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Nachdem ein Sturm die übel zugerichtete Leiche eines vermissten Anwalts an Land gespült hat, ist jedem in Sanford Grove klar, unter ihnen lebt ein kaltblütiger Mörder. Sheriff Brackstone versucht alles, um den Fall herunterzuspielen, zum Unverständnis von Deputy Beckett McEverett, der Hilfe von außerhalb anfordern will, da ein weiterer Mann vermisst wird und niemand in ihrer kleinen Stadt für eine Mordermittlung ausgebildet ist. Mit dem Fund einer zweiten Leiche taucht unerwartet Special Agent Ford Templeton vom FBI in der Stadt auf, und das wiederum gefällt Beckett gar nicht, denn Ford und er haben eine gemeinsame Vergangenheit, die er nur zu gerne aus seinem Gedächtnis streichen würde.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Mathilda Grace
DAS SPIEL DER LIBELLE
Das Spiel der Libelle
1. Auflage, Januar 2020
Impressum
© 2020 Mathilda Grace
Am Chursbusch 12, 44879 Bochum
Text: Mathilda Grace 2018
Fotos: AnnaHang, susannp4; Pixabay
Coverdesign: Mathilda Grace
Korrektorat: Corina Ponta
Web: www.mathilda-grace.de
Alle Rechte vorbehalten. Auszug und Nachdruck, auch einzelner Teile, nur mit Genehmigung der Autorin.
Sämtliche Personen und Handlungen sind frei erfunden. Diese Geschichte spielt in einer fiktiven Kleinstadt in den Vereinigten Staaten.
Das Spiel der Libelle enthält homoerotische Szenen.
Mathilda Grace
Thriller
Liebe Leserin, Lieber Leser,
ohne deine Unterstützung und Wertschätzung meiner Arbeit könnte ich nicht in meinem Traumberuf arbeiten.
Mit deinem Kauf dieses E-Books schaffst du die Grundlage für viele weitere Geschichten aus meiner Feder, die dir in Zukunft hoffentlich wundervolle Lesestunden bescheren werden.
Dankeschön.
Liebe Grüße
Mathilda Grace
Nachdem ein Sturm die übel zugerichtete Leiche eines vermissten Anwalts an Land gespült hat, ist jedem in Sanford Grove klar, unter ihnen lebt ein kaltblütiger Mörder. Sheriff Brackstone versucht alles, um den Fall herunterzuspielen, zum Unverständnis von Deputy Beckett McEverett, der Hilfe von außerhalb anfordern will, da ein weiterer Mann vermisst wird und niemand in ihrer kleinen Stadt für eine Mordermittlung ausgebildet ist. Mit dem Fund einer zweiten Leiche taucht unerwartet Special Agent Ford Templeton vom FBI in der Stadt auf, und das wiederum gefällt Beckett gar nicht, denn Ford und er haben eine gemeinsame Vergangenheit, die er nur zu gerne aus seinem Gedächtnis streichen würde.
Prolog
Lauf! Bleib nicht stehen, lauf!
Adrian Donaldson rannte so schnell, wie er schon seit sehr vielen Jahren nicht mehr gerannt war.
Seit seiner Highschoolzeit im Footballteam, um genau zu sein. Damals hatte es ihm Spaß gemacht zu laufen. Dem Jubeln der Cheerleader zuzuhören, wenn sein Team wieder mal einen Pokal holte. Mit Sarah, einer der Cheerleaderinnen und dem in seinen damaligen sechzehnjährigen Augen schönsten Mädchen an der Highschool, zum Abschlussball zu gehen. In derselben Nacht an Sarah seine Unschuld zu verlieren. Und es zwei Jahre später noch einmal zu tun – mit Jack, seinem Zimmernachbarn an der Uni, wo er begonnen hatte, Jura zu studieren.
Danach war er ein allerletztes Mal gerannt. Weg von seinen beginnenden Gefühlen für Jack, für den er nur ein One-Night-Stand gewesen war. Die beste Entscheidung seines Lebens, denn an jenem Abend hatte er Will getroffen, die Liebe seines Lebens, die jetzt vermutlich, krank vor Sorge um ihn, in ihrem Apartment saß und hoffte, dass er gesund heimkehrte.
Zwölf gemeinsame Jahre und Adrian hätte so gern auch die nächsten zwölf Jahre mit Will verbracht, aber dieser nagende Hunger und der unglaubliche Durst hatten an seinen Kräften gezerrt, und er fühlte, dass er es nicht schaffen würde.
Dünne, harte Äste peitschten ihm schmerzhaft gegen Stirn, Wangen und Arme, bei dem Versuch, wenigstens seine Augen zu schützen. Es war finsterste Nacht, er konnte kaum etwas erkennen, doch stehenzubleiben würde seinen sicheren Tod bedeuten, also rannte Adrian weiter, obwohl seine Lungen brannten und er, trotz keuchender Atemzüge, immer mehr das Gefühl hatte, nicht genug Luft zu bekommen.
Irgendwo musste es eine Straße geben, eine Stadt, Rettung. Dieser Wald hatte ein Ende, er musste es nur finden.
Adrian stolperte und schlug der Länge nach auf den nassen Waldboden. Herabgefallene Blätter, kühle Erde und Teile von abgebrochenen oder toten Ästen stachen in seine Finger, als er sich hektisch aufrichtete, einen panischen Blick über seine linke Schulter warf und weiter rannte.
Er war zu langsam, aber er konnte einfach nicht mehr. Wie lange irrte er schon in dieser undurchdringlichen Dunkelheit herum? Wenn wenigstens der Mond geschienen hätte.
Hinter ihm knackte es plötzlich im Geäst, dicht gefolgt von einem leisen, stetigen Flüstern. Beinahe wie eine Art Singsang. »Adrian … Komm raus, Adrian.«
Oh Gott, er hatte ihn gefunden.
Gefangen in seiner Panik, starrte Adrian in die Dunkelheit hinter sich, vergaß dabei, dass er immer noch rannte, und blieb mit dem Fuß irgendwo hängen. Er stürzte zu Boden und schrie auf, als er das Knacken hörte, bevor gleißender Schmerz durch seinen rechten Fuß, sein Bein hinauf, bis durch seinen gesamten Körper schoss und ihn beinahe ohnmächtig werden ließ.
Es war vorbei, Adrian wusste es.
Er hatte sich den Fuß gebrochen und damit sein Schicksal besiegelt.
1
Peter Wilson, der jüngste Beamte in ihrem Revier, übergab sich zum dritten Mal an diesem Morgen, als der Assistent des Leichenbeschauers, dessen Name so exotisch war, dass Beckett ihn sich auch nach zehn Jahren, die er nun schon als Polizist in dieser kleinen, gemütlichen Stadt im Norden arbeitete, einfach nicht merken konnte, auf dem vom Regen der letzten Nacht nassen Laub ausrutschte und dabei das blutverschmierte Bein des Toten von der Bahre rutschte. Der rechte Fuß des Mannes war eindeutig gebrochen. Mehrere Knochenstücke stachen hell aus einer in seinen Augen viel zu großen Wunde hervor, was Beckett vermuten ließ, dass sich bereits Tiere an der Leiche zu schaffen gemacht hatten. Er verzog das Gesicht, als der nackte Fuß hin- und herzuschaukeln begann, wie ein Stück Fleisch an einer Schnur. Scheinbar wurde er nur noch durch Sehnen und Fleisch am Bein des Opfers gehalten.
Beckett empfand ehrliches Mitgefühl für Peter, denn selbst ihm war nach dem ersten Blick auf die splitterfasernackte und wirklich furchtbar zugerichtete Leiche beinahe sein Frühstück, bestehend aus gebratenen Eiern, knusprigem Speck, Toast und zwei Tassen Kaffee, wieder hochgekommen.
Er hatte Chicago verlassen, um von derartigen Verbrechen wegzukommen, und jetzt lag hier, im beschaulichen Städtchen Sanford Grove, eine Leiche herum, die mit Sicherheit keines natürlichen Todes gestorben war. Beckett war zwar kein Leichenbeschauer, aber er erkannte Fesselspuren, wenn er sie sah, und der Tote hatte sie an beiden Hand- und Fußgelenken, obwohl das bei dem gebrochenen Fuß durch die offene Wunde schwer zu sagen war.
»So eine gottverdammte Scheiße«, murmelte Bookster, der eigentlich Mark Hensley hieß, aber wegen seiner Vorliebe für gedruckte Bücher nur Bookster genannt wurde, bevor er leise seufzte und kopfschüttelnd zu Peter hinüberging, der aschfahl war und sich kaum noch aufrecht halten konnte.
Armer Junge, dachte Beckett, als Bookster ihm eine Flasche Wasser und eine Packung Taschentücher reichte, damit er sich schnäuzen und ein bisschen säubern konnte. So einen Anblick wünschte Beckett niemandem, schon gar keinem Frischling, der eigentlich viel zu sanftmütig für den Polizeidienst war und nur dank der Hilfe des Sheriffs überhaupt bei der Polizeischule angenommen worden war.
Sheriff Brackstone und Peters Vater, der die ansässige Bank leitete, waren Freunde seit ihrer gemeinsamen Grundschulzeit, und da Peter unbedingt ein Polizist hatte werden wollen, hatte Brackstone eben dafür gesorgt, dass er Polizist wurde. Beckett kannte diese und viele weitere Geschichten der Bewohner von Sanford Grove, obwohl er selbst nie zu ihnen gehören würde. Er war ein Zugezogener, kein Einheimischer. Da konnte er so lange hier leben, wie er wollte, sie würden ihn nie vollständig akzeptieren. Aber damit konnte Beckett gut leben, solange sie ihn respektierten, und auch dafür hatte Brackstone gesorgt.
Colt Brackstone duldete keine Respektlosigkeit gegenüber seinen Untergebenen und da er ein angesehener Bewohner von Sanford Grove war, der schon seit über zwanzig Jahren, nachdem er als hochdekorierter Soldat die Marines verlassen hatte, hier als Sheriff für Recht und Ordnung sorgte, hatte die Ansprache bei Becketts Vereidigung, er freue sich auf eine gute Zusammenarbeit und sei stolz darauf, einen guten Polizisten aus Chicago, mit einem so großartigen Leumund, in ihrer Stadt begrüßen zu dürfen, vollkommen ausgereicht, um den Leuten klarzumachen, dass er es nicht hinnehmen würde, wenn sie ihn unhöflich behandelten.
Niemand hatte es seither gewagt, Beckett schief anzusehen, aber die verstohlenen Blicke und die Tuscheleien über diesen Städter, der mit einem Hund allein am Stadtrand im Haus der verrückten Misses Bicock wohnte, die sich ein Jahr vor seinem Einzug in das Haus in ihrem muffigen Wohnzimmer die Flinte in den Mund gesteckt hatte, bemerkte er trotzdem. Ihre Blicke interessierten ihn nicht, die war er aus Chicago gewohnt, aber die Tuscheleien würden mit den Jahren zunehmen, da er keine Frau und keine Kinder hatte, und auch nicht im Traum daran dachte, an dieser Tatsache etwas zu ändern.
Ganz gleich wie gerne Sandrine Mitchell aus dem Diner am Südende der Stadt, mit ihren Brüsten, die immer in zu engen Blusen steckten, vor ihm herumstolzierte. Oder Mila Delacourt mit ihren künstlich verlängerten Haaren und in schwindelerregend hohen Absätzen, mit selbst gebackenen Kuchen, Aufläufen oder den angeblichen Resten vom gestrigen Abendessen für ihn uneingeladen vor seiner Haustür auftauchte.
Die zwei Frauen waren die hartnäckigsten in einer ganzen Reihe von heiratswilligen Töchtern, die dringend an den Mann gebracht werden wollten, und scheinbar hielten sie ihn, Städter hin oder her, für gut aussehend und gebildet genug, um ihm eine gute Ehefrau zu sein und ihm Kinder zu gebären.
Für Beckett eine gruselige Vorstellung. Nicht, dass er etwas gegen Kinder hatte, davon gab es in Sanford Grove schließlich mehr als genug, aber er wollte dieser Rotte von lauten, frechen und teilweise ziemlich ungebildeten Nachzöglingen keinesfalls eigene Exemplare hinzufügen. Sanford Grove mochte nur eine Kleinstadt sein, aber auch hier gab es Straßen, die man abends besser mied, und Viertel, wo die Leute es nicht schafften, jeden Tag eine warme Mahlzeit in den Bauch zu bekommen. Selbst in ihrer ländlichen Gemeinde gab es Drogensüchtige, Obdachlose und die üblichen Verbrechen, wie kleinere Diebstähle oder das eingeworfene Fenster im Lebensmittelladen von Bob Augustus in der Wilson Street, die ihren Namen dem Ururgroßvater von John Wilson verdankte – Peters Vater.
Beckett wandte sich kopfschüttelnd von Peter und Bookster ab und sah dem Leichenabtransport zu, bis sich der Wagen auf dem schlammigen Waldweg langsam in Bewegung setzte, ehe er hinunter zum Ufer ging, um sich ein wenig umzuschauen. Er hatte keine allzu große Hoffnung, irgendwelche Spuren zu finden, da der Fluss durch die vielen Regenfälle in letzter Zeit bereits seit einigen Wochen Hochwasser führte und sämtliche verwertbaren Spuren garantiert längst weggespült hatte, aber ein genauer Blick konnte nicht schaden und Beckett fand, dass er es dem Toten schuldig war.
Der Mann war ermordet worden und das auf eine überaus brutale Weise, da war es ja wohl das Mindeste, dass alles daran gesetzt wurde, diese Tat aufzuklären.
Dabei hatte Beckett nicht die geringste Ahnung, wie sie das bewerkstelligen sollten. Sie hatten weder genug Leute noch die Ausbildung für die Lösung eines solchen Falles. Darum musste sich die höher gelegene Dienststelle kümmern. Mit erfahrenen Leuten. Ausgebildete Mordermittler, die wussten, was sie taten und worauf es ankam, während er nur wusste, dass sie den Tatort sofort hätten absperren und Spurensucher herbeordern müssen. Stattdessen hatte Peter nach einem Blick auf den Toten den Inhalt seines Magens überall auf dem Waldboden verteilt und Bookster den Leichenbeschauer angerufen, um den Toten bloß schnell von hier wegzubringen.
Als Beckett eingetroffen war, war schon alles zu spät gewesen. Sie waren eben nur eine kleine Dienststelle, die neben ihm aus vier weiteren Beamten, plus Brackstone, bestand, der immer noch nicht hier war, obwohl Beckett ihn umgehend nach der Meldung über einen Leichenfund angerufen hatte.
Nicht, dass das etwas Neues war. Brackstone war ein guter Sheriff, dem es wirklich wichtig war, den Menschen zu helfen und für sie da zu sein, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er sich in seiner Morgenroutine stören ließ. Schon gar nicht für eine Leiche. Nur dass sie diesmal keinen alten Mann, der friedlich im Schlaf gestorben war, mausetot in seinem Haus gefunden hatten, sondern ein bislang unbekanntes Mordopfer, das offenbar schon nackt im Fluss gelandet war, denn Beckett konnte nirgendwo auch nur einen Stofffetzen entdecken.
War dieser Mann etwa ohne Kleidung in den eisigen Fluss gesprungen? War er überhaupt freiwillig im Wasser gelandet? Die Fesselspuren an Hand- und Fußgelenken deuteten für ihn auf das Gegenteil hin, aber dazu konnte der Leichenbeschauer ihnen später hoffentlich mehr sagen.
Die Stelle am Ufer, wo Burt Mason, ein begeisterter Angler und leider auch ein Mann, der nichts für sich behalten konnte, die Leiche vor zwei Stunden in einem beim letzten, schweren Wintersturm umgestürzten Baum festhängend entdeckt hatte, war von unzähligen Stiefeln völlig zertrampelt und hatte sich in eine wahre Schlammlandschaft verwandelt. Hier würden sie keine Spuren mehr finden und an dem Baum hatte man beim Versuch, an den zerschundenen Körper zu kommen, einfach so lange herumgezerrt, bis sich die Leiche gelöst hatte. Leider war der Baum dabei ins tiefere Wasser geraten und würde bald von der Strömung weggespült werden.
Er hätte jemanden von der Forstwirtschaft anrufen und mit schwerem Gerät herbestellen können, aber Beckett ließ es nach einem Blick auf die tiefen Fahrrillen im Waldweg bleiben. Sie konnten von Glück reden, wenn sie sich mit ihren Autos nicht festfuhren, sobald der Tatort fotografiert und freigegeben war. Sofern Peters Magen sich weit genug beruhigte, dass er in der Lage war, Tatortfotos für die Akten zu machen. Hier in Sanford Grove mussten die Jüngsten nun mal die Drecksarbeit machen, das war ein ungeschriebenes Gesetz.
Beckett warf einen Blick auf seinen jungen Kollegen, dessen Gesichtsfarbe immer noch weit davon entfernt war, als normal durchzugehen, und entschied, dass er, wenn sie nicht noch den Rest des Tages vor Ort bleiben wollten, bis Peter sich erholte, die Fotos genauso gut selbst machen konnte, während sie auf die Ankunft von Sheriff Brackstone warteten.
»Wie geht’s ihm?«, fragte er leise, als Bookster sich einige Zeit später zu ihm gesellte.
»Weiß der Teufel was Brackstone sich damals dabei gedacht hat, Peter auf der Polizeischule unterzubringen. Er ist fix und fertig.«
Beckett nickte nur und knipste weiter.
»Was denkst du, ist hier passiert?«, wollte Bookster wissen und zog unbehaglich die Schultern hoch, als Beckett ihn ansah. »Ich meine, wir hatten schon ein paar Tote bei uns in Sanford Grove, aber so was ...«
»Er wurde ermordet«, fiel Beckett ihm ruhig ins Wort und Bookster runzelte die Stirn.
»Bist du sicher?«
»Hast du das Loch in seiner Stirn nicht gesehen? Das hat er sich kaum selbst zugefügt. Von den Fesseln an Händen und Füßen gar nicht zu reden.«
Bookster nickte und schwieg ein paar Minuten. »Sind Tote immer so dünn?«, fragte er dann.
»Nein«, antwortete Beckett, denn das war ihm auch sofort aufgefallen. Der Mann hatte es entweder mit einer fragwürdigen Diät mächtig übertrieben oder … Nein, darüber wollte er lieber nicht genauer nachdenken.
»Scheiße«, war alles, was Bookster dazu einfiel, dann ging er wieder zu Peter hinüber, der die Wasserflasche mittlerweile zur Hälfte geleert hatte und mit blutunterlaufenen Augen zum Waldweg sah. Beckett folgte dem Blick und entdeckte Sheriff Brackstone mit finsterem Gesicht auf sie zukommen.
»Wo ist Ihr Wagen, Sheriff?«, fragte Bookster.
»Eine Meile von hier im Dreck steckengeblieben«, knurrte Brackstone und tippte sich grüßend an den Hut. »Scheiß Regen … Was habe ich da von Burt gehört? Ihr habt ein zerstückeltes Mordopfer gefunden?«
Und schon geht es los, dachte Beckett innerlich seufzend. Bis morgen würde Burt Mason diese ganze unselige Geschichte in zehn verschiedenen Ausführungen überall in der Stadt zum Besten gegeben haben, und dann stand ruckzuck Clint Walters von der Sanford Times im Sheriffbüro, um einen reißerischen Artikel über einen brutalen Massenmörder zu schreiben, der seine Opfer in tausend Teile schnitt, um sie dann genüsslich im heimischen Wohnzimmer zu verspeisen. Dieser Mann war ein Klatschreporter der schlimmsten Sorte, weil ihm Fakten völlig egal waren, Hauptsache, seine Auflagenhöhe stimmte und die Leute redeten über ihn.
Beckett sparte sich einen Kommentar dazu und überließ es Bookster, Brackstone auf den neuesten Stand zu bringen.
Er hatte Fotos zu schießen.
Jede Menge Fotos.
»Ich habe eine Libelle im Hals des Toten gefunden.«
Es war später Nachmittag, die Sonne stand bereits tief über den Bäumen und tauchte die Leichenhalle, die gleichzeitig bei Beerdigungen als Aufbahrungshalle genutzt wurde, weil sich der Bestatter Bill Pelzer und Leichenbeschauer Max McBride, der zugleich auch der einzige Arzt in Sanford Grove war, die Räumlichkeiten teilten, in helles Licht. Es schien so gar nicht zu dem dürren Körper zu passen, der, ein Handtuch über seinen Hüften, in der Mitte des kargen Raumes auf dem nach allen Seiten schwenk- und höhenverstellbaren Tisch lag.
Sein Brustkorb war weit geöffnet und Beckett dankte allen Göttern, an die er nicht glaubte, dass er so schlau gewesen war, auf ein Mittagessen zu verzichten, denn sonst wäre es ihm jetzt genauso ergangen, wie Peter heute Morgen, den Brackstone für ein paar Tage beurlaubt hatte, damit er sich erholen konnte.
Becketts bescheidener Meinung nach brauchte der Junge dringend einen Psychologen und vor allem eine andere Arbeit, aber er würde sich hüten, das laut zu sagen. Er hing an seinem Job und Peter war mit Anfang zwanzig alt genug, um selbst zu entscheiden, was er tun wollte.
»Eine was?«
McBride hob nicht mal den Blick, sondern deutete nur auf eine Schale, die hinter dem Kopf des Toten auf einem schmalen Beistelltisch aus Metall, mit Rollen an den Füßen, stand. »Eine Libelle. Hübsches Teil. Aus Gold, verziert mit Schmucksteinen. Ein Kettenanhänger vermute ich, aber ich bezweifle doch sehr, dass er dem Opfer gehört hat.«
»Wissen Sie schon, wer er ist?«
»Seine Identifizierung ging überraschend schnell, nachdem wir die Fingerabdrücke hatten. Ein junger Anwalt aus Chicago. Adrian Donaldson. Er wurde seit drei Monaten vermisst. Sein Ehemann hat sich bei der Polizei gemeldet, als er eines Abends nicht aus dem Büro nach Hause kam, obwohl seine Kollegen in der Kanzlei sagten, er wäre pünktlich gegangen. Man fand den abgeschlossenen Wagen und seine unberührte Brieftasche eine Woche später in einer Seitenstraße, ein paar Meilen von seinem Wohnort entfernt. Es gab keine Kampfspuren.«
»Der Fall wurde zu den Akten gelegt«, murmelte Beckett und fing einen fragenden Blick des Leichenbeschauers auf, der ihn die Schultern zucken ließ.
Er hatte lange genug bei der Polizei in Chicago gearbeitet, um zu wissen, wie solche Fälle liefen. Ein erwachsener Mann, der einfach nicht nach Hause kam, ein zurückgelassenes Auto ohne Kampfspuren, die möglicherweise auf eine Entführung schließen ließen, keine Lösegeldforderung, nichts. Kein Polizist beschäftigte sich mit so einem Fall länger als unbedingt nötig, sondern legte ihn zuerst in die Ablage auf seinem Schreibtisch und schließlich, sobald die Anrufe von möglichen Angehörigen nachließen, ruckzuck zu den Akten aller ungelösten Fälle, weil der Vermisste wahrscheinlich nur beschlossen hatte, ein neues Leben anzufangen.
»Nach einem Monat. Die zuständigen Cops waren ziemlich überrascht, als Tino sie anrief, um ihnen zu erzählen, dass aus ihrem langweiligen Vermisstenfall ein Mord geworden ist. Sie informieren den Ehemann, der dann wahrscheinlich bald hier auftauchen wird.«
»Moment, ein Mord?«, fragte Sheriff Brackstone abwehrend und das brachte nun auch ihm einen kurzen Blick ein. »Könnte es kein Unfall gewesen sein?«
»Nein«, antwortete der Leichenbeschauer und wandte sich wieder dem ausgemergelten Körper zu.
»Warum nicht?«
»Weil dieser unglückselige Mann splitterfasernackt und tot ans Ufer unseres Waldflusses gespült wurde, in dem Sie gerne angeln, erinnern Sie sich?«
»Das heißt aber noch lange nicht, dass er ...«
»Eiskalt ermordet wurde?«, nahm der Leichenbeschauer Brackstone die Worte aus dem Mund. »Doch, genau das heißt es, Sheriff, denn er weist eindeutige Spuren von Folterungen durch Wasser- und Nahrungsentzug auf, hat an beiden Händen und Füßen unübersehbare Spuren von Fesseln und irgendjemand hat ihm mit Gewalt eine Libelle aus Gold tief in den Rachen gestopft.« Der Mann schaute Brackstone ernst an. »Das deutlichste Anzeichen für einen derart skrupellosen Mord, wie ich ihn in meiner langen Zeit als Arzt und Leichenbeschauer nie zuvor gesehen habe, dürfte jedoch die tiefe Einstichstelle, vermutlich von einem Jagdmesser, in seiner Stirn sein, finden Sie nicht auch?«
»Aber ...«, setzte Brackstone erneut an, was Beckett irritiert die Stirn runzeln ließ, doch er wartete schweigend ab, als Max McBride sich abrupt aufrichtete.
»Dieser Mann wurde gefangen gehalten, gefoltert und am Ende ermordet, Sheriff, und genau das werde ich auch in meinen Bericht schreiben, ob Ihnen das gefällt oder nicht. Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Ich habe eine Autopsie zu beenden und diesen Mann anschließend mit Bills kompetenter Hilfe so gut es geht wieder herzurichten, damit sein Ehemann, der ihn wahrscheinlich ein letztes Mal sehen möchte, um sich gebührend zu verabschieden, bei dem Anblick nicht umgehend in Ohnmacht fällt.«
Brackstone schnaubte abfällig und Beckett verkniff sich den Kommentar, der ihm dazu auf der Zunge lag, da er ganz genau wusste, worauf sich der abfällige Laut bezog. Brackstone war ein alter Mann, hatte nur noch ein Jahr bis zu seinem offiziellen Ruhestand, und er war so homophob, wie ein Mensch nur sein konnte, der alles ablehnte, was sich hinter seinem beschränkten Tellerrand abspielte.
»Übrigens, Sheriff? Wurde am Fluss ein Ehering gefunden? Er trägt nämlich keinen.«
Brackstone warf ihm einen auffordernden Blick zu. »Nein«, sagte Beckett und suchte McBrides Blick. »Ich werde morgen früh noch einmal hinfahren und nachsehen, ob er irgendwo am Ufer im Schlamm liegt. Aber da die Leiche im tieferen Wasser gefunden wurde ...«
McBride nickte. »Ich danke Ihnen, dass Sie es wenigstens versuchen. Der Gedanke, einem trauernden Witwer mit leeren Händen gegenüberzustehen, behagt mir gar nicht.«
Beckett konnte das sehr gut verstehen, obwohl sein eigenes Unbehagen, sich schon bald mit dem Ehemann von Donaldson auseinandersetzen zu müssen, persönlicherer Natur war. Nicht weil Sheriff Brackstone solche Angelegenheiten, wie Gespräche mit Hinterbliebenen oder Angehörigen, bereits seit Jahren auf ihn abwälzte, sondern weil der trauernde Witwer schwul war.
Eine Tatsache, die sie gemeinsam hatten, obwohl Beckett das verdrängte, seit er Chicago und seiner einstigen, großen Liebe in einer Nacht- und Nebelaktion, getrieben von Alkohol, riesiger Enttäuschung und einem gebrochenen Herzen, für immer den Rücken gekehrt hatte, nachdem ihm durch einen zerknitterten Brief, den er nur durch Zufall beim Sortieren ihrer dreckigen Kleidung gefunden hatte, klar geworden war, dass Fords Prioritäten, in Bezug auf ihr Leben zu zweit und seine berufliche Zukunft, Beckett nicht mit einschlossen. Sonst hätte Ford seine Beförderung und die Versetzung nach Quantico, um dort in einer Sondereinheit für das FBI zu arbeiten, wohl kaum vor ihm geheimgehalten.
Aber das war Geschichte und musste es bleiben, denn hier in Sanford Grove wusste niemand, dass er Männern privat den Vorzug gab, und Beckett würde alles dafür tun, damit das auch so blieb.
2
Ford Templeton wusste, dass sie ernsthaft in der Klemme steckten, als eine Kugel knapp an seinem Kopf vorbeiflog, um mit einem Geräusch, für das er selbst nach all der Zeit, die er schon für das FBI tätig war und dabei mal mehr mal weniger häufig in Schießereien verwickelt wurde, immer noch nicht das passende Wort gefunden hatte, direkt neben ihm in einer weiß-roten Backsteinmauer zu landen.
Dreckiger Putz rieselte aus dem entstandenen Loch und fiel auf den Anzug, den er erst vor zwei Tagen aus dem Laden von Mister Cotton geholt hatte, einem bärbeißigen Kauz, so alt wie Methusalem, dessen finsterer Blick sogar den Teufel zur Raison gebracht hätte. Aber der Mann konnte nähen wie kein zweiter. Deshalb hatte er sich ja auch von Brixton, seinem Partner, der niemals weniger als einen Ralph Lauren Anzug der aktuellen Kollektion trug, dazu überreden lassen, Cotton endlich einen Besuch abzustatten, um, Zitat Brixton, einen gut gekleideten Mann aus ihm zu machen.
Dass Brixton dank alter Adelsfamilie reich wie Krösus war, während Ford nur sein FBI-Gehalt zur Verfügung hatte, war in Brixtons Augen kein Hindernis gewesen. Verfluchter Snob. Der allerdings auch ein verdammt guter Agent, mit einem leider etwas zu perfekten Riecher für brenzlige Situationen war, was ihn wieder zu ihrer aktuellen Situation brachte, denn man saß schließlich nicht jeden Tag in einer edlen Maßanfertigung von Armani aus der letzten Saison hinter einem Müllcontainer im Dreck und blutete besagte Maßanfertigung langsam voll.
Ford hatte drei Jahre auf diesen Traum in schwarz gespart, doch nach diesem komplett aus dem Ruder gelaufenen Einsatz würde er ihn wegwerfen können. Das setzte natürlich voraus, dass er diesen Tag überlebte, und momentan sah es eher nicht danach aus.
Brixton fluchte auf französisch, als eine weitere Kugel über ihnen in der Wand landete. »Dieser Kretin schießt, als wäre er auf einem Auge blind.«
»Findest du?«, fragte Ford mit nachdenklichem Blick auf den immer größer werdenden Blutfleck auf seinem vor einer Stunde noch blütenweißen Hemd. Ein Bauchschuss, der nicht mehr wehtat, und was das bedeutete, wusste er, denn es war nicht die erste Kugel, die man ihm in die Gedärme gejagt hatte. Allerdings war es die erste, mit der er nach mehr als dreißig Minuten immer noch ohne jede ärztliche Behandlung war, und langsam gab ihm diese Tatsache etwas zu denken. »Wo bleibt die Verstärkung?«
»Hältst du durch?«, fragte Brixton knapp und schob neue Patronen in eine Pumpgun, die sein Partner vorhin einem der Drogendealer abgenommen hatte, wegen denen sie gerade in diesem Hinterhalt festsaßen, nachdem ein als versiffter Penner verkleideter, verdeckt arbeitender DEA-Agent eine bereits seit vier Monaten äußerst akribisch geplante Operation mit einem Handyklingeln komplett vermasselt hatte.
Penner hatten nun mal keine Handys mit einem Klingelton von AC/DCs Thunderstruck, und der Agent konnte von Glück reden, wenn er nach dem heutigen Tag noch einen Job hatte.
Ford sah Brixton zu und betrachtete angelegentlich dessen schlanke, manikürte Finger, die mit einer geladenen Waffe genauso gut umzugehen wussten, wie mit einer Tastatur oder einer eine Million teuren Stradivari – ein Geschenk von Brixtons Eltern zu dessen dreißigstem Geburtstag, denn sein Partner spielte wirklich herausragend Geige, hatte dafür aber null Ahnung von Poker und weigerte sich auch standhaft dieses in seinen Augen furchtbare Proletenspiel zu erlernen.
Stattdessen versuchte Brixton ihm seit mehreren Jahren das Schachspielen beizubringen. Erfolglos. Aber zumindest hatten sie dabei jedes Mal ihren Spaß, wenn sie auf todlangweiligen Überwachungen umso längere Nächte überstehen mussten, ohne sich gegenseitig oder ihren observierten Personen an die Gurgel zu gehen.
»Ford!«
»Was?«, fragte Ford und riss die Augen auf, als er merkte, dass sie ihm zugefallen waren. Brixton lehnte die Pumpgun an den Müllcontainer und zog ihm danach seine Glock aus dem Hosenbund, um diese ebenfalls nachzuladen.
»Hältst du noch durch?«
»Nein.«
Brixton hielt inne und warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Was soll das heißen, Nein? Du hast doch bereits vier Kugeln kassiert und mit der letzten bist du sogar noch auf einen Berg geklettert.«
»Und wessen Schuld war das bitte?«, fragte Ford verärgert. »Hättest du den Grizzly nicht angebrüllt, hätte ich gemütlich weiter auf dem weichen Moos im Wald sitzen und auf meinen Rettungshubschrauber mitsamt Notarzt warten können. Aber nein, du musstest ihm unbedingt erklären, dass er stinkt und es unter deiner Würde ist, dich länger mit ihm am gleichen Ort aufzuhalten. Und das alles, nachdem ich deinetwegen eine Kugel abbekommen hatte. Mal wieder.«
»Jetzt werd hier nicht kleinlich«, grollte Brixton, doch sein besorgter Blick strafte seine Worte Lügen. »Außerdem hat der Bär wirklich gestunken und dieser popelige Durchschuss war sowieso nicht der Rede wert.«
»Meine Schulter hat gebrannt wie Feuer und ich habe mich vollgekotzt, während du mich mit Gewalt auf diesen blöden Berg hochgetrieben hast, nur weil du nicht bei lebendigem Leib gefressen werden wolltest. Dabei hättest du es sogar verdient, immerhin hast du den Grizzly dumm von der Seite angemacht. Der wollte gar nichts von uns, bis du ihn beleidigt hast.«
»Wow, du klingst, als kämst du aus der Gosse, dir muss es wirklich scheiße gehen. Tut es sehr weh?«
»Alles taub«, lallte Ford und blinzelte, da er seinen Partner auf einmal doppelt sah. Und das brachte Bewegung in Brixton, während er wiederholt fluchte und kurz darauf in sein Handy brüllte, wo zum Teufel die Verstärkung blieb, weil sein Partner am Verbluten war und er jedem den Hals umdrehen würde, wenn hier nicht sofort Hilfe auftauchte. Ford lachte, als Brixton in seiner Aufregung mit der Hand in einen stinkenden Haufen Hundescheiße fasste, um den er bislang und trotz ihrer wilden Schießerei erfolgreich einen Bogen hatte machen können, und schloss bei dem folgenden, empörten Blick seines Partners die Augen. Er war müde, so unsäglich müde.
»Ford, wach bleiben. Wehe, du pennst ein … Templeton!«
»Aus welchem mir völlig unverständlichen Grund habe ich dich damals eigentlich in mein Bett eingeladen?«
Diese Frage stellte Brixton ihm nicht zum ersten Mal und ebenfalls nicht zum ersten Mal war Fords Antwort darauf ein Lachen, bevor er sich im Bett herumdrehte und dabei natürlich nicht an seine gerade erst frisch verheilte Verletzung dachte. Er zuckte schmerzerfüllt zusammen, denn die Narbe machte ihm immer noch Probleme, wenn er sich zu schnell und unbedacht bewegte, und fiel zurück auf den Rücken.
»Selbst schuld«, erklärte Brixton mitleidslos und schob die Bettdecke zur Seite, um einen Blick auf die Narbe zu werfen. »Sie ist gerötet und leicht geschwollen. Warst du etwa gestern joggen, ehe du hergekommen bist?« Ein sehr finsterer Blick traf ihn. »Du weißt genau, dass dir jede sportliche Betätigung noch für einen Monat verboten wurde!«
»Und was war letzte Nacht?«
Brixton grinste anzüglich. »Soweit ich mich erinnere, hast du nur faul herumgelegen und mich die ganze Arbeit machen lassen.« Als Ford die Augen verdrehte, lachte sein Partner und schlug ihm dann tadelnd mit der offenen Hand auf den Bauch. »Hoch mit dir. Es gibt Frühstück. Außerdem müssen wir heute ins Büro. Nachbesprechung des letzten Einsatzes. Der Boss will endlich deinen Bericht, um die Akte schließen zu können, und er hat einen neuen Fall erwähnt, irgendwo in einer kleinen Stadt, westlich von Chicago. Ein Mord mit demselben Modus Operandi, wie bei den beiden nicht identifizierten Leichen aus Chicago. Ich habe ein bisschen nachgeforscht. Das dritte Opfer stammt aus Chicago, ein schwuler Anwalt. Wieso seine Leiche in einem Waldfluss nahe dieser Kleinstadt gefunden wurde, ist allerdings ein Rätsel. Möglicherweise musste der Täter seinen Standort verändern oder er ist umgezogen.«
Ford gähnte und setzte sich auf, wobei er dieses Mal mehr auf die Narbe achtete. Sie zog ein bisschen, vermutlich hatte er es mit der Joggingrunde gestern Abend wirklich übertrieben. Aber nach drei Wochen im Krankenhaus und weiteren zwei Wochen Krankschreibung, hatte er das Herumsitzen zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten. Er war angeschossen worden und hatte es überlebt. Jetzt wurde es Zeit, dass er wieder etwas zu tun bekam, und ein neuer Fall kam ihm da gerade recht.
Nichtstun lag ihm nicht, das hatte es noch nie getan. Arbeit war für Ford, wie Urlaub für normale Leute. Zudem erinnerte ihn in seinem Apartment zu viel an früher, als er noch einen Verlobten gehabt hatte und glücklich gewesen war. Doch das war vorbei, die Vergangenheit ließ sich nicht mehr ändern, und er würde damit leben, wie er es schon seit zehn Jahren tat. Und irgendwann würde er es schaffen, die Bilder von den Wänden zu nehmen und den Ring wegzuwerfen, den er Beckett an dem Tag an den Finger hatte stecken wollen, als der gegangen war.
»Hör auf damit!«
Ford zuckte zusammen und sah zu Brixton, der, mit einem Anzug in einer Schutzhülle über dem Arm, den er nach dem Frühstück mit ins Badezimmer nehmen würde, um sich gleich dort fertigzumachen, vor seinem Kleiderschrank stand und ihn nachdenklich ansah.
»Wie oft hast du seine Bilder in den letzten beiden Wochen angestarrt?«
Ford antwortete nicht auf die Frage, da er keine Lust hatte, wegen dieses Themas erneut einen Streit anzufangen. Brixton war ein verdammt guter Partner, ein toller Agent und ein sehr guter Freund. Er war auch super im Bett, deswegen wälzten sie sich seit nun mehr sechs Jahren regelmäßig gemeinsam durch die Laken. Aber er war auch ein Mann, der kein Blatt vor den Mund nahm, sobald es um Fords Vergangenheit ging, und er wurde nicht müde, ihm zu sagen, dass es falsch gewesen war, die gemeinsamen Bilder und Erinnerungen an Beckett in sein neues Leben nach Quantico mitzubringen. Ford wusste, dass er recht hatte, und er wusste auch, dass es nicht gesund war, was er tat. Beckett war gegangen und würde nicht zurückkommen, und trotzdem konnte er nicht aufhören zu hoffen, dass er es eines Tages vielleicht doch tat.
»Vielleicht hättest du ihn einfach mal suchen sollen.«
»Und vielleicht gehst du lieber duschen und hältst dich aus meinen Angelegenheiten raus!«, blaffte Ford impulsiv zurück und stöhnte kurz darauf frustriert auf, als die Badezimmertür hinter Brixton ins Schloss fiel. Soviel zu einem gemeinsamen Frühstück. Mist. Dass er sich auch nicht beherrschen konnte, wenn es um Beckett ging. Ford erhob sich und folgte Brixton. Die Tür des Badezimmers war nicht abgeschlossen, also trat er ohne anzuklopfen in den Raum, dessen Boden mit schwarzen Fliesen ausgelegt war und der mindestens so groß war wie sein eigenes Wohnzimmer. Man sah nicht nur Brixton selbst seinen Reichtum an, doch im Moment interessierten Ford weder die weißen Fliesen an den Wänden, noch die beiden Waschbecken oder die riesige Eckbadewanne mit Whirlpoolfunktion, in der sie schon einige Zeit gemeinsam verbracht hatten.
Wortlos schob er die Glastür der extrabreiten Duschkabine mit zwei Duschköpfen auf und stellte sich hinter Brixton, der sich mit einer Hand an den Fliesen abstützte und seinen Kopf gesenkt hielt. Heißes Wasser prasselte auf sie beide nieder und Ford strich mit seinen Fingern sanft durch das kurze Haar in Brixtons Nacken. Manchmal hatte er darüber nachgedacht, wie es sein könnte, diesen Mann richtig zu lieben. Wie es sich wohl anfühlen würde, echte Gefühle für ihn zu haben und nicht nur ein Freund mit Extras und ein guter Partner zu sein, aber Ford konnte es nicht. Sein Herz hatte immer nur Beckett gehört und es würde immer nur Beckett gehören.
Außerdem würde man Brixton und ihn für immer trennen, sobald herauskam, dass sie mehr waren, als Partner beim FBI, und dann würde er den einzigen, echten Freund verlieren, den er hatte. Und das war es nicht wert. Nicht für Ford. Außerdem verdiente Brixton etwas Besseres, als nur zweite Wahl zu sein.
»Es tut mir leid«, murmelte Ford schließlich und griff nach dem Duschgel und dem Schwamm, um Brixton den Rücken zu waschen.
»Du kannst nicht ewig auf ihn warten.«
Damit sagte Brixton ihm nichts Neues, nur würde das für Ford nichts ändern. Er liebte Beckett nun mal und er würde nie aufhören, ihn zu lieben, obwohl er leider nicht sehr gut darin gewesen war, seine Gefühle in Worte zu fassen. Einem Mann mit einem Lächeln die Nase brechen, nachdem dieser versucht hatte, ihn zu erstechen, das konnte er, aber dem Mann, für den sein Herz schlug, zu sagen, dass er ihn liebte, das hatte er nie zustande gebracht, und als Ford endlich der perfekte Weg eingefallen war, wie er seine Gefühle ausdrücken konnte, war es zu spät und Beckett fort gewesen.
»Ich weiß.«
»Du wirst ewig auf ihn warten, oder?«
»Ja.«
Brixton fluchte wieder einmal auf französisch und fuhr im nächsten Moment zu Ford herum, um ihn zu packen und dann mit dem Rücken gegen die Fliesen zu pressen. Nasse und harte Lippen pressten sich auf seine und Ford stöhnte haltlos in den Mund, der ihn verschlang, wie eine überaus teure Köstlichkeit, während Hände ihn berührten, streichelten, fester zupackten, und ihn am Ende herumdrehten und mit dem Gesicht voran gegen die Fliesen drängten, um seinen Körper zu erobern und mit heißem Samen zu markieren, als wäre er Brixtons Eigentum.
Und Ford ließ es geschehen. Er ließ zu, markiert und heftig genommen zu werden, weil er genau das jetzt brauchte. Weil sie es beide brauchten, während das heiße Wasser die Fliesen hinablief und sie in immer dichter werdende Dampfschwaden hüllte, bevor ihr Stöhnen und die Geräusche ihrer aufeinander klatschenden Körper im Prasseln des Wassers untergingen.
Captain Winston Mercer war ein Bär, wie man in gewissen Kreisen jene Art von Männern betitelte, denen das Haar nicht nur auf dem Kopf in Massen sprießte, und denen man ansah, dass sie einem gutem Essen und einem ebenso guten Wein nie abgeneigt waren.
Natürlich waren das alles teilweise furchtbare Klischees, denn Ford kannte echte Bären, sowohl mit Fell als auch in Lack und Leder, und er konnte aus dieser äußerst persönlichen Erfahrung heraus sagen, dass man gut daran tat, beide Spezies ebenso wenig zu unterschätzen wie Mercer, denn obwohl sein Boss mit seinem Aussehen einer alten Schiffsboje Konkurrenz machen konnte, hatte er einen unglaublich scharfen Verstand, den er besonders gern gegen Verbrecher einsetzte, die immer wieder darauf hereinfielen, dass er mit seinem dichten, weißen Bart und den buschigen Augenbrauen wie ein unschuldiger Weihnachtsmann wirkte.
»Nun, Special Agent Templeton? Haben Sie Ihrem Bericht noch etwas hinzuzufügen?«
»Nein, Sir.«
»Gut.« Mercer warf einen letzten Blick auf die fünf Seiten, die er in den vergangenen beiden Stunden an seinem Schreibtisch in den PC getippt hatte, und schlug dann die Akte zu. »Es dürfte Sie freuen zu hören, dass unser junger AC/DC Freund bis auf Weiteres die Akten im DEA-Archiv sortieren darf. Sie wissen schon, das Archiv, das vor acht Jahren aus Versehen bei einem Rohrbruch abgesoffen ist. Eine sehr wichtige Aufgabe, die ihn wohl einige Jahre beschäftigen dürfte.«
Ford brauchte ein paar Sekunden, bis er die Verbindung zwischen AC/DC und DEA zog, aber dann konnte er sich ein schadenfrohes Grinsen nur mühsam verkneifen. Leider kannte Mercer ihn zu gut, als dass es ihm entgangen wäre.
»Ich erinnere mich an einen jungen Agenten, der vor knapp zehn Jahren durch meine Bürotür getrampelt kam. Pitschnass und stinksauer, weil er auf dem Weg in sein neues Zuhause bei einem Sturm über Bord gegangen war, obwohl man ihm mehr als einmal geraten hatte, unter Deck der Fähre zu bleiben.«
Ford richtete sich kerzengerade auf, in der Erwartung eines Tadels, stattdessen begann Mercer zu grinsen.
»Erwischt. Es ist immer gut, sich an eigene Dummheiten zu erinnern, bevor man über die anderer lacht.«
»Ja, Sir«, murmelte Ford und verzog das Gesicht, weil seine Narbe sich prompt diesen unpassenden Augenblick aussuchte, um wieder zu schmerzen.
»Agent Eastmore hat bereits durchblicken lassen, dass Ihre Verletzung Ihnen immer noch Schwierigkeiten macht, und im Normalfall würde ich der Empfehlung Ihres Arztes zustimmen und Sie die nächsten Wochen an den Schreibtisch verbannen, bis Ihre psychologische Untersuchung zu meiner Zufriedenheit ausfällt, nur leider«, Mercer machte eine künstlerische Pause, um dabei eine Akte aus seinem Schreibtisch zu holen und ihm zu reichen, »wird dieser Mörder vermutlich nicht abwarten, bis Sie sich erholt haben, und ich habe derzeit kein anderes Team mit Ihrer Erfahrung zur Hand, darum werde ich es riskieren und Sie auf den Chicago-River-Killer ansetzen.«
»Er hat schon einen Namen?«, fragte Ford überrascht, denn sobald die Presse involviert war und anfing, solche Fälle für ihre Auflagen auszuschlachten, wurde es oftmals hässlich, was ebenso oft zu mehr Leichen führte.
»Nein«, antwortete Mercer und lehnte sich zurück. »Da wir aktuell drei Leichen haben, zwei direkt in Chicago und eine an einem Flussufer gefunden, kam irgendein Scherzkeks, dem ich bereits auf der Spur bin, auf die Idee, den Namen auf die Akte zu schreiben.« Mercer deutete auf selbige in Fords Hand. »Dort steht alles drin, was wir wissen, und das ist nicht viel, denn das Sheriffbüro im zuständigen Distrikt der dritten Leiche war nicht sonderlich auskunftsfreudig. Fahren Sie hin und machen Sie den Leuten Beine. Der Bürgermeister von Chicago legt, wie Sie sicher verstehen werden, keinen Wert auf weitere Leichen, die in Form von hochgeschätzten, verheirateten Mitbürgern an Flussufer gespült oder, wie in den anderen zwei Fällen, einfach in Müllcontainern abgelegt werden. Wobei die Betonung im Fall des letzten Opfers auf verheiratet liegt, denn der Ehemann des Verblichenen war bereits vor Ort und wurde offenbar nicht so höflich behandelt, wie es einem Hinterbliebenen zusteht.«
Ford konnte sich schon denken, was dafür der Grund war, war aber klug genug, seinen Gedanken für sich zu behalten. Schwule mochten zwar mittlerweile alle Rechte und Pflichten haben, die auch den Heterosexuellen zustanden, das bedeutete allerdings noch lange nicht, dass homophobe Individuen auf einmal damit aufgehört hatten, über die in ihren Augen an allem Übel der Welt schuldigen Homosexuellen herzuziehen. Gerade in ländlichen Gegenden herrschte viel zu oft noch ein Glaube, der dem des vergangenen Mittelalters beunruhigend nahe kam.
»Zudem war Sheriff Colt Brackstone nicht begeistert über die Aussicht, in seiner Stadt zwei FBI-Agenten beherbergen zu müssen.« Mercer schürzte die Lippen. »Ich habe ihn, nachdem es mir schlussendlich doch gelungen ist, ihn zu erreichen, auf freundliche Weise darauf hingewiesen, dass unsere Behörde auf die Jagd nach Serienmördern spezialisiert ist und ich dafür sorgen werde, dass er seine baldige Pensionierung sofort und unwiderruflich antreten kann, sofern er seine Meinung zum Thema Hilfe von außen nicht unverzüglich ändert. Daraufhin hat er mich ebenso freundlich darauf hingewiesen, dass am Stadtende derzeit ein Haus freistünde, das er für Sie und Agent Eastmore reinigen lassen wird. Sie können sich den Schlüssel beim Sheriffbüro abholen.«
»Ist der Ehemann noch vor Ort?«, fragte Ford, denn mit dem Mann wollte er sprechen, bevor er anfing, sich mit einer homophoben Hinterwäldlerbehörde auseinanderzusetzen und einen Mörder zu fangen. Außenstehende bekamen selbst bei kurzen Besuchen und sogar, wenn sie unter Schock standen, in vielen Fällen mehr mit, als sie selbst wussten, und Brixton und er waren darauf geschult, genau diese unwichtigen Details ans Tageslicht zu holen, denn diese waren meistens entscheidend für einen schnellen Ermittlungserfolg.
»Nein. Statten Sie ihm in Chicago einen Besuch ab, ehe Sie sich auf den Weg nach Sanford Grove machen. Ich will wissen, was dort genau vorgefallen ist und ob wir uns auf Probleme einstellen müssen. Also mehr Probleme als üblich, wenn wir es mit Serienmördern und hiesigen Behörden zu tun haben. Und, Templeton? Bleiben Sie um Himmels willen höflich. Der Mann hat seinen langjährigen Lebensgefährten verloren und musste sich schon mit einem homophoben Sheriff herumärgern. Achten Sie und Agent Eastmore also genau darauf, was Sie sagen und wie Sie es sagen, habe ich mich klar ausgedrückt?«
3
Colt Brackstone tippte sich grüßend an die Stirn, als Selma Aticott auf der anderen Straßenseite lächelnd winkte, bevor sie damit fortfuhr, das frische Gemüse in den alten Holzkisten vor ihrem kleinen Geschäft zu sortieren. Den Aticotts gehörte die größte Farm außerhalb der Stadt, wenn man diese stinkende Baracke nicht mitzählte, in der Chuck Braddock im Westen der Stadt seine Schweine hielt. Am liebsten hätte Brackstone den Laden dicht gemacht und Braddock aus der Stadt gejagt, aber leider hielt sich der Mann sehr penibel an jede Vorschrift zur Tierhaltung und seinen Schweinen ging es gut, Brackstone schickte regelmäßig einen seiner Deputys unangemeldet auf die Farm raus, um es nachzuprüfen. Trotzdem behagte ihm der Gedanke nicht, hunderte von Schweinen so nah am Fluss und der umliegenden Natur zu haben, die ihnen Jahr für Jahr mehr Touristen in die Stadt brachte, von denen Sanford Grove jeden einzelnen mit offenen Armen empfing.
Was seine Stadt nicht brauchte, war ein Mörder, der eben jene Touristen vertrieb, denn dann hätte er umgehend Selma, ihren Mann, der gleichzeitig Bürgermeister der Stadt war, und andere besorgte Bürger vor seiner Tür, die um den guten Ruf ihrer Stadt und vor allem um ihre Einnahmen bangten. Sanford Grove brauchte das Geld eines jeden Touristen, die ganzjährig in die Stadt kamen, und es hatte ihn gestern beinahe eine Stunde gekostet, genau das diesem Dummkopf Clint Walters von der Sanford Times zu verklickern. Am Ende hatte nur die unverhohlene Drohung, den Bürgermeister einzuschalten, der die Zeitung seit Jahren mit Steuergeldern unterstützte, dafür gesorgt, dass der Artikel über den toten Schwulen heute Morgen nur auf Seite sechs und nicht auf der Titelseite gestanden hatte.
Brackstone schob seine Daumen betont lässig in zwei seiner Gürtelschlaufen und ließ dann den Blick die Hauptstraße seiner kleinen Stadt entlang schweifen. Idylle pur. Besser als es jedes Postkartenmotiv darstellen konnte. Blühende Kübel voller gelber Narzissen, weißen und lilafarbenen Krokussen und Tulpen in unzähligen Farben säumten beide Straßenseiten in regelmäßigen Abständen. Dazu gab es dunkel gestrichene, nach dem letzten Regen frisch geputzte Bänke aus altem Kiefernholz – für Gäste, die sich mit einem selbst gemachten Pausenbrot oder einem Kaffee und einem der wirklich leckeren Schokoladenmuffins aus Linda's Heart Café für eine kurze Pause niederlassen wollten.
Er entdeckte ein Pärchen, das händchenhaltend vor Eddys Trödelladen stand und das Schaufenster näher in Augenschein nahm. Brackstone grinste zufrieden, als die junge Frau auf die Scheibe deutete und ihren Freund oder Ehemann dann lachend in den Laden zog. So gefiel ihm das. Junge Liebe, Touristen, die Geld ausgaben und damit die Stadtkasse füllten, und ein, trotz der für Ende März noch verdammt kühlen Temperaturen, bereits vollständig ausgebuchtes Hotel, weshalb er die FBI-Agenten, die ihm so unwirsch aufs Auge gedrückt worden waren, im Haus des vor zwei Monaten verstorbenen William Bucky hatte einquartieren müssen.
Brackstones Blick verfinsterte sich merklich, als er sich an das wortreiche Telefonat mit diesem arroganten FBI-Agenten erinnerte, der es sogar gewagt hatte, ihm zu drohen. Nur leider konnte er dagegen nicht einmal intervenieren, denn ein Mord blieb ein Mord, und obwohl er es McEverett immer noch übel nahm, dass der versucht hatte ihn dazu zu drängen, offiziell um Hilfe zu ersuchen, besaß Brackstone in der Sache keinerlei Handhabe. Nicht bei drei Leichen und einem brutalen Serienmörder, der den Bürgermeister von Chicago so nervös machte, dass er beschlossen hatte, sich einzumischen. Deswegen lag die Zuständigkeit ab sofort beim FBI, ob ihm das gefiel oder nicht, und es gefiel ihm absolut nicht.
Was hatte ein schwuler Anwalt überhaupt in den Wäldern außerhalb seiner Stadt zu suchen gehabt? Warum hatte er sich nicht in Chicago umbringen lassen, wie die anderen Opfer? Es tat ihm zwar leid um den Mann, aber gleichzeitig ärgerte ihn maßlos, dass sich offensichtlich niemand fragte, aus welchem Grund dieser Typ in den Wäldern herumgeschlichen war? Ein feiner Anwalt aus der Großstadt, der gerne angelte und dabei zufällig einem Mörder in die Arme lief? Eher unwahrscheinlich und in seinen Augen auch ziemlich weit hergeholt. Brackstone hegte viel eher den Verdacht, dass der Anwalt hergekommen war, um seinen Ehemann zu betrügen. Das taten diese Schwulen doch dauernd. Die konnten nicht treu sein, weil sie krank waren und therapiert gehörten, sagte die Kirche, und jetzt hatte der Mann die Quittung für sein schändliches Verhalten bekommen.
Vielleicht hätte er ein bisschen Mitgefühl für den Ehemann zeigen sollen, der wahrscheinlich nicht einmal gewusst hatte, was sein Mann für ein Hallodri war. Aber wer konnte schon sagen, ob der Ehemann nicht selbst ein Schürzenjäger war und nur so tat, als wäre er über den Verlust untröstlich. Schwule waren erfahrene Lügner, die jeden leicht täuschen konnten. Die Regierung war dafür das beste Beispiel, seit mittlerweile sogar Senatoren offen ihre Perversion auslebten und andere Männer heirateten. In manchen Fällen sogar Kinder großzogen.
Brackstone schauderte unwillkürlich bei der Vorstellung, wie gering die Chance für so ein armes Kind wohl war, normal aufzuwachsen, und setzte sich in Bewegung, um sich die Beine zu vertreten und im Diner der Mitchells etwas zu essen. Es war fast Mittag und seit Emma, seine geliebte Frau, vor acht Jahren an Krebs gestorben war, kochte Brackstone nur selten. Für sich allein machte es ihm einfach keine Freude und da Emma und ihm eigene Kinder leider nicht vergönnt gewesen waren, fühlte er sich in seinem mittlerweile viel zu leeren Haus an manchen Tagen ziemlich einsam. Im Diner zu Mittag zu essen versprach hingegen den neuesten Klatsch, einen Blick auf gute Bekannte und alte Freunde, sowie einen weiteren Blick auf die aktuellen Touristen in seiner Stadt, von denen Sanford Grove in seinen Augen niemals genug haben konnte.
Sollte das FBI doch zwei Agenten herschicken, die hier eine Weile herumschnüffelten. Wenn er Glück hatte, würde es keine weitere Leiche geben und die Spur sehr schnell kalten werden, wie es in diesen Kriminalsendungen immer gesagt wurde, die er sich so gerne ansah. Sie konnten nicht finden, was nicht hier war, und dieser Serienmörder war vermutlich längst wieder in Chicago, wo er bitte auch bleiben sollte.
Schon sehr bald wird das Leben in Sanford Grove wieder seinen gewohnten Gang gehen, dachte Colt Brackstone mit einem sehr breiten Lächeln und zog die Tür des Diners auf, in dem ihn der köstliche Geruch von würzigem Schweinebraten und süßem Käsekuchen erwartete.
4
Er brauchte bald einen neuen Probanden.
Nur gestaltete sich die Suche nach einem in seinen Augen passenden als schwierig. Nummer 34 zu übertrumpfen würde nicht einfach werden. Vermutlich sogar unmöglich. Es tat ihm beinahe leid, dass er ihn hatte töten müssen, dabei war er eine wirklich brillante Studie gewesen. So stark und voller Leben. Dazu dieser ungebrochene Kampfgeist, selbst dann noch, als es zu Ende ging. Es gab keine Worte, die ihm gerecht würden.
Ein Stirnrunzeln erblickte das Licht der Welt, während sein Blick über seine früheren Probanden schweifte. Warum hatte er fliehen müssen? Damit hatte er alles zwischen ihnen zerstört, seine gesamte Arbeit ins Lächerliche gezogen. Wie hatte sein so sehr geliebter Proband ihn nur auf diese absolut schändliche, unverzeihliche Weise hintergehen können und warum hatte er die Anzeichen nicht rechtzeitig erkannt und interveniert? Bei allen anderen war es ihm doch auch gelungen.
Nummer 12 hatte so laut geweint und an seinen Nerven gezerrt, und doch hatte er ihr nicht getraut – zu Recht, wie sich am Ende zeigte, als sie wie eine Furie auf ihn losging und alles gab, bis der letzte Atemzug über ihre Lippen geflossen war.
Er ging zu ihr hinüber, strich mit einem leisen Lachen über ihre faltige Haut. Noch immer haftete ihr ein leichter Duft des Honigs an, mit dem er ihren Körper eingerieben hatte und es schon bald wieder würde tun müssen, um sie so lange wie nur irgend möglich zu erhalten.
Sein Blick wanderte weiter zu den Gerätschaften, die er im Laufe der Jahre hier hinunter gebracht hatte, um diesen für ihn einzigartigen Raum trocken zu halten.
Seine Krypta.
Ein hohes, recht großes Gewölbe, das er gleich bei seinem ersten Rundgang in den Stollen entdeckt hatte. Wahrscheinlich aufgrund der Goldgrabungen nachträglich und auf natürliche Weise entstanden, und er hatte sich sofort in die wunderschön geschwungenen Wände aus groben Stein verliebt.
Liebe auf den ersten Blick, wie es immer so schön hieß, und auf ihn und sein zweites Zuhause traf das in jedem Fall zu. Die unzähligen Edelsteine, die seiner herrlichen Krypta zusätzlich das gewisse Etwas gaben, waren ihm egal, obwohl sie mitunter ein grandioses Lichtspiel boten, wann immer er sich den Luxus einer künstlichen Lichtquelle gönnte, während er ein bisschen Zeit mit seinen Probanden verbrachte.
Er lauschte in die Stille seiner Krypta und seufzte bei dem leisen, stetigen Tropfen, das in der Ferne leider noch zu hören war. Der einzige Nachteil an seinem Zuhause war das Wasser, gegen das er unermüdlich ankämpfen musste, und der stetige Regen in den vergangenen Wochen hatte ihn letztendlich doch einen Teil seiner neu hinzugewonnenen Krypta gekostet, weshalb er sich gezwungen gesehen hatte, seine letzten Probanden so umständlich in Chicago zu entsorgen, um keinen Verdacht auf sein Heim zu lenken.
Aber diese Unterbrechung seiner Routinen hatte ihm auch Nummer 34 beschert und obwohl ihr Zusammensein dann so unschön geendet war, würde er diesem Anwalt trotz allem für immer dankbar sein.
Ab sofort wollte er seine neuen Probanden sorgfältiger auswählen und er hatte schon einen genauer ins Auge gefasst, der es möglicherweise wert war, seine neue Nummer 35 zu werden. Doch noch war er unschlüssig, ob er mit diesem vielleicht eine Grenze überschritt, denn er würde vermisst werden. Er hatte Familie und war für die Menschen nicht unsichtbar, wie seine bisherigen Probanden. Aber mit seinem Anwalt hatte es ebenfalls funktioniert und möglicherweise war es das Risiko wert, denn sein Auserwählter war jung, stark und über die Maßen gefühlvoll. Genauso wie seine Nummer 34.
Mit ihm versprach seine neue Studie ein atemberaubender Erfolg zu werden und er brauchte jetzt einen Erfolg. Dringend sogar, nachdem sein letzter Proband eine solche Enttäuschung gewesen war, dass er ihm nicht einmal einen Platz in seiner Krypta zugestanden hatte.
Eine Libelle erhielten alle, als Wertschätzung seinerseits, für ihre Teilnahme an seiner Arbeit, aber einen Platz in der Krypta erhielten nur die, die sich würdig erwiesen. Nummer 34 hatte das nicht getan und der letzte Proband …
Er schüttelte verärgert den Kopf über diesen Fehlversuch. Wie hatte seine erste Nummer 35 es wagen können, einfach so zu sterben?
Unfassbar.
5
Es war nicht Peters Art, zu spät zu kommen.
Beckett erinnerte sich noch viel zu gut an den Wintersturm vor zwei Jahren, in dessen Verlauf es drei Tote und mehrere Verletzte, einer davon Peter, gegeben hatte, nachdem das Dach der Grundschule den Schneemassen nicht mehr standgehalten hatte und zusammengebrochen war. Selbst mit gebrochenem Arm hatte Peter weiter dabei geholfen, die panischen Kinder in Sicherheit zu bringen, und darum irritierte es Beckett mehr als er zugeben wollte, dass sein junger Kollege um fünf Minuten nach acht Uhr morgens nicht an seinem Schreibtisch saß.
Dabei würden sie heute jeden Mann brauchen, denn gegen Mittag hatte sich das FBI angekündigt, um die hier noch nicht mal in Gang gekommenen Ermittlungen im Mordfall Adrian Donaldson zu übernehmen und das war Beckett auch mehr als recht. Er schämte sich nämlich immer noch dafür, wie Sheriff Brackstone dessen Ehemann letzte Woche behandelt hatte.
Es war eine Sache, homophob zu sein, aber einem Witwer Fragen über die Freizeitgestaltung seines Mannes zu stellen, ob dieser gern angelte oder es üblich war, dass er sich so weit von Chicago entfernt herumtrieb, und das alles, nachdem William Donaldson erst kurz zuvor in das ausgemergelte Gesicht seines verstorbenen Mannes geblickt hatte – Beckett hätte Brackstone am liebsten die Faust ins Gesicht gerammt und er würde sich höchstpersönlich darum kümmern, dass William Donaldson den, trotz einer ausführlichen Suche am Flussufer seinerseits, leider weiterhin unauffindbaren Ehering zurückbekam. Wenn er schon sonst nichts tun konnte, um diese in seinen Augen unverzeihliche Verfehlung seines Bosses wiedergutzumachen, wollte er wenigstens etwas für den trauernden Witwer tun, der jetzt eine Beerdigung zu organisieren hatte.
Bookster betrat das Büro, in der Hand die Reste eines von Lindas unvergleichlichen Schokoladenmuffins mit Streuseln, um die Beckett so oft wie möglich einen Bogen machte, weil er sonst längst nicht mehr durch die Türen seines Hauses passen würde, und hielt irritiert inne, nachdem sein Blick auf Peters leeren Schreibtisch gefallen war.
»Wo ist Peter?«
Beckett zuckte ratlos die Schultern und wandte sich wieder seinem Computerbildschirm zu, um die neuesten E-Mails in Augenschein zu nehmen, die ihr Büro über das Wochenende erhalten hatte. Brackstone mochte zwar kein großer Verfechter der Technik sein, aber er wusste, dass auch die hiesige Polizei mit der Zeit gehen musste, und deshalb hatte das Sheriffbüro von Sanford Grove eine eigene Webseite mit einer Möglichkeit zur Kontaktaufnahme, die die Bürger auch redlich nutzten. Vor allem an den Wochenenden, wo das Bürotelefon nicht besetzt war und Mimi, sein privater Hausdrachen, wie Brackstone die ältere Dame liebevoll nannte, nur Notfälle an den Sheriff oder seine Deputys weiterleitete.
Und die entrüstete Beschwerde über die Lautstärke eines Rasenmähers am Sonntagmorgen gehörte ganz sicher nicht in die Kategorie Notfall. Sie gehörte in keine Kategorie, deswegen löschte Beckett sie unbeantwortet, weil der Absender dieser Beschwerde sich ständig mit seinem Nachbarn wegen dessen Rasenmäher in den Haaren lag und sie aus diesem Grund nur alle paar Monate auf die Beschwerde reagierten.
Dasselbe trostlose Schicksal ereilte die Nachricht von Mila Delacourt, die ihn zum Abendessen einlud. Beckett schnaubte und verdrehte die Augen, als Bookster ihn fragend ansah, doch schon im nächsten Moment zu grinsen anfing.
»Mila?«
»Wer sonst«, murmelte Beckett und wandte sich der dritten von acht E-Mails zu, während Bookster lachte. Jeder im Büro wusste über Milas hartnäckige Annäherungsversuche Bescheid und jeder amüsierte sich darüber – abgesehen von ihm selbst, versteht sich.
»Warum gehst du nicht mal mit ihr aus?«
Beckett warf Bookster einen entgeisterten Blick zu. »Damit sie sich bestätigt fühlt? Nein, danke.«
»Sie wird sowieso nicht aufhören«, konterte Bookster und klang für Beckett viel zu belustigt, was seiner eigenen Laune nicht gerade zuträglich war.
»Wenn du Mila so scharf findest, geh du doch mit ihr aus. Dann habe ich wenigstens endlich meine Ruhe.«
Booksters überraschter Blick ließ ihn innerlich fluchen, weil ihm klar war, dass er seinen Kollegen jetzt erst recht neugierig gemacht hatte. Nicht, dass Bookster immerzu versuchte, ihn zu verkuppeln, aber dass er es merkwürdig fand, dass Beckett mit mittlerweile siebenunddreißig Jahren offenbar nicht im Traum daran dachte, sich eine Frau zu suchen und endlich sesshaft zu werden, wusste Beckett natürlich. Solche Dinge fielen in ihrer kleinen Stadt nun mal auf und irgendwann würde man wohl anfangen, ihn zu fragen, ob er vorhatte, auch so ein seltsamer Eigenbrötler zu werden wie William Bucky, dessen Haus seit dem Tod des alten Mannes leer stand – zumindest bis nachher diese FBI-Agenten hier aufkreuzten.
Es war Becketts Glück, dass Owen und Adam Marshall, die anderen beiden Deputys, sich genau den Moment aussuchten, um lachend und schwatzend im Sheriffbüro aufzutauchen und ihn somit vor Booksters neugierigen Fragen bewahrten. Fürs erste war er gerettet, aber Beckett machte sich keinerlei Illusionen, dass das auch so blieb. Früher oder später würde Bookster ihn abpassen, um dieses Gespräch fortzuführen.
»Hallo, Beckett.« Owen, der jüngere der Marshall-Brüder, kam breit grinsend an seinen Schreibtisch. »Wir waren eben im Diner und rate mal, wer uns gebeten hat, dir ganz liebe Grüße auszurichten? Sie trug übrigens ihre Mörderbluse … Du weißt schon, das knallrote Ding mit den Druckknöpfen, das für ihre enormen weiblichen Attribute mindestens zwei Nummern zu klein ist.«
Beckett stöhnte unbeherrscht und prompt begannen seine lieben Kollegen, inklusive Bookster, schallend zu lachen. Dabei sollten sich gerade die Brüder besser zurückhalten, denn beide hatten bereits bei seinem Dienstantritt hier den Ruf gehabt, nie etwas anbrennen zu lassen, und daran hatte sich bis heute auch nichts geändert. Selbst Mila und Sandrine machten um Owen und Adam große Bögen, da sie keine Lust hatten, die nächsten Kerben in deren Bettpfosten zu werden.
»An deiner Stelle wäre ich vorsichtig, Owen«, sagte Beckett trocken und warf einen erneuten Blick auf die nächste E-Mail, obwohl er sich der Aufmerksamkeit seiner Kollegen deutlich bewusst war. »Wenn Selma dich jemals dabei erwischt, wie du ihre Rosenhecke hochkletterst, um ins Zimmer ihres niedlichen Engels zu kommen, bist du ein toter Mann.«
»Woher …?«, fing Owen fassungslos an und wurde prompt von seinem Bruder und Bookster ausgelacht, während Beckett sich ein überhebliches Grinsen gönnte, aber nichts weiter dazu sagte. Es war sowieso reiner Zufall, dass er Owen letzte Woche dabei gesehen hatte, wie der sich durchs Fenster ins Haus der Aticotts schlich, um deren Tochter zu beglücken. Spaziergänge mit dem Hund waren manchmal wirklich sehr erheiternd.
Er versah die dritte Nachricht, ein Hinweis auf eine illegale Mülldeponie im Wald, mit einem roten Erinnerungsfähnchen, um sich später darum zu kümmern, und entsorgte die übrigen fünf Mails, von denen drei Werbung und zwei lächerliche Beschwerden waren, im Papierkorb. Danach stockte er. Andererseits konnte er sich genauso gut gleich auf den Weg machen. Zu tun gab es an einem normalen Montagmorgen ohnehin nie viel und so entkam er wenigstens einer weiteren Diskussion über Sandrine Mitchells Oberweite.
Beckett erhob sich. »Ich fahre hoch zur Tankstelle. Ernie hat eine wilde Mülldeponie gemeldet, das sehe ich mir mal an.«
Er steckte seine Waffe ein, überprüfte das Funkgerät, das er neben seinem privaten Handy täglich bei sich hatte, da es hier draußen immer noch zu viele Funklöcher gab, und schnappte sich zum Schluss seine Jacke. Frühling hin oder her, das Wetter in Sanford Grove machte niemals halbe Sachen, und nur weil in der Stadt schon überall die Blumen blühten, hieß das nicht, dass es nächste Woche nicht noch einmal schneien konnte.
Eine dicke Jacke war auch Ende März noch unerlässlich in Sanford Grove, das hatte er gleich in seinem ersten Winter hier oben auf die harte Tour gelernt.
Die illegale Mülldeponie entpuppte sich als wild entsorgter Hausmüll, inklusive einer zusammengeknüllten Rechnung, auf der Beckett mit einem Kopfschütteln Namen und Anschrift des Verursachers fand. Dummheit stirbt wohl nie aus, dachte er und rief in der Tankstelle an, um Ernies jüngeren Bruder Wyatt herzubestellen, mit dem er sich vorhin noch unterhalten hatte. Der Mann hatte eine Frau und drei Kinder zu versorgen, was ihm eher schlecht als recht mit Gelegenheitsjobs gelang, darum waren seine Kinder derzeit wieder einmal bei Pflegefamilien untergebracht, da sowohl Wyatt als auch seine Ehefrau Christine ihren Frust zu oft in Alkohol ertränkten.
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