Deine Seele in mir 5 - Susanna Ernst - E-Book

Deine Seele in mir 5 E-Book

Susanna Ernst

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Beschreibung

Wenn der Liebe EIN Leben nicht genug ist... - Teil 5 des sechsteiligen Serials! »Hab keine Angst, Matty! Ich bleibe bei dir, ich verspreche es!« Dies sind die letzten Gedanken der neunjährigen Amy, bevor sie an den Folgen eines grausamen Verbrechens stirbt. Ihr bester Freund Matt musste dabei zusehen und konnte ihr nicht helfen. Die schreckliche Erinnerung lässt Matt nie mehr los. Viele Jahre später trifft er bei seiner Tätigkeit als Masseur - mit seinen Händen kann er wahre Wunder vollbringen - auf Julie, eine junge autistische Frau. Als er sie berührt, geschieht etwas Beängstigendes, doch zugleich Wundervolles: Matt bekommt eine nahezu unglaubliche Erklärung für die Verbundenheit, die er Julie gegenüber empfindet. Ein poetisches Buch voller Gefühl und Wärme, eine mitreißende, spannende Story: "Deine Seele in mir" ist ein Lesegenuss der allerersten Güte für alle Fans von Nicholas Sparks und Mark Levy.

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Seitenzahl: 133

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Susanna Ernst

Deine Seele in mir

Serial Teil 5

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

Kapitel XXIIIKapitel XXIVKapitel XXVKapitel XXVIKapitel XXVIIKapitel XXVIIIDer neue zauberhafte Roman der Autorin von »Deine Seele in mir«
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Kapitel XXIII

Es ist der sechste Tag für uns in Madison Spring – der Tag, an dem meine persönliche Schonfrist abläuft.

Mein Kiefer schmerzt, so sehr presse ich die Zähne zusammen.

»Bereit?«, fragt Amy. Ich schüttele den Kopf, hastig und ve­hement, doch sie ergreift meine Hand und zieht mich mit sich. Springt an genau der gleichen Stelle wie damals über den schmalen Straßengraben und zerrt mich erbarmungslos hinter sich her.

Mein Herz klopft wie wild, als wir so vertraut über das weite Feld laufen. Mit starrem Blick fixiere ich die Wipfel der Kiefern, die sich im Wind wiegen und uns ihre Schatten entgegenrecken.

Plötzlich verlangsamt Amy ihren Schritt; der Griff ihrer Hand festigt sich. Wir erreichen die Stelle, an der das Feld in die kleine Waldböschung übergeht. Die Büsche und Bäume sind jetzt, an der Schwelle zum Frühling, natürlich viel kahler als an jenem Tag vor so langer Zeit. Damals hatte dichtes grünes Laub ihre Äste bedeckt. Auch der Geruch, stelle ich erleichtert fest, gleicht der sommerlichen Mischung von damals kaum.

Gemeinsam tauchen wir im Schatten des Wäldchens ab. Amy kennt wirklich keine Gnade. Stumm blickt sie sich um, scheint nach etwas zu suchen. Dann bleibt sie stehen, den Blick auf den Baum gerichtet, an den dieser Mistkerl mich damals gefesselt hatte. Sie lehnt sich gegen den Stamm und gleitet langsam daran herab. Mit großen Augen sieht sie zu mir auf und dann wieder zu der Stelle – nur eine Armlänge entfernt –, wo sie gelegen und bis zu ihrem Tod unter ihm gelitten hatte.

Mit verkrampften Händen, die ich schnell in meinen Hosen­taschen verschwinden lasse, stehe ich da. Meine leichten Kopfschmerzen von heute Morgen haben sich mittlerweile in ein überdeutliches Hämmern verwandelt.

»Er muss uns aufgelauert haben«, befindet Amy nüchtern. »Das war nie und nimmer reiner Zufall. Er hatte es auf uns abgesehen. Oder wahrscheinlich nur auf mich. Du warst wohl eher ein lästiges Anhängsel.«

Ihre Fingerspitzen graben sich in die leicht feuchte Erde. Der Anblick lässt mich hart schlucken. Amy scheint das nicht zu ­bemerken. Sie wirkt gedankenverloren.

»Meinst du, er hat uns schon lange zuvor beobachtet? Ich habe niemals jemanden bemerkt.«

Ich bin nicht imstande, ihr eine Antwort zu geben. Zu sehr beschäftigt mich das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen – und noch mehr der feste Wille, das auf keinen Fall zuzulassen. Amy jedoch bohrt weiter und weckt schnell die Erkenntnis in mir, dass sie das mit Absicht tut.

Ich bin wütend auf sie, doch je mehr ich mich meinem Zorn überlasse, desto bewegungsunfähiger macht er mich, desto stärker wird die Übelkeit. Warum lässt sie es denn nicht einfach mal gut sein? Unser Aufenthalt in Madison Spring verlief bislang so unendlich viel besser als erwartet. Warum gönnt sie uns … mir … die Freude darüber nicht?

»Warst du eigentlich so gefesselt, dass du mich ansehen musstest?«, fragt sie jetzt.

Ich huste und spüre, wie dabei ein Schwall Magensäure in meinen Hals aufsteigt. Meine Kehle brennt, und meine Füße ver­sinken in dem weichen Waldboden. Im letzten Moment merke ich, dass es nicht an dem Untergrund liegt. Es sind meine Beine, die nachgeben. Bunte Lichter drehen sich vor meinen Augen, schnell lasse ich mich herabgleiten. Sitze Amy gegenüber – wie damals – und presse den Kopf zwischen meine angewinkelten Knie. Schließe die Augen, versuche tief durchzuatmen. Scheitere.

»Amy, mir ist schlecht«, warne ich, meine Stimme ebenso zittrig wie meine Hände. Sie jedoch erweist sich weiterhin als er­barmungslos, als hätte sie mich nicht gehört. Als würde sie – ausgerechnet sie – nicht merken, wie es um mich steht.

Mittlerweile ist mir jedoch vollkommen klar, was Amy bezweckt. Ihr Bohren in all den alten Wunden erzielt bereits die gewünschte Wirkung. Nie bin ich näher dran gewesen, sie zu hassen – noch nie zuvor habe ich sie mehr geliebt.

»Matty, erzähl mir von deiner Angst«, fordert sie schließlich und kniet sich dicht vor mich. Ich schüttele ihre Finger ab, als sie sich um meine Handgelenke schließen wollen. Keine Fesseln.

Speichel läuft mir im Mund zusammen. Bitter und schwer.

Amy sieht mich intensiv an, legt ihre Hände locker auf meine Knie. »Ich habe dich schreien gehört, Matt, aber du hast es nie getan«, flüstert sie. »Immer bist du still geblieben. Bis heute. Als hättest du nach wie vor diesen Knebel im Mund. Du hattest Angst zu sterben, nicht wahr? Du hattest Angst vor den Dingen, die er dir antun würde. Dass er das Gleiche mit dir machen könnte, was er mir angetan hatte … Schrei es raus, Matt! Heul laut los oder tu sonst was, aber hör endlich auf, alles in dich hineinzufressen.«

Das reicht aus. Mein Magen fühlt sich an, als kehre sich sein Innerstes nach außen, und ich schaffe es gerade noch rechtzeitig aufzustehen und mich würgend über einen der Büsche hinter mir zu beugen.

Obwohl wir nichts gegessen haben, das mir schwer im Magen liegen könnte, ist da dennoch etwas: dieser riesige Klumpen aus purer Todesangst und Hilflosigkeit. Die Unfähigkeit, das ­Erlebte zu verarbeiten. All die Alpträume, die durchwachten Nächte, die Panik vor den normalsten Alltagssituationen und die schreck­liche Einsamkeit, die ich so viele Jahre lang durchlebt habe.

Das alles würge ich heraus.

Amy steht hinter mir und streicht langsam und beruhigend über meinen Rücken. Noch immer wütend und vor allem maßlos überfordert, schiebe ich sie mit meinem Ellbogen weg. Doch so leicht lässt sie sich nicht abwimmeln.

»Es ist gut, Engel. Ich bin bei dir«, flüstert sie mir immer wieder zu.

Minuten später und erst, als ich mich langsam beruhigt habe, ­bittet sie mich erneut, in einem sehr liebevollen Ton: »Was war deine größte Angst, Matty? Erzähl mir davon!«

Mit diesen Worten reicht sie mir die Wasserflasche, die sie für unsere geplante Wanderung bei sich trägt. Oder war es weise ­Voraussicht gewesen, die sie die Flasche hatte einpacken lassen? Bei Amy weiß ich oft nicht, was von langer Hand geplant war und was spontan ist.

Ich gurgele, spucke aus, trinke einige Schlucke, gurgele erneut gründlich und spucke noch einmal aus. Das kühle Wasser tut gut. Die Übelkeit hält zwar noch an, doch die Magenkrämpfe hören auf. Ich werde mich nicht mehr erbrechen müssen, dessen bin ich mir sicher.

Eilig stapfe ich davon. Nur weg von diesem Ort.

Erst als ich den kleinen Wald durchkreuzt habe und sich die Lichtung vor mir auftut, deren saftiges Grün von dem schmalen Bach durchzogen wird, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Warum hatten wir es nicht bis hierhin geschafft? Hier ist es schön und … friedlich. Der Himmel, so hell und mit all seinen verwirbelten weißen Wolken, wirkt, als habe man einen Schluck Milch in ein Glas voll Wasser gegossen.

Noch immer hat sich meine Wut nicht völlig gelegt. Ruckartig wende ich mich Amy zu, um sie zurechtzuweisen, was ihr denn einfiele. Aber dann sehe ich in diese sanften Augen. Lasse meinen Blick über ihr Gesicht gleiten, auf dem sich nur eines widerspiegelt: aufrichtige Sorge. Um mich.

Schlagartig will ich nichts mehr, als sie für immer zu halten. Resignierend lasse ich die Flasche fallen. Mit einem dumpfen Schlag landet sie auf der moosdurchzogenen Wiese. Und als wäre dieses Geräusch mein Startsignal, sprudelt es plötzlich nur so aus mir hervor.

»Ich hatte solche Angst, dich zu verlieren, Amy. Ich habe dich angefleht, nicht zu gehen. Ich habe gebettelt, du sollst bei mir bleiben! Und als du tot warst … hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich mich davor fürchtete, auch zu sterben.«

Während die Worte von meinen Lippen fließen, spüre ich ein leichtes Ziehen in meinen Augen, dem ich jedoch keinerlei ­Beachtung schenke. Bis ungehinderte Tränen über meine Wangen rinnen und mich für wenige holprige Herzschläge in Staunen versetzen. Ich habe so lange nicht mehr geweint, dass ich das Gefühl vergessen habe. Schlagartig ist die Erinnerung wieder da: Es befreit!

»Es hätte mir egal sein sollen, aber obwohl du bereits tot warst … wollte ich weiterleben. Warum, habe ich nie verstanden.«

Amy versucht nicht einmal, mich zu stützen, als ich vor ihr ­zusammenbreche und unter der Last dieser Erinnerung wie ein kleines Kind aufschluchze.

Lediglich ihre Hände vergraben sich in meinen Haaren. Sie kniet sich zu mir auf den Fußboden und atmet tief durch. Es wirkt … erleichtert? Dann erst nimmt sie mich in ihre Arme. So fest wie sie kann, presst sie mich gegen ihren zierlichen Körper.

»Ist ja gut, Engel! Es tut mir leid, was mit dir passiert ist. All das tut mir so leid. Aber ich bin nicht gegangen, niemals. Du weißt doch – ich bin immer bei dir gewesen. Es hatte seinen Sinn, dass du leben wolltest. Wie hätte ich dich denn sonst finden sollen – wie hättest du mich finden sollen? Dass wir uns wiederbegegnet sind, Matt … es muss Bestimmung gewesen sein, denkst du nicht?«

Sie weicht ein wenig zurück und sieht mir tief in die Augen. Erwartet das Nicken, das ich ihr nicht geben kann – einfach, weil ich momentan zu kraftlos bin. Amy spürt auch das. Ihre Hände umfassen mein Gesicht, stützen mich.

»Von nun an werden wir leben, Matt«, wispert sie. »Wir sind zusammen! Alles ist gut. Und deshalb werden wir all das Böse hier und jetzt zurücklassen, okay? Alles ist genauso, wie es sein sollte, hörst du?«

Ja, ich höre alles, doch ich will nicht antworten. Ich will sie nur halten – in diesem Moment und für den Rest meines Lebens.

Amy streichelt immer wieder meinen Kopf. Sie umklammert meinen Nacken, während sie sanft meine Wangen küsst. Ihre ­Berührungen und die wahren Worte aus ihrem Mund verfehlen ihre Wirkung nicht. Langsam versiegen meine Tränen.

Der Schmerz in meiner Brust weicht einer tiefen Erleichterung, die meinen Atem und das heftige Pochen meines Herzens be­ruhigt.

Amy lässt ihre flache Hand unter mein Poloshirt gleiten, dort, wo die Knöpfe des Kragens offen stehen. Warm spüre ich den Druck ihres Handballens und ihrer Fingerspitzen auf meinem Brustbein, und diese Wärme – ihre Wärme – lässt auch die leisen, unkontrollierbaren Schluchzer, die sich mir von Zeit zu Zeit noch entringen, schließlich verstummen.

Die Übelkeit ist nun restlos verflogen, ebenso wie die Kopfschmerzen. Jeder Schmerz ist vergessen.

Zurück bleibt eine unbekannte Leere. Ich fühle mich, als würde ich in ein tiefes Loch fallen. Ich falle, ohne zu erkennen, wohin. Eigenartigerweise ist es dennoch kein unangenehmes Gefühl. Es ist eine Leere der positiven Art, es ist … Befreiung.

Von dieser Erkenntnis übermannt, sehe ich Amy an. Das helle Grün ihrer Augen schmilzt und wirkt mit einem Mal unergründlich tief. Unter einem verständigen Lächeln erhebt sie sich und zieht mich mit sich. Übt dabei kaum Kraft aus, und doch reagiere ich, als würde sie mich mit Stahlseilen hochziehen. Ich umklammere Amys Taille und drücke sie fest an mich. Es müsste mir unangenehm sein – habe ich doch vor wenigen Minuten noch über den Büschen gehangen –, doch ich verschwende keinen Gedanken mehr an das soeben Geschehene, als ihre Lippen auf meine treffen.

»Komm!«, fordert sie schließlich und zupft dabei an beiden Seiten meiner geöffneten Jacke.

Hand in Hand laufen wir zu dem kleinen Bach, der auch an jenem Morgen unser eigentliches Ziel gewesen war. Damals mögen wir es nicht erreicht haben, aber nun stehen wir nebeneinander an dem schmalen Strom – sie vor mir, den Rücken fest gegen meine Brust gedrückt, meine Handgelenke mit ihren Fingern umschlossen.

Immer nur Stützen, niemals Fesseln.

Und als würde das plätschernde Wasser zu unseren Füßen unsere Seelen endgültig reinwaschen, kann ich mit einem Mal wieder tief durchatmen. Genießerisch fülle ich meine Lungen mit der feuchten, frischen, sauberen Luft. Amy wendet sich mir zu und beobachtet mich versonnen.

»Gehen wir!«, beschließt sie und richtet ihren Blick in die Ferne. Auf den gigantischen Berg, der aus der sonst recht flachen Landschaft hervorragt und damals, als wir noch Kinder waren, für uns das Ende der Welt markierte.

Über zweieinhalb Stunden brauchen wir für den Aufstieg. Dann ist es geschafft, und wir haben den Giganten bezwungen. Erschöpft, aber zufrieden sitzen wir nebeneinander auf dem Gipfel.

Erst jetzt, da die große, rote Sonne mit ihrer Unterseite die weit entfernten Spitzen der anderen Berge zu berühren scheint, wird es langsam kühler. Die Luft ist klar, und der Wind trägt den verheißungsvollen Duft des Frühlings mit sich wie ein süßes Versprechen. Darunter riecht es staubig und trocken und – ich kann es nicht anders beschreiben – nach Freiheit.

Nach einigen Minuten Erholungspause erhebt Amy sich von dem riesigen Felsbrocken, der den Gipfel des Berges krönt. Er bildet den höchsten Punkt und gibt mir ein Rätsel auf, dessen Lösung mir nicht einfallen will: Wie ist er da hingekommen?

Während ich immer noch vergeblich versuche, hinter dieses Geheimnis zu kommen, beginnt Amy, sich um ihre eigene Achse zu drehen. »Weißt du noch, Matt? Wir haben als Kinder immer gesagt, dass wir später mal hier hochsteigen werden. Und da sind wir nun! Wir werden alles machen, was wir uns vorgenommen haben. Einfach alles!«

Ihr Anblick wärmt mein Herz, viel mehr, als es das schwache Licht der untergehenden Sonne nun noch vermag.

»Geh von der Kante weg«, warne ich sie trotzdem, wie immer der Bedachte von uns beiden. Nun, ich nenne es »bedacht«. Amy findet die Bezeichnung »Spaßbremse« meistens passender, wie auch jetzt.

Prompt hört sie auf, sich zu drehen, greift sich blitzschnell eine Handvoll des rötlich braunen Sandsteinstaubes und will ihn mir ins Gesicht pfeffern. Doch ein plötzlicher Windstoß hat andere Pläne, infolge derer Amy selbst nur eine Sekunde später wie eine schlecht geschminkte Squaw aussieht.

»Geschieht dir recht!«, rufe ich und pruste laut los vor Lachen.

Amy kümmert es nicht, dass meine Freude voll auf ihre Kosten geht; ihr Grinsen beweist, wie sehr sie meine Ausgelassenheit genießt. Notdürftig wischt sie sich den Staub aus dem Gesicht und kämmt mit gespreizten Fingern ihre langen Haare durch. Unter Verwendung meiner Lippen helfe ich – zugegebenermaßen nicht ganz uneigennützig – dabei, ihren Mund und ihre Wangen zu säubern, doch kurze Lachanfälle schütteln mich zwischenzeitlich immer wieder durch.

Schließlich packt Amy meine Hand und zieht mich in Richtung der Felskante.

»Was denn? Willst du mich jetzt von der Klippe stoßen, nur weil ich dich ausgelacht habe?«

»Komm schon!«, fordert sie und zerrt mit aller Kraft an meiner Hand. In ihren grünen Augen funkelt der Schalk. Seufzend gebe ich nach, ohne den geringsten Schimmer zu haben, was sie im Schilde führt.

Der Himmel wirkt mittlerweile wie ein Aquarell, in leuchtendes Orange getaucht. Es sieht phantastisch aus, schlichtweg atem­beraubend. In diesem Moment bin ich tiefglücklich über meinen Entschluss, diese Reise mit Amy angetreten zu haben.

Das Kreischen eines über unseren Köpfen kreisenden Raub­vogels lässt uns aufblicken. »Sieh mal«, sagt Amy. »Das nenne ich Freiheit!«

Mit weit aufgespannten Flügeln lässt sich der Vogel vom Wind tragen. Fasziniert beobachten wir die Perfektion, mit der er ebenso mühelos wie präzise seine Kreise zieht. Sekunden verstreichen in stummer Bewunderung, bis Amy sich an mich schmiegt, sich an meinem Arm festhält und auf die Zehenspitzen hochreckt.

»Und jetzt schrei, Matty! So laut du nur kannst«, flüstert sie mir ins Ohr. Ich zucke zurück und sehe sie zunächst noch fragend an, doch dann verstehe ich und erwidere ihr Lächeln mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken.

Als Kinder, wenn unsere Eltern uns ermahnten, im Spiel nicht ganz so laut zu sein, hatten wir uns oft vorgestellt, wie es sein müsste, hier oben zu stehen. »Dort könnten wir so sehr brüllen, wie wir wollen. Und niemand würde es uns verbieten«, höre ich Amy in meiner Erinnerung wispern.

Nun, ich muss zugeben, die Versuchung ist groß. Langsam drehe ich mich der untergehenden Sonne entgegen, öffne meinen Mund und …

»Ich traue mich nicht. Das ist zu peinlich.«