Der Herzschlag deiner Worte - Susanna Ernst - E-Book
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Der Herzschlag deiner Worte E-Book

Susanna Ernst

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Beschreibung

Susanna Ernsts »Der Herzschlag deiner Worte« ist ein moderner Liebesroman über schicksalhafte Begegnungen, die das Leben verändern. Wie ihre bereits erschienenen Erfolgsromane »So wie die Hoffnung lebt« und »Deine Seele in mir« ist auch ihr neuer Roman wieder wunderbar gefühlvoll geschrieben. Als der junge Musiker Alex vom plötzlichen Tod seines Vaters erfährt, wirft ihn das aus der Bahn. Auf der Beerdigung begegnet er seiner Patentante Jane zum ersten Mal und ist tief beeindruckt von der scheinbar unbekümmerten Lebensfreude der schwer erkrankten und an den Rollstuhl gefesselten Frau. Jane ist es, die Alex plötzlich neue Wege eröffnet. So führt sie ihn geradewegs in die Arme der temperamentvollen Jung-Autorin Maila, in die sich Alex Hals über Kopf verliebt. Doch warum lässt Maila weder in ihren Geschichten noch im eigenen Leben ein Happy End zu? Und wieso wird Alex das Gefühl nicht los, dass Jane etwas verheimlicht? Und was hat all das mit seinem verstorbenen Vater zu tun? Erst als sich Alex auf die Spuren alles Unausgesprochenen begibt, gelingt es ihm, zu erkennen, wie die unterschiedlichen Geheimnisse derer, die er liebt, miteinander verwoben sind. Kann er Maila mit diesem Hintergrundwissen davon überzeugen, dass doch noch alles gut wird? Erfolgsautorin Susanna Ernst widmet sich in ihrem neuen Roman »Der Herzschlag deiner Worte« wieder den ganz großen Themen – Liebe, Hoffnung, Trauer, Verlust des Vaters, Familie und Freundschaft – und begeistert mit wunderbar authentischen und warmherzig gezeichneten Figuren. »Der Herzschlag deiner Worte« von Susanna Ernst ist ein eBook von feelings*emotional eBooks. Mehr von uns ausgewählte erotische, romantische, prickelnde, herzbeglückende eBooks findest Du auf unserer Facebook-Seite. Genieße jede Woche eine neue Geschichte - wir freuen uns auf Dich!

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Susanna Ernst

Der Herzschlag deiner Worte

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Als der junge Musiker Alex vom plötzlichen Tod seines Vaters erfährt, wirft ihn das aus der Bahn. Auf der Beerdigung begegnet er seiner Patentante Jane zum ersten Mal und ist tief beeindruckt von der scheinbar unbekümmerten Lebensfreude der schwer erkrankten und an den Rollstuhl gefesselten Frau. Jane ist es, die Alex plötzlich neue Wege eröffnet. So führt sie ihn geradewegs in die Arme der temperamentvollen Jung-Autorin Maila, in die sich Alex Hals über Kopf verliebt.

Doch warum lässt Maila weder in ihren Geschichten noch im eigenen Leben ein Happy End zu? Und wieso wird Alex das Gefühl nicht los, dass Jane etwas verheimlicht? Und was hat all das mit seinem verstorbenen Vater zu tun?

Erst als sich Alex auf die Spuren alles Unausgesprochenen begibt, gelingt es ihm, zu erkennen, wie die unterschiedlichen Geheimnisse derer, die er liebt, miteinander verwoben sind. Kann er Maila mit diesem Hintergrundwissen davon überzeugen, dass doch noch alles gut wird?

Inhaltsübersicht

WidmungDer Anfang vom Ende1. Kapitel2. Kapitel3. KapitelErinnerungen4. Kapitel5. KapitelRatlosigkeit6. Kapitel7. Kapitel8. KapitelJetzt und damals9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. KapitelWie der Vater …14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. KapitelEntscheidungen und Gewissenskonflikte20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. KapitelFragen über Fragen24. KapitelTod auf Raten25. KapitelMailas Bücher26. Kapitel27. KapitelMeine Tochter28. Kapitel29. KapitelJane30. Kapitel31. Kapitel32. KapitelDas Ende vom AnfangDanksagung
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– Für Hermann und Margareta –

ihr wüsstet genau, warum

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Der Anfang vom Ende

21. Oktober 2015

Vincent

Du musst keine hundert Fehler begehen, damit sich der Kokon, den du so lapidar und oft nur wenig wertschätzend als»dein Leben«bezeichnest, einfach auflöst, Vince. Ein einziger Fehler genügt.

 

Diese Sätze schrieb mir vor langer Zeit eine ziemlich kluge Frau. Und, was soll ich sagen, von meinem derzeitigen Standpunkt aus betrachtet lag sie damit vollkommen richtig.

Verrückt nur, dass ich ausgerechnet jetzt, da ich den zweifellos größten Fehler meines Lebens begangen und es damit offenbar beendet habe, an Jane zurückdenken muss.

 

Ich hätte den dumpfen Druck im Brustkorb und den Schmerz im linken Oberarm wohl doch nicht einfach als Symptome einer nächtlichen Muskelverspannung abtun und heute Morgen lieber einen Arzt aufsuchen sollen, anstatt mich wie geplant mit meinem alten Freund Rick zum Golfen zu treffen.

Nun liege ich hier, mitten auf dem Fairway des 4. Loches, während sich mein geschockter Kumpel über mich beugt und ziemlich unbeholfen an mir herumrüttelt.

Doch meine Hände, die ich mir gerade noch aufs Brustbein gepresst habe, weil es in meinem Herzen plötzlich so stark stach, als würde es in hundert Stücke zerreißen, entspannen sich zunehmend, ebenso wie meine verzerrte Miene. Sämtliche Muskeln erschlaffen, die Falten in meinem Gesicht verlieren an Tiefe, der Anblick an Schrecken. Zumindest empfinde ich es so, denn ja, ich sehe mich selbst wie durch die Augen eines Dritten.

Ganz recht, ich … Keine Ahnung, aber irgendwie schwebe ich über meinem eigenen Körper.

Und während Rick von Sekunde zu Sekunde immer panischer wird, fühle ich seine hoffnungslosen Versuche, mich wieder zurück ins Leben zu schütteln, schon gar nicht mehr, sondern beobachte sie nur noch aus dem Blickwinkel eines Unbeteiligten.

 

Ich habe nicht einmal gespürt, wie ich mich von meinem Körper löste. Nur dass es passierte, ist unleugbar. Jetzt versuche ich zu erfassen, wer oder was ich nun bin, so, in meiner neuen Gestalt. Bloß, dass es keine Gestalt mehr zu geben scheint. Ich fühle, höre und sehe nach wie vor, auch wenn ich mich in einer Art Seifenblase zu befinden scheine, denn von dem Geschehen der Welt unter mir bin ich eindeutig abgetrennt. Und sosehr ich auch an mir hinabzublicken versuche, da ist nichts. Nichts außer dem saftigen Gras des Golfplatzes, auf dem meine leblose Hülle liegt.

Es ist das erste Mal, dass ich den Mann, der ich bis eben noch war, so distanziert betrachte. Und alles, was mir dabei in den Sinn kommt, gleicht einem beängstigend nichtssagenden Steckbrief.

 

Vincent Blake, dreiundfünfzig Jahre und knapp vier Monate alt, Historiker, unglücklich geschieden, zwei erwachsene Kinder, eine kleine Enkeltochter, die ich gern öfter gesehen hätte, ein Handicap von 13 und eine hochgradige Allergie gegen Nüsse, von der ich immer dachte, sie würde mir eines Tages zum Verhängnis werden.

Nur einer von vielen Irrtümern im Laufe meines Lebens.

 

Belanglose Eckdaten, mehr fällt mir beim besten Willen nicht zu mir ein. Nichts, das in irgendeiner Weise hervorstechen würde oder besonders erwähnenswert wäre. Unwillkürlich frage ich mich, wie es da erst meinen Mitmenschen ergehen muss. Werden sie womöglich sogar Schwierigkeiten haben, eine einigermaßen ansprechende Trauerrede für mich zu halten?

 

Ja, es sind seltsame Gedanken, die mich so unmittelbar nach meinem Tod ereilen. Aber zumindest driften sie, wenn auch in beunruhigender Art und Weise, in Richtung meiner Lieben – und damit löst sich dieses seltsame Gefühl von Resignation, das mich erfasst hatte, schlagartig wieder auf. Mit einem Mal verspüre ich nur noch Panik.

Ich kann meine Kinder doch nicht einfach im Stich lassen! Nicht jetzt schon, nicht heute. Schließlich wollte ich noch so vieles machen: mehr Zeit mit meiner Enkelin verbringen, mit meinem Sohn über klassische Literatur diskutieren, meine Tochter vielleicht irgendwann zum Altar führen und meinen zukünftigen, bislang noch gesichtslosen Schwiegersohn dabei mit Blicken wie Pfeile durchlöchern.

 

Unter mir bekommt Rick nun Unterstützung, weil ihm ein anderer Golfer zu Hilfe eilt. Es ist ein junger Mann, nicht viel älter als mein Sohn Alex.

Vielleicht ist er Arzt, vielleicht hat er auch nur vor Kurzem einen Erste-Hilfe-Kurs belegt. Auf jeden Fall ist er wild entschlossen.

Noch im Laufen reißt er sich die Jacke vom Leib, lässt sich neben mir auf die Knie fallen und tastet am Hals nach meinem Puls. Er spricht mich an, tätschelt meine Wange und legt mir dann eine Hand in den Nacken, um meinen Kopf zu überstrecken. Ich bemitleide ihn fast, als er mir die Nase zuhält und seinen offenen Mund über meinen legt, doch er zögert bei alledem nicht einmal für eine Sekunde. Ich beobachte, wie er mir seinen Atem gibt, um mich wiederzubeleben, und wünschte, ich könnte ihm zurufen, dass es vergebene Liebesmühe ist, weil ich ohnehin nichts mehr davon spüre, aber …

Halt! Was war das?

Dieses seltsame Flirren.

Da, wieder!

Plötzlich höre ich nicht nur die Stimme des jungen Mannes, ich fühle auch die Luft, die mich streift, als er mich anspricht. »Kommen Sie! Na los, Sir, kommen Sie schon!«, feuert er mich leise an und drückt dabei stoßartig auf meinen Brustkorb. Ich spüre es nur ganz zart, wie durch hundert Lagen Watte. Aber es ist da.

Also … bin ich noch gar nicht tot? Gibt es doch noch eine Chance für mich, wieder zurückzukehren?

O ja, ja bitte! Ich hätte noch so viel zu tun, zu sagen, zu geben …

Aufgeregt, ja, fast schon euphorisch spüre ich ein Zucken meines linken Zeigefingers, das von Rick und dem bemühten Fremden jedoch unbemerkt bleibt. Obwohl ich meinen Willen bündele und mir inständig wünsche, wieder eins mit meinem Körper zu werden oder zumindest eine größere Regung zu zeigen, damit man mich bloß noch nicht aufgibt, kann ich nichts mehr ausrichten.

Schon im nächsten Moment erlischt das Flirren wieder, und ich habe das Gefühl, mit voller Wucht zurückgerissen zu werden.

 

Ich weiß nicht, wie ich mir das Sterben vorgestellt habe.

Bewusst malte ich es mir wohl nie aus, sondern verdrängte die Gedanken daran, sobald sie aufkamen. Auf jeden Fall war ich der Meinung, dass Körper und Seele nur zusammen bestehen können und dass mit dem Tod … tja, halt alles vorbei sein müsse.

Umso verrückter erscheint mir nun, was mit mir passiert. Denn plötzlich erfasst mich ein überaus mächtiger Sog. Ich weiß nicht, wie mir geschieht, und ziehe sogar in Erwägung, in ein Jenseits gesogen zu werden, dessen Existenz für mich als bekennender Atheist immer unvorstellbar war.

Doch da verebbt der rauschende Fluss aus flackerndem Licht um mich herum ebenso abrupt, wie er mich gepackt hat, und ich befinde mich nicht mehr über dem Golfplatz.

Stattdessen schwebe ich jetzt direkt über dem Nashorngehege eines Zoos, den ich zuletzt vor einundzwanzig Jahren besucht habe. Ich erinnere mich so genau daran, weil Vivian und ich den Umzug von New Jersey damals gerade hinter uns gebracht hatten und unseren fünften Hochzeitstag mit den Kindern bei einem Besuch in ebendiesem Zoo feierten. Auf einer Holzbank stießen wir mit dem Sekt an, den ich als kleine Überraschung für Vivian eingepackt hatte, Alex prostete uns mit einer Limonadendose zu und Cassie mit ihrer Schnabeltasse. Damals war die Welt noch in Ordnung, zumindest für mich. Ich konnte ja nicht ahnen, dass Vivian sogar jenen Hochzeitstag vermutlich schon wie eine weitere bewältigte Hürde empfand – und nicht wie das Fest unserer Liebe und all dessen, was wir gemeinsam bewirkt hatten.

Bei unserem damaligen Zoobesuch war Cassie etwa zwei Jahre alt, genauso, wie meine süße Enkelin Leni heute, auf deren rötlichen Schopf ich nun hinabschaue.

Die Löckchen der Kleinen wippen, während sie so schnell wie möglich vor Marcus, dem besten Freund meines Sohnes, davonrennt.

Fasziniert lasse ich meinen Blick zu Alex’ Wuschelkopf gleiten. Auch sein Haar hat einen leichten Kupferstich, den ich aus dieser ungewohnten Perspektive viel deutlicher wahrnehme als je zuvor. Doch diese Erkenntnis streift mich nur beiläufig, denn vor allem frage ich mich, wie ich überhaupt hierhergelangen konnte und was ich hier mache.

Ist dies vielleicht der Beginn meines persönlichen Abschieds? Ist es immer so? Darf man alle seine Lieben noch einmal sehen, bevor … Ja, bevor was geschieht?

 

Alex lacht, nicht ahnend, dass ich so unmittelbar über ihm schwebe. Er genießt sein Leben, und das erfüllt mich sogar in dieser Situation mit Freude und Stolz. Denn ich weiß sehr wohl, dass es nicht das Leben ist, das er sich vor ein paar Jahren noch ausgemalt hatte. Kein Mann plant, alleinerziehender Vater zu werden. Schon gar nicht, wenn er der junge Bassist einer aufstrebenden Band ist, so wie Alex es war.

Aber mein Sohn hat sich der Herausforderung mutig gestellt. Er hat die Verantwortung übernommen und wird an diesem sonnigen Herbsttag, dem munteren Geplapper seiner Tochter lauschend, nicht zum ersten Mal für seine Entscheidung belohnt.

Gerade will Alex seinem Kumpel Marcus, den ich auch schon seit seiner Kindheit kenne, und der kleinen Leni folgen, als sein Mobiltelefon klingelt und er stehen bleibt, um das Gespräch anzunehmen.

Es ist Cassie. Sie klingt vollkommen aufgelöst und schafft es zwischen den tiefen Schluchzern kaum, ihrem Bruder zu berichten, was geschehen ist.

»Er … ist tot, Alex! Daddy ist tot.«

Diese verzweifelten Worte aus dem Mund meiner Tochter zu hören – kein körperlicher Schlag könnte mich schmerzhafter treffen.

Nun ist es also Gewissheit.

Ich höre Cassies bebende Stimme weiterhin so deutlich, als hielte ich mir selbst das Handy ans Ohr. Es ist furchtbar, sie dermaßen aufgelöst und überfordert zu erleben. Sie stößt unzusammenhängende Wortfetzen aus und japst dabei so heftig, dass ich mir Sorgen mache, sie könne kollabieren.

Alex hingegen ist ganz still geworden. Er sinkt auf einen großen Stein am Wegesrand, wo er blass, mit bebenden Fingern, einfach sitzen bleibt.

Ich will nichts mehr, als ihn und seine Schwester trösten, meinen beiden geliebten Kindern versichern, dass alles wieder gut wird und ich doch noch bei ihnen bin – zumindest irgendwie.

Aber alles, was ich bewirken kann, ist, dass ich mich meinem Sohn weiter nähere, wenn auch vollkommen unbemerkt. Doch nicht einmal von dem sanften Windstoß, der durch Alex’ Haar bläst, als ich ihn so niedergeschlagen aus nächster Nähe betrachte, kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass ich ihn ausgelöst habe.

Aber das ist auch gleichgültig, denn Alex scheint ihn ohnehin nicht gespürt zu haben. In diesem Moment sind Cassie und er vollkommen allein mit ihrer Verzweiflung.

Und ich bin es auch.

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1

Zwei Jahre zuvor

Alex

Ein jammervolles Quäken lässt mich aufschrecken.

Die Bühne, auf der die Jungs und ich gerade noch standen und One Last Time spielten, das grelle Licht der Strahler sowie der Jubel des Publikums – das alles löst sich so abrupt und rückstandslos auf wie eine zerplatzende Seifenblase.

Fast glaube ich zu fühlen, wie mir der Boden unter den Füßen weggerissen wird, doch das ist wohl eher darauf zurückzuführen, dass ich schon im Begriff bin, meine Beine aus dem Bett zu schwingen.

O Mann, wann hören diese albernen Träume endlich auf?

Gefühlt stelle ich mir diese Frage schon zum hundertsten Mal, während ich automatisch die Bettdecke zurückschlage und mich schlaftrunken erhebe.

Barfuß schlurfe ich über die Holzdielen in Richtung Korridor. Dabei stoße ich in der Dunkelheit gegen den Hals meiner Gitarre und schubse sie vom Korbsessel am Fußende meines Bettes. Richtig, dort hatte ich sie nach den erfolglosen Bemühungen des vergangenen Abends abgelegt. Der dumpfe Klang, mit dem mein gutes altes Instrument zu Boden fällt, hallt lange nach. Er erschüttert mich beinahe so, als sei ich selbst gefallen, und lässt mich in meinen Bewegungen innehalten. Im blassen Schein des Vollmonds, der durch mein Fenster fällt, leuchten die losen Papierblätter, die auf der Gitarre lagen und sich nun ebenfalls auf dem Fußboden verteilt haben, beinahe gespenstig weiß. Sie sind leer, allesamt.

Schnell wende ich den Blick ab und gehe weiter, ohne das Chaos, das ich angerichtet habe, auch nur grob zu beseitigen.

Durch den plötzlichen Lärm ist das Weinen nebenan noch lauter geworden. Ich fluche leise vor mich hin, ärgere mich über meine Ungeschicklichkeit, zumal ich den Weg inzwischen auch blind beherrschen müsste, ohne irgendwo anzustoßen. Schließlich laufe ich ihn drei- bis viermal pro Nacht. Mindestens.

Vermutlich ist es nur meiner Erschöpfung zuzuschreiben, aber meine Beine fühlen sich bleischwer an und viel zu alt, um wirklich zu mir zu gehören. Bin ich nicht erst sechsundzwanzig? Tatsächlich? Oder habe ich den Großteil meines Lebens verschlafen und bin als alter Mann erwacht?

Nein, das inzwischen ohrenbetäubende Gebrüll aus dem angrenzenden Zimmer erzählt eine andere Geschichte. Unsere Geschichte.

Ich drücke die angelehnte Tür auf, verharre noch einen Moment auf der Schwelle. Doch dann gebe ich mir einen Ruck und steuere auf das kleine Gitterbett zu. Die Nachtlampe wirft ihr mattes Licht auf das wutverzerrte Gesicht meiner Tochter.

Meine Tochter!

Mit dem mir schon vertrauten, drückenden Gefühl in der Magengrube senke ich den Blick, ziehe die Bettdecke zurück und hebe das kleine Bündel heraus, dessen Geschrei sofort verstummt.

Dummes, kleines Mädchen!

Spürt sie denn nicht, wie unfähig ich bin? Dass sie ihr Vertrauen, das ich nun in Form eines erleichterten Seufzers gegen meine verkrampfte Schulter spüre, auf einen maßlos überforderten Mann setzt?

Erschöpft lasse ich mich in den alten Schaukelstuhl fallen, der unter dem plötzlichen Gewicht aufstöhnt.

Die Ersatzmilch ist klumpig, wie immer. Doch die Kleine kennt es nicht anders und stört sich nicht daran. Wenigstens habe ich den Wärmer mittlerweile so weit unter Kontrolle, dass ich ihr die Flasche nach einem kurzen Temperaturcheck an meinem Handgelenk direkt geben kann und nicht noch erst herunterkühlen muss, wie am Anfang.

Während Leni in hastigen Zügen trinkt, schaue ich sie nicht an. Obwohl ich weiß, wie wenig ich meiner Vaterrolle damit gerecht werde, habe ich es bisher erst selten, und wenn, dann immer nur sehr kurz gewagt, sie anzusehen. Aber so schnell ich meinen Blick auch immer von ihr abgewandt habe, ergoss sich dennoch jedes Mal prompt dieser finstere Gefühlscocktail aus Hilflosigkeit und dem verbitterten Wissen, hintergangen worden zu sein, über mir. Darum halte ich lieber an meiner Feigheit fest und sehe das Baby in meinen Armen erst gar nicht an. Doch gleichzeitig befeuert die Erkenntnis, Leni dadurch ein noch miserablerer Vater zu sein, meine Verzweiflung. Ich seufze, denn es ist ein verdammter Teufelskreis.

 

Als die Kleine zu Ende getrunken hat, rieche ich kurz an ihrer Rückseite. Die Windel ist noch nicht sehr schwer und definitiv nur nass. Da Leni nicht dazu neigt, wund zu werden, beschließe ich, sie erst beim nächsten Mal zu wickeln. Also in etwa zwei Stunden.

Ohne ein einziges Wort zu ihr gesagt zu haben, lege ich sie zurück in ihr Bettchen und verlasse den Raum wieder – was sie protestlos hinnimmt. Vermutlich ist sie ebenso erleichtert wie ich. Zumindest für den Moment.

In meinem Schlafzimmer hebe ich die Gitarre und die vielen leeren Blätter auf. Obwohl ich inzwischen wach genug bin und jetzt, nachts, auch endlich die Zeit und Ruhe hätte, an einem neuen Song zu arbeiten, streift mich der Gedanke nur sehr flüchtig. Schon bin ich wieder unter meine Bettdecke gekrochen. Und es dauert erwartungsgemäß nicht lange, bis mein schlechtes Gewissen erneut zu mir aufschließt. Ich fühle mich einfach miserabel und habe Mühe, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Ich denke nicht nur über die Situation mit Leni nach, auch den Jungs gegenüber fühle ich mich schuldig. Als hätte ich sie im Stich gelassen.

Mein Handy piept zweimal kurz hintereinander. Es kann nur einen geben, der mir mitten in der Nacht schreibt. Und richtig, die Nachricht ist von Marcus.

4. Tag der Tour: Heute steht Köln an, der erste Gig in Deutschland. Nach England regnet es hier endlich mal nicht, und kalt ist es heute auch nicht. Wenn wir den Soundcheck schnell hinter uns bringen, könnten wir sogar noch Zeit haben, ein bisschen von der Stadt anzusehen. Viele Fans fragen nach Dir. Ich hab meistens keinen Schimmer, was ich ihnen sagen soll, also saugt Tobey sich irgendwas aus den Fingern. Wie geht es Dir, Mann? Was macht die Kleine? Hat Tara sich noch mal gemeldet? Wissen Deine Eltern inzwischen Bescheid?

Mensch, Alex, MELD.DICH.ENDLICH!!!

Für wenige Sekunden kreist mein Daumen über der kleinen digitalen Tastatur. Doch anstatt dem Mann, der seit Kindheitstagen mein bester Kumpel ist, zu antworten, lege ich das Handy schließlich wieder weg, drehe mich auf die Seite und rolle mich in meinem Bett wie ein Kleinkind zusammen. Starre in die Dunkelheit – keine Ahnung, wie lange.

Was sollte ich Marcus auch schreiben?

Mir geht es scheiße, Leni erträgt ihr Schicksal zwar tapfer, aber gut kann es ihr unter diesen Umständen wohl kaum gehen.

Und nein, ihre Mutter hat sich nicht mehr gemeldet, seitdem sie die Kleine bei mir abgeliefert hat, und ich habe es in fast einem Monat auch noch immer nicht geschafft, meinen Eltern von der ganzen Misere zu erzählen, weil ich mich nach wie vor viel zu sehr schäme. Natürlich wundern sie sich inzwischen, dass ich auf keinem der Tourfotos im Internet zu sehen bin. Entsprechende Text- und Mailboxnachrichten habe ich schon erhalten. Also kann es sich nur noch um wenige weitere Tage handeln, vermutlich sogar nur um Stunden, bis sie Cassie weichgekocht haben und endgültig herausfinden, was wirklich passiert ist.

 

Nein, bevor ich Marcus das schreibe, antworte ich lieber gar nicht.

 

Irgendwann muss ich wohl wieder eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal die Augen öffne, werde ich von hellem Licht geblendet, und der Lärm der belebten Straße dringt durch das gekippte Fenster.

Leni weint. Außerdem wummert es wie wild an meiner Wohnungstür. Jemand flucht lauthals, und ich muss nicht erst lange raten, um zu erkennen, dass dieser Jemand meine kleine Schwester ist.

»Wenn du nicht sofort diese verdammte Tür aufmachst … ich schwöre dir, bei allem, was mir heilig ist, dann trete ich sie ein! … Alex, hörst du mich? Mach endlich auf!«

Wie lange hämmert sie denn schon gegen diese Tür, verflixt?

Wie lange auch immer, jetzt bin ich ganz da, und mein Wecker zeigt … 11:34 Uhr. Am 26. Oktober 2013.

Tag 28!

Ich springe auf und bin mit wenigen großen Sätzen an der Wohnungstür. Kaum habe ich sie einen Spaltbreit geöffnet, trifft mich Cassies flache Hand schon am Brustbein.

»Aus dem Weg, du blöder Idiot!«, schimpft sie aufgebracht. »Hast du auch nur die leiseste Ahnung, was du mir für einen Schrecken einjagt hast?«

»Womit denn?«, frage ich verdutzt, doch Cassie ist bereits an mir vorbeigerauscht. Die Tür zu dem kleinen Zimmer, in dem sich bis zum letzten Monat noch mein Tonstudio befand, fliegt auf, und Cassie eilt zu dem Gitterbettchen, das nach wie vor den Charme eines Fremdkörpers für mich versprüht. Schon wiegt sie das Baby in ihren Armen. Sie presst den winzigen zuckenden Körper an sich und wispert Leni beruhigende Worte zu. Sie wollen so gar nicht zu der Cassie passen, die mich schon als kleines Mädchen mit den unmöglichsten Schimpfwörtern und derbsten Sprüchen bedachte, wann immer wir auf einen Streit zusteuerten. Also ständig.

Wutentbrannt wendet sie sich mir auch jetzt zu, doch in ihren hellbraunen Augen erkenne ich neben ihrem Zorn auch eine tiefe Sorge und Hilflosigkeit, während sie sich größte Mühe gibt, aus Rücksicht auf Leni ihre Lautstärke zu drosseln.

»Ich stehe seit einer halben Stunde vor deiner Tür, Alex! Seit über zwanzig Minuten brülle ich mir die Seele aus dem Leib. Du hörst nicht einmal, dass die Kleine schreit. Sie ist deine Tochter, begreifst du das eigentlich? Und du hörst sie nicht! Du hörst gar nichts mehr, ausgerechnet du. Das jagt mir eine Höllenangst ein! Das ist doch nicht normal, verdammt! Hol dir Hilfe oder tu sonst etwas, aber krieg dich endlich in den Griff, Mann! Sonst …«

Sie spricht ihre Drohung nicht aus, schüttelt stattdessen nur den Kopf und stiefelt energisch an mir vorbei – in den Raum, den ich bis vor Kurzem noch reinen Gewissens als meine Küche bezeichnen konnte.

»Schweinestall!«, befindet meine Schwester jetzt mürrisch und dummerweise nicht ganz unberechtigt. Neben dem Mülleimer türmen sich leere Pizzakartons und Flaschen, und so ziemlich alles, was ich in den letzten Tagen aus den Schränken geholt habe, steht noch dort, wo ich es benutzt habe. Selbst der Aschenbecher auf dem Fensterbrett quillt inzwischen über, und ich frage mich schlagartig, wie ich diese ganzen Missstände so lange ausblenden konnte.

»Du lebst in einem verfluchten Schweinestall«, bekräftigt Cassie noch einmal. »Wo ist das Milchpulver?« Noch immer drückt sie Leni mit dem linken Arm an ihre Brust, während sie mit der rechten Hand nacheinander sämtliche Schranktüren und Schubfächer öffnet und vergeblich nach der Babynahrung sucht.

Verschämt gehe ich zu ihr und krame den entsprechenden Pappkarton hinter der Kaffeemaschine hervor. Cassie wirft einen geringschätzigen Blick auf die schmutzigen Tassen, die davor stehen, verkneift sich aber weitere Kommentare und füllt stattdessen den Wasserkocher. Das Baby in ihren Armen brüllt nicht mehr, es wimmert nur noch leise vor sich hin.

»Schon gut, mein Schatz, schon gut. Ich mache dir jetzt erst einmal eine neue Windel, was hältst du davon? Und wenn wir fertig sind, ist auch das Wasser heiß. Dann dauert es nicht mehr lange, bis du endlich trinken kannst.«

Cassie streicht über den kleinen Kopf mit dem flaumigen rötlich blonden Haar. Sie schmiegt ihre Wange an Lenis und spricht beschwichtigend mit ihr, bis der winzige Körper nur noch ab und zu und in immer größeren Abständen von Schluchzern durchzuckt wird.

So wie auch jetzt wieder. … Und noch einmal.

Dieser Anblick reicht aus, um etwas in mir zu rühren.

Tief in mir – unverhofft tief.

Ich erinnere mich an Cassie, als sie so klein war. Damals war ich fünfeinhalb Jahre alt und ein extrem stolzer großer Bruder, der ständig darum bettelte, sie in die Arme nehmen oder ihren Kinderwagen schieben zu dürfen.

Ob die Kleine ihrer Tante wohl ähnelt? Oder mir?

Unfassbar, aber auch nach vier Wochen mit ihr kann ich diese Frage noch nicht beantworten. Wohl flackern Fragmente ihres Gesichtchens vor meinem geistigen Auge auf, aber nicht mehr.

Zum Beispiel, wie sie aussah, als Tara sie über die Schwelle zu mir hereintrug und ich sie das erste Mal sah – in ihrer Babyschale schlafend, bis zur Nasenspitze zugedeckt. Oder ihre Augen, die mich beim Trinken und Wickeln immer so groß und zutraulich betrachten. Ich spüre ihren Blick jedes Mal und kann doch nicht sagen, ob sie eher blau oder grün sind. Und ihr Mund, der sich beinahe quadratisch verzieht, unmittelbar bevor sie zu weinen beginnt.

Aber da ist kein großes Ganzes, kein definiertes Bild des kleinen Mädchens, das sein Leben vor knapp einem Monat wohl oder übel in meine Hände hat legen müssen. Ich weiß wirklich nicht, wie meine eigene Tochter aussieht.

Als diese Erkenntnis mit einer schier unverzeihlichen Verspätung endlich zu mir durchsickert, halte ich es mit einem Mal kaum noch länger aus.

Ich stoße die Luft aus, von der ich nicht einmal wusste, dass ich sie angehalten hatte, schließe die Augen … und öffne sie dann wieder. Ganz bewusst, zum ersten Mal seit einer Ewigkeit, wie es mir scheint.

Inmitten des Chaos, das ich in den vergangenen Wochen produziert habe, steht meine einundzwanzigjährige Schwester und tut ihr Bestes, um meine Tochter zu beruhigen. Doch die Arme, die sich so zärtlich um Lenis kleinen Körper schlingen, sollten meine Arme sein. Nicht Cassies.

»Gib sie … Gib sie mir bitte, ja?«, höre ich mich stammeln.

Aus zornigen Augen funkelt Cassie mich an. »Nein, ich wechsle zuerst ihre Windel! Füll du das Wasser in die Flasche und rühr das verdammte Pulver ein! Klumpenfrei wäre zur Abwechslung mal ganz nett. Kriegst du das hin, oder überfordert es dich?«

Ich schlucke an der Wahrheit ihrer derben Worte und lasse meinen Blick sinken. Doch trotz ihres harschen Tonfalls macht meine Schwester keinerlei Anstalten, den Raum zu verlassen.

»Monster, bitte!« Ich nenne sie ganz bewusst bei dem Spitznamen, den ich ihr bereits als Kind verpasst habe. Als ich wieder zu ihr aufschaue, sind Cassies Lippen zwar zu einer dünnen Linie zusammengepresst, aber die Wut in ihren Augen ist erloschen. Ihre Gesichtszüge entspannen sich langsam, bis sie resigniert schnaubt, dabei gegen ihre hellbraunen Ponyfransen pustet und mir Leni zögerlich entgegenstreckt. »Hier! Ist ja deine Tochter. Ich wünschte bloß, du würdest das endlich mal schnallen. Vermassele es nicht, hörst du? Schön von oben nach unten wischen, bloß nicht umgekehrt!«

Ein mattes Schmunzeln zupft an meinen Lippen. »Ich weiß.«

»Das bezweifle ich stark«, brummt Cassie mit tadelndem Blick. »Na los, hau schon ab!«

 

Ich wechsele die Windeln meiner Tochter erstaunlich routiniert. Habe ich das wirklich schon so oft gemacht? Hm, siebenundzwanzig volle Tage, multipliziert mit sechs bis acht Windeln pro Tag … Yep, habe ich!

»Hallo Leni!«, sage ich ganz leise, damit Cassie mich in der Küche auf keinen Fall hören kann. Doch selbst im Flüsterton kriege ich die Worte kaum heraus. Es fühlt sich seltsam an, endlich mit Leni zu sprechen, ihren Namen zu sagen.

Auch die Kleine wirkt erstaunt. Aus den Augenwinkeln heraus erkenne ich, dass ihr winziger Mund ein tonloses O formt, sie hält in ihren Strampelbewegungen inne und verharrt ganz still. Zögerlich hebe ich den Blick von meinen geschäftigen Händen. Lasse ihn über ihr entblößtes Bäuchlein mit dem flachen runden Nabel gleiten, über die speckigen Ärmchen und die knubbeligen Finger mit den unfassbar winzigen, perfekt geformten Fingernägeln. Behutsam greife ich danach, umfasse ihre Händchen, halte sie … und staune nicht schlecht, als ich Lenis festen Griff spüre, gefolgt von der vollkommenen Anspannung ihres kleinen Körpers, unter der sie sich krümmt und offenbar an meinen Daumen hochziehen will.

»Hey, was wird das denn? Bist du dafür nicht noch ein bisschen zu klein?«, frage ich, was sie mit einem angestrengten Schnauben erwidert. Jetzt erst schaue ich ganz auf, in ihr hochrotes Gesicht.

Leni anzusehen ist wie ein Déjà-vu, obwohl es nicht Cassie ist, der sie so stark ähnelt. Aber dieses Stupsnäschen, die mandelförmigen Augen und die kurzen rotblonden Locken, die sich über ihrer makellosen Stirn kräuseln – das alles kommt mir dennoch eindeutig vertraut vor. Auf jeden Fall ist Leni ein süßes Baby.

Mein süßes Baby.

Ich schlucke hart, und dabei löst sich ein Teil des Kloßes, der sich schon vor Wochen in meinem Hals gebildet hat. Genauer gesagt, an dem Nachmittag, als ich völlig ahnungslos die Wohnungstür öffnete und Tara mir mit der Babyschale gegenüberstand. Als sie mir den Vaterschaftstest unter die Nase hielt, wirkte sie sehr entschlossen und gar nicht mehr wie das junge, dauerschwärmende Groupie, als das ich sie schon etliche Jahre zuvor kennengelernt hatte. Nach dem ersten Schock dachte ich, sie wolle nur finanzielle Unterstützung für Leni einfordern. Doch dann wurde schnell klar, dass Tara Geld allein niemals hätte helfen können.

 

Leni gibt ihre Bemühungen, sich an meinen Fingern hochzuziehen, auf, sackt auf die Wickelunterlage zurück und stößt dabei einen kleinen Laut aus, mit dem sie mich aus meinen Gedanken holt. Ihr Gesichtchen ist immer noch ganz rot von der Anstrengung.

Zaghaft streichele ich über ihren Bauch, ihre Seiten. Verrückt, dass ich ein Drittel ihres Körpers mit nur einer Hand abdecken kann. Sie ist so winzig, so … hilflos.

»Meine Tochter«, wispere ich und lasse mir die Zeit, meinen eigenen Worten zu lauschen. Ihre Wirkung entfaltet sich nur sehr zögerlich in mir, wie ein Schmetterling, der aus seinem Kokon schlüpft und zum ersten Mal die Flügel zu voller Spannweite ausbreitet.

Dennoch ist mein Flüstern keines der leeren Art. Es trägt eine spürbare Bedeutung in sich, der ich mich nicht länger verschließen möchte. »Meine Tochter«, sage ich noch einmal, als würde es erst dadurch wahr werden, dass ich es ausspreche. Leni schaut mich mit großen Augen an. Es wirkt fast so, als begreife sie, dass dieser Moment nicht gewöhnlich ist, sondern mir wohl für alle Zeiten in Erinnerung bleiben wird.

Ihre kleine Nase kräuselt sich leicht, und nur einen Moment später hebt sich der rechte Mundwinkel. Leni lächelt.

Plötzlich spüre ich die Tränen, die in meinen Augen stechen und schon mit dem nächsten Blinzeln auf ihr nacktes Bäuchlein tropfen.

»Es tut mir so leid«, stoße ich leise aus und hebe sie, halb nackt, wie sie ist, in meine Arme. Schluchzend presse ich sie gegen meine Brust. »Ich schwöre, ich werde ab jetzt für dich da sein, Leni. Es tut mir so leid, Kleines, bitte verzeih mir!«

 

Nein, ich habe dieses Kind nie gewollt. Nicht jetzt, nicht … mit dieser Frau, von der ich intuitiv immer wusste, dass sie sich zwar nach Liebe sehnte, aber womöglich nie in der Lage sein würde, damit auch umzugehen. Das ahnte ich schon, bevor ich Taras traurige Geschichte kannte.

Aber nun ist Leni da. Völlig unvermittelt in mein Leben gepurzelt, hat sie den Staub scheinbar vorgetrampelter Wege aufgewirbelt. Und als er sich wieder legte, waren die Pfade neu verästelt. Wohin sie mich – nein, wohin sie uns von hier aus führen werden, weiß nur der Himmel. Aber zum ersten Mal seit Lenis Ankunft bin ich bereit, mich von meinem ehemaligen Leben zu verabschieden. Im Prinzip habe ich es ja schon längst getan. Schließlich sind die Jungs ohne mich auf Tour gegangen, Brad hat meine Stelle in der Band eingenommen, spielt den Bass und singt den Background unserer Songs … und ich wechsele Windeln.

Aber plötzlich schmerzt es nicht mehr, wenn ich mir das so schonungslos deutlich vor Augen führe. Erstaunt verspüre ich stattdessen Neugierde und eine Spur von Zuversicht, wenn ich an den neuen Lebensabschnitt denke, der nun vor mir liegt. Leni nach wie vor an mich gedrückt, habe ich zum ersten Mal das Gefühl, es eventuell doch zu schaffen. Ja, vielleicht kriege ich es sogar ganz gut hin.

Ohnehin war das Songschreiben immer mein größtes Ding. Und das kann ich doch auch weiterhin machen. Trotz Leni. Ich muss nur aufhören, mich selbst damit unter Druck zu setzen. Bei den einschneidenden Veränderungen der letzten Wochen ist es doch klar, dass ich zurzeit keinen freien Kopf zum Komponieren habe. Aber dadurch, dass Sidestream gerade so richtig durchstartet und die meisten der Songs aus meiner Feder stammen, geht es mir finanziell momentan ganz gut. Leni und ich können es also ruhig angehen, uns erst einmal besser kennenlernen und in einen neuen, etwas geregelteren Tagesablauf finden. Dann klappt es sicher auch bald wieder mit der Musik. Schließlich war sie immer meine Passion und niemals nur eine drückende Pflicht.

 

Erst als ich mich gefasst und der Kleinen einen frischen Strampelanzug angezogen habe, kehre ich in die Küche zurück. Der Raum sieht deutlich ordentlicher aus als zuvor, aber Cassie ist nicht da. Sie hat Lenis Flasche vorbereitet und zur schnelleren Abkühlung in ein Gefäß mit kaltem Wasser gestellt. Es ist der Übertopf meiner kläglich verkümmerten Zimmerpflanze.

Während Leni bereits gierig saugt und vor Wonne die Augen verdreht, höre ich meine Schwester im Badezimmer vor sich hin fluchen.

Oh, verdammt! Jetzt erst fallen mir auch die offen stehenden Türen meines Küchenschranks auf. Natürlich, Cassie hatte kein geeignetes Wassergefäß gefunden. Keinen Topf, keine Schüssel – daher auch der Blumentopf zum Kühlen der Babyflasche.

Voller Unbehagen schlurfe ich über den schmalen Flur und schiebe die Tür zu meinem kleinen Badezimmer auf. Sofort bin ich Cassies fassungslosem Blick ausgeliefert.

Mit einem verkrusteten Topf in den Händen steht sie vor mir. Ihr Mund bewegt sich, doch zunächst kommt kein Wort über ihre Lippen, sie sieht aus wie ein gestrandeter Fisch.

Dann sprudelt es jedoch nur so aus ihr hervor: »Weißt du, das ist kein Spülbecken, Alex, sondern ein Waschbecken! Zum Zähneputzen, Gesicht- und Händewaschen … Du erinnerst dich? Dein Abwasch löst sich doch nicht in Wohlgefallen auf, nur weil du ihn hierhin auslagerst! Das … ist echt so was von widerlich!«

Ohne weiter darüber nachzudenken, gehe ich zu ihr und küsse sie auf den Kopf. Sofort gibt sie ihre Wut auf, lässt den Topf ins Waschbecken gleiten und schlingt ihre Arme um meine Mitte. Vorsichtig, um Leni nicht beim Trinken zu stören, schmiegt sie sich an mich. Zusammen blicken wir auf die Kleine hinab, bis Cassie gedankenverloren den Kopf schüttelt. »Sie sieht genauso aus wie du. Ich habe noch nie ein süßeres Baby gesehen. Dabei dachte ich immer, ich würde keine Kinder mögen.«

Ich stoße ein ungläubiges Prusten aus. »Was denn, ausgerechnet du, die früher beim Einkaufen an keiner einzigen Puppe vorbeikam, ohne sie aus dem Regal zu reißen?« Cassie grinst zu mir auf, doch dann wandelt sich ihr Blick. Sie erkennt, dass ich geweint habe. Und obwohl ich ihr gegenüber nie gern Schwäche gezeigt habe, zwinge ich mich jetzt, ihren prüfenden Augen standzuhalten.

»Verdammt, Alex, warum hast du mir denn nicht gesagt, dass du mehr Hilfe brauchst? Ich könnte … für eine Weile bei dir einziehen und dir unter die Arme greifen, bis sich alles eingespielt hat.«

»Das würdest du wirklich tun?«

»Aber sicher. Wenn du möchtest, bleibe ich schon heute Nacht hier. Tu mir nur einen Gefallen und rede endlich mit Mom und Dad. Oder findest du es fair, dass die beiden bis jetzt nicht einmal wissen, dass sie schon längst Großeltern sind?«

»Nein, das ist nicht fair. Es ist feige«, gebe ich kleinlaut zu.

Cassie schließt ihre Arme etwas enger um mich, drückt mich sanft. »Niemand wird dir den Kopf abreißen. Bestimmt werden sie erst einmal geschockt sein, aber überleg doch mal: Mom ist wohl kaum in der Position, dir eine Moralpredigt zu halten. Und Dad wird einfach nur gutheißen, dass du dich für Leni entschieden hast, meinst du nicht?«

Ich überlege noch einen Moment. Zu lange, wie mir das Entgleisen von Cassies Gesichtszügen verdeutlicht. »Das hast du doch, oder? Dich für Leni entschieden?«, fragt sie bang. Diesmal zögere ich nicht, sondern nicke entschlossen. »Natürlich. Sie bleibt bei mir. Bei uns.«

Bevor Cassie vor Rührung und Erleichterung weinen kann, lege ich ihr die Kleine in die Arme. »Hier, nimmst du sie mal kurz? Ich … rufe unsere Eltern an.«

»Zuerst Dad«, rät Cassie mir, als ich das Bad verlasse.

»Ja, zum sanften Einstieg sozusagen«, murmele ich vor mich hin und atme noch einmal tief durch.

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2

Zwei Jahre später

Aaasnolle!«, brüllt Leni begeistert. Und das in einer Lautstärke, bei der selbst die stinkenden Bisons, an deren Gehege wir gerade vorbeischlendern, aus ihrer Lethargie schrecken.

Wie auf Kommando stieben die Riesenviecher auseinander und wirbeln dabei eine gewaltige Staubwolke auf. Das wiederum erschreckt Marcus und mich bis auf die Knochen. Ich mache einen Satz zur Seite und reiße dabei fast den leeren Buggy um, während sich Marcus, der gerade zum Trinken angesetzt hatte, den Rest seiner Coke über den Pulli kippt. Nur Leni bekommt von unseren peinlichen Reaktionen nichts mit. Freudestrahlend hüpft sie auf das mit Panzerglas gesicherte Gehege zu.

»Aasnolle?«, keucht Marcus, sich langsam von seinem Schrecken erholend. Mit einer Grimasse zieht er sich den klebrig-nassen Pulli von der Brust, peilt den nächsten Mülleimer an und versenkt die nun leere Cola-Dose mit einem gezielten Wurf.

»So sagt sie zum Nashorn«, erkläre ich grinsend.

Mein bester Kumpel gluckst amüsiert und schüttelt den Kopf. Er sieht ungewohnt aus, mit der Baseballkappe über dem dunklen Haar und der großen Sonnenbrille, die sein halbes Gesicht verdeckt. Aber seine Tarnung ist notwendig. Nur so haben wir eine Chance, einigermaßen unbehelligt zu bleiben.

»Deine Kleine ist echt cool«, befindet Marcus, den liebevollen Blick erneut auf Leni geheftet, die mit beiden Fäusten gegen die Panzerglasscheibe trommelt, um das gelangweilt vor sich hin kauende Nashorn aus seiner Ecke hervorzulocken.

»Wie kann sie noch so fit sein? Wir sind seit gefühlten fünf Stunden in diesem gottverdammten Zoo, und das ist anstrengender als zwei Gigs hintereinander«, wundert sich Marcus und reibt sich das offenbar schmerzende Kreuz. Er deutet auf Lenis Buggy. »Und wofür haben wir dieses Teil hier überhaupt mitgeschleppt? Sie saß nicht ein einziges Mal da drin!«

»Na, als Rollator für dich, Onkel Marcus.«

»Penner!« Er tarnt seinen Fluch durch ein vorgetäuschtes Husten. Ich lache. Es tut gut, endlich mal wieder einen Tag mit meinem besten Kumpel zu verbringen.

»Leni wird sich jedenfalls nicht so bald da reinsetzen lassen, dafür ist sie viel zu überdreht. Solltest du also darauf spekuliert haben, dass sie hier irgendwann einschläft, kannst du die Idee getrost verwerfen und stattdessen einfach mit der Sprache herausrücken. Was hat es mit dieser ›superwichtigen Neuigkeit‹ auf sich, die du am Telefon angedeutet hast?«

Marcus räuspert sich. »Na schön. Also, es geht um unser letztes Album. Ich finde … Also, es … Die Songs … Wir … Pfff …«

»Wie bitte?« Verwundert sehe ich ihn an. Es ist absolut untypisch für Marcus, so vor sich hin zu stammeln. Er weiß grundsätzlich immer, was er will, und scheut sich für gewöhnlich auch nicht, das in aller Deutlichkeit zu äußern.

 

Marcus und ich kennen uns seit einem gemeinsamen Spielplatzbesuch im Sommer 1994, wo uns der Zufall zusammenführte. Oder das Schicksal, wie auch immer. Damals war ich knapp sieben Jahre alt und mit meinen Eltern wegen Dads neuem Job von New Jersey nach Danbury in Connecticut gezogen. Bei besagtem Spielplatzbesuch hatte Marcus mir in einem erbitterten Kampf um eine Schaufel, die keinem von uns beiden gehörte, den ersten oberen Milchzahn ausgeschlagen. Und zwar dummerweise nicht den, der ohnehin schon wackelte.

Doch nachdem uns die eigentliche Besitzerin der Schaufel – ein weinerliches kleines Mädchen – verpetzt hatte, taten wir uns eilig zusammen und stellten uns ihrem keineswegs weinerlichen und sehr großen Bruder gemeinsam.

Wir stützten uns dann auch gegenseitig, als wir wenig später mit blutenden Nasen und aufgeschürften Knien den Heimweg antraten. Tja, und das war der recht unsanfte Beginn unserer bis heute währenden Freundschaft.

 

Dementsprechend weiß ich genau, dass Marcus nicht unbedingt das Taktgefühl für sich gepachtet hat. Aber ebenso gut weiß ich auch, dass er vor schwierigen Situationen nicht zurückschreckt. Normalerweise.

Umso seltsamer ist es, ihn nun so zu erleben, wie er vor lauter Unbehagen seinen Nacken massiert und mir kaum in die Augen schauen kann.

»Ich weiß, du sagst Nein«, brummt er schließlich nur.

»Aber lässt du mich wenigstens wissen, wozu?«

»Das letzte Album ist eine Katastrophe«, platzt es endlich aus ihm heraus, und die Hand fällt schlaff von seinem Hinterkopf.

»Blödsinn, es läuft doch super! Auf welchem Platz seid ihr gerade mit der neuen Single? Vierzehn, fünfzehn?«

»Zwölf.«

»Tss, zwölf! Und warum zum Teufel beschwerst du dich dann?«

Er kneift die Augen zusammen und funkelt mich so energisch an, dass ich die Wut spüre, die in ihm brodelt. »Dieser Mist, den wir da produzieren, hat doch nichts mehr mit der Musik zu tun, die wir immer machen wollten, Alex! Ernsthaft, hast du dir den Scheiß mal angehört? Da … da steckt so gut wie nichts mehr von uns drin, nichts mehr von dem, was wir mal waren, geschweige denn werden wollten. Und mit diesem Dreck sollen wir jetzt in fünfzehn Ländern auf Tour gehen?«

»Na ja, dafür habt ihr aber einen Wahnsinnserfolg«, halte ich schwach und, ja, zugegebenermaßen auch ein wenig neidisch dagegen. Im Grunde meines Herzens verstehe ich hingegen gut, was Marcus meint und was ihm so gegen den Strich geht. Denn, ganz ehrlich: Gleichgültig, auf welcher Position der Charts die neue Single derzeit platziert ist, weder das Arrangement noch der Song selbst klingen nach der Band, die ich einst mitgegründet habe und in deren Werke bis vor wenigen Jahren mein gesamtes Herzblut geflossen ist.

»Wahnsinnserfolg?«, wiederholt Marcus fassungslos. »Na super, echt! Ich hätte nicht gedacht, dass ich es ausgerechnet dir noch näher erklären muss.« Nur mit Mühe und ganz sicher Leni zuliebe unterdrückt er eine heftigere Lautstärke. »Du weißt doch wohl am besten, dass Geld und … dieser verfluchte Ruhm nicht alles im Leben sind«, schnaubt er.

»Ach, du meinst, weil ich inzwischen nicht mehr allein von den Song-Erlösen leben kann und auch als Musiklehrer nur selten mehr in der Tasche habe, als Leni und ich gerade zum Leben brauchen?«, schnauze ich ebenso unterdrückt. Marcus schrickt zurück, realisierend, dass er bei mir einen wunden Punkt getroffen hat.

»Ich meinte nichts dergleichen, und das weißt du genau«, sagt er mit gerunzelter Stirn.

»Gut«, erwidere ich nickend, »denn hätte ich eine Wahl gehabt, hätte ich es mir auch anders ausgesucht. Dann würde ich bis jetzt mit euch zusammen Songs schreiben und auf Tour gehen, genauso wie damals.«

Seine silbergrauen Augen weiten sich schlagartig. »Dann komm zurück!«

»Was?«

»Komm zurück, Alex. Genau darüber wollte ich mit dir sprechen. Die Band ist nicht mehr dieselbe, seitdem du weg bist. Du warst … O Gott, ich kann echt nicht fassen, dass ich im Begriff bin, so einen Scheiß von mir zu geben, aber … du warst echt die Seele der ganzen Sache, Alter. Ich bin das Hirn. War ich schon damals, in der Schule. Habe immer alles organisiert, verhandelt und so. Tobey ist die Stimme, nicht nur als Sänger, sondern auch bei den Interviews. Halt immer, wenn es um die Öffentlichkeit geht, die alte Diva. Und Yoyo ist … na ja, halt der Schlagzeuger. Seitdem Brad damals für dich den Bass übernommen hat, machen Tobey und er ihr Ding und verhalten sich ansonsten recht still, du kennst sie ja. Vermutlich ist das auch am besten so.«

Mit diesem Statement über die beiden Chaoten der Band entlockt er mir ein kleines Schmunzeln. Auch wenn mich die Erinnerung an die Zeit mit den Jungs wie immer schmerzt, tut es doch bis heute gut zu wissen, dass Brad damals nur für mich eingesprungen ist.

Andererseits, ein »Einwechselspieler« war Ringo Starr bei den Beatles auch. Und heute weiß so gut wie keiner mehr, wer zum Henker Pete Best war.

Marcus sieht mich eindringlich an. Allein dass er mit mir über diese Problematik spricht, stärkt mein Selbstwertgefühl, auch wenn er jetzt die Augen verdreht.

»Komm schon, zwing mich nicht, das allzu oft zu wiederholen, aber deine Texte haben unsere Stücke damals echt zu etwas Besonderem gemacht, Alex. Wir alle vermissen diese Zeilen, die du immer Gott weiß wie aus dem Ärmel geschüttelt hast. Wir brauchen dich, Mann! Ich habe nämlich das Gefühl, dass wir sonst schleichend selbst zu diesem Einheitsgeplänkel wechseln, das uns früher immer so angekotzt hat.« Er sieht mich eindringlich an. »Und wenn du wegen Leni noch nicht mit auf Tournee kommen kannst, dann ist das okay, aber … schreib doch zumindest wieder für uns und komm mit ins Studio, wenn wir das neue Album aufnehmen. Werde einfach wieder ein aktiver Teil von Sidestream, Alex. Bitte!«

Ich muss hart schlucken, als er mich so … ja, anfleht.

Denn sosehr sich mein Ego dadurch auch geschmeichelt fühlt, wie um alles in der Welt soll ich Marcus nur erklären, was ich bisher noch niemandem anvertraut habe?

Weil ich nicht wage, es auszusprechen – denn spätestens dann wäre es eine unleugbare Tatsache und als solche noch viel schwieriger hinzunehmen –, senke ich nur meinen Blick.

Marcus seufzt. Vermutlich spürt er, dass er so schnell keine Zusage von mir erhalten wird. Auch wenn er den Grund dafür noch nicht kennt, ahnt er bestimmt, dass es ein triftiger sein muss. Und mit Sicherheit weiß er auch, dass mir sein Angebot dennoch nicht so schnell wieder aus dem Kopf gehen wird, weil es einfach viel zu verlockend klingt.

Für den Moment resigniert, kniet er sich hinter Leni und schlingt seinen Arm um sie.

Meine Tochter steht derweil noch immer mit ungebrochenem Enthusiasmus vor dem verglasten Gehege und schreit den gepanzerten Koloss dahinter aus Leibeskräften an: »Aaaaaasnolleeeeeeeee!«

»Ach, Leni«, schnaubt Marcus belustigt. »Sag doch mal Horn, Süße.«

»Honn.«

»Hey, super! Und kannst du denn auch schon Nase sagen?«

Meine Tochter sieht Marcus an, als könne sie nicht fassen, wie wenig er ihr zutraut. »Nase«, erwiderte sie dann, klar und deutlich. Dabei versucht sie, sich auf die eigene kleine Stupsnase zu tippen, verfehlt die Spitze jedoch zunächst und pikst sich fast ins Auge, was Marcus mit einem weiteren Grinsen quittiert. »Klasse, Leni! Und jetzt sag es mal zusammen, ganz langsam: Naaas-Hooorn.« Mit erhobenem Zeigefinger begleitet er seine Worte, als würde er sich selbst dirigieren.

Leni guckt genervt. Ja, sie stemmt sogar ihre Knubbelhändchen in die Hüften, bevor sie tief Luft holt.

»Aaas-Nolle!«, sagt sie dann voller Inbrunst.

»Alles klar, du hast gewonnen«, brummt Marcus und hebt die Hände. Leni nickt so entschieden, als habe er zur Abwechslung einmal etwas Vernünftiges von sich gegeben.

»Und nomma Kockodi!«, beschließt sie dann, vollkommen übergangslos, und wendet sich zielsicher in die Richtung, aus der wir gekommen sind.

»Was denn? Kockodi? Zu den Alligatoren will sie?«, ruft Marcus. Mit Panik in Stimme und Blick schaut er mich an. Als ich nur mit den Schultern zucke, springt er auf und hechtet meiner Zwergin hinterher. »Nein … nein, Leni! Falsche Richtung, Süße, da kommen wir doch gerade erst her. Der Ausgang ist dahinten, schau! Komm zurück zum Aasnolle, ja? Ach, komm schon, Leni!«

Lachend sehe ich den beiden nach und danke meiner Tochter stumm dafür, Marcus an entscheidender Stelle so überaus effektiv abgelenkt zu haben.

Da Leni erwartungsgemäß keinerlei Anstalten macht umzukehren, und Marcus sich – ebenfalls erwartungsgemäß – so leicht von meiner Zweijährigen um den Finger wickeln lässt wie flüssiger Honig um einen Löffel, wende ich gerade den Buggy, um den beiden zu folgen, als mein Handy klingelt.

Cassie, zeigt das Display. Ich freue mich, ihren Namen zu lesen, weil es vermutlich bedeutet, dass sie es etwas früher aus dem Radiosender geschafft hat und nun noch zu uns stoßen will. Im Gegensatz zu früher habe ich nichts mehr dagegen, viel Zeit mit meiner kleinen Schwester zu verbringen. Im Teenageralter wäre es für mich undenkbar gewesen, einmal freiwillig mit Cassie zusammenzuziehen. Aber nun leben wir schon seit knapp zwei Jahren gemeinsam in einer größeren Wohnung und geben dabei ein ziemlich gutes Team ab, wie ich finde.

»Na, Monster, alles klar?«, melde ich mich mit meiner üblichen Begrüßung für sie.

Nichts ist klar. Das ist das Einzige, was sofort deutlich wird. Cassie schluchzt so fürchterlich, dass ich sie kaum verstehen kann.

»Dad … Dad …«, ist alles, was ich aus ihrem Weinen heraushöre. Ich bleibe abrupt stehen und habe das Gefühl, der Boden unter meinen Füßen löst sich auf.

Es stimmt, was die Leute sagen. Wenn man etwas wirklich, wirklich Schlimmes erfährt, spürt man es sofort. Es gibt dann kein Wenn und Aber mehr, keinen Moment des Bangens, geschweige denn des Hoffens. Binnen eines hämmernden Herzschlags wird alles um dich herum rabenschwarz, und die Welt, die du gekannt hast, ist nicht mehr.

»Er … ist tot, Alex. Daddy ist tot«, japst Cassie und bestätigt damit nur noch, was ich ohnehin schon gespürt habe.

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3

Ein Meer schwarz gekleideter Menschen hat sich um das frisch ausgehobene Grab unseres Vaters versammelt.

Cassie weint pausenlos. Bis jetzt war sie dabei sehr leise, doch nun, als der Sarg vorsichtig in den Schacht hinabgelassen wird, schluchzt sie so heftig auf, dass Marcus und ich, links und rechts von ihr stehend, im selben Moment die Arme um ihren Rücken legen. Marcus’ Hand streift die meine, und er zögert nicht, meinen Oberarm mit festem, versicherndem Griff zu umfassen, während Cassie den Kopf an meine Schulter legt.

Ich drücke ihr einen Kuss auf das braune Haar. Vermutlich ist es gut, dass sie ihren Gefühlen freien Lauf lässt. Fast wünschte ich, sie könnte für uns beide weinen, denn ich scheine nicht in der Lage zu sein, auf diese befreiende Art und Weise zu trauern. Nur am ersten Abend hatte ich mich voll und ganz meinem Kummer ergeben, nachdem ich stundenlang wach im Bett gelegen und an die Decke gestarrt hatte. Doch seitdem ist es, als ob ich keine Tränen mehr hätte.

Leni verpasst die komplette Zeremonie. Sie ist schon auf der Fahrt zum Friedhof eingeschlafen, und ehrlich gesagt bin ich dankbar dafür. Seit Dads Tod hat die Kleine noch nicht nach ihrem Grandpa gefragt, was einerseits erleichternd ist, mir aber andererseits auch schmerzhaft vor Augen führt, dass wir meinen alten Herrn viel öfter hätten besuchen sollen, als wir noch die Gelegenheit hatten. Er war verrückt nach Leni und hätte sich bestimmt gefreut, sie öfter zu sehen. Doch jetzt ist es zu spät für diese Erkenntnis.

Mom bleibt hinter uns stehen und schuckelt weiterhin Lenis Buggy, während Cassie und ich als Erste zum offenen Grab vortreten. Ich spüre die mitleidigen Blicke aller Anwesenden in meinem Nacken und neige den Kopf, als könne ich mich darunter hinwegducken und somit entziehen.

Als Cassie ihre mitgebrachte Rose auf den Sargdeckel geworfen hat, schaufele ich ein wenig Erde darüber. Die halb verdeckte Blume und das dunkle Holz darunter ergeben einen Anblick, der an Trostlosigkeit kaum zu überbieten ist.

Dennoch, den Blick abzuwenden und den ersten Schritt zu tun – weg von unserem Dad, hin zu einem neuen Lebensabschnitt ohne ihn –, ich kann mich an kein schrecklicheres Gefühl erinnern.

 

Nachdem auch Mom und nach ihr alle anderen Abschied von Dad genommen haben, geht jeder Trauergast an unserer Mutter, Cassie und mir vorbei, schüttelt unsere Hände, klopft uns auf die Schultern, bekundet Anteilnahme. Die meisten von ihnen nehme ich kaum wahr. Irgendwie befinde ich mich seit dem schrecklichen Anruf meiner Schwester vor fünf Tagen in einer Art alltagstauglicher Trance. Ich funktioniere zwar, weiß aber selbst nicht, wie.

»Hast du noch ein Taschentuch?«, fragt Cassie leise, als wir den Andrang bereits bewältigt haben und nur noch neben unserer Mutter stehen, weil sie sich gerade bei dem Priester bedankt. Ein Blick zur Seite zeigt mir, dass von dem Papiertuch meiner Schwester nichts weiter als ein vollkommen aufgeweichter Fetzen übrig geblieben ist, den sie sich mehrmals um den Zeigefinger gewickelt hat. Ich fasse in die Taschen meines Sakkos, greife jedoch ins Leere.

Als ich mich zu Marcus umdrehe, der den Platz meiner Mom hinter Lenis Buggy eingenommen hat, und ihn bitte, mir ein Tuch aus der Wickeltasche zu geben, erhascht eine kleine Bewegung, ungefähr fünfundzwanzig Meter entfernt, meine Aufmerksamkeit.

Hinter einer Birke steht dort ein hochgewachsener Mann, der etwa in meinem Alter sein muss. Er stützt sich auf einen Rollstuhl, in dem eine Frau sitzt, die ich wohl auf über siebzig schätzen würde, wäre mir nicht schon auf den ersten Blick klar, wer sie sein muss.

Jane Maddox. Meine Patentante.

Erst als mir Marcus ein leises »Hey!« zuraunt, weil ich nicht darauf reagiere, dass er mir offenbar schon eine Weile das geforderte Taschentuch hinhält, löse ich meinen starren Blick und wende mich wieder meiner Familie zu.

 

Schließlich verabschiedet sich auch der Priester. Mom tritt noch einmal zum Grab vor und wirft einen letzten langen Blick auf Dads Sarg. Sie schüttelt kaum wahrnehmbar den Kopf, scheint etwas zu wispern und schlägt sich dann die Hand vor den Mund. Ich sehe, wie heftig sie gegen die Tränen ankämpft, bevor sie sich einen Ruck gibt und geht. Bei Lenis Buggy angekommen, umfasst sie die Griffe und steuert dann zielstrebig, ohne sich ein weiteres Mal umzudrehen, auf den Ausgang des Friedhofs zu.

Marcus folgt ihr schweigend. Mit hängendem Kopf und tief in den Hosentaschen versenkten Händen trottet er über den dunklen Kieselweg. Er mochte meinen Dad sehr, aber als einer der wenigen Menschen, die meine Mom stets zu nehmen wissen, hat er auch einen besonderen Draht zu ihr und fühlt, dass sie seinen Beistand nun gut gebrauchen kann.

Cassie und ich bleiben allein am Grab zurück. Wir sehen uns an und treten dann, wie auf ein stummes Zeichen hin, noch einmal so weit nach vorn, dass wir den Sarg sehen können, dessen dunkler Deckel nun vollständig mit Erde und Blumen bedeckt ist.

»Es ist so seltsam, sich vorzustellen, dass Dad wirklich dort unten liegt«, sagt Cassie mit vom Weinen ganz heiserer Stimme.

Ja, und dass wir ihn jetzt einfach so hier zurücklassen müssen, ergänze ich in Gedanken.

Aber vor allem, dass wir ihn nie wiedersehen werden.

 

Ich weiß nicht, wie es Cassie geht, aber ich sehe unseren Vater in diesen Sekunden zumindest noch einmal in meinen Erinnerungen vor mir. So, wie er früher, nur wenig älter als ich heute, oft neben mir in die Hocke gegangen ist und auf seine Oberschenkel geklopft hat.

Das war immer mein Zeichen, mich auf seine Knie zu setzen. Dann legte er einen Arm um meine Mitte und zog mich ganz dicht an sich heran, um mich für gewöhnlich auf etwas aufmerksam zu machen, das ich ohne ihn niemals bemerkt oder entdeckt hätte. So, wie die Wanderdrossel zum Beispiel.

Unvermittelt tragen mich meine Gedanken zu einem Nachmittag zurück, an dem Mom, Dad und ich einen Familienausflug zum Still River unternommen hatten.

Noch recht klein, stürmte ich mit lautem Kriegsgeheul auf das Ufer des Flusses zu, bis ich ein Zungenschnalzen meines Vaters hörte und mich zu ihm umdrehte.

Dabei ließ ich mein Schwert sinken, das eigentlich nur ein Stock war. Im Spiel hatte ich damit auf die Armee von Büschen einschlagen, die den schmalen Trampelpfad begrenzten.

Mit einer kleinen Krümmung seines Zeigefingers und mit dem milden Lächeln, das so typisch für ihn war, winkte Dad mich zurück, kam dabei weiter auf mich zu, und als wir einander erreicht hatten, ging er vor mir in die Hocke und klopfte auf seinen Oberschenkel.

»Hör mal genau hin!«, forderte er leise. Ich lauschte und nahm schon bald das aufgeregte Gezeter eines Vogels ganz in unserer Nähe wahr. »Eine Wanderdrossel nistet in dem großen Strauch, auf den du gerade eindreschen wolltest. Aber du möchtest sie doch nicht beim Brüten stören, oder?«

»Nein, Daddy.« Eine Weile hielt ich ganz still und versuchte das Nest im Wirrwarr der dünnen Zweige auszumachen. Doch die dichten Blätter des Strauches bildeten einen perfekten Sichtschutz um den Vogel, der sich nur langsam wieder beruhigte.

»Ich sehe ihn aber gar nicht«, wandte ich ein. Das glucksende Lachen meines Vaters habe ich bis heute noch im Ohr.

»Nur, weil du etwas nicht siehst, heißt es nicht, dass es nicht trotzdem da ist, Alex«, sagte er und wuschelte über meinen Kopf, bevor er mich an die linke und meine Mom an die rechte Hand nahm und einen neuen Weg zum Flussufer mit uns einschlug, um die Wanderdrossel nicht weiter aufzuregen. Ich glaube, keiner meiner Eltern bemerkte den Vogel mit der orangefarbenen Brust, der aus dem Strauch flog, kaum dass wir uns ein paar Meter entfernt hatten und ich mich noch einmal zu ihm umdrehte.

 

Ich schlucke hart, als ich nun an die Worte meines Dads zurückdenke. Ihn werde ich tatsächlich nie wiedersehen. Und das heißt verdammt noch mal sehr wohl, dass er nicht mehr da ist. Ich beiße die Zähne fest zusammen und senke den Blick.

»Komm, Cassie, lass uns gehen.«

Schweigend hakt sie sich bei mir unter. Als wir uns vom Grab abwenden, bemerke ich erneut eine Regung am Rande meines Sichtfeldes. Cassie scheint es ähnlich zu gehen, denn auch sie hebt den Kopf und schaut in die Richtung.

»Wer ist das?«, fragt sie, als sie die Frau entdeckt, die schlaff in ihrem Rollstuhl sitzt und regungslos zu uns herüberschaut. Der elegant gekleidete Mann lächelt derweil unsicher und beugt sich dann zu ihr hinab, um mit ihr zu sprechen.

»Ich glaube … das ist Tante Jane«, antworte ich.

Cassies Augen sind dermaßen verschwollen vom vielen Weinen, dass sie es nicht einmal schafft, sie aufzureißen. »Was denn, die Tante Jane?« Ich zucke mit den Schultern. »Wer sollte es denn sonst sein?«

Cassie schürzt die Lippen und grübelt. »Stimmt«, sagt sie schließlich. »Dann lass uns zu ihr gehen. Wenn sie schon hier ist, sollte sie auch mit uns ins Restaurant kommen. Vielleicht können wir sie dann endlich ein wenig kennenlernen.«

»Ich weiß nicht«, sage ich unsicher, doch Cassie zieht mich bereits in Richtung der Frau, von der wir beide ahnen, dass sie im Leben unserer Eltern einst eine wichtige Rolle gespielt haben muss.

»O Gott, sie sieht aus wie Stephen Hawking«, wispert mir meine Schwester nach ein paar Schritten mitleidig zu.

»Sie hat ja auch dieselbe Krankheit wie er«, flüstere ich zurück und versuche vergeblich, mich an den Namen ebendieser Krankheit zu erinnern. Wie so oft die Entschlossenere von uns beiden, grüßt Cassie die Frau und ihren Begleiter schon im nächsten Moment über die letzten Meter Entfernung hinweg.

»Guten Tag«, erwidert der Mann recht förmlich, lächelt dabei aber freundlich und offen. Cassie nickt ihm kurz zu, bevor sie wieder die Frau im Rollstuhl ansieht, die wir für meine Patentante halten. »Sind Sie Ms Jane Maddox?«

Der Kopf der Frau bewegt sich nur minimal, während ihre auffallend grünen Augen einige Male von Cassie zu mir und wieder zurück blicken. »Ja«, haucht sie dann, und selbst ihre Stimme klingt so schwach, als würde sie zu einer sehr alten Frau gehören. Dabei muss Jane Anfang fünfzig sein, im Alter unserer Mom.

»Oh«, sagen Cassie und ich wie aus einem Mund. Jane schweigt. Nur ihr rechter Mundwinkel zuckt kurz und kaum merklich.

Der Mann im schwarzen Anzug schüttelt uns beiden die Hand und stellt sich als Ned Stevenson vor. Mir entgeht nicht, wie lange er Cassie anschaut, während er uns sein Beileid ausspricht.

»Was für eine Überraschung!«, presse ich hervor, sobald die über uns hereingebrochene Stille unangenehm wird. »Ich … habe dich nie zuvor gesehen, Tante Jane.«

Während ich mich noch wundere, dass ich sie trotzdem ganz selbstverständlich so anrede, wie Dad sie uns gegenüber immer genannt hat, verzieht sich ihr ohnehin leicht schiefer Mund noch ein wenig stärker.

Ich glaube, sie versucht zu lächeln, aber sicher bin ich mir nicht. »Doch«, haucht sie dann, wobei man deutlich merkt, dass ihre Zunge kaum mehr kooperiert. »Du kannst dich bloß nicht daran erinnern«, fügt sie sehr langsam und so undeutlich hinzu, dass es mir erst im Nachhinein gelingt, ihren Satz zu entschlüsseln.

»Das mag sein«, lenke ich ein und zucke im nächsten Augenblick zusammen, als Jane durch einen Knopfdruck an der rechten Armlehne ihren elektrischen Rollstuhl in Bewegung setzt und etwas dichter an uns heranrollt. So aus nächster Nähe erkenne ich die ergrauten Strähnen, die Janes dunkles Haar durchziehen, und sogar einige der verblassten Sommersprossen auf ihrer Stirn und Nase.

»Ich … würde eure Mom … gern sehen«, ringt sie sich mühevoll ab. Und obwohl Jane kaum über Mimik verfügt, gewinnt ihr Blick mit einem Mal deutlich an Intensität.

Ich glaube, Cassie und ich bekommen in diesen Sekunden eine erste vage Vorstellung davon, wie entschlossen und zielstrebig Jane früher einmal gewesen sein muss, bevor diese schreckliche Nervenkrankheit Besitz von ihr ergriff.

Auf jeden Fall nicken wir synchron. »Ja, klar!«, sage ich und drehe mich in die Richtung um, in die unsere Mom mit Leni verschwunden ist.

»Sie ist bestimmt schon beim Lokal, um die anderen Gäste zu empfangen. Es sind nur etwa hundert Meter bis dahin«, erläutert Cassie derweil.

Ned wirft einen Blick auf eine schwarze, am Straßenrand geparkte Limousine. Er scheint zu überlegen, ob er Jane lieber chauffieren oder bis zum Restaurant schieben soll. Wieder reagiert Cassie vor mir. »Alex kann ja mit dir gehen, Tante Jane. Dann fahre ich mit deinem … ähm … mit Mr Stevenson.«

»O bitte, nenn mich Ned«, fordert Janes Begleiter sie auf, »wir dürften etwa im selben Alter sein.«

Cassie nickt und wirkt mit einem Mal seltsam kleinlaut. »Von hier aus musst du einen kurzen Umweg fahren, weil sich das Lokal in einer Einbahnstraße befindet. Ich kann es dir zeigen«, schlägt sie zögerlich vor.