische Knabenschule besuchte und kaum älter war als sie selbst. Der Meister hatte sich zu diesem Zeitpunkt für gewöhnlich schon aufs Ohr gelegt, und so war Serafina mit den beiden allein.

Bald schon begann Hamann sie herauszufordern, indem er sich breitbeinig vor ihr aufbaute und sie angrinste. Oder unflätige Bemerkungen zu Wälti machte, so laut, dass sie es hören musste. Sätze wie: «Hast eigentlich schon mal an ein Weib hingelangt, Wälti?», oder: «Die vom Land sind leicht zu gebrauchen, denen fliegt schon der Rock hoch, wenn einer wie du sie nur anschaut.» Und schließlich, als der junge Wälti sie tatsächlich mehr und mehr anzustarren begann: «He, Junge, dir wird wohl schon das Eisen hitzig?»

Da war Serafina der Geduldsfaden gerissen.

«Gib bloß acht, dass du dir nicht mal deine dreckigen Pfoten verbrennst», hatte sie Hamann angefaucht. Längst hätte sie sich bei der Meisterin beschweren sollen, doch damit würde sie auch den Sohn des Hauses anschwärzen, und das wollte sie nicht. So beschloss sie stattdessen, mit tauben Ohren durch die Backstube zu gehen.

Vielleicht hätte sie ja ein paar Jahre durchgehalten, um danach mit ihrem Ersparten ins Dorf zurückzukehren, wäre da nicht jener grauenvolle Abend gewesen, der ihr ganzes Leben mit einem Schlag verändern sollte.

 

Es war der Sonntag nach Lichtmess, der mit Sonnenschein und hellblauem Himmel schon einen Anflug von Frühling übers Land brachte. Nichts hatte Serafina mehr in der Stadt halten können, und so hatte sie ihre freien Stunden am See verbracht, hatte die frische Luft, das Glitzern der Wasserfläche unter dem wolkenlosen Himmel in vollen Zügen genossen. Dabei hatte sie sich in der Zeit vertan, denn als sie sich auf den Heimweg machte, begann es bereits zu dämmern. Um abzukürzen, nahm sie den Fußweg durch eine baumbestandene Brache, auf die im Herbst die Schweine der Bürger zur Mast getrieben wurden.

Plötzlich stand eine Gruppe junger Männer vor ihr, die sie lärmend begrüßte. Einer von ihnen war Frühaufs Knecht.

«He, Dorfprinzessin! Was für eine Freude!»

Hamann stellte sich ihr in den Weg, an seiner Seite vier Burschen, allesamt jünger als er und allesamt reichlich betrunken. Auch Wälti, der Sohn ihres Brotherrn, war dabei.

«Lass mich in Ruh, Hamann.»

Serafina schob ihn zur Seite.

«Immer langsam, meine Schöne. Es ist gefährlich, als Weib so allein im Finstern.» Hamann wandte sich an die anderen: «Wollen wir sie heimgeleiten?»

Die Kerle grölten vor Begeisterung.

«Na, dann los. Aber zur Belohnung wollen wir noch unsern Spaß haben.» Hamann umfasst ihre Hüfte und zog sie auf einen Trampelpfad, der mitten in den Buchenhain führte. Vergebens versuchte Serafina sich loszureißen, als sie auch schon gegen einen Baumstamm gedrückt wurde. Zwei der Burschen, die sie nicht kannte, hielten sie mit eisernem Griff fest, während Hamann ihr den Rock hochschob. Ihr wurde eiskalt vor Angst.

«Komm her, Wälti, auf dass dein Traum wahr wird. Jetzt machen wir einen Mann aus dir.»

Was nun folgte, war der schlimmste Alp ihres Lebens. Sie wollte schreien, doch Hamanns harte Schläge in ihr Gesicht ließen sie nur ein Röcheln herausbringen. Schon stopfte ihr jemand ein Stück Tuch in den Mund, ein anderer warf sie zu Boden und riss ihr die Wollstrümpfe von den Beinen, woraufhin sich Wälti keuchend an ihr zu schaffen machte. Sie spürte, wie die Zweige in ihre nackten Beinen stachen, wie der Bäckersohn sich in ihre Arme krallte und ihr dabei seinen heißen Atem ins Gesicht stieß, während sie sich verzweifelt hin und her wälzte und dafür von den anderen weitere Schläge einsteckte. Hörte trotz des Rauschens in den Ohren die anfeuernden Rufe: «Gib’s ihr, Kleiner! Pfeffer sie, wie sich’s gehört!», und dann, ganz plötzlich, durchfuhr sie dieser brennende Schmerz, der ihr den Unterleib zu zerreißen drohte. Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie gab auf, ließ sich halb ohnmächtig gebrauchen wie ein Haufen alter Lumpen.

Als sie wieder bei sich war, hatten sich ihre Peiniger aus dem Staub gemacht. Über ihr leuchtete wie zum Hohn ein heller, freundlicher Mond durch die Zweige, Enten schnatterten vom Seeufer her, ein Käuzchen antwortete. Alles an ihr war taub, sie fühlte weder Kälte noch Schmerz. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war – eine Stunde – eine ganze Nacht? Nach Wälti war Hamann über sie hergefallen, dann ein plumper, dicker Junge, dann ein dürrer Kerl mit knochigen Hüften …

Sie schluchzte laut auf. Unter Mühen kam sie auf die Beine, ordnete mit zitternden Händen ihre Kleidung, als sie etwas Feuchtes an der Innenseite ihrer Schenkel herabrinnen spürte. In heftigen Krämpfen übergab sie sich, so lange, bis nur noch Galle kam.

An jenem Abend war sie nicht zu ihrer Herrschaft zurückgekehrt. Nachdem sie den Stadtgraben vor dem Obertor erreicht hatte, verwundert darüber, dass ihre Beine sie immer noch trugen, schlug sie stattdessen den mondbeschienenen Weg ins Hinterland ein, setzte mit taubem Verstand einfach Schritt vor Schritt, schleppte sich Stunde um Stunde voran, ohne jemandem zu begegnen, bis sie mitten in der Nacht den Vorplatz der Dorfschmiede erreichte. Erst als sie sich dort nach einer Handvoll Steinen bückte, fuhr ihr wieder messerscharf dieser Schmerz in den Unterleib, und sie unterdrückte einen Schrei. Nachdem sie mit schwachem Wurf Stein für Stein gegen Ursulas Fensterladen geworfen hatte, sank sie kraftlos in sich zusammen und begann zu weinen.

«Serafina!»

Jemand zog sie am Arm in die Höhe, sie stolperte mit halb geschlossenen Augen ein paar Stufen hinauf, hörte die Glut von Herdfeuer knacken, dann schleppte sie sich mit letzter Kraft eine steile Stiege empor. Nicht einmal als sie gewaschen und in frischem Hemd in Ursulas Bett lag, wagte sie, die Augen zu öffnen und ihre Freundin anzusehen, so sehr schämte sie sich dafür, was mit ihr geschehen war.

 

Serafina blieb den folgenden Tag und die folgende Nacht reglos in Ursulas Bett liegen. Dann bemerkte der Dorfschmied, wen seine Tochter da unter ihrem Dach beherbergte, und benachrichtigte umgehend Serafinas Familie. Statt ihres Vaters erschien Peter, der älteste Bruder.

«Ich bring dich zurück in die Stadt.» Seine Stimme klang hart. «Das wird ganz schön Ärger geben.»

«Ich geh dort nicht mehr hin. Ich will mit Vater sprechen.»

«Er ist schwerkrank. Jede Aufregung könnte ihn ins Grab bringen. Los jetzt, komm endlich.»

So hatte sie sich denn mit Peter als Bewacher an der Seite wieder auf den Weg gemacht. Ursula hatte sie ein gutes Stück begleitet, dabei immer wieder ihre Hand gedrückt und zu weinen angefangen. Als sie sich auf halber Strecke verabschiedeten, ahnten sie beide nicht, dass sie sich erst Jahre später in Konstanz wiedersehen würden.

«Deine Ursula hat gelogen», knurrte Peter grimmig. Sie waren vor dem Radolfzeller Stadttor angelangt. «Das waren keine Wegelagerer, gib’s zu.»

Serafina blieb stumm und kämpfte gegen die Tränen an.

«Ich warne dich, Serafina: Mach unserer Familie ja keine Schande!»

 

Schlimme Wochen folgten. Jedes Mal, wenn sie Wälti oder Hamann begegnete, wurde ihr speiübel, wobei ihr der Knecht weiterhin frech ins Gesicht grinste, während der Sohn des Hauses ihr schamvoll aus dem Weg ging. Bald schon musste sie des Morgens tatsächlich spucken, und bis zum Sommer begann sich ihr Leib merklich zu runden. Da hatte sie allen Mut zusammengenommen und ihrer Dienstherrin offenbart, was geschehen war.

«Du lügst!», hatte die Meisterin zu schreien begonnen. «Du verdorbenes Hurenbalg lügst! Dich von irgendeinem Kerl besteigen lassen und es dann unserer Familie anhängen wollen! Geh auf deine Kammer, ich will dich heut nicht mehr vor Augen haben.»

Am Abend dann hatte Frühauf die Tür zu ihrer Kammer aufgerissen, sie wortlos beim Handgelenk gepackt und durch die Gassen bis zum Spital gezerrt.

«Hier arbeitest du bis zu deiner Niederkunft als Magd. Und wagst du es noch einmal, meinen Sohn oder Knecht zu beschuldigen, bring ich dich wegen Ehrverletzung vor den Rat.»

Ende Oktober schließlich hatte sie, nach einer qualvoll langen Geburt, ihren Sohn zur Welt gebracht, im Armenzimmer des Spitals. Sie war überzeugt gewesen, dass sie das Kind, das man ihr aus dem Leib gezogen und auf den Namen Vitus getauft hatte, hassen würde. Indessen genügten wenige Tage, um in ihr eine tiefe Liebe zu diesem zarten, verletzlichen Wesen zu entfachen. Angesichts des bevorstehenden Winters und der Tatsache, dass der Junge zu früh zur Welt gekommen und daher recht schwächlich war, behielt man Vitus und sie selbst als Nährmutter bis Gertrudis im Spital.

An jenem Morgen aber nahm man ihr das Kind aus dem Arm, um es in die Badstube zu tragen, und brachte es nicht mehr zurück. Sie selbst wurde von zwei Bütteln abgeholt, zur Marktzeit mit einem Strohkranz auf dem Kopf an die Schandsäule gestellt und anschließend unter Rutenstreichen aus der Stadt gejagt. Zuvor jedoch hatte ihr eine mitfühlende alte Magd des Spitals zugeraunt, man habe ihren Sohn in ein Kloster bei Konstanz gebracht. In diesem Augenblick war zu dem Gefühl von Schuld und Scham erstmals etwas anderes getreten: eine unermessliche Wut auf die feinen Radolfzeller Bürger, auf ihren eigenen Bruder Peter und auf die Männerwelt als Ganzes.

Kapitel 3

 

Grethe nahm sie besorgt beim Arm.

«Du hast doch was?» Sie waren auf dem freien Platz zwischen Ratskanzlei und Barfüßerkloster angelangt. «Die ganze Zeit hast du kein Wort geredet und bist mindestens dreimal mitten in den Morast gepatscht.»

Serafina schüttelte so heftig den Kopf, als wolle sie alle Gedanken an die Vergangenheit von sich abwerfen. Vielleicht hätte sie damals besser daran getan, Vitus zu vergessen, anstatt ihre neue Heimat in der Bischofsstadt Konstanz zu suchen. Dorthin, zu den Benediktinern von Petershausen auf der anderen Seite des Seerheins, hatte man nämlich Vitus zusammen mit einer großzügigen Schenkung gebracht, dort war ihr Sohn herangewachsen, und sie hatte es schließlich sogar geschafft, den Bruder Pförtner zu erweichen, sie gegen einen kleinen Obolus zu Vitus in den Klostergarten zu lassen. Fortan machte sie sich, sobald sie einen Pfennig übrig hatte, auf den Weg über die hölzerne Rheinbrücke, um mit ihrem Sohn ein paar kurze Augenblicke zu verbringen und ihm bei jedem Abschied aufs Neue zu geloben wiederzukommen. Sie hatte damals harte Jahre in Konstanz durchgestanden, in jenem Hurenhaus, in dem sie gestrandet war, und nur diese wenigen Momente des Glücks hinderten sie daran, nicht der Verzweiflung zu verfallen oder auch die Stadt zu verlassen. Einmal war sie dort vollkommen zufällig ihrer Kinderfreundin begegnet, die frisch verwitwet auf dem Weg zu einem Advocaten war. Ursula hatte ihr schon nach wenigen Sätzen die traurige Wahrheit über ihr Dasein als Hübschlerin entlockt und sie überreden wollen, mit ihr zusammen nach Freiburg zu gehen, wo eine entfernte Muhme bei den Christoffelsschwestern lebe. Um ihres Sohnes willen hatte Serafina abgelehnt.

Doch nicht einmal dieses kleine bisschen Glück war ihr auf Dauer vergönnt. Ein neuer Klosterpförtner trat sein Amt an und jagte sie von dannen: Eine Hure als Mutter bringe den Sohn nur vom rechten Weg ab. Doch das war nicht alles. Zugleich erfuhr sie, dass Vitus weggelaufen sei, fortgezogen mit einer Züricher Gauklertruppe. Seither hatte sie ihn nie wiedergesehen noch von ihm gehört.

Was indessen niemals erlosch, war die Hoffnung. Wann immer und wo immer ein Trupp Spielleute angekündigt war, hatte sie sich ein Wiedersehen mit ihrem Sohn erträumt. Und war doch jedes Mal enttäuscht worden.

«Jetzt aber rasch! Die Glocken läuten schon», trieb die Meisterin sie an. Dann hielt sie inne: «Du siehst ja totenbleich aus, Serafina!»

«Ein wenig Kopfweh, das vergeht schon wieder.»

Gerade als sie die Stufen zum Portal der Barfüßerkirche hinaufgehen wollten, trat ihnen die große, kräftige Gestalt Adalbert Achaz’ entgegen. Die Gelehrtenkappe und der bodenlange dunkelgrüne Mantel wiesen ihn als studierten Medicus aus.

Nicht zum ersten Mal trafen sie sich hier vor der Sonntagsmesse, wenn er seinerseits auf dem Weg zum Münster war, der Pfarrkirche der Bürger. Der Freiburger Stadtarzt wohnte gleich