Deine Seele in mir - Susanna Ernst - E-Book
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Deine Seele in mir E-Book

Susanna Ernst

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Beschreibung

Ein poetisches Buch voller Gefühl und Wärme, eine mitreißende, spannende Story: "Deine Seele in mir" ist ein Lesegenuss der allerersten Güte für alle Fans von Nicholas Sparks und Mark Levy. Wenn der Liebe EIN Leben nicht genug ist.. "Hab keine Angst, Matty! Ich bleibe bei dir, ich verspreche es!" Dies sind die letzten Gedanken der neunjährigen Amy, bevor sie an den Folgen eines grausamen Verbrechens stirbt. Ihr bester Freund Matt musste dabei zusehen und konnte ihr nicht helfen. Die schreckliche Erinnerung lässt Matt nie mehr los. Viele Jahre später trifft er bei seiner Tätigkeit als Masseur - mit seinen Händen kann er wahre Wunder vollbringen - auf Julie, eine junge autistische Frau. Als er sie berührt, geschieht etwas Beängstigendes, doch zugleich Wundervolles: Matt bekommt eine nahezu unglaubliche Erklärung für die Verbundenheit, die er Julie gegenüber empfindet. Begeisterte Leser schrieben auf Vorablesen: "Diese Leseprobe hat mich ab der ersten Seite völlig in den Bann gezogen. Ich bin überrascht, wie wunderbar sich dieses Buch lesen lässt, und auch die Idee, die dahinter steckt, ist erfrischend anders." "Die Geschichte hat mich von der ersten Zeile an berührt." "Herzergreifend schön-melancholisch" "Es gibt nur Eines, was ich zu dieser Leseprobe schreiben kann: Wahnsinn, welche Perlen auf neobooks gefunden werden können!! Es ist beachtlich wie sanft, einfühlsam und bewegend die Autorin die doch sehr schwierigen Themen Autismus, Wiedergeburt und Seelenverwandtschaft händelt und dem Leser näher bringt." "Das Buch geht unter die Haut …" Weitere begeisterte Leserstimmen: "Eine herzerweichende Liebesgeschichte." "Mein persönliches Buch des Jahres!" "Dieses Buch hat meine Seele berührt." Im Juli 2014 ist Susanna Ernsts neuer zauberhafter Roman "Immer wenn es Sterne regnet" bei feelings - emotional eBooks erschienen.

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Seitenzahl: 651

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Susanna Ernst

Deine Seele in mir

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Wenn der Liebe EIN Leben nicht genug ist ...

»Hab keine Angst, Matty! Ich bleibe bei dir, ich verspreche es!« Dies sind die letzten Gedanken der neunjährigen Amy, bevor sie an den Folgen eines grausamen Verbrechens stirbt. Ihr bester Freund Matt musste dabei zusehen und konnte ihr nicht helfen. Die schreckliche Erinnerung lässt Matt nie mehr los. Viele Jahre später trifft er bei seiner Tätigkeit als Masseur - mit seinen Händen kann er wahre Wunder vollbringen - auf Julie, eine junge autistische Frau. Als er sie berührt, geschieht etwas Beängstigendes, doch zugleich Wundervolles: Matt bekommt eine nahezu unglaubliche Erklärung für die Verbundenheit, die er Julie gegenüber empfindet.

Ein poetisches Buch voller Gefühl und Wärme, eine mitreißende, spannende Story: »Deine Seele in mir« ist ein Lesegenuss der allerersten Güte für alle Fans von Nicholas Sparks und Mark Levy.

Inhaltsübersicht

MottoWidmungPrologKapitel IKapitel IIKapitel IIIKapitel IVKapitel VKapitel VIKapitel VIIKapitel VIIIKapitel IXKapitel XKapitel XIKapitel XIIKapitel XIIIKapitel XIVKapitel XVKapitel XVIKapitel XVIIKapitel XVIIIKapitel XIXKapitel XXKapitel XXIKapitel XXIIKapitel XXIIIKapitel XXIVKapitel XXVKapitel XXVIKapitel XXVIIKapitel XXVIIIKapitel XXIXKapitel XXXEpilogDankeDer neue zauberhafte Roman der Autorin von »Deine Seele in mir«
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Wer nicht will, wird nie zunichte,

Kehrt beständig wieder heim.

Frisch herauf zum alten Lichte

Dringt der neue Lebenskeim.

 

Keiner fürchte zu versinken,

Der ins tiefe Dunkel fährt.

Tausend Möglichkeiten winken

Ihm, der gerne wiederkehrt.

 

Dennoch seh ich dich erbeben,

Eh du in die Urne langst.

Weil dir bange vor dem Leben,

Hast du vor dem Tode Angst.

Wilhelm Busch aus »Schein und Sein«

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Für Peter

– wo auch immer du bist –

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Prolog

Es war ein gewöhnlicher Dienstagmorgen, der Beginn eines weiteren heißen Spätsommertags, in einem winzigen Dorf namens Madison Spring. Die ganze Welt schien ein einziges Sonnenblumenfeld zu sein.

So weit das Auge reichte, reckten die leuchtenden Blumen ihre Köpfe der Sonne entgegen. In ihrer Gesamtheit bildeten sie einen perfekten Kontrast zu dem Himmel, der an jenem Morgen näher zu sein schien als sonst.

Kein Wölkchen trübte das Blau, und die Farben der Landschaft waren so kräftig, dass ein guter Maler wohl entschieden hätte, sie etwas abzudämmen, um die Authentizität seines Bildes zu bewahren.

Ein Geruch von Honig und trockenem Gras lag in der Luft.

Das Knistern der Strohhalme, die unter ihren Füßen wegknickten, mischte sich mit ihrem Gelächter und dem Summen der Bienen zu einer fröhlichen Geräuschkulisse, die ihr Spiel begleitete.

Amy und Matt – sie waren Kinder, nicht mal neun Jahre alt, und sie waren glücklich. Über diesen Ferientag, über das perfekte Wetter und den nahen Bach, der ihnen Kühlung und noch mehr Vergnügen versprach. Ihre Mütter hatten ihnen Brot und frisches Obst in die Taschen gepackt – wohl ahnend, dass sie die Kinder vor Sonnenuntergang nicht mehr zu Gesicht bekommen würden.

Nichts deutete auf das Unheil hin, das die beiden so bald schon ereilen würde. Es gab keine Warnung und keine Vorankündigung an diesem Morgen – an dem Tag, der Amys letzter in diesem Leben sein sollte.

»Brrrr … ich bin ein Düsenflieger«, rief Matt. Die Arme weit von sich gestreckt, lief er hinter seiner Freundin her und durchschnitt das Blumenmeer in einer Schlangenlinie.

»Ha, Düsenflieger! Du bist eine lahme Schnecke, Matty. Wetten, dass ich wieder vor dir am Bach bin?« Lachend warf Amy ihre blonden Zöpfe zurück.

»Wetten, dass nicht! Ich schalte meinen Turboantrieb ein, und wenn ich dich fange, dann kitzle ich dich so lange, bis du nicht mehr kannst.«

Einen aufheulenden Motor nachahmend, beschleunigte Matt sein Tempo. Amy hob ihr Kleid an und presste den Strohhut fest auf ihren Kopf, um ebenfalls schneller rennen zu können. Sie quietschte vergnügt auf, als sie den Kiefern entgegenlief, die sich im lauen Wind wiegten und den Kindern ihre Schatten entgegenstreckten.

Am Rande des Wäldchens verströmte der verblühende Lavendel seinen Duft. Süß und schwer überlagerte er die anderen Gerüche.

»Ich hab dich gleich«, verkündete Matt übermütig, nun wirklich schon sehr dicht hinter ihr.

Doch Amy lachte laut auf. »Das hättest du wohl gerne«, rief sie ihm über die Schulter zu und rannte, so schnell sie nur konnte.

O ja, es würde ein herrlicher Tag werden. Sie hatten ihre Badesachen dabei, doch weder Matt noch Amy hatten vor, sie auch anzuziehen. Es war eins ihrer wohlgehüteten Geheimnisse: Sie gingen noch immer nackt im Bach baden, das machte einfach mehr Spaß.

»Ihr seid jetzt zu groß dafür, zieht euch etwas über!«, hatten die Eltern sie bereits im letzten Sommer ermahnt. Doch Matt und Amy sahen das anders. Sie fühlten sich frei und unbeobachtet – und sie waren die besten, die wirklich allerbesten Freunde. Also, was war schon dabei? Am Abend würden sie, wie immer in letzter Sekunde, ihre Badesachen in den Bach tunken, notdürftig auswringen und dann eilig nach Hause laufen, noch bevor das Rot der Sonne den riesigen Berg hinter den Wäldern berührte, denn das war die einzige Uhrzeit, die sie in diesen Tagen kannten.

Dicht hintereinander liefen sie über die kleine Waldböschung, die das Feld, das sich vor der Siedlung erstreckte, von dem Bach trennte.

Es geschah plötzlich und unerwartet. Wie aus dem Nichts wurde das Mädchen von einem harten Schlag getroffen. Dunkelheit umfing es augenblicklich.

Als sie wieder zu sich kam, roch Amy etwas, das sie – noch ehe sie realisieren konnte, was es war, und noch ehe sie überhaupt ihre Augen geöffnet hatte – zum Würgen brachte. Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, aber sie konnte nicht, denn nur einen Augenblick, nachdem sie ihre Augen aufschlug, umfasste eine rauhe Hand ihren Hals und drückte erbarmungslos zu. Feuchtheißer Atem und mit ihm ein Geruch, dessen widerwärtige Mischung aus Schweiß, Tabak, Schnaps und kranker Lust sie in ihrem Alter noch nicht hätte benennen können, schlug Amy entgegen. Mit einem Herzschlag wurde ihr kalt. Angst steigerte sich binnen Sekunden zu Panik.

Sie suchte nach einem Halt, fand keinen, schlug und trat um sich. Doch sie war wehrlos der Kraft dieses maskierten Mannes ausgeliefert. Eingequetscht zwischen dem kühlen Waldboden unter ihr und dem Gewicht des viel zu heißen Körpers über ihr, spürte sie einen brennenden Schmerz zwischen ihren Beinen. Erschrocken bäumte sie sich auf; ihre Finger krallten sich in die Erde. Doch schon festigte sich der Griff um ihren Hals – dieses Mal endgültig.

In dem Moment, als sich Amy selbst zum letzten Mal atmen spürte, wich die Angst aus ihrem Körper.

Das Einzige, was sie noch sah, bevor die Finsternis sie schluckte, waren seine Augen. Nicht die eisig blauen ihres Peinigers, sondern die sanften, braunen Augen ihres besten Freundes. An einen Baum gefesselt, mit einem Knebel im Mund, saß Matt da. Nur etwa einen Meter von Amy entfernt. Eine Wunde klaffte an seiner Schläfe, das Blut rann ihm über die Wange.

Matt war außerstande, sich zu rühren. Lautlos starrte er sie an. Und doch – das Mädchen hörte seinen Hilferuf. Es hörte sogar das Zittern in seiner imaginären Stimme.

Bleib bei mir! Bitte, Amy, bleib bei mir! Ich habe solche Angst!

Amy verbannte den Schmerz aus ihrem Bewusstsein. Sie bündelte den Rest ihrer Kraft und gab ihm ihr Wort.

Hab keine Angst, Matty! Ich bleibe bei dir, ich verspreche es!

Dann wurde es erneut dunkel, und diese Dunkelheit war viel tiefer und intensiver als alles, was Amy je zuvor erlebt hatte. Doch sie fürchtete sich nicht mehr, und auch die Kälte war verschwunden.

Kurzes, grelles Aufflackern unterbrach das tiefe Schwarz um sie herum nach einer Weile – zunächst nur sporadisch, dann immer regelmäßiger –, und auf einmal sah das Mädchen sein kurzes Leben an sich vorbeiziehen. Bilder wie die eines alten Filmes blitzten auf.

Amy sah sich auf dem Rücken ihres Vaters reiten und dann in den Armen ihrer Mutter liegen. Mit einem feuchten Tuch kühlte sie Amys Stirn, während sie ihr die Geschichte von dem lustigen Zwerg und dem dummen Riesen erzählte. Amy roch den Duft von warmer Milch und frisch gebackenem Obstkuchen, von Getreide und frischem Heu. Sie sah Matty und sich selbst nebeneinander im noch feuchten Frühlingsgras liegen und in den Himmel starren – ein Drache, ein Löwe, ein Auto –, in nahezu jeder Wolke erkannten sie eine Figur.

Ein neues Bild löste die himmlischen Gestalten ab: Amy und Matt, die, bis auf die Unterwäsche entkleidet, auf Holzschemeln in Amys Garten hockten, während sie von ihren Vätern mit Läusekämmen bearbeitet wurden. Dann sah sich Amy beim Klavierspielen. Matt saß neben ihr, lauschte und malte dabei – immer wieder dasselbe Motiv: ihren gemeinsamen großen Traum.

Amy sah sich Hand in Hand mit Matty zur Schule rennen. Wie immer in Eile, doch zu spät kamen sie nie. Und in all diesen Bildern sah sie die Sonne hell und warm auf sich und ihren besten Freund herabscheinen.

Schon hatten die Szenen aus Amys Kindheit ihre gesamte Macht entfaltet. Mühelos vernebelten sie die gerade neu hinzugekommenen Erinnerungen an Schmerz und Angst. Amy wollte nicht zulassen, was ihr Verstand ihr ankündigte: Diese betäubend schönen Bilder würden bald enden. Sie würden einfach erlöschen und sterben, zusammen mit ihr.

Verzweifelt sog sie jedes Detail ihrer kaleidoskopischen Erinnerungen in sich auf und hielt sich mit der Kraft ihres Daseins daran fest.

Ich muss bei Matty bleiben. Ich darf ihn nicht im Stich lassen. Niemals, das haben wir uns geschworen.

Manche würden es Trotz nennen, manche einen starken Willen, wieder andere würden vielleicht von grenzenloser Treue sprechen. Fest steht, dass diese Gedanken die letzten der kleinen Amy Charles waren, bevor die Dunkelheit zurückkam, das Kind umhüllte und es erbarmungslos mit sich riss.

[home]

Kapitel I

Einundzwanzig Jahre später

Matt Andrews, Sie schickt der Himmel! Wie gut, dass Sie so kurzfristig Zeit gefunden haben. Bitte, kommen Sie doch herein.«

Mit einer grazilen Geste bedeutet sie mir einzutreten. Die Art, wie sie sich bewegt, ist auch dieses Mal das Erste, was mir an ihr auffällt. Trotz ihrer einfachen Kleidung wirkt sie anmutig.

»Guten Morgen, Mrs. Kent. Ist doch selbstverständlich.«

Ich stampfe den Schnee von meinen Schuhen und mache einen großen Schritt auf die Fußmatte. »Wo ist denn Ihr Mann?«

»Im Wohnzimmer, auf dem Sofa. Bitte …« Sie deutet in die Richtung des Wohnraums und geht voran.

Ihr Anruf kam mir nicht gerade gelegen, drei Termine hatte ich verschieben müssen. Doch Menschen wie den Kents kann ich einfach nicht absagen. Über all die Jahre meiner Tätigkeit als Masseur habe ich selten so sympathische Menschen wie Kristin und Tom kennengelernt. Ich könnte es mit meinem Gewissen schlichtweg nicht vereinbaren, sie jetzt im Stich zu lassen. Nicht in einer solchen Situation. Nicht mit dieser Bürde, die sie tagtäglich zu tragen haben.

Durch den Korridor geht es in den offenen Wohnbereich. Hier war ich bisher nur einmal, doch schon damals hatte mich die Gemütlichkeit dieses Raums binnen Sekunden erreicht und freundlich umhüllt. So wie auch jetzt wieder.

Das Feuer im Kamin lodert fröhlich vor sich hin, auf dem dunklen Parkettboden liegen Teppiche in warmen Braun- und Grüntönen. Es riecht nach Kaffee und frischem Brot.

»Tom, Schatz, Mr. Andrews ist da.«

»Gott sei Dank!« Toms Worte haben den Charakter eines erleichterten Stoßgebets. Ich sehe ihn nicht, doch ich ahne, wie schmerzverzerrt sein Gesicht sein muss, als ich sein Ächzen höre.

»Hallo, Tom! Bleiben Sie ruhig liegen«, rufe ich ihm zu.

Als Antwort erhalte ich ein bitteres Auflachen. »Sie sind ein bösartiger Witzbold, Matt. Was bleibt mir auch anderes übrig?«

Die Stimme kommt von dem braunen Sofa, das mitten im Raum steht. Die Rückenlehne verdeckt mir die Sicht auf meinen Patienten; lediglich Toms Hand taucht dahinter auf. Als ich um das Möbelstück herumgehe, fällt mein Blick sofort auf die junge Frau, die auf dem Boden sitzt. Ich erschrecke ein wenig, denn es ist meine erste Begegnung mit ihr – auch wenn ich schon so oft von ihr gehört habe.

Mit einem Pyjama bekleidet sitzt sie vor dem Sofa, die Beine verschränkt, und wiegt sich in einem beständigen Rhythmus hin und her. Ich kann ihr Gesicht nicht sehen, sie schaut starr in die Richtung des Kamins und summt monoton vor sich hin.

Eine schwere Form von Autismus. Es muss furchtbar sein.

Meine Kehle wird trocken, ich räuspere mich. Verdammt, ich sollte mir meine Bestürzung nicht anmerken lassen. Das ist nicht professionell. Sag etwas!

»Das ist also Ihre Tochter?« Diese Frage ist rein rhetorischer Art; im selben Moment, als die Worte über meine Lippen kommen, erscheint sie mir schon töricht. Natürlich ist das ihre Tochter, fällt dir nichts Dümmeres ein?

Kristin antwortet trotzdem in einem liebevollen Ton. »Ja, das ist unsere Julie.«

»Guten Morgen, Julie«, begrüße ich die junge Frau und fühle dabei jeden Muskel, den mein aufgesetztes Lächeln strapaziert. Julie, was für ein hübscher Name!

Ein bedauerndes Schmunzeln, mitleiderregend zugleich, bildet sich auf Toms Gesicht. »Erwarten Sie keine Antwort, Matt. Höchstwahrscheinlich hört Julie Sie nicht einmal!«

Ich setze einen verständisvollen Blick auf und nehme in dem Sessel neben der Couch Platz.

»Ja, Tom, ich weiß«, sage ich, bevor ich einige Sekunden schweigend verstreichen lasse – einfach, weil es die Schwere dieses Moments so verlangt. »Also, erzählen Sie. Was ist passiert?«

Tom liegt stocksteif auf dem Sofa. Selbst das Sprechen bereitet ihm Schmerzen, auch wenn er versucht, es sich nicht anmerken zu lassen. Seine Finger krallen sich in das Leder.

»Ich habe Julie runtergetragen und sie hier abgesetzt. Natürlich habe ich versucht, die Bewegung aus den Beinen heraus zu machen, wie Sie es immer anraten, aber wahrscheinlich war meine Rückenmuskulatur einfach noch nicht warm genug. Kurz davor habe ich draußen nämlich Schnee geschippt. Dieses Bücken, eigentlich mache ich das doch so oft am Tag … ich verstehe das nicht.«

»Wenn Sie sich gebückt haben, Tom, dann war es nicht aus den Beinen heraus.«

Betreten sieht er zwischen seiner Frau und mir hin und her. Dann deutet er auf sein Kreuz. »Jedenfalls gab es plötzlich einen stechenden Schmerz – genau hier –, und dann zog es bis in die Zehen.«

Während er spricht, wandert mein Blick zu seiner Tochter. Dieses Hin- und Herschaukeln hat eigentlich etwas Beruhigendes an sich.

Wieder vergehen einige Sekunden, unbeabsichtigt dieses Mal, bis ich bemerke, dass Tom seine Beschreibung des Vorfalls beendet hat und nun eine Reaktion von mir erwartet.

Schnell stehe ich auf und öffne meinen kleinen Koffer, den ich auf dem Couchtisch vor mir abgestellt hatte. »Das klingt wieder nach einem üblen Hexenschuss, Tom. Wenn nicht schlimmer. Sie wissen, dass ich kein Arzt bin, aber es wäre gut, wenn Sie mir genau zeigen könnten, wo es schmerzt.«

Tom sieht nicht gerade begeistert aus. Ein tiefes Seufzen entringt sich seiner Kehle.

»Keine Angst, ich tue Ihnen nicht weh.«

Ich stelle das Massageöl bereit und helfe ihm, sich auf dem Sofa zur Seite zu drehen. Kristin kommt dazu und zupft das Hemd ihres Mannes aus dem Hosenbund, während ich ein wenig Öl zwischen meinen Händen verreibe und sie warmknete.

Toms Muskulatur ist völlig verspannt. Er zuckt zusammen, als ich ihn berühre.

»Schon gut. Sagen Sie mir einfach, wenn ich den richtigen Punkt habe«, bitte ich ihn. Doch noch bevor er den Mund aufmacht, spüre ich es bereits.

»Da!«

»Ja. Das ist genau dieselbe Stelle wie beim letzten Mal.«

Ich massiere behutsam über seine Seiten. Er entspannt sich etwas und atmet nun tiefer. Gut. Die folgende Nachricht wird ihm die Luft wieder rauben, also zögere ich sie so lange wie möglich hinaus. Doch bald schon ist das Öl aufgebraucht und Toms Schonfrist damit abgelaufen. Vorsichtig drehe ich ihn wieder auf den Rücken.

»Es ehrt mich ja, dass Sie mich sofort angerufen haben, aber ich fürchte, dass Sie dieses Mal nicht an einem Arzt vorbeikommen werden. Wir müssen abklären, ob es nicht doch ein Bandscheibenvorfall ist.«

Der arme Kerl sieht aus, als hätte ich soeben die Todesstrafe über ihn verhängt. Wieder stößt er sein bitteres Lachen aus und fixiert dabei die hohe Zimmerdecke. Mit beiden Händen streicht er sich die dunkelblonden Haare aus der Stirn.

»Es darf kein Bandscheibenvorfall sein. Wie soll Kristin denn ohne mich klarkommen?«, wispert er, mehr zu sich selbst als zu einem von uns. »Wenn ich es schon nicht mehr schaffe, Julie zu heben, wie soll sie das denn erst machen?«

Mein Blick fällt wieder auf die junge Frau. Von meiner jetzigen Position aus sehe ich ihr Gesicht im Profil. Sie ist eigentlich recht hübsch. Geradlinige Gesichtszüge, volle Lippen. Die dunklen, welligen Haare fallen offen bis weit über ihre Schultern hinab. Doch etwas Entscheidendes fehlt ihr. Sie sieht absolut ausdruckslos und seltsam leer aus, ohne die Spur einer eigenen, persönlichen Note. Ihr Gesicht wirkt wie eine aufgesetzte Maske. Ja, wie eine seelenlose Hülle. Sie erinnert mich an eine Schaufensterpuppe. Dennoch – Julie hat etwas Faszinierendes an sich. Sie macht mich neugierig.

Wieder reiße ich meinen Blick von ihr los.

»Warum tragen Sie Julie überhaupt? Kann man sie denn nicht irgendwie zum Laufen bewegen? Ich meine … sie kann doch laufen, oder?« Meine Frage stelle ich beinahe ängstlich und befürchte, in ein Fettnäpfchen von der Größe eines Baseballfeldes getreten zu sein, doch zu meiner großen Erleichterung nickt Kristin sofort.

»Ja, natürlich! Julie läuft hervorragend. Aber nur, wenn sie es will und auch nur, wohin sie will. Und dieses Herunter- und Hinauftragen gehört zum Alltagsritual. Das machen wir schon immer so, seitdem sie ein Baby war. Jeden Morgen und jeden Abend. Wenn wir es nicht tun, dann rührt sie sich nicht, wir haben das schon probiert.«

Tom nickt ebenfalls. »Anscheinend wartet sie darauf, dass wir sie tragen. Und wir möchten sie ja auch hier unten haben, bei uns.«

Kristin sieht auf ihre Tochter hinab und streicht ihr über den Kopf. »Beim Sprechen ist es ähnlich. Sie spricht so gut wie nie, doch wir wissen, dass sie es kann. Manchmal redet sie, aber dann ist es so, als ob jemand im Schlaf vor sich hin erzählt. Die Wortfetzen sind wie Bruchstücke aus ihrer eigenen kleinen Welt. Sie ergeben keinen Sinn für uns. Und auf Ansprache reagiert sie eigentlich gar nicht.«

Kristin presst die ohnehin schon schmalen Lippen aufeinander, so dass sie fast völlig verschwinden und nur noch eine hauchdünne, gerade Linie sichtbar bleibt. Sie atmet tief durch und zuckt mit den Schultern.

»Für Außenstehende ist es sehr schwierig, das nicht als böse Absicht von Julie abzutun, wenn wir sie wiederholt ansprechen und sie einfach keine Reaktion zeigt. Aber … so ist es nun mal. Wir haben keine Möglichkeit, zu ihr durchzudringen. Trotzdem reden wir natürlich mit unserem Kind. Ab und zu blitzt etwas in ihren Augen auf. Dann weiß ich, dass sie mich wahrnimmt. Manchmal lächelt sie uns sogar an, doch nur eine Sekunde später ist ihr Blick wieder starr und Julie erneut weit weg. Es ist … nicht schön!« Kristin schafft es trotzdem, ihrem Lächeln eine tiefe Glaubwürdigkeit zu verleihen.

»Egal«, sagt Tom. »Ein klarer Blick von ihr ist auf jeden Fall all die Mühe wert.« Plötzlich wird sein Gesichtsausdruck nachdenklich. »Haben Sie eigentlich Kinder, Matt?«

Geschockt über diese persönliche Frage schüttele ich den Kopf. »Nein. Keine Frau, keine Kinder.« Diese Erklärung klingt sogar in meinen Ohren erleichtert. Warum eigentlich?

Kristin lacht. »Mr. Andrews ist ein Workaholic, das weißt du doch, Schatz. Und andauernd ist etwas mit deinem Rücken. Du lässt dem armen Mann ja gar keine Chance auf ein wenig Privatleben. Er verflucht sicher den Tag, an dem er uns in seine Patientenkartei aufgenommen hat.«

Nun lacht auch Tom. Was keine gute Idee zu sein scheint, denn sofort verzieht sich sein Gesicht wieder. »Au, verdammt!«

»Habe ich Ihnen erlaubt, sich auf meine Kosten zu amüsieren, Tom?« Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter. »Kommen Sie, ich fahre Sie in die Praxis. Meine Kollegin Dr. Carter kann klären, wie es um Ihren Rücken steht.«

Gerade will ich ihm meine Hand reichen, als sich am Rande meines Sichtfeldes etwas ruckartig bewegt. Julie. Sie ist aufgestanden und durchquert den Raum.

»Wohin geht sie?« Warum ich meine Frage flüstere, weiß ich selbst nicht, doch Kristin und Tom sehen ebenso gebannt auf Julie wie ich.

»Zum Klavier«, erklärt mein Patient recht nüchtern. »Sie spielt sehr gerne.«

Ich spüre das Entgleisen meiner Gesichtszüge, als seine Worte mich erreichen. »Julie spielt Klavier?«

Die Fassungslosigkeit, die in meiner Frage deutlich mitschwingt, ist mir nur einen Moment später schon peinlich, doch ein weiterer Blick auf das mechanisch laufende Wesen vor uns lässt mich stark an Toms Behauptung zweifeln. Julies Augen sind fest geradeaus gerichtet; sie scheint durch alles hindurchzuschauen, was wir anderen in diesem Raum sehen.

»Sie spielt sogar phantastisch«, bestätigt Kristin.

»Die Ärzte sind der Auffassung, Julie gehört zu den Savants«, fügt Tom hinzu.

»Savants?«, wiederhole ich monoton und beobachte, wie Julie den Schemel nach hinten zieht und darauf Platz nimmt.

Nun ist auch Toms Stimme kaum mehr als ein Flüstern: »Ja, Savants – die Wissenden! So nennt man Hochbegabte, die einzelne, sehr stark ausgeprägte Fähigkeiten besitzen, ohne dass man sie ihnen beigebracht hat. Daher auch der Name, denn sie wissen scheinbar, ohne zu lernen. Oft haben diese Menschen starke Handicaps im gewöhnlichen Alltag, sind aber auf speziellen Gebieten nahezu genial. Kennen Sie Rain Man, den Film mit Dustin Hoffman?«

Ich nicke.

»Er hat einen Savant gespielt. Hoffnungslos pflegebedürftig einerseits, Genie andererseits. Julie war gerade drei Jahre alt, als sie sich zum ersten Mal an ein Klavier gesetzt hat. Sie begann zu spielen, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Wir konnten es nicht fassen. Ihre Händchen waren noch so winzig – sie erreichte die Tasten kaum. Es war wie ein Wunder.«

Der Stolz in seiner Stimme ist nicht zu überhören.

Gerne würde ich an sein Wunder glauben, doch Julies Hände liegen schlaff in ihrem Schoß; sie rührt keinen Finger.

Ich blicke zu Tom und von ihm zu Kristin. Die beiden scheinen mich ausgeblendet zu haben. Erwartungsvoll schauen sie auf ihre Tochter. Plötzlich wird mir klar, dass sie Momenten wie diesen wohl entgegenfiebern. Sie bilden die Höhepunkte im Alltag mit Julie. Denn wenn sie nicht so spricht, dass man sie versteht, dann ist das Klavier vielleicht etwas wie ihre Stimme. Ein Ventil, über das sie sich mitteilt. Verständlich, dass sich ihre Eltern danach sehnen.

Ich stecke mitten in meinen Gedanken, als mich eine neue Bewegung wieder ins Hier und Jetzt zurückholt. Julies Finger finden ihre Positionen auf den schwarz-weißen Tasten ohne das geringste Zögern, sicher und bestimmt. Sie beginnt zu spielen – und sofort rinnt ein frostiger Schauder meinen Rücken hinab. Oh, mein Gott!

»Dieses Lied spielt sie am liebsten«, wispert Kristin mir zu, doch ich schaffe es einfach nicht, etwas darauf zu erwidern.

Wie angewurzelt stehe ich da und lausche Julies sanftem Spiel. Die Melodie klingt zart und unschuldig – und sehr vertraut, auch für mich. Ausgerechnet dieses Lied! Schmerzhaft zieht sich mein Magen zusammen, und die Härchen an meinen Armen stellen sich auf – denn Julies Melodie versetzt mich um etwa einundzwanzig Jahre zurück, in meine damals noch so glückliche Kindheit.

Meine Hände zittern. Als ich es endlich bemerke, lasse ich sie in meinen Hosentaschen verschwinden.

Julies Spiel ist wirklich perfekt. Es steckt so voller Hingabe und steht in so starkem Widerspruch zu ihrem ausdruckslosen Äußeren, dass ich mir plötzlich wünsche, in sie hineinblicken zu können. Wenn sie solche gefühlvollen Klänge erzeugen kann, muss sie, auf ihre Weise, eine beeindruckende Persönlichkeit sein.

Der letzte Akkord verklingt in der Weite des Raums. Julies Finger lösen sich von den Tasten, sofort fällt sie in ihr monotones Schaukeln zurück. Als hätte mich jemand gekniffen, schrecke ich aus meiner Versunkenheit.

»Wow« ist das Erste, was über meine Lippen kommt.

Kristin und auch Tom strahlen stolz über das ganze Gesicht. Ich bewundere die beiden für all ihre Geduld, Liebe und Aufopferung, die sie Julie entgegenbringen.

»Sie ist wirklich brillant.«

»Ja, das ist sie.« Tom nickt. Wohl zu heftig, denn sein Lächeln bröckelt, und sein Gesicht verzieht sich gequält. »Allerdings ist Ihr Plan deutlich weniger brillant, Matt. Muss ich Sie wirklich in die Praxis begleiten?«

»Sie müssen nicht, Tom, aber ich rate es Ihnen.«

Kristin schüttelt den Kopf. »Komm schon, Schatz. Es ist doch sehr nett von Mr. Andrews, dich mitzunehmen. Ich hole deine Sachen.«

Tom seufzt und verdreht die Augen, doch dann gibt er sich geschlagen und dreht mir den Rücken zu, um sich vorsichtig aufzurichten.

Julie hat sich erhoben und ist wieder zu uns gekommen. So lautlos, dass ich sie erst bemerke, als sie sich direkt neben meinem rechten Bein auf dem Fußboden niederlässt. Bevor ich bewusst darüber nachdenke, habe ich mich schon zu ihr herabgebeugt.

»Du spielst wunderschön, Julie«, flüstere ich ihr zu, während ich zaghaft meine Hand auf ihre Schulter lege.

Nichts. Nicht mal die leiseste Reaktion. Fast verwundert mich ihre Körperwärme. Müsste sie nicht kalt sein – kälter zumindest –, so weltentrückt und unwirklich, wie sie erscheint?

Doch dann geschieht etwas Eigenartiges: Völlig unerwartet dreht Julie ihren Kopf und blickt mir geradewegs in die Augen. Der Ansatz eines Lächelns zuckt um ihre Mundwinkel, und es scheint mir, als würde sie bis tief in mein Innerstes schauen. Sie sieht mich so klar und auf eine unerklärliche Art fordernd an, dass es mich erschreckt. Die Farbe ihrer Augen ist sehr schön – ein helles und doch sanftes Grün –, aber es ist das Licht dahinter, das mich für einen unmessbaren Moment gefangen nimmt. Ihr Blick geht mir durch und durch, er brennt sich förmlich ein. Ich schaffe es nicht, ihm standzuhalten, und richte mich ruckartig auf.

Sofort verfällt Julie wieder in ihre Starre und beginnt kurz darauf erneut mit ihrem Schaukeln. Mein Herz rast.

Kristin, die erst jetzt mit Toms Jacke und seinen Schuhen zurückkommt, und ihr Mann, der seit geraumer Zeit verzweifelt versucht, sich aufzusetzen, haben nichts von alledem bemerkt.

Trotzdem bleibt Kristin wie angewurzelt stehen. »Ist Julie … hat sie … sich dort hingesetzt?«, stammelt sie.

Ich sehe an mir herab. »Ja.«

»Wohin?«, fragt Tom. Der Arme. Gemeinsam helfen wir ihm in eine halbwegs aufrechte Position.

Dann erst erklärt Kristin ihre Verwunderung. »Julie hat sich neben Mr. Andrews gesetzt. Direkt an sein Hosenbein.«

Tom wirft seiner Frau einen ungläubigen Blick zu.

»Ist das so ungewöhnlich?«, hake ich vorsichtig nach.

»Sehr ungewöhnlich«, sagt Tom. »Normalerweise hält sie Abstand. Besonders zu Fremden, aber in der Regel auch zu uns. Körperliche Nähe ist schwierig für Julie.«

»Aber Sie tragen sie doch«, werfe ich ein.

»Ja. Eine gewisse Nähe, die sich routinemäßig eingespielt hat, lässt sie zu. Aber sie sucht den körperlichen Kontakt eigentlich nie von sich aus.«

»Bestimmt war es Zufall«, erwidere ich schulterzuckend. »Schließlich stehe ich genau da, wo sie vorhin gesessen hat.«

»Hm, mag sein«, murmelt Tom. Kristin sagt nichts. Sie sieht mich noch eine Weile stumm an, bevor sie den Kopf schüttelt, als wolle sie ihn von zu vielen Gedanken befreien. Dann hilft sie ihrem Mann in seine Schuhe.

 

Wir stützen Tom von beiden Seiten. Langsam, sehr langsam, und mit vielen Pausen bewegen wir uns zu meinem Auto.

Es schneit. Schon wieder. Genervt streiche ich mir die Haare aus der Stirn. Sosehr ich den Schnee auch liebe, so sehr hasse ich, was die schmelzenden Flocken mit meinen mühsam geglätteten Locken anstellen. Vor meinem geistigen Auge entsteht das Bild eines preisgekrönten Königspudels. Ich befürchte, ihm in wenigen Minuten wesentlich ähnlicher zu sehen, als mir lieb ist.

Tom stöhnt auf, als ich den Motor meines alten Fords anlasse und so vorsichtig wie nur irgend möglich anfahre. Seine verkrampfte Körperhaltung und das verbissene Zucken seines Kinns lassen mich Böses ahnen.

Im Rückspiegel sehe ich, dass Kristin noch lange im Türrahmen steht, bevor sie zurück ins Haus geht, wo sie die nächsten Stunden wohl hoffnungsvoll auf Neuigkeiten von ihrem Mann warten wird.

 

Als ich meinen Wagen um die Mittagszeit wieder vor dem kleinen blauen Haus mit den weißen Fensterläden parke, reißt Kristin schon die Beifahrertür auf, kaum dass ich die Handbremse angezogen habe. Strahlend streckt sie ihrem Mann die Hand entgegen, doch dessen Miene verheißt nichts Gutes.

»Kein Grund zur Freude, Schatz«, stellt Tom missmutig klar, bevor sie überhaupt fragen kann. »Ich habe einen Bandscheibenvorfall und muss die nächsten Wochen liegen. Bin wohl nur knapp an einer OP vorbeigeschlittert.«

Wieder stützen wir ihn, doch dank der starken Schmerzmittel, die meine Kollegin Megan ihm gespritzt hat, kann er sich momentan zumindest einigermaßen bewegen.

Im Wohnzimmer nimmt er seinen Platz auf dem Sofa ein. Mein Blick bleibt an der jungen Frau haften, die nach wie vor auf dem Holzboden vor dem Kamin sitzt und sich in ihrem eigenen Rhythmus hin- und herwiegt.

»Können Sie Julie für die kommende Zeit nicht ein Bett im Erdgeschoss machen?«

Meine Frage scheint so naiv zu sein, dass sie mir ein nachsichtiges Lächeln von Kristin beschert. Auch Tom, der sich über die geschlossenen Augen reibt, stößt etwas Luft aus. Es klingt resigniert.

»Nein, das können wir leider nicht«, erklärt Kristin mir ruhig. »Autisten sind in ihren Gewohnheiten oft extrem festgefahren, wissen Sie? Wenn wir Julies Bett woanders aufstellen würden, könnte sie unter Umständen nächtelang gar nicht mehr schlafen. Es wäre auch denkbar, dass sie in schwere Schreikrämpfe verfällt, denn dafür ist sie anfällig.«

»Oh, okay«, antworte ich und komme mir reichlich dämlich vor. »Daher auch diese Routine, von der Sie sprachen?«

Einvernehmliches Nicken.

Wohl wissend, dass dieser stille Moment zwischen uns nur eine letzte Verzögerung auf dem Weg zum Unausweichlichen ist, sehe ich die beiden an. Sie wirken erschöpft. Auf keinen Fall werde ich diese reizenden Menschen in ihrer misslichen Lage alleinlassen. Und ihre Tochter Julie auch nicht. Noch einmal atme ich tief durch, bevor ich meinen Beschluss verkünde.

»Bis Ihr Mann wieder gesund ist, komme ich zweimal am Tag und helfe Ihnen, Mrs. Kent. Ich kann Julie morgens die Treppe runtertragen und abends wieder hoch, wenn das für ihren geregelten Tagesablauf wichtig ist. Wäre das eine kleine Hilfe?«

Kristin starrt erst mich und dann Tom an. Der erwidert ihren Blick, schüttelt nach ein paar Sekunden jedoch den Kopf. »Das ist wirklich nett von Ihnen, Matt, aber das können wir uns nicht leisten. Leider.«

»O nein, nicht doch«, wehre ich schnell ab. »Mein Weg zur Praxis führt mich sowieso hier vorbei, und so kann ich auch nach Ihnen sehen, Tom. Ich will kein Geld! Ich würde Ihnen und Julie einfach gerne helfen. Vorausgesetzt, es ist Ihnen recht, natürlich.«

Tom schaut fassungslos zu mir auf, dann lacht er. »Matt, so sozial, wie Sie sind, werden Sie sich wohl nie eine goldene Nase verdienen.«

»Na, wie gut, dass ich mir nicht vorgenommen habe, möglichst reich zu sterben«, entgegne ich verlegen. Wohin auch mit dem Reichtum? Du bist allein!, hetzt gleichzeitig eine ketzerische Stimme in mir.

»Also, nehmen Sie mein Angebot an? So abseits, wie Sie hier wohnen, sehe ich eigentlich keine andere Lösung, und ich würde es wirklich gern tun.«

Noch einmal schaut sie flüchtig zu ihrem Mann, dann kennt Kristin kein Halten mehr. »Das ist furchtbar nett von Ihnen, Mr. Andrews«, ruft sie überwältigt und fliegt mir förmlich in die Arme. Ich muss mich zusammenreißen, um mit dieser plötzlichen und unerwarteten Nähe einigermaßen umgehen zu können. So ist das immer, wenn mir jemand seine ehrliche Zuneigung zeigt – ich kann einfach nicht angemessen darauf reagieren.

Als sie zurückweicht, hat sich ihr Blick gewandelt. Was eben noch als höflich oder maximal als herzlich zu bezeichnen war, wirkt nun nahezu liebevoll. Eins steht fest: Für Kristin bin ich nicht länger nur der Physiotherapeut ihres Mannes. Nun bin ich ein Freund, der ihr in den kommenden Wochen mit ihrer Tochter unter die Arme greifen wird.

Erwartungsgemäß schaffe ich es nicht sehr lange, ihrem warmen Lächeln standzuhalten, und streiche mir in meiner Verlegenheit die Haare aus der Stirn. An Kristins Miene erkenne ich, dass ihr dabei zum ersten Mal die verblasste Narbe auffällt, die sich von dem Haaransatz meiner rechten Schläfe bis über meine Augenbraue zieht. Schnell lasse ich die Haare zurückfallen und pferche meine Hände stattdessen in die Taschen meiner Jeans.

»Nicht der Rede wert. Ich mache das wirklich gern.«

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Kapitel II

Noch in derselben Nacht finde ich mich, nachdem ich mich stundenlang schlaflos hin- und hergewälzt habe, an meinem Laptop wieder. Schuld daran ist Julie. Die Begegnung mit ihr hat mich irgendwie aufgewühlt. Zwar interessiere ich mich eigentlich immer dafür, wie es meinen Mitmenschen geht und was sie persönlich ausmacht – das ist Teil meines Berufs –, doch ich habe noch nie jemanden getroffen, der so spannend und geheimnisvoll wie Julie ist. Die Aussicht, in Zukunft täglich mit ihr zu tun zu haben, ist auf eine eigenartige Weise verlockend, macht mich aber auch ein bisschen nervös.

Im Internet stoße ich auf diverse Fachliteratur über Autismus. Ich erfahre, dass es die unterschiedlichsten Ausprägungen gibt und dass Julie tatsächlich an einer besonders starken Form dieser Entwicklungsstörung zu leiden scheint.

Sie geht mir einfach nicht aus dem Kopf – wie sie dasaß, direkt vor meinen Füßen, und doch überhaupt nicht da war. Irgendetwas muss sie doch mitkriegen, wenn sie so Klavier spielen kann, oder? Woher nimmt sie diese Gabe?

Ernüchtert stelle ich fest, dass nicht einer der Berichte, die ich finde, plausibel erklärt, woher diese sogenannten Savants ihr unglaubliches Können nehmen. »Ein ungeklärtes Phänomen«, heißt es immer wieder, oder auch »noch nicht vollständig erforscht«.

Julie scheint jedenfalls nicht in eine der klassischen Formen des Autismus zu passen.

Man unterscheidet zwischen dem frühkindlichen Autismus, bei dem bereits Babys vor der Vollendung ihres ersten Lebensjahres auffällig werden, und dem sogenannten Asperger-Syndrom, das sich meist erst nach dem dritten Lebensjahr zeigt und im Vergleich zu der frühkindlichen Form viel schwächer ausfällt.

In Julies Fall wurde sehr früh diagnostiziert, das hatte mir Tom auf dem Weg zur Praxis noch erzählt. Bei dem frühkindlichen Autismus ist meist eine schwere geistige Behinderung zu verzeichnen. Die Betroffenen lernen oft niemals, richtig zu sprechen oder sich normal zu bewegen. Bei Julie jedoch scheint das anders zu sein. Sie geht zwar nur, wohin sie will, und die Bedeutung ihrer zusammenhangslosen Äußerungen erschließt sich meist nicht einmal ihren Eltern, aber immerhin besitzt sie die voll ausgeprägten Fähigkeiten, korrekt zu sprechen und sich fortzubewegen. Und das, obwohl sie ja unter einer frühkindlichen Variante des Autismus leidet.

Nach etlichen Stunden Recherche sehe ich ein, dass tatsächlich kein einziges der relativ simplen Raster Julies Fall richtig beschreibt, und beschließe, einfach Kristin und Tom meine Fragen zu stellen. Julie ist einundzwanzig Jahre alt, und ihre Eltern beschäftigen sich fast genauso lange schon intensiv mit ihr und ihren Eigenheiten. Ich sitze also direkt an der Quelle, und die medizinischen Fachausdrücke, von denen all diese Internetseiten nur so strotzen, verstehe ich größtenteils sowieso nicht.

Meine Füße sind schon steif vor Kälte, als ich den Laptop endlich zur Seite lege, die Stehleuchte hinter meiner Couch ausknipse und mich zurück in mein warmes Bett begebe.

Doch so schwer die Müdigkeit auch auf mir lastet, ich finde keine Ruhe. Waren es zuvor noch Bilder von Julie gewesen, so taucht jetzt immer wieder ein anderes Gesicht vor meinem geistigen Auge auf und macht es mir schlichtweg unmöglich, in den Schlaf zu finden. Amy.

Warum hatte Julie ausgerechnet dieses Lied spielen müssen? Ich weiß nicht einmal, wie es heißt, aber für mich wird es immer Amys Lied bleiben. Wie oft hatte sie es mir vorgespielt, weil ich es so sehr mochte? Ihre Finger hatten die Tasten zwar nicht so perfekt angeschlagen wie Julies heute, aber auch Amy war damals für ihr Alter sehr begabt gewesen, und ihr Spiel hatte mich fasziniert.

Überhaupt bestimmte sie den Dreh- und Angelpunkt meiner Kindheit, denn jeder Tag stand und fiel mit ihrer Nähe. Nun sehe ich sie wieder deutlich vor mir. Ihr Lachen, ihre fröhlichen blauen Augen, die vor Lebenslust nur so blitzen, ihre Sommersprossen, die langen blonden Zöpfe.

Sie ist wieder da, und für einige Sekunden lasse ich mich hinreißen und gebe mich den Erinnerungen an sie und unsere gemeinsame Zeit hin. Doch wie immer, wenn ich mir das gestatte, beginnt mein Herz bereits nach kurzer Zeit so stark und schnell zu pochen, dass es bald schon schmerzt. Ein starker Druck in meiner Brust verwehrt mir die Luft zum Atmen. Werde ich wohl jemals über diesen Punkt hinwegkommen?

Noch bevor mich die allerletzten Erinnerungen einholen, die ich von Amy habe, erfasst mich die Panik. Mit zittrigen Fingern taste ich nach meiner Nachttischlampe und schalte sie an.

Im Hellen verschwinden all die Bilder schlagartig; die Schatten, die in meiner Vorstellung nach mir greifen, lösen sich auf, und mein Atem gewinnt an Tiefe. Ich drehe mich auf die Seite und schaue direkt in das gelbliche Licht der kleinen Lampe. Die Glühbirne flackert. Sie ist bereits altersschwach. Eine Ersatzbirne liegt griffbereit in der obersten Schublade meines Nachtschranks.

Bitter stoße ich ein wenig Luft aus, als mir wieder einmal bewusst wird, wie es um mich steht. Es ist kein wirkliches Lächeln, nicht mal der Ansatz davon. Was ist auch lustig daran, wenn ein gestandener, dreißigjähriger Mann noch ein Nachtlicht als Einschlafhilfe braucht? Das ist extrem albern und über alle Maßen kläglich. Oder ist es etwa normal, dass ich mir bis jetzt keine Filme ansehen kann, in denen Menschen Leid irgendeiner Art zugefügt wird? Szenen, von denen ich natürlich genau weiß, dass sie inszeniert, gespielt und unecht sind. Nicht real eben – und dennoch, ich ertrage es nicht!

In einer großen Tageszeitung habe ich einmal eine Frage gelesen, deren Antwort ich leider genau kenne: »Kann die Seele eines Menschen zerbrechen?« – Ja, das kann sie, in nur wenigen Sekunden!

Unablässig blicke ich in das beruhigende Flackern des matten Lichtes. Irgendwann merke ich erleichtert, wie schwer meine Augenlider werden und dass die Müdigkeit ein weiteres Mal im Begriff ist, den Sieg gegen all meine Ängste einzustreichen.

 

Als ich am folgenden Morgen die schneebedeckte Straße zu dem Haus der Kents entlangfahre, frage ich mich, warum ausgerechnet Kristin und Tom sich entschieden haben, so abgeschottet und entlegen zu wohnen. Julie beansprucht ständig ihre gewohnte Umgebung, wie ich gestern gelernt habe. Das bedeutet doch besonders für Kristin sowieso schon eine enorme Einschränkung ihrer Mobilität. Ich weiß, dass sie bis vor ein paar Jahren am Rande einer kleinen Stadt im Nordosten des Landes gewohnt haben und sich aus freien Stücken für die Idylle, aber eben auch für die Einsamkeit dieses Landhäuschens entschieden.

Mit dem festen Vorsatz, die beiden bei Gelegenheit nach dem Grund für ihren Entschluss zu fragen, betätige ich die Türklingel.

»Grüß dich, Matt«, empfängt Kristin mich freundlich. Die vertrauliche Anrede klingt noch ein wenig ungewohnt in meinen Ohren, fühlt sich aber eigentlich sehr gut an. Wir haben gestern Abend beschlossen, dass das ständige »Mr. Andrews« und »Mrs. Kent« für die Zukunft einfach zu steif und umständlich ist.

Kristin streicht sich ihre dunklen Haare hinter die Ohren zurück und bittet mich mit einer galanten Handbewegung herein.

»Guten Morgen, Kristin. Na, wie geht es dem Patienten?«, frage ich, während ich meinen Mantel ausziehe.

»Er hat auf der Couch geschlafen. Die Nacht wurde schwierig, als die Schmerzmittel nachließen. Ich habe ihm dann gegen halb vier eine neue Tablette gegeben, und jetzt geht es ihm recht gut.«

Nachdem ich Tom kurz begrüßt und mich auch bei ihm noch mal nach seinem Befinden erkundigt habe, steigen Kristin und ich die schmale Treppe zum Obergeschoss hoch.

Julie sitzt in ihrem Zimmer auf einem Teppich. Kristin hat sie bereits angezogen und ihre Haare zu einem dicken Zopf im Nacken geflochten.

Bei ihrem Anblick kann ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Man merkt deutlich, dass ihre Mutter sie zurechtmacht, denn ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Julies Kleiderwahl – in ihrem Alter und so hübsch, wie sie ist – unter anderen Umständen auf einen rosa Bärchen-Strickpullover und weiße Cordhosen gefallen wäre.

Sie ist Toms und Kristins kleines Mädchen, nach wie vor, das wird mir schlagartig bewusst. Da Julie ihr einziges Kind ist, versuchen die beiden vielleicht sogar, sie äußerlich möglichst lange mädchenhaft zu halten. Diese Vermutung wird zur Erkenntnis, als ich mich nun, zum ersten Mal bei Tageslicht, genauer in Julies Zimmer umsehe.

Obwohl die Familie erst in dieses Haus eingezogen ist, als Julie schon eine junge Erwachsene war, ist der Raum sehr kindlich gestaltet. Auch hier sind Babyrosa und Weiß die dominierenden Farben. Es gibt viele Puppen und Plüschtiere. Unwillkürlich muss ich lächeln, als mir der Gedanke an Amy kommt und mit ihm die genaue Vorstellung ihrer Reaktion auf ein solches Zimmer. Ihren schockierten, sogar leicht angewiderten Gesichtsausdruck habe ich deutlich vor Augen.

Amy hasste Rosa. Obwohl – ich weiß nicht, ob sie die Farbe an sich hasste oder nur die Tatsache, dass Gott und die Welt zu glauben schienen, Mädchensachen müssten zwangsläufig in dieser Farbe sein.

Amy war immer ein kleiner Rebell gewesen und weigerte sich strikt, in eine Schublade mit den anderen Mädels gesteckt zu werden. Und sie hatte recht, denn sie war außergewöhnlich. Die Wände ihres Zimmers waren in Orange und Gelb gehalten, und während sich die anderen Mädchen der Siedlung zum Puppen-Kaffee verabredeten, spielte sie viel lieber mit mir im Freien Fangen oder aber mit unseren Dinosaurier-Figuren. Die einzige Puppe, die sie besaß, hatte sie in die hinterste Ecke ihres Zimmers verbannt und würdigte sie keines Blickes.

Ja, Amy war wirklich meine Rettung gewesen, denn in unserem kleinen Dorf gab es keine anderen Jungs außer mir. Nur mit ihr an meiner Seite war dieses Schicksal erträglich gewesen.

Als ich mir meines mentalen Ausflugs bewusst werde, schüttele ich meinen Kopf, verdränge all diese Erinnerungen und konzentriere mich wieder auf das Hier und Jetzt.

Kristin sieht mich erwartungsvoll an. Julie hockt im Schneidersitz vor mir; wieder wiegt sie sich hin und her und begleitet ihre Bewegungen mit diesem seltsamen Singsang. Was summt sie da bloß?

»Sieh mal, Liebling, wer hier ist«, beginnt Kristin und streicht ihrer Tochter behutsam über den Kopf. »Matt ist da, du kennst ihn ja schon von gestern.«

Entschlossen gehe ich neben Julie in die Hocke, doch plötzlich fühle ich mich wieder genauso unbeholfen wie schon am Vorabend, als ich sie zum ersten Mal tragen wollte.

»Kann ich … ich meine, kann ich sie jetzt einfach so anheben, oder wie …? Tom hat mir ja schon die wichtigsten Dinge, auf die ich achten muss, erklärt, aber ich …«

Sofort kommt Kristin mir zu Hilfe. »Ja, sie scheint nicht zu bemerken, wer sie hebt. Allerdings wissen wir das nicht, wir nehmen es nur an. Vielleicht bekommt sie doch etwas mit, und wer hätte es gerne, einfach geschnappt und weggetragen zu werden? Deshalb sagen wir ihr jedes Mal, was wir vorhaben. Trag sie am besten so, wie du es gestern auch getan hast – das scheint ganz gut zu funktionieren, und so macht es auch Tom immer. Also so, wie ein Bräutigam seine Braut über die Schwelle trägt.«

Sie lächelt, sichtlich nervös. Der Vergleich scheint ihr peinlich zu sein. Nun, mir auch.

»Okay.« Zaghaft lege ich meine Hand auf das Knie der jungen Frau. Unter Kristins aufmerksamem Blick komme ich mir unangenehm beobachtet vor; die Situation erinnert mich an eine Prüfung. Doch als ich in Julies Augen schaue, die, wie schon am Abend zuvor, geradewegs durch mich hindurchsehen und mich gar nicht zu registrieren scheinen, entspanne ich mich wieder ein wenig.

»Hey Julie!« Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. Im selben Moment frage ich mich, ob ich ihret- oder meinetwegen so leise spreche – und warum ich das überhaupt tue. Ich räuspere mich und fasse den Entschluss, normal mit ihr zu reden, als könne sie mich hören und verstehen.

»Ich trage dich jetzt wieder die Treppe runter, weil dein Dad das mit seinem verletzten Rücken noch nicht kann, okay?« Vorsichtig nehme ich sie hoch und manövriere uns durch die Türöffnung. Es ist eigenartig, dass sie zwar über eine gewisse Körperspannung verfügt, jedoch regungslos – und scheinbar auch völlig willenlos – in meinen Armen liegt.

Etwas steif trage ich Julie die schmale Treppe hinunter, die uns direkt in den Wohnraum führt. Dort lasse ich sie auf dem Teppichboden vor dem Kamin nieder.

»Da sitzt sie am liebsten«, erklärt Tom. Mit seiner Tochter vor Augen erhellt sich sein Gesichtsausdruck. Er wirkt zufrieden.

 

Kurz darauf verabschiede ich mich vorerst wieder von der kleinen Familie. Kristin begleitet mich zur Tür.

»Matt, ich weiß überhaupt nicht, wie ich dir jemals danken kann«, sagt sie, als sie mir meinen Mantel reicht.

»Jetzt übertreib mal nicht«, erwidere ich verlegen. »Ich hab Julie bisher doch nur zweimal über die Treppe getragen.«

»Nein, das meine ich nicht. Ich spreche nicht von der Tatsache, dass du uns hilfst. Es ist die Art, wie du es tust. Tom hat mir meinen Eindruck bestätigt – so jemanden wie dich haben wir bislang noch nicht kennengelernt.«

Gut, das klingt nun wirklich maßlos übertrieben, doch Kristin zögert nicht lange, mir ihre Behauptung zu erklären. »Sieh mal, obwohl Julie dir mitsamt ihrer Eigenheiten völlig fremd ist, hast du keine Berührungsängste. Da, wo andere schnell wegsehen, interessierst du dich für sie und schaust genau hin. Du glaubst nicht, wie viel uns das bedeutet, Matt! Und Julie … sie kann es zwar nicht ausdrücken, aber ich weiß, dass sie dich mag. Ich spüre es!«

Verflucht, ich kann mit Komplimenten einfach nicht umgehen. Meine Ohren glühen bereits, das fühle ich genau. »Das freut mich, Kristin. Wir sehen uns dann heute Abend wieder. Ich komme heute etwas früher als gestern. So gegen sechs, denke ich.«

»Oh, das ist unsere Abendbrotzeit. Darf ich dich einladen, mit uns zu essen?« Erwartungsvolle Augen blicken mich an und machen es mir unmöglich, das herzliche Angebot abzulehnen. Warum sollte ich auch? Es ist ja nicht gerade so, dass ich etwas Besseres vorhätte.

»Sehr gerne, vielen Dank!«, willige ich ein und verabschiede mich noch einmal. Das Letzte, was ich sehe, bevor ich mich abwende, ist, dass Julies Schaukeln hinter dem Rücken ihrer Mutter plötzlich deutlich stärker wird.

 

Nur wenig später öffnen sich die Türen des Aufzugs, und ich betrete die Praxis. Die sterile, kühle Luft, der Geruch des Desinfektionsmittels, das Treiben meiner Kollegen, die wartenden Patienten und die Helligkeit der großen, kargen Räume – all diese Eindrücke mögen in ihrer Gesamtheit für Außenstehende eine Art Krankenhausatmosphäre versprühen, doch ich liebe diese Umgebung. In diesem Gebäude bin ich eigentlich zu Hause, hier liegt die einzige Bestimmung, die ich bisher in meinem eigenartigen Leben ausmachen konnte. Ich helfe den Menschen, auf meine spezielle Art und Weise.

»Guten Morgen, Mr. Andrews«, begrüßt mich unsere Sekretärin. Wie immer strahlt sie über das ganze Gesicht. Wahrscheinlich wacht sie morgens schon mit einem breiten Grinsen auf. Sie ist so winzig, dass sie nur schwerlich über die Ablage, hinter der sie sitzt, spähen kann. Dieser Anblick bringt mich jedes Mal erneut zum Lächeln und lässt mich für einen kurzen Moment alles andere vergessen.

»Guten Morgen, Mary«, erwidere ich und lege ihr, wie an jedem Morgen, einen Schokoriegel auf den Tresen. Heute ist es Haselnuss, ihre Lieblingssorte.

»Oh, tun Sie das nicht! Nicht schon wieder! Das ist so gemein! Sie wissen genau, dass ich nicht widerstehen kann.« Mary verdreht ihre Augen in einem kläglichen Versuch, genervt zu wirken. »Ich liebe Schokolade, und Ihretwegen werde ich eines Tages noch aus allen Nähten platzen, Mr. Andrews.« Vorwurfsvoll sieht sie zu mir auf, doch die Halbherzigkeit ihres Protests ist allzu offensichtlich.

»Und Sie wissen genau, dass auch ich nicht anders kann, Mary. Bei Ihrem Anblick regt sich sofort mein fürsorgliches Herz und mit ihm das Bedürfnis, Sie zu füttern. Sie sind einfach viel zu … wenig! Essen Sie doch ein bisschen mehr, dann lasse ich Sie auch in Ruhe! Andernfalls muss ich davon ausgehen, dass Ihr ständiges Gezeter nichts weiter als heiße Luft ist und Sie insgeheim auf Ihren morgendlichen Imbiss warten.«

Nun wirkt die Empörung, die sich in ihrem Gesicht widerspiegelt, schon aufrichtiger – doch nur für einen kurzen Moment. Dann lacht sie und wirft mir einen funkelnden Blick zu.

»Der Punkt geht an Sie.«

Schon reißt sie das Silberpapier des Schokoriegels auf. Mit nur zwei großen Bissen stopft sie ihn sich in den Mund; kauend liest sie mir meine ersten Termine vor. Aus ihrem breiigen Genuschel kann ich jedoch nichts Brauchbares heraushören.

»Mary! Seien Sie doch so lieb und schlucken Sie zuerst runter. Ich verstehe kein Wort.«

Sie kichert hinter vorgehaltener Hand. Ich mag ihre Stimme. Sie klingt hell und mädchenhaft – irgendwie erfrischend.

Endlich ist sie bereit weiterzusprechen. »Also, Mrs. Jordan wartet auf Sie zur Massage, danach Mr. Scott zur Rückengymnastik. Allerdings haben wir bereits zwei Schmerzpatienten im Wartezimmer. John übernimmt die hübsche junge Frau«, an dieser Stelle blickt Mary mich eindringlich an und zieht ihre Augenbrauen vielsagend hoch, »den älteren, leicht tattrigen Herrn sollen Sie dazwischenschieben. Sagt er.«

Nun grinst sie breit. Die letzten Worte, die ihren Weg über Marys pink geschminkte Lippen finden, sind nicht mehr als ein verschwörerisches Flüstern: »Megan hat angeblich keine einzige freie Minute mehr – wie immer.«

Schon klar, alles beim Alten.

»Okay, kein Problem! Wie heißt der gute Mann denn, den John mir zugedacht hat?«

»Oh, nein!« Energisch schüttelt Mary den Kopf, so dass ihre kinnlangen blonden Haare wild umherfliegen. »Nehmen Sie sich bloß zuerst Mrs. Jordan vor, sonst rastet die noch aus.«

Sich der schützenden Höhe des Tresens bewusst, lässt Mary den Zeigefinger neben ihrer Schläfe kreisen, schielt dabei und streckt ihre schokogefärbte Zunge ein Stück weit heraus. Die Geste ist eindeutig – und nicht völlig unberechtigt. Mrs. Jordan ist nicht gerade leicht zu handhaben.

Ich spare mir einen Kommentar und wende mich ab.

Vor dem Wartezimmer rufe ich den Namen meiner Stammpatientin auf und warte, bis sie ihr Handygespräch beendet hat.

»Ja, ja! Machen Sie es einfach so, wie ich es angeordnet habe, George. Jeffs Meinung dazu interessiert mich nicht die Bohne. Wenn Ihnen Ihr Job lieb ist, dann tun Sie einfach nur das, was ich Ihnen sage, verstanden?«

Die letzten Worte zischt sie wütend in das winzige Mobiltelefon hinein und drückt ihren Gesprächspartner dann einfach weg, ohne sich zu verabschieden. Als sie sich mir zuwendet, verzieht sich ihr vor Ärger zusammengekniffener Mund von einer Sekunde auf die andere zu einem breiten Lächeln, das ihre Augen nicht einmal annähernd erreicht.

»Mr. Andrews, bitte entschuldigen Sie«, säuselt sie in einem Ton, der so zuckersüß ist, dass man allein vom Zuhören schon Gefahr läuft, Karies zu bekommen. Dann ändert sich ihre Miene, wird wieder ernster, und die markante Verbissenheit kehrt auch in ihre Stimme zurück. »Es gibt nichts Schlimmeres als unfähiges Personal. Aber das kennen Sie sicherlich auch, oder?« Ihr Blick trifft auf Mary, die mir in diesem Moment ein Formular zur Unterschrift hinhält und aufgrund dieses Angriffs hilfesuchend zu mir aufschaut. Ich schenke ihr ein Lächeln, bevor ich den Kugelschreiber entgegennehme und blind unterschreibe, was auch immer sie mir da gerade gereicht hat.

»Nein, ich kann wirklich sagen, dass ich mit der Leistung unserer Angestellten sehr zufrieden bin«, entgegne ich und zwinkere Mary unauffällig zu. Ihre Augen weiten sich, bevor sie sich mit einem triumphierenden Grinsen der Patientin zuwendet, die sie von allen am meisten hasst. Mit betont erhobenem Kopf und einem fast schon majestätisch stolzen Gang verschwindet sie schließlich wieder hinter ihrem Schreibtisch.

»Sie Glücklicher! Ich sollte Sie einstellen, als Personalberater«, witzelt Mrs. Jordan und lacht schrill über ihre Bemerkung. Noch bevor ich mit der Hand in die Richtung meines Behandlungsraums weisen kann, stöckelt sie bereits vor mir her. Sie redet, wie üblich, ohne Punkt und Komma – ausschließlich von sich selbst und von all den Dingen, die sie so sehr in ihrem Leben stören.

»Ich brauche Ihre Massage wirklich dringend, um diesen schrecklichen Tag zu überstehen. Er hat schon furchtbar angefangen. Haben Sie die Börse gesehen? Heute scheint es noch schlimmer zu werden als gestern – und gestern war es wirklich schon grausam genug.«

Mit wütendem Schwung pfeffert sie ihre Tasche auf den Sessel und entkleidet sich hinter dem nur nachlässig zugezogenen Umkleidevorhang, während auch ich meinen Mantel ablege und meine Hände wasche. Ihr Mundwerk steht nicht für einen Augenblick still.

»Ich sage zu ihm, ›du verkaufst bei 85 Dollar‹. Und was tut er? Er verpasst den Moment und verkauft bei 84,85! Wissen Sie, wie viel Geld uns das gekostet hat? Nur eine kleine Unaufmerksamkeit und weit über 10000 Dollar sind im Eimer. Einfach weg! Es ist ja nicht etwa so, dass wir mit ein, zwei Aktien handeln, wir verwalten enorme Vermögen. Sie würden sich wundern, Mr. Andrews, welche berühmten Persönlichkeiten wir zu unseren Kunden zählen. Da darf so ein Fehler einfach nicht passieren, das ist unverzeihlich. Natürlich musste ich ihn auf der Stelle feuern, das versteht sich von selbst …«

Während ich meine Hände zunächst gründlich abtrockne und dann mit ein wenig Rosenöl, welches sie am liebsten hat, knete und aufwärme, achte ich gerade genug auf ihren Monolog, um an den richtigen Stellen ein »Oh« oder ein »Aber natürlich« einfließen zu lassen.

Mrs. Jordan ist neunundvierzig Jahre alt und das Abbild einer Person, die, meiner Ansicht nach, genau die falschen Dinge des Lebens verfolgt. Sie ist ständig im Stress, ständig unzufrieden mit ihrem momentanen Lebensstil, ihrem Äußeren und dem Status, den sie mittlerweile erreicht hat und eigentlich längst schon genießen könnte.

Sie ist eine der Frauen, die Dinge mit ihrem Körper haben anstellen lassen, für die manch ein Gebrauchtwagenhändler in den Knast gewandert wäre. Gescheitert auf der Suche nach der ewigen Jugend, verbittert, weil sie den Kampf gegen das Alter – trotz all der Operationen und all des Verzichts, den sie ständig lebt – langsam, aber sicher zu verlieren scheint. Unwillig, den Lauf der Natur zu akzeptieren, und außerstande, jemandem oder etwas die Kontrolle über sich zu gewähren.

Dass sie aus tiefster Überzeugung kinderlos geblieben ist, unterstreicht sie gerne mit Sätzen wie »Diese kleinen Bälger sind einfach Gift fürs Inventar« oder »So ein Rotzbengel kostet an Unterhalt genauso viel wie mein Porsche – aber mein Porsche widerspricht mir nicht«.

Bereits zum dritten Mal verheiratet, berichtet sie mir laufend von den Unzulänglichkeiten ihres derzeitigen Mannes und davon, dass sie es sicher nicht mehr lange mit diesem »Schmarotzer«, wie sie ihn gerne betitelt, aushalten wird. Wenn sie die nächste Schönheitsoperation hinter sich gebracht hat, wird sie sich wohl auch von ihm trennen, erzählte sie mir erst kürzlich.

Oh, man hört so viele Dinge, wenn man massiert. Doch all die Geständnisse und Erzählungen, die die Lippen meiner Patienten verlassen, sind absolut nichts gegen die Geschichten, die mir ihre Seelen anvertrauen.

Meine Hände gleiten über die Körper der unterschiedlichsten Menschen. Egal ob alt oder jung, dick oder dünn, arm oder reich, schön oder hässlich – unter meinen Händen sind sie alle gleich. Ich massiere ihre Knoten weg und knete das verhärtete, schlecht durchblutete Gewebe durch, mache es wieder warm und weich.

Die meisten Patienten schließen bald ihre Augen und genießen die Ruhe, um sich auf sich selbst, auf ihr tiefstes Inneres, zu konzentrieren. Ich tue dasselbe. Ich richte meinen Fokus einzig und allein auf diesen einen Menschen, der unter meinen Händen liegt. Auf seine Haut, seine Muskeln, den pulsierenden Blutfluss in seinen Adern, seinen Atem, seinen Geruch, seinen Herzschlag – und dann, früher oder später, verschmelze ich mit ihm, und er öffnet sich mir, ohne es zu ahnen, in einer unbewussten Weise. Das ist der Moment, in dem unser eigentlicher Dialog beginnt – wenn seine Seele zu mir spricht.

Auf diese Art erfahre ich mitunter die intimsten Begebenheiten und die vertraulichsten Geheimnisse meiner Patienten, ohne sie jemals danach zu fragen. »Eine gute Massage ist wie eine Offenbarung«, habe ich einmal gelesen, und das scheint es genau zu treffen.

Wenn sich die Pforte zu den Seelen meiner Patienten öffnet, dann weiß ich genau, nach welchen Ölen ich greifen muss, ob ich sie rein verwenden oder besser miteinander vermischen soll, wo ich meine Hände ansetzen muss und wie stark der Druck meiner Finger zu sein hat, um die beste Wirkung zu erzielen.

In diesen Momenten bin ich ein wenig wie ein Savant, wie Julie: Ich weiß, ohne zu lernen.

Dieses Wissen geht so weit, dass mich die Entdeckung meiner Gabe zunächst sehr erschreckte. Denn ich sehe die Erlebnisse, die den Verspannungen und Schmerzen meiner Patienten zugrunde liegen, bildlich vor mir. So ist es mir möglich, meine Behandlung am Ursprung anzusetzen. Und die Wurzel eines jeden chronischen Leidens habe ich bisher immer in den verwundeten Seelen der Menschen gefunden. Das ist mein Geheimnis.

»O Gott, Mr. Andrews, wenn ich schon sterben muss, dann möchte ich bitte unter Ihren Händen sterben. Das wäre wirklich ein seliger Tod.« Mrs. Jordan seufzt gewohnt theatralisch, sobald meine Hände sie berührt haben.

Ich freue mich zwar, dass sie wenigstens hier die Möglichkeit findet, sich ein wenig zu entspannen, doch dieser selige Zustand, von dem sie spricht, hält leider nicht lange an und erreicht bei ihr auch nie die erfolgverheißende Tiefe.

»Mein Mann könnte wirklich etwas von Ihnen lernen. Jack hat nicht die leiseste Ahnung davon, wie man eine Frau anfassen sollte. Ich wette, Sie dagegen …« Sie zögert, jedoch nur kurz. »Sie sind bestimmt phantastisch im Bett. Das soll keine plumpe Anmache sein, verstehen Sie mich nicht falsch. Aber ein Mann, der diese Dinge mit seinen Händen tun kann …«

Ich unterbreche sie mit einem kurzen Lachen und ärgere mich, dass es so nervös klingt. Schnell gebe ich ihr die Anweisung, nun still zu liegen und den Kopf ein wenig stärker zu neigen, ohne dass das für meine Massage von Bedeutung wäre, nur mit dem einen Ziel, sie von weiteren Lobeshymnen abzuhalten. Es funktioniert tatsächlich.

Mrs. Jordan gibt mir ein paar ruhige Minuten, doch es will mir einfach nicht gelingen, mich voll und ganz auf sie zu konzentrieren. Immer wieder schweifen meine Gedanken ab zu Tom und Kristin. Wie sehr sich ihr Leben doch von Mrs. Jordans unterscheidet.

Nur noch selten, wenn ihre Schmerzen sehr stark sind, behandle ich diese schwierige Patientin in meinem speziellen, fast schon tranceartigen Zustand. Die Wurzel ihres Übels lässt sich nicht herausreißen, denn sie erwächst aus Mrs. Jordan selbst. All die körperlichen Beschwerden finden den Ursprung in ihrer unbändigen Unzufriedenheit, für die ich keine Ursache ausmachen kann. Ich kann lediglich versuchen, ihre Schmerzen zu lindern. So beschränken sich meine Methoden bei ihrer Behandlung auch heute wieder auf die eines jeden anderen Masseurs. Mrs. Jordan dreht sich ständig um sich selbst, hechtet dem vermeintlichen Glück hinterher und wird dabei immer unglücklicher. Ohne dass es ihr eigentlich an etwas fehlt.

Kristin und Tom dagegen haben wirklichen Kummer, doch sie nehmen das Leben so, wie es ihnen gegeben ist, und versuchen jeden Tag erneut, das Beste daraus zu machen. Ich bewundere sie zutiefst für die Hingabe, mit der sie sich um ihre Tochter kümmern.

Meine Gedanken drehen sich für einige Minuten um Julie. Sie hat mich ohne Zweifel und unwiderruflich in ihren Bann gezogen. Auf welche Weise, ist mir selbst nicht ganz klar.

Da fällt mir etwas ein. Vielleicht würde auch ihr eine Massage guttun. Julie sitzt fast immer in dieser zusammengekauerten Position auf dem harten Fußboden. »Dort sitzt sie am liebsten«, hatte Tom gesagt. Im Schneidersitz, schaukelnd und summend, verbringt sie einen Großteil ihres Tages. Für ihre Wirbelsäule und die gesamte Rückenmuskulatur ist diese dauerhafte Haltung das pure Gift, so viel steht fest.

Ich beschließe, Tom und Kristin das Angebot zu machen, ihre Tochter zu massieren – kostenlos, versteht sich. Vielleicht entlohnt Julie mich ja auch mit einem Einblick in ihre Seele. Vielleicht erfahre ich so ein wenig mehr über sie.

Julie. Was ist es bloß, was mich an dieser sonderbaren jungen Frau so sehr fasziniert?

 

Als ich Mrs. Jordan verabschiedet habe und die Abrechnung für ihre Patientenakte auf den Riesenschreibtisch lege, sieht Mary zu mir auf. Ihr Blick wird immer tiefgründiger, sie kneift die Augen prüfend zusammen.

»Hey, was ist denn das? Sie lächeln ja«, bemerkt sie schließlich.

Mit zur Seite geneigtem Kopf schaue ich sie an. »Ich weiß ja, dass ich ein ziemlicher Langweiler bin, aber es ist doch nicht das erste Mal, dass Sie mich lächeln sehen! Oder?«

»Nein, das nicht. Aber Sie lächeln niemals so verträumt vor sich hin wie gerade eben. Es ist sonst immer nur eine Reaktion.« Sie zieht die Augenbrauen zusammen und spricht die folgenden Worte betont abgehackt und nüchtern, in ihrer tiefsten Stimmlage. »Sie lächeln sehr kurz, meist nur angedeutet und zweckgebunden und eigentlich immer etwas … hm …«

Mit schiefem Mund und geschürzten Lippen scheint sie nach dem richtigen Wort zu suchen. »Ja, Ihr Lächeln hat immer etwas latent Melancholisches an sich. Aber das von eben war völlig anders. Es war … ehrlicher und … fast glücklich.«

»So, so«, erwidere ich und kratze mich in meinem Nacken.

Mir ist klar, dass Mary eine der Personen ist, die ich in meinem Alltag am häufigsten sehe. Es ist trotzdem fast ein wenig beängstigend, wie genau sie mich kennt. Aber das muss ich ja nicht unbedingt zugeben. Langsam beuge ich mich über den Tresen zu ihr herab.

Mit großen, offenen Augen begegnet sie meinem Blick.

»Was immer Sie nehmen, Mary, nehmen Sie weniger davon«, necke ich sie flüsternd.

Es gelingt mir, mich schnell genug abzuwenden – noch bevor ihr Schlag meinen Oberarm treffen kann.

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Kapitel III

I