Das Leben in meinem Sinn - Susanna Ernst - E-Book
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Das Leben in meinem Sinn E-Book

Susanna Ernst

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Beschreibung

Scheinbar zufällig kreuzen sich die Lebenswege des schüchternen Schauspielers Ben Todd und seiner weitaus bekannteren Kollegin Sarah Pace beim Dreh zu einer neuen Fantasy-Serie. Während die beiden gemeinsam durch alle Phasen von der Produktion bis zur erfolgreichen Vermarktung ihrer Fernseh-Show gehen, verliebt sich Ben Hals über Kopf in Sarah. Heimlich und hoffnungslos, denn sie ist vermeintlich glücklich mit dem Vater ihrer Tochter verlobt. Da viele Dinge im Leben allerdings nicht so zufällig geschehen, wie sie auf den ersten Blick erscheinen, eröffnen sich Ben und Sarah bald schon ungeahnte Wege. Ganz in ihrem Sinn... oder etwa nicht?

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Seitenzahl: 468

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Susanna Ernst

Das Leben in meinem Sinn

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

WidmungKomm, begleite mich ein [...]BenSarahBenRandyBenMaggieBenSarahBenSarahBenSarahBenAmySarahBenBenSarahBenSarahJonathanBenSarahDankeDer neue zauberhafte Roman der Autorin von »Deine Seele in mir«
[home]

Für Mariella und Giuliano

Liebt das Leben und vertraut auf die Chancen,

die es euch bietet. Jeden Tag.

Ich liebe euch.

[home]

 

 

 

Komm, begleite mich ein Stück…

 

Wie eine Feder, getragen vom sanften Wind, gleite ich hoch über den Köpfen der Menschen dahin. Unsichtbar, unbemerkt, schwerelos.

 

Es stimmt tatsächlich, sie sehen aus wie Ameisen. Genauso winzig, nur sehr viel unkoordinierter. Geschäftig rennen sie in alle Himmelsrichtungen. Die für London so charakteristischen Taxis und Busse kriechen zwischen anderen Fahrzeugen in langen Kolonnen dahin, dicht an dicht gedrängt, hupend. Sie verleihen den Adern dieser Stadt ihren eigenen metallenen Glanz. Der Berufsverkehr schimmert schwarz-rot.

Von oben betrachtet ist die Welt doch am schönsten.

Ich beobachte das hektische Treiben auf den Straßen, aber ich bin so weit davon entfernt, dass es mich nicht berührt, geschweige denn stresst.

Nein, ich lächele nur amüsiert angesichts dieses Bildes. Es sieht wirklich so aus, als habe man eine Schaufel voll Menschen wahllos irgendwo abgeladen, und diese Menge, ein jeder für sich, versucht jetzt kopflos, wieder in eine vertraute Struktur zurückzufinden.

Einige Kinder, ein dunkelblond gelocktes Mädchen und drei rothaarige Jungs, stehen auf einem großen Platz tief unter mir, lassen Luftballons aufsteigen und winken ihnen nach. Während sich die Jungs bald schon wieder abwenden und lautstark nach einem weiteren Eis vom nahegelegenen Stand verlangen, schaut das Mädchen mit dem wirren Lockenkopf noch lange hinter ihrem Ballon her. Als ahne die Kleine, dass seine Reise bedeutungsvoll sein wird, starrt sie ihm aus weit aufgerissenen, hellgrünen Augen nach. Hoffnungsvoll.

Es ist ein süßer Anblick, der mich für einige Zeit fesselt.

Nun, ihren roten Ballon, der sich zwischen all den anderen in die Lüfte emporhebt, und besonders seine wertvolle Fracht – die Postkarte, die an der langen Schnur unter ihm im Wind trudelt – habe ich tatsächlich bereits erwartet. Sie sind Teil meines Plans.

Mein Plan, richtig!

Also nehme ich meinen Weg wieder auf, rufe dem kleinen Mädchen unter mir ein lautloses »Bis bald!« zu und werde sanft weitergetragen. Über altehrwürdige Bauten hinweg, den breiten Fluss, der immer leicht trüb aussieht, die großen Parkanlagen und sich enger und enger verzweigende Straßen, bis zum Rande der Stadt. Dorthin, wo die Häuser flacher und die Dächer steiler werden. Schließlich kann man sogar einige Vorgärten erkennen. Auf einem Sportplatz spielen Halbwüchsige Fußball. Sie schreien und rufen, und ihre Energie und Unbekümmertheit tut so gut, dass ich für einen Moment verweile.

Aber bald geht meine Reise weiter. Immer dem roten, mit Heliumgas gefüllten Luftballon nach, so könnte man meinen. Was natürlich ein Trugschluss wäre, denn ich folge ihm nicht. Nein, ich leite ihn.

Mein Weg führt mich entlang einer breiten Allee bis zu einer gelben Vorstadt-Villa im viktorianischen Stil, über deren Dach mich mein Freund, der Wind, mühelos hinweghebt. Auf mein Kommando hin teilt er sich und lässt einen seiner unzähligen Arme geschickt kreisen. Der Ballon – und mit ihm auch die Karte – wird in den Luftstrudel gesogen und sinkt langsam herab. Die lange Schnur verheddert sich in einem Buchsbaum unmittelbar vor der Villa.

Punktlandung!

Von hier oben kann ich ihn zwar nicht sehen, aber ich weiß, wie traurig der kleine Junge ist, der im Obergeschoss dieses großen gelben Hauses auf seinem Bett liegt und aus tränengefluteten Augen die hohe Zimmerdecke anstarrt. Der Blick des Mädchens ging in den offenen Himmel – grenzenlos –, seiner hingegen scheint gefangen zu sein. Ich kenne die Verzweiflung und Ängste dieses Jungen nur allzu gut. Und ich habe durchaus vor, ihm zu zeigen, dass er nie so einsam war, wie er sich auch in diesem Moment wieder fühlt. Doch noch ist die Zeit nicht reif dafür.

Also lobe ich den Wind für seine Präzision und lasse den im Buchsbaum verfangenen Ballon zufrieden zurück, ohne mich ein weiteres Mal nach ihm umzudrehen. Denn die Weichen sind nun gestellt.

Schnell verlasse ich Raum und Zeit. Im Handumdrehen befinde ich mich in einem neuen Jahrzehnt, in einer viel jüngeren Stadt, auf der anderen Seite der Welt.

Hier liegt die vorläufige Bestimmung meiner Reise, hier lasse ich mich nieder. Lautlos schwebe ich über die breite Terrasse und durch den Spalt des angelehnten Fensters eines taubenblauen Hauses. Das Schlafzimmer bietet mir einen gewohnten Anblick: Der dunkle Parkettboden ist mit diversen Kleidungsstücken bedeckt, auf dem Nachttisch stapeln sich Bücher, und am Fußende des Doppelbettes lehnt eine alte Gitarre. Daneben, auf einer durchgewetzten Decke, liegt ein Hund und schnarcht leise vor sich hin.

Sicher und völlig unbemerkt gelange ich zu meinem Bestimmungsort und geselle mich zu dem schlafenden Mann, der mich vor langer Zeit schon lautlos rief.

Ich kenne ihn bereits sein Leben lang, er jedoch hat mich noch nicht kennengelernt und wird es auch nicht. Meine Anwesenheit wird nur eine leise Ahnung hinterlassen. Doch auch bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

Lediglich ein sanfter, kaum wahrnehmbarer Windhauch verkündet dem Unwissenden mein Erscheinen und lässt ihn in genau diesem Moment einmal tief durchatmen.

Wer ich bin? Nun, das ist momentan noch nicht wichtig. Es geht um ihn. Um meinen Schützling, meinen Menschen. Ob ich ein Engel bin? Eine schöne Vorstellung, aber…nein!

Doch ich möchte dir etwas vorschlagen: Begleite ihn gemeinsam mit mir, dann wirst du auch mich kennenlernen.

Einverstanden? Na, dann los!

 

ER und das, was du von ihm wissen solltest: Er ist groß, sehr athletisch gebaut und fällt mit seinem wirren dunkelblonden Haar und den tiefblauen Augen definitiv in die Sparte »attraktiv«.

Er ist neunundzwanzig Jahre und zwei Monate alt, im Sternzeichen der Fische geboren und damit ziemlich schüchtern und nicht unbedingt der Entschlossenste.

Er ist der Sohn eines amerikanischen Diplomaten und einer deutschen Konzertpianistin. Seine ältere Schwester hätte er in frühen Kindheitstagen ohne zu blinzeln gegen einen eigenen Hund eingetauscht. Heute ist er froh, es damals nicht getan zu haben.

Er liebt chinesisches Essen, den leichten Wind an lauen Sommerabenden, gute Bücher, die frische Luft am Morgen, den Klang seiner alten Gitarre, das knarrende Geräusch von Schnee unter seinen Sohlen und seinen Hund Jack. Und – was er jedoch nur selten erzählt, weil er denkt, es ließe ihn spießig wirken – er wandert gerne in den Bergen, bleibt dann stundenlang auf dem Gipfel und beobachtet die untergehende Sonne.

Klamotten sind ihm völlig gleichgültig – nur bequem muss es sein.

Und, was wohl am wichtigsten ist: Er hat ein gutes Herz… allerdings mit einem tiefen Riss.

Ich gebe nun das Wort an Schützling Nr. 583.745.233.069

alias Ben Anthony Todd…

[home]

Ben

Der leise, unverwechselbare Klang meiner Gitarre hallt durch den Raum. Behutsam zupft sie die Saiten.

Es dauert eine Weile, bis ich mich an die stechende Helligkeit gewöhnt habe, doch ich begnüge mich mit einem Blinzeln und balle meine Hände zu Fäusten, um mir nicht versehentlich über die Augen zu reiben.

Nicht bewegen!, befehle ich mir und lasse mich reglos von der tiefstehenden Novembersonne blenden.

Nein, die dünnen Vorhänge bieten dem Licht keine ernst zu nehmende Barriere. Beinahe ungebrochen flutet es meinen Schlafraum und lässt die in der Luft tanzenden Staubpartikel schimmern. Ein netter Nebeneffekt meiner grenzenlosen Unordentlichkeit.

Als sich in dem funkelnden Weiß endlich Konturen abzeichnen und zunehmend an Schärfe gewinnen, eröffnet sich mir das schönste Bild von allen: Sie sitzt auf der äußersten Kante meines Bettes, direkt zu meinen Füßen. Die langen Haare sind gewellt und über ihre Schulter nach vorn gelegt, das Laken locker um ihre schmale Taille geschlagen, sie ist ganz konzentriert. So sitzt sie da.

Nackt – und wunderschön.

Mit den Fingern ihrer linken Hand umfasst sie den Hals des Instruments. Zwischen ihren Augen bildet sich eine kleine, steile Falte, wann immer sie die Positionen ihrer Griffe überprüft und korrigiert. Sie knabbert auf ihrer Unterlippe herum, während sie die Akkorde anschlägt. Wieder und wieder, bis sich die Haltung ihrer Finger entspannt und fließende, harmonische Töne den Raum erfüllen.

Ein Lächeln bildet sich auf meinem Gesicht.

Das ist eine der Eigenschaften, die ich so sehr an ihr liebe – ihren Unwillen, auf halber Strecke aufzugeben. Irgendetwas aufzugeben, bis es nicht absolut richtig und gut ist.

Ewig könnte ich so daliegen, gebannt von ihrem Anblick und zu ängstlich, mich zu strecken oder auch nur zu gähnen – will ich sie doch auf keinen Fall darauf aufmerksam machen, dass ich bereits wach bin.

Nein, sie soll in ihrer Versunkenheit bleiben, solange ich ihr nur zusehen darf.

Mein Blick fällt von ihrem Profil auf die unansehnliche, alte Gitarre. Dieses glückliche Stück Holz, gegen dessen Rückseite sich ihre Brüste drücken. Könnte diese Gitarre sprechen, Gott weiß, sie wüsste mehr über mich zu berichten, als sonst jemand auf dieser Welt. Seit meiner Teenagerzeit hat sie mich durch alle Höhen und Tiefen begleitet. Und ja, einige dieser Tiefen waren verdammt tief.

Wie oft habe ich das verblichene Instrument, an dessen Oberfläche sogar schon die Lackschicht absplittert, in meinen Händen gehalten? Genauso, wie es jetzt in ihren liegt.

Doch meine Finger waren schwerer als ihre, so viel schwerer. Und ungeschickter, trotz der jahrelangen Übung, trotz der Routine, die ich hätte haben müssen.

Gemeinsam saßen wir damals auf der Veranda vor dem Haus meiner Schwester, während ich mit steifen Fingern versuchte, bedeutungsvolle kleine Botschaften – in zittrige Töne eingebettet – von meinem in ihr Herz zu schleusen. Vergeblich. Immer wieder vergeblich, wie es schien. Sie lauschte, lächelte wissend, stand auf…und ging.

Weg von mir. Zurück zu ihm.

Als sich mein Aufenthalt dem Ende neigte und der Abschied nahte, redete ich mir ein, es würde nicht halb so schlimm um mich stehen, wie ich damals annahm.

Ich hoffte, mich zu irren, und sagte mir immer wieder, es würde ein Leichtes werden, mich emotional und gedanklich von dieser jungen Frau zu lösen, wenn ich sie nur nicht mehr jeden Tag sehen müsste.

Aus den Augen, aus dem Sinn, so hieß es doch…

Es dauerte nicht lange, da fand ich mich in der Wohnung meines besten Freundes wieder, klimperte traurige Akkorde auf meiner geduldigen Gitarre und trank ein Bier nach dem anderen, in der Hoffnung, die Lösung meiner Probleme im Verlust meiner Selbstkontrolle zu finden.

Ich stürzte mich beinahe wahllos in Rollen, die ich unter anderen Umständen nie angenommen hätte, nur um nicht Ich selbst sein zu müssen. Der Idiot, der sich wider besseren Wissens in ein bereits vergebenes Mädchen verliebt hatte.

Entgegen meiner Erwartungen hatte Randy mich nicht verspottet. Nicht ein einziges Mal. Ich frage mich bis heute, ob es wirklich möglich ist, dass ein Mensch einen anderen so gut kennt.

Was für ein Vollidiot du doch warst, Ben!, flüstere ich meinem vergangenen, wehmütigen Ich nun in Gedanken zu. Dich stumm und reglos nach ihr zu sehnen, während sie zwei Tagesreisen entfernt mit jemand anderem zusammen war.

Und dann gab es wieder diese Höhen: Allen voran der Moment, als ich die Tür öffnete – mein Textbuch in der Hand, bereit für die Probe – und sie plötzlich vor mir stand. Wie aus dem Nichts, ohne jede Ankündigung. Die vom Aprilwind zerzausten Haare, der seltsam unsichere Blick – jedes Detail ihres Anblicks ist bis heute abgespeichert und jederzeit abrufbar.

Die Magie einer Erinnerung.

Sie begleitete mich ins Theater, zu meiner Probe. Ständig vergaß ich den Text. Zu aufgeregt, um Konzentration auch nur heucheln zu können, bot ich ihr die miserabelste Darstellung aller Zeiten. Erst als das Saallicht anging und sie tatsächlich noch immer auf ihrem Platz in der fünften Reihe saß – ein nachsichtiges Lächeln im Gesicht –, beruhigte sich mein rasender Puls wieder.

An diesem Abend spielte ich ihr zum ersten Mal ihr Lied vor.

Meine Finger zitterten so heftig, dass lediglich die Hälfte der Noten richtig klang, während meine Stimme immer wieder wegbrach, als gehöre sie nicht mir selbst, sondern zu einem pubertierenden Jungen in seinen schlimmsten Stimmbruch-Zeiten.

Als der letzte Akkord verhallte und ich die Gitarre zur Seite stellte, konnte ich nur auf meine Hände hinabstarren.

Aber sie glitt auf meinen Schoß, plazierte meine Fingerspitzen auf ihren Hüften und umschloss mein Gesicht mit ihren Händen.

»Ich liebe dich, Ben!«, sagte sie. Schlicht und einfach.

Die Erinnerung bringt mein Herz erneut zum Rasen und holt mich endlich zurück.

Zögerlich strecke ich meine Hand aus. Sie bemerkt meine Regung nicht einmal. Ihre leicht geschürzten Lippen bewegen sich lautlos, sie singt. Gewisperte Songtexte – viel zu leise, als dass ich sie verstehen könnte.

»Lauter, bitte!«, murmele ich und lasse meine Fingerspitzen dabei über ihren Arm gleiten.

 

Sie zuckt leicht zusammen, erschreckt durch die Berührung oder vielleicht auch über meine vom Schlaf getränkte Stimme, die sogar in meinen eigenen Ohren rauh und viel zu tief klingt.

Dennoch verstreicht nur ein Herzschlag, bis ihre Mundwinkel zucken und ein süßes kleines Lächeln formen. »Keine Chance!«

Mit gerunzelter Stirn stütze ich mich auf die Ellbogen hoch. »Warum nicht?«

Sie bewegt sich langsam und gewohnt bedacht. Mit beinahe ehrfürchtiger Vorsicht lehnt sie die Gitarre gegen die Bettkante, wobei das Laken um ihre Hüften noch tiefer rutscht und meinen Blick mit sich nimmt. »Weil ich jetzt, wo du endlich wach bist, viel lieber das hier tun möchte…«, sagt sie, als sie über mich gleitet und meinen Körper mit ihrem bedeckt. Und dann sind ihre Lippen auf meinen, warm und weich. Wie immer, wenn wir uns so berühren, durchzuckt mich ein wohliger Stromschlag.

Es wird niemals selbstverständlich werden, sie so zu spüren, das weiß ich so sicher, wie nur irgendetwas sicher sein kann. Es wird immer etwas Wundervolles bleiben. Mein persönliches Wunder.

Ihre Lippen lösen sich zögerlich von meinen. Ehe ich protestieren kann, spüre ich sie dicht an meinem Ohr.

»Ich bin schwanger, Ben«, flüstert sie und weicht dann ein wenig zurück. Da ist er wieder, dieser unsichere Blick von damals.

Die Worte kommen bei mir an, doch die Erkenntnis bleibt aus. Sekundenlang starre ich sie ungläubig an. »Du… Wie… Seit wann? Und du bist ganz sicher?«

Sie bemerkt meine Freude wohl vor mir, denn sie kichert erleichtert und schmiegt sich zurück an meine Brust.

»Absolut, ja! Du wirst Daddy, Ben!«

 

Schrille Musik lässt mich aufschrecken, gefolgt von einem Bellen. Mit weit aufgerissenen Augen starre ich in tiefes Schwarz, dann erst schließt mein Bewusstsein zu mir auf. Gedankenfetzen durchzucken mich, fügen sich zusammen und entfesseln die Panik in dem Bruchteil einer Sekunde:

Die Musik? … Handy!

Dunkelheit? … Nacht!

Der Hund? … Jack!

Nur ein Traum? … Nein!!!

Ich greife neben mich und kralle meine Finger tief in das weiche Kopfkissen. Ein Kissen, auf dem schon lange niemand mehr lag.

Im selben Moment wird mir bewusst, es schon wieder getan zu haben. Vier unendlich lange Jahre ohne sie, und ich suche noch immer nach ihr. Die schrille Elektromusik wird lauter. Ich schüttele den Kopf und knipse mein Nachtlicht an. Reibe meine Augen, taste nach meinem Handy. Spare mir den Blick auf das Display, denn es gibt nur einen, der mich ohne Hemmungen zu jeder Tages- und Nachtzeit anruft.

»Randy!«, begrüße ich meinen besten Freund in mürrischem Ton.

»Wo bist du?« Er brüllt so laut, dass ich reflexartig den Kopf abwende und den Apparat weit weghalte. Der Lärm des Straßenverkehrs ist trotzdem nicht zu überhören. »Sag mir nicht, dass du schon schläfst!«, ruft Randy.

Mein Blick fällt auf die Anzeige meines Weckers. »Es ist halb zwei!«

»Nein!«, protestiert er lautstark. »Es ist halb zwei an einem Samstag!«

»Und?«, frage ich genervt und bringe das kleine Gerät nur zögerlich wieder in die Nähe meines Ohrs.

»Was und? Wo bist du, Ben? Die Stadt lebt. Du kannst sie atmen hören in Nächten wie diesen. Vor jedem halbwegs angesagten Club lungern die Paparazzi herum und warten auf den Shot ihres Lebens. Nur dich werden sie nie vor die Linse bekommen, wenn du weiterhin deine warme Milch trinkst und dann wie ein Schuljunge ins Bett gehst.«

»Steigert das nicht meinen Marktwert?«, halte ich dagegen und lasse mich zurückfallen. Als ob mich mein Berühmtheitsgrad je interessiert hätte. Entschuldigend kraule ich Jacks Fell, der mich von der Seite meines Bettes aus anstarrt, als wolle er fragen, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe, ihn mitten in der Nacht aus dem Tiefschlaf zu reißen. Randys Lachen erzeugt ein lautes Rauschen in der Leitung.

»Deinen Marktwert? Ich wusste nicht einmal, dass du so etwas besitzt.«

»Ernsthaft, Randy, ist das der Grund deines Anrufs? Mir ohne jede Veranlassung auf die Nüsse zu gehen? Einfach so? Oder hast du etwas gegen Schlaf im Allgemeinen?«

»Nein, nicht generell! Aber du schuldest mir noch eine Antwort.«

Ich muss kurz nachdenken, doch dann fällt mir das neue Skript, das Randy mir gestern in die Hand gedrückt hatte, wieder ein. Er wollte meine Meinung hören. »Oh Mann, ich habe es noch gar nicht gelesen, sorry!«

»Hm«, brummt er nur, doch ich spüre seine Enttäuschung.

»Ich lese es gleich morgen früh, versprochen. Wir können ja gemeinsam zu Mittag essen, dann sage ich dir, was ich davon halte, in Ordnung?«

»Okay«, willigt er ein. »Nur schon mal so viel: Wenn du es liest, wird es dir anfangs so vorkommen, als wäre es eine weitere Serie über Gefahr und Tod. Das stimmt aber nicht. Stell es dir wie ein Märchen für Erwachsene vor. Wir werden die Stimmung der Aufnahmen mit Lichtspielereien und übersteuerten Farben immer fröhlich halten. Viele Weitwinkelaufnahmen, alles breiter und offener als in der Realität. Es gibt sogar einen Erzähler, der richtig sarkastisch ist. Und mit jeder weiteren Folge, mit jedem Bruchstück, das wir hinzufügen, werden wir eine Show erschaffen, die zeigt, wie wunderschön das Leben sein kann, wenn man sich nur darauf einlässt. Nichts Trübes. Wir zeigen die Welt, wie sie sein sollte. Das Leben in meinem Sinn, so wird die Serie heißen.«

Ungeachtet der Tatsache, dass wir telefonieren, nicke ich – wie immer, wenn Randy in einen Redeschwall verfällt und mich seine Euphorie packt. Niemand kann sich so ansteckend für etwas begeistern wie er.

»Also, dann morgen um eins?«, fragt er.

»Jepp!« Die Wahl des Restaurants ist bereits getroffen. Denn für uns gibt es nur eines. Seit Ewigkeiten sind wir eingefleischte Stammkunden des Biaggio und werden es vermutlich bis an unser Lebensende bleiben. Marios genialer Pizza sei Dank! Außerdem hat das winzige Restaurant rund um die Uhr geöffnet, was Randys Spontaneität und Nachtaktivität schon das eine oder andere Mal zugutegekommen ist.

»Na dann, träum süß weiter, Dornröschen«, flötet Randy.

»Idiot!«, gebe ich zurück. Ein kurzes Lachen, dann hat er das Gespräch beendet.

Ich lege das Handy aus der Hand, knipse das Licht aus und drehe mich auf die Seite. Versuche, mich zu entspannen, und scheitere erbärmlich daran. Vielleicht liegt es an dem Traum, aus dem Randy mich mit seinem Anruf gerissen hat: Sobald ich meine Augen schließe, sehe ich ihr Gesicht vor mir. Shirley…

An Schlaf ist so schnell nicht mehr zu denken, das wird mir schon bald bewusst. Wenn die Erinnerungen an sie so glasklar sind wie in dieser Nacht, dann höre ich tausend Geräusche, so still die Realität auch sein mag. Vergeblich versuche ich, mich auf Jacks regelmäßige Atmung zu konzentrieren. Der Glückliche wird schon bald wieder im Land der Träume ankommen. Mir hingegen bleibt dieser Zutritt verwehrt, denn die Töne in meinem Kopf sind zu laut, als dass ich zur Ruhe kommen könnte. Ihre Reihenfolge ist festgelegt, ebenso wie die damit einhergehenden Bilder. Erinnerungen, die mir auch dieses Mal wieder die Luft zum Atmen rauben werden und denen ich mich dennoch nicht entziehen kann.

Schon wird Shirleys ausgelassenes und glückliches Lachen durch ihr erstes leises Weinen überschattet. Es folgt der Streit, unsere sich überschlagenden Stimmen, das Quietschen der Bremsen, das Scheppern und ein Schrei, den ich damals viel zu spät als meinen eigenen erkannte…

Ja, es ist immer wieder dieselbe Abfolge. Ohne die Chance, sich dem schrecklichen Ende zu entziehen.

Noch schlimmer jedoch sind die fehlenden Töne. Laute, die ich erwartete, ja, herbeisehnte, die jedoch nie kamen: das tiefe Durchatmen nach dem schrecklich dumpfen Aufprall, ein erleichtertes Seufzen, ein weiteres »Ich liebe dich« aus ihrem Mund…und, vielleicht vor allem anderen, der erste Schrei des Babys. Unseres Babys.

Jack, der meine Unruhe wohl bemerkt, springt auf das Bett, rollt sich an meiner Seite zusammen und legt seinen Kopf auf meinen Bauch. »Ja, du hast recht, Junge«, murmele ich, atme tief durch, reibe mir den letzten Rest Verschlafenheit aus den Augenwinkeln und knipse das Licht wieder an. Dann nehme ich das Skript von meinem Nachttisch und setze mich auf.

Das Leben in meinem Sinn steht auf dem Cover.

Verdammter Randy. Mal sehen, was er nun schon wieder ausgebrütet hat.

Und so beginne ich, mitten in einer lauen Aprilnacht, im Drehbuch der ersten Folge einer neuen Serie zu lesen, die laut meines besten Freundes die Geschichte des Fernsehens revolutionieren wird.

Nein, er ist nicht überheblich. Randy ist schlichtweg größenwahnsinnig. Und ich kenne niemanden, der damit so gut fährt wie er.

Sicher, an seinen Ideen spalten sich die Meinungen der Kritiker. Seine Werke sind immer anders und einen Tick schräger als alle anderen. Viele lieben seinen Stil, manche hassen ihn aber auch. Er polarisiert – und findet das klasse.

»Lieber ein paar tausend Mal in die Kacke greifen und dann einmal Gold darin finden, als sein Leben lang nur immer und immer wieder Kartoffeln zu ernten.«

Das ist Randys Philosophie. Und die lebt er mit einer bewundernswerten Beharrlichkeit. Er schreibt Drehbücher und hat bereits auch unzählige Flops mit seinen Ideen erlebt.

»Junge, lass dich untersuchen, mit deinem Hirn stimmt etwas nicht«, war wohl eine der härtesten Absagen, die er kassierte. Schließlich wurde es ihm zu bunt. Als sein Vater vor einigen Jahren verstarb, nahm Randy sein gesamtes Erbe und investierte es ohne zu zögern in sich selbst, getrieben von der festen Überzeugung, eine gute Anlage getätigt zu haben. Und er sollte recht behalten, denn auf diese Art hat Randy Stiller die mit Abstand erfolgreichste Comedy-Serie des letzten Jahrzehnts produziert.

Seit dieser Zeit ist er nicht nur als Drehbuchautor tätig, denn er produziert seine Werke auch selbst und führt Regie bei den Dreharbeiten. Ein Workaholic sondergleichen und ein wahrer Glücksfall für mich. Denn Randy, mit dem ich schon seit meinem neunzehnten Lebensjahr befreundet bin, pflückte mich vor drei Jahren von der schäbigsten Bühne der Stadt. Genau zu der Zeit, als es mir am miserabelsten ging. Er setzte mich vor seine Kamera, hob mein Kinn an, klopfte mir den Staub von den Schultern und verpasste mir kurzerhand meine erste Hauptrolle in einem seiner unabhängigen Filme. Vielleicht die beste aller Therapien, denn seitdem bin ich zumindest beschäftigt genug, um nicht noch tiefer in meinem Loch zu versinken.

Meine Augen fliegen nur so über die Zeilen.

Das ist gut. Nein, das ist genial! Und ehe ich mich versehe, stehlen sich die ersten Sonnenstrahlen in mein Zimmer und machen das Licht der kleinen Lampe überflüssig. Als die Anzeige meines Weckers 07:30 Uhr zeigt, habe ich die ersten drei Folgen gelesen. Genug, um meine Begeisterung voll zu entfachen. Ich richte mich auf, lege das Skript aus den Händen und ersetze es durch meine Gitarre, die wie immer am Fußende meines Bettes lehnt und geduldig auf ihren nächsten Einsatz wartet. Die Gedanken an Shirley kehren zurück, doch mit dem Stoff, den Randy mir geboten hat, schaffe ich es dieses Mal schnell, sie zu verdrängen. Meine Finger umklammern den Hals meines Instruments, und nur einen Moment später hallt der leise, unverwechselbare Klang meiner alten Gitarre durch den Raum.

***

»Genial oder Müll? Wage es nicht, mich mit einem ›gut‹ abzufertigen, kapiert? Gut ist wie ein Genickschuss. Also?«

Auch eine Art, begrüßt zu werden. Aber schließlich kenne ich Randy schon ein wenig länger. Also verkneife ich mir den bissigen Kommentar, der bereits auf meiner Zungenspitze tanzt, und antworte stattdessen in aller Aufrichtigkeit mit einem: »Es ist genial!« Dann erst lege ich meine Jacke ab und nehme ihm gegenüber auf der Sitzbank Platz.

Randy grinst triumphierend. »Ich wusste, dass es dir gefällt. Und der Titel? Wie gefällt dir der Titel?«

»Das Leben in meinem Sinn?« Ich werde mit einer hektischen Handbewegung abgefertigt.

»Verstehst du die Doppeldeutigkeit?«, will Randy wissen.

In weiser Voraussicht habe ich meine Bestellung bereits im Hereinkommen aufgegeben. So macht Mario nun einen Bogen um unseren Tisch und lässt mir die Zeit, nachzudenken.

Das Leben in meinem Sinn erzählt die Geschichte von Ron und Lea. Ron ist ein gefrusteter Florist, der seine Kindheit in diversen Waisenheimen verbracht hat, bevor er als junger Mann bei einem Autounfall ums Leben kommt. Durch den Engel Clark wird er zurück auf die Erde geschickt, um dort seine lange verschollene Sandkastenliebe Lea zu beschützen.

Die Story ist ziemlich abgedreht, doch sie wird funktionieren, das spüre ich. Die Dialoge sind spritzig, die Charaktere tiefgründig gezeichnet und perfekt aufeinander abgestimmt.

Randy sieht mich noch immer erwartungsvoll an.

Doppeldeutigkeit des Titels, erinnere ich mich und ernte mit meinem »Ähhm…« ein Augenrollen.

Randy schüttelt den Kopf. »Überleg doch mal, der Titel macht durchaus Sinn: Rons Wünsche, die er schon zu Lebzeiten hatte, erfüllen sich erst nach seinem Tod. Er ist wieder mit Lea vereint und die beiden verlieben sich ineinander, als sie lernt, ihn zu sehen. Alle Änderungen – außer der Tatsache, dass er ihre Berührungen nicht mehr fühlen kann, natürlich – sind in seinem Sinn. Und Lea nimmt ihn als Einzige wahr. Niemand außer ihr kann den Schutzengel sehen oder hören. Ron ist also das Leben in ihrem ganz speziellen Sinn.«

Es ist nichts Außergewöhnliches für mich, Randy euphorisch zu erleben, aber dieses Mal ist er wirklich total aus dem Häuschen. Das Projekt scheint ihm schwer am Herzen zu liegen.

»Und wie hast du vor, ihr Problem zu lösen? Dass sie sich gegenseitig nicht fühlen können, meine ich.«

Die Antwort meines Freundes kommt postwendend, wenn auch etwas undeutlich, da er bereits an einem Stück Pizza kaut.

»Ich denke nicht, dass ich dafür eine Lösung finden will. Das macht ihre Story doch gerade so einzigartig. Sie verlieben sich ineinander, sehnen sich nacheinander, haben aber das Problem, einander nicht fühlen zu können. Es gibt blinde und taube Menschen, die wunderbar mit ihrer Behinderung leben können, weil ihre anderen Sinne umso geschärfter funktionieren. Vielleicht müssen sie einfach lernen, damit umzugehen. Die dabei auftretenden Probleme sind mir doch nur recht. Sie geben mir immer wieder neuen Stoff zum Schreiben.«

Ich nicke und beiße dann in ein Stück Weißbrot mit Kräuterbutter. Natürlich, Randy denkt mit dem Kopf eines Autors.

Nach einer Weile lehnt er sich in seinem Stuhl zurück, greift nach seinem Bier und wirft mir einen prüfenden Blick zu. »Sag mal, wie gefällt dir eigentlich Ron?«

»Gut«, sage ich schulterzuckend, verbessere mich jedoch auf Randys böses Zischen hin schnell. »Sehr gut sogar! Er ist zwar kompliziert und ziemlich zurückhaltend, doch das ist angesichts der schlechten Erfahrungen in seiner Vergangenheit wohl auch kein Wunder. Aber ich denke, er hat ein gutes Herz und sehnt sich tief in seinem Inneren sehr nach einem Menschen, der ihn endlich aus seinem Trott reißt. Und dann kommt Lea wieder. Zwar erst nach seinem Tod, aber wie du gesagt hast, sie lehrt ihn, das Leben auch im Nachhinein noch zu schätzen.«

Ja, es mag ein Schauspieler- und Autorending sein: Wir sprechen über imaginäre Charaktere, als seien sie reale Menschen.

»Es macht bestimmt Spaß, ihn zu spielen, mit seinem Trauma und all den Verklemmungen. Du wirst einen guten Typen für ihn brauchen«, stelle ich gedankenverloren fest.

Randy lacht laut auf und beugt sich mit einem verschmitzten Grinsen im Gesicht über den Tisch. »Ja, den bräuchte ich wohl. Kurioserweise habe ich jedoch an dich gedacht.«

»An mich?« Es ist nicht geheuchelt, ich bin wirklich überrascht. Denn für gewöhnlich ist es nicht Randys Art, mir ein Skript zum Probelesen in die Hand zu drücken und mir danach erst zu verkünden, dass er mich dafür als Hauptdarsteller ins Auge gefasst hat. Normalerweise beginnen Gespräche über eine mögliche Zusammenarbeit mit charmanten Worten wie »Schwing deinen Arsch ins Studio, wir machen Probeaufnahmen. Ich hab einen Job für dich!«, oder so ähnlich.

»Ähm, danke!«, sage ich. »Ich… Ja, klar würde ich ihn gerne spielen. Hast du denn schon…«

Randy winkt ab. »Alles geregelt. Im Herbst wird die Serie starten. Und zwar zur Hauptsendezeit.« Der Stolz in seiner Stimme ist nicht zu überhören.

»Aber du hast doch noch nicht einmal Probeaufnahmen…«, entgegne ich verwundert.

Wieder winkt er ab. »Ich habe etwas viel Besseres als Probeaufnahmen, Ben. Ich habe nämlich mittlerweile einen Namen.«

Mario serviert mir meine Pizza persönlich und wünscht einen »Buon Appetito«.

Ich stecke mir das erste Stück in den Mund, verbrenne mir wie immer den Gaumen am geschmolzenen Käse und verfluche mich innerlich dafür, dass mir das jedes Mal wieder passiert. Schnell spüle ich den Bissen mit einem Schluck Bier hinunter.

»Und Lea? Wer soll sie spielen?«

Lea ist ein Charakter, der an Fröhlichkeit und Optimismus kaum zu überbieten ist. Ein ›Sonnenscheinkind‹, so hätte Shirley sie vermutlich bezeichnet. Ich schüttele den Gedanken an sie aus meinem Kopf und werfe Randy einen fragenden Blick zu. Er grinst noch immer sein typisch unerschütterliches Randy-Grinsen.

»Du hast doch schon jemanden im Visier«, stelle ich fest.

Er nickt. »Klaro! Und zwar eine Schauspielerin, die für die Rolle wie geschaffen ist.«

»Die da wäre?«, frage ich neugierig.

»Sarah Pace«, sagt er im Brustton der Überzeugung.

Der Name trifft mich fast wie ein Schlag.

»Sarah Pace?«, wiederhole ich ungläubig. Das kann er nicht ernst meinen. So größenwahnsinnig ist nicht einmal Randy. Oder doch?

Das unangetastet breite Grinsen meines besten Freundes belehrt mich eines Besseren. Und ob er es ernst meint.

»Randy…«, beginne ich und kratze mich dabei am Hinterkopf. Sicher, Lea passt perfekt zu Sarah, da gebe ich ihm recht. Allerdings spielt sie seit Jahren nur noch in Filmen. In wirklich guten Kinofilmen, meistens sogar die Hauptrolle. Ich habe sie alle gesehen. Sie ist in meinen Augen eine der besten Schauspielerinnen derzeit, wenn auch nicht unbedingt eine der berühmtesten. Aber was hat das eine schon mit dem anderen zu tun?

Nein, mit Sarah verbindet man keine dubiosen Gerüchte oder schmutzigen Schlagzeilen. Sie scheint es auch nicht zu interessieren, dass diese Tatsache ihrer Berühmtheit einen Abbruch tun könnte. In regelmäßigen Abständen erscheinen ein paar hübsche Bilder von ihr in den seriöseren Magazinen. Kurze Interviews werden abgedruckt, und in den dazugehörigen Artikeln lobt man die Natürlichkeit der gebürtigen Engländerin immer wieder. Sie lebt seit Jahren in einer offenbar intakten Beziehung mit Daniel Johnson, seinerseits ebenfalls ein großartiger Schauspieler und der Vater ihrer kleinen Tochter. Sarah leistet sich keinerlei Skandale und ist für die Presse das berühmte nette Mädchen von nebenan. Eindeutig keine Seriendarstellerin, sondern ein gestandener Filmstar, der in einer komplett anderen Liga spielt als wir.

Zu denken, Sarah Pace würde das Skript zu Randys Serie auch nur durchblättern, geschweige denn die Rolle der Lea annehmen und sich somit auf Jahre an eine Fernsehproduktion binden, ist also absolut utopisch.

Jemand muss ihm das sagen.

»Randy…«, beginne ich erneut, noch immer nach den richtigen Worten suchend. Es ist nicht leicht, ihn von einem bereits gefassten Entschluss abzuhalten. Eigentlich ist das so gut wie unmöglich.

Sein Grinsen wird nur noch breiter, als er bemerkt, wie sehr ich mich winde. »Was?«, fragt er und funkelt mich durch seine runden Brillengläser an. »Willst du mir erzählen, dass sie ablehnen wird? Oder dass ich vermutlich nicht einmal eine Absage erhalten werde? Dass ›Lass dich bloß nicht auf Serien ein‹ das oberste Gebot für Schauspieler ist, die es einmal ins Filmgeschäft geschafft haben?« Er zieht wissend die Augenbrauen hoch.

Seine klare Sicht verwirrt mich. Ich erwidere den herausfordernden Blick mit zusammengekniffenen Augen. Was…?

Randy winkt Mario heran, steckt ihm einen Geldschein zu, der vermutlich drei unserer Rechnungen begleichen würde, und klopft unserem Lieblingsitaliener wohlwollend auf die Schulter, während der sich überschwenglich bedankt, schnell abräumt und dann in der Küche verschwindet. Als er außer Hörweite ist, beugt sich Randy verschwörerisch über den kleinen Tisch und zwinkert mir zu. »Ich sage dir was, Ben, du irrst dich! Ich habe Sarahs Zusage bereits.«

Meine Kinnlade klappt herab.

»Jepp, da kannst du schauen wie ein Goldfisch«, freut sich Randy. »Gestern Abend, als Marc und ich aus dem Club kamen, hatte ich ihre E-Mail. Deshalb auch mein Anruf. Hättest du das Skript gestern schon gelesen, hätte ich dich bereits wegen Ron gefragt und dir diese Neuigkeiten unterbreitet. Sarah ist begeistert und hat keinen Augenblick gezögert. Sie sagte, sie hätte alle drei Folgen am Stück durchgelesen.«

»Ich auch«, wispere ich wie in Trance.

»Gut!« Randy strahlt und erhebt sich mit einer der ruckartigen Bewegungen, die so typisch für ihn sind.

»Gut ist wie ein Genickschuss«, gebe ich – noch immer total verdutzt – seine Worte von zuvor wieder.

Er lacht und schüttelt den Kopf. »In diesem Fall nicht, Benny-Boy. Du wirst schon bald neben Sarah Pace vor meiner Kamera stehen. Und jetzt komm! In meinem Wagen liegt der Vertrag, und Marc erwartet mich zu Hause.«

Wie auf Kommando pfeife ich nach Jack, nehme seine Leine und trotte hinter Randy aus dem Restaurant.

Ich bin noch immer ziemlich benommen, als wir seinen Ford Mustang erreichen, auf dessen Dach ich den Vertrag ungelesen unterzeichne. Randy würde mich nie übers Ohr hauen. »Wie lange?«, frage ich lediglich.

»Zweimal dreizehn Folgen. Die erste Staffel fest, die zweite nur bei entsprechender Nachfrage, sprich Einschaltquote.«

Mit einer Wegwerfbewegung zeigt er mir, wie sehr ihn diese Klausel beeindruckt. Ich nicke und setze meinen Namen auf die letzte der achtundfünfzig Seiten.

»Warum hast du mich dieses Mal eigentlich so spät eingeweiht? Wie lange planst du das Ganze schon? Bin ich sonst nicht immer der Erste, den du mit neuen Ideen konfrontierst?«

Randy lacht. »Du hast recht, ich plane das bereits ziemlich lange. Im letzten Juni kam mir die Grundidee. Ende Dezember stand die erste Staffel. Danach ging ich auf die Suche nach Produzenten, denn dieses Ding kann ich nicht alleine stemmen, beim besten Willen nicht. Das wird eine der aufwendigsten Serien aller Zeiten. Ein Abnehmer war aber schnell gefunden. Ich hatte ehrlich gesagt sogar eine ziemliche Auswahl. Dann nahm ich Kontakt zu Sarahs Managern auf, die erwartungsgemäß erst mal abblockten. Ich ließ aber nicht locker, bis ich ihr das Manuskript für die ersten drei Folgen persönlich übergeben durfte. Das war vor drei Wochen. Ja, und dann standst du auf meiner To-do-Liste. Warum nur so spät?«

Er grinst, schmeißt den unterschriebenen Vertrag durch das offene Fenster auf den Beifahrersitz und klopft mir auf die Schulter. »Weil ich wusste, du würdest einen Rückzieher machen, wenn ich dir die Zeit dazu ließe. Ich meine, Sarah Pace! Allein die Möglichkeit, sie könne die Rolle annehmen, hätte dich doch abgeschreckt.«

Bevor mir eine schlagfertige Antwort einfällt, sitzt er schon am Steuer und blickt durch das offene Seitenfenster zu mir auf. »Sarah hat übrigens gesagt, sie würde dich gerne kennenlernen. Sie hat auch schon einen Termin und Treffpunkt festgehalten. Ich leite dir ihre Mail weiter, sobald ich zu Hause bin. Vermassele es nicht, hörst du? Von ihr habe ich nämlich noch keinen unterschriebenen Vertrag.«

Damit fährt er die Scheibe des Fensters hoch und tritt das Gaspedal durch. Ich bleibe sprachlos zurück und stehe nach wie vor mit eingesunkenen Schultern und leicht geneigtem Kopf auf dem Bürgersteig.

Jack ist es, der mich endlich aus meinem Gedankenknäuel befreit und im wahrsten Sinne des Wortes zurück ins Hier und Jetzt zieht. Er hat wohl eine Katze gesehen, denn plötzlich höre ich ein kurzes Knurren, gefolgt von einem extremen Ruck an meinem Arm. Und schon sehe ich meinem Hund nach, der mit wehenden Ohren und hinter sich herschleifender Leine die Straße hinabprescht. Die Züchterin hatte mich gewarnt: »Ein Beagle, so knuffig er auch aussehen mag, ist und bleibt ein Jagdhund.«

Wie wahr!

Als ich ihn drei Blocks weiter endlich eingeholt habe, bin ich völlig außer Atem und spüre meine Beine kaum noch. Doch mein Verstand ist wieder voll da – und mit ihm die Erkenntnis: Ich werde neben Sarah Pace spielen. Und sie will mich in einem persönlichen Gespräch vorab kennenlernen.

Na toll, jetzt ist mir auch noch speiübel. 

***

Zwei Monate später, an einem ungewöhnlich stürmischen Junitag, ist es so weit: Wir sitzen auf Barhockern am Tresen eines kleinen Cafés. Grüne und beige Fliesen säumen den Fußboden im Schachbrettmuster. An den wenigen Bistrotischen stehen Stühle, die fast zu grazil wirken, um ihrer Stabilität zu trauen. Der riesige Tresen, vor dem wir Platz genommen haben, bildet das Zentrum und den Blickfang des gemütlichen Raums. Es riecht nach frischem Gebäck und Kaffee.

Ich bin nervös. Mehr als nervös. Meine Hände schwitzen, und ich habe das Gefühl, über jeden meiner Sätze zu stolpern, auch wenn Sarah mir das nicht anzumerken scheint.

Mit einem Lachen beendet sie unser belangloses Geplänkel. Plötzlich sieht sie mir tief und sehr bedeutungsvoll in die Augen und lässt damit meine ohnehin nur mit viel Mühe vorgetäuschte Leichtigkeit binnen eines Wimpernschlages verpuffen. Und dieser Moment, so kurz er auch sein mag, birgt beinahe etwas Magisches in sich. Wie von selbst senkt sich mein Kopf.

»Ich hätte nie damit gerechnet, dass so etwas möglich ist«, gestehe ich vorsichtig. Ihre Hand berührt meine, federleicht.

»Ich doch auch nicht«, flüstert sie.

Warum sprechen wir so leise?

Ich räuspere mich, und auch sie scheint um Fassung zu ringen. Sie zieht ihre Finger wieder zurück und spielt gedankenverloren an dem Griff ihrer Tasse. »Natürlich ist es unglaublich schön, dich zu sehen. Das alles ist wie ein Traum. Ich wünschte bloß…du weißt schon…«

Ja, ich weiß. In diesem Moment weiß ich genau, was sie meint.

»… es wäre nicht erst jetzt«, beende ich ihren Satz. Dann hole ich tief Luft, lege einen Finger unter ihr Kinn und hebe es sanft an. Ich muss schmunzeln, als sie ihren Blick nur sehr zögerlich zurück in meine Augen lenkt. Sie wirkt so schüchtern. »Ich mache dir einen Vorschlag: Genießen wir einfach, was wir haben. Einverstanden?«

Sie sieht mich lange an, bis sich ein schmerzliches Lächeln über ihr Gesicht zieht und ihre Finger erneut über meinen Handrücken gleiten.

»Ja. Genießen wir es…«, sagt sie leise.

 

»Uuund Schnitt!« Wie ein Pfeil schießt der Ruf durch die Halle und zerfetzt die romantische Stimmung, noch ehe er verhallt. »Kopiert die Aufnahme und checkt sie auf Fussel. Und wagt es nicht, welche zu finden, denn das war perfekt.«

Mit großen Schritten kommt Randy auf uns zu. Strahlend. »Meine Güte, ihr seid fantastisch! Ben, dein Blick, als du ihr Kinn angehoben hast – und Sarah, dein Augenaufschlag… Wow! Ich wusste, ihr würdet gut sein, aber das… Kommt, schauen wir uns den letzten Shot gemeinsam an. Ich will, dass ihr seht, was ich meine.«

Sarah lächelt mir zu und zuckt mit den Schultern.

Das ist unser erster Drehtag. Während Randy gewohnt hektisch auf uns einredet, löst Sarah ihre Hand aus meiner und macht mir damit erst bewusst, dass ich sie noch immer gehalten habe. Unter einem kurzen Blick zu ihr wische ich meine leicht feuchten Finger an meiner Jeans ab. Randys Schwärmerei bringt mich in Verlegenheit, merkt er das denn nicht? Sarah hingegen grinst breit und scheint sich einfach über sein Lob zu freuen. Sie macht Anstalten, von dem Barhocker herunterzurutschen, und lacht laut auf, als sie auf das eigenartige Bauwerk unter ihrem Stuhl hinabblickt. Um den Größenunterschied zwischen uns auszugleichen, steht er auf zwei miteinander vernagelten Holzkisten.

Ich brauche eine Sekunde, bis mir meine gute Erziehung wieder einfällt und ich Sarah die Hand reiche, um ihr beim Absteigen behilflich zu sein.

Schweigend marschieren wir hinter Randy zu dem Bildschirm, auf dem die Aufnahmen der gerade abgedrehten Szene laufen und geprüft werden.

»Und?«, fragt Randy angespannt.

»Alles bestens«, versichert der Mann mit dem kritischen Blick und den Kopfhörern.

Randy atmet auf. »Sehr gut. Dann zeig uns die komplette Szene, Pete!«

Sarah blickt konzentriert auf den Fernseher.

Ob es sich für sie auch so komisch anfühlt wie für mich, oder ist sie über diesen Punkt bereits hinaus? Für mich ist es immer wieder eigenartig, mich selbst in einer romantischen Szene mit einem Menschen zu sehen, den ich gerade erst kennengelernt habe.

Und kennengelernt ist in unserem Fall noch maßlos übertrieben.

Bei unserem ersten kurzen Treffen hatten ihre Manager das Gespräch fest im Griff. Ein hektischer dicker Mann mit Nickelbrille und eine aufgetakelte Blondine, die, einmal angefangen, eigentlich ohne Punkt und Komma gesprochen hat. Worüber, das kann ich im Nachhinein nicht einmal mehr wiedergeben. Absprachen vor gemeinsamen Interviews und generell das Auftreten in der Öffentlichkeit waren Themen gewesen, an die ich mich noch vage erinnere. Doch irgendwann verschwamm die monotone Stimme der blonden Agentin hinter Sarahs abwesendem Blick. Sie saß mir gegenüber, in einem der exklusiven Cafés der Stadt, und spielte an dem Griff ihrer Tasse. Erst als der Dicke mit der Nickelbrille – Nick, oder doch Rick? – erklärte, eigentlich wäre nun alles besprochen, erwachte Sarah zu neuem Leben. Sie bestand darauf, noch ein wenig mit mir zu plaudern, wie sie es nannte, und machte damit ziemlich deutlich klar, dass der offizielle Teil des Gesprächs nun beendet sei. Barbie und Fat Ken verabschiedeten sich nur widerwillig, aber sie taten es.

Als die beiden das Café verlassen hatten, atmete Sarah auf und streckte mir ihre Hand erneut, wie schon zur Begrüßung, entgegen. »So, jetzt noch einmal. Es freut mich sehr, dich kennenzulernen, Ben. Und besonders freut es mich, dass du nach dieser Ansprache tatsächlich immer noch hiersitzt.«

Ich musste lachen. »Du hast Randy noch nicht so richtig kennengelernt, oder? Dagegen war das hier ein Zuckerschlecken, glaub mir.«

»So schlimm?«

Ich nickte. »Du wirst ihn noch erleben.«

In diesem Moment klingelte Sarahs Handy. Sie entschuldigte sich, nahm den Anruf an und legte nur wenige Sekunden später mit besorgter Miene auf. Entschuldigend wandte sie sich mir zu. »Ich muss nach Hause, Ben. Meine Tochter hat Fieber bekommen und fühlt sich nicht wohl.«

So viel zu unserer ersten Begegnung. Wir verabschiedeten uns und trafen uns erst heute – am ersten Drehtag – wieder.

Sarah war leicht verspätet in das Studio gestolpert. Das Klackern ihrer Stöckelschuhe, gefolgt von dem unverkennbaren Lachen, das ich bereits aus unzähligen Filmen kannte, verkündete ihre Ankunft. Abgesehen vom warmen Wind, der an diesem Morgen fast sturmartig über die Küste hinwegpeitschte, brachte sie eine bestimmte Aura mit sich in den Raum. Seit dem Moment ihrer Ankunft stand sie im Mittelpunkt des Geschehens, und alles und jeder schien sich nur noch um sie zu drehen.

Sie schüttelte allen Mitarbeitern, einschließlich der verdutzten Kabelträger, die Hände, stellte sich immer wieder mit ihrem vollständigen Namen vor und betonte mehrfach, wie sehr sie sich auf die gemeinsame Arbeit freue. Ich beobachtete ihre Ankunft eine Weile lang im Schutz einer Kulissenwand. Als ich endlich aus dem Schatten meines Verstecks trat, entdeckte mich Sarah sofort. »Ben, da bist du ja!«, rief sie und strahlte mich an, als würden wir uns schon ewig kennen. Noch ehe ich ihr die Hand zur Begrüßung reichen konnte, reckte sie sich auf die Zehenspitzen und umarmte mich.

Das ist die Art von Überschwenglichkeit, die für unser Business so typisch ist und mit der ich normalerweise nichts anfangen kann. Sarah allerdings nahm ich diese euphorische Geste beinahe ab.

Ein weiterer Beweis dafür, wie gut sie wirklich ist – und wie absolut fehlplaziert. 

 

Das gesamte Team steht mittlerweile um den kleinen Bildschirm herum, auf dem gerade eine Großaufnahme unserer sich streichelnden Hände gezeigt wird. Ich muss mich zusammenreißen, den Blick nicht abzuwenden. Mich selbst zu sehen fällt mir wesentlich schwerer, als die Szene vor den Kameras zu spielen. Aber hey, mit ein wenig Abstand betrachtet sind die Aufnahmen wirklich gut. Richtig gut sogar.

Bei Randys Gespür für Schnitt, Licht und Musik könnte etwas Großartiges daraus entstehen. Zufrieden dreht sich Sarah zu mir um – vermutlich, um meine Reaktion zu beobachten.

»Alles klar?«, flüstert sie. Als ich nicke, bleibt ihr Blick noch eine Weile skeptisch und das zufriedene Lächeln kehrt nur langsam zurück. »Gut, nicht wahr?« Ich nicke weiter, und sie muss lachen.

Gemeinsam sehen wir uns jede Kameraperspektive der letzten Aufnahme an. Die Anspannung, die wenige Stunden zuvor noch das neue Set beherrschte, ist mittlerweile zufriedener Erleichterung gewichen. Sogar Randy wirkt ausnahmsweise mal entspannt.

»Perfekt! Sie harmonieren perfekt miteinander«, murmelt er immer wieder vor sich hin, als stünden wir nicht unmittelbar neben ihm. Dann wendet er sich Sarah und mir zu. »Gut, ich schätze, wir haben eine Nachtschicht vor uns. Mit all dem Stoff, den wir heute schon von euch abgedreht haben, schwimmen wir nun in Hausaufgaben. Vielen Dank auch!«

Er grinst breit und zwinkert Sarah, die ihm die Zunge herausstreckt, zu.

»Nein wirklich, das ist schon eine Menge Material zum Schneiden. Also los, Feierabend!« Randy lacht, als er in unsere ungläubigen Gesichter blickt. »Ich meine es ernst. Raus mit euch! Es werden gewiss noch andere Tage kommen, aber für heute sind wir fertig. Nun ja, ihr seid fertig. Du hingegen…« Er klopft Pete auf die Schultern und streift ihm die Kopfhörer von den Ohren, »… hast dir für einen frühen Feierabend definitiv den falschen Job ausgesucht. Aber tröste dich, ich ja auch. Verdammt noch mal, ich auch! Also, ich will ganz sanfte Übergänge. Oh, und kann mir bitte jemand eine große Thunfisch-Pizza bestellen? Maggie, würdest du das tun? Extra viel Käse! … Pete, lass uns direkt versuchen, wie die Aufnahmen mit den übersteuerten Farben wirken, ja?«

Schon sind die beiden Männer auf halbem Weg zum Schnittraum. Auch die Traube der anderen Crew-Mitglieder löst sich auf. Sarah und ich bleiben als Einzige vor dem Bildschirm zurück und blicken Randy hinterher. Sarah weiß scheinbar nicht so recht, was sie von dem aufgedrehten Typ halten soll, der nun auch ihr Regisseur ist. Manchmal wirkt er fast manisch.

»Das hat heute wirklich Spaß gemacht, aber ist der immer so?«, fragt sie, als Randy und Pete außer Hörweite sind.

»Ähm…ja«, erwidere ich und versuche mich an einem vorsichtigen Lächeln, das sich jedoch nach wie vor seltsam verkrampft anfühlt. »Okay«, erwidert Sarah und zuckt mit den Schultern. »Dann wird es wenigstens nicht langweilig.«

»Nein, bestimmt nicht. Ich kenne Randy schon ewig und er ist eigentlich ein toller Typ.«

»Das denke ich auch. Also dann, einen schönen Abend noch und bis morgen«, sagt sie und wendet sich ab.

Die Worte schlüpfen über meine Lippen, bevor ich ihnen einen bewussten Gedanken geschenkt habe: »Ihnen auch, Ms. Pace!«

Sarah wirbelt so schnell herum, dass ihre rötlichen Locken dabei zu hüpfen scheinen. »Ms. Pace?«, wiederholt sie mit gerunzelter Stirn.

Ms. Pace? Mann, Ben, du Idiot!

Mit verdutztem Gesichtsausdruck geht sie einige Schritte auf mich zu. Die in die Hüften gestemmten Hände unterstreichen ihre Empörung.

»Na, jetzt hör aber mal! So wie es aussieht, werde ich von nun an eine Menge Zeit mit dir verbringen. Bestimmt mehr als mit meinem Verlobten und meiner kleinen Tochter. Abgesehen von all den romantischen Szenen, die Randy für uns ausgebrütet hat. Meinst du nicht, wir sollten uns angesichts all dieser Tatsachen beim Vornamen nennen, Mr. Todd?«

Verschämt senke ich meinen Blick. »Ja, natürlich hast du recht! Es ist nur so…eigenartig.«

»Hm?«

Als ich wieder aufblicke, sehe ich nichts als Verständnislosigkeit in ihren Augen. Ich atme tief durch, denn die nun folgenden Worte fühlen sich an wie das unbeholfene Geständnis eines Teenagers – warum auch immer. »Nun, Sarah, ich habe dich schon auf der Leinwand gesehen, als ich noch zur Schauspielschule ging. Und jetzt spiele ich hier, zusammen mit dir. Neben dir.«

Ich schaffe es nicht, ihrem Blick standzuhalten. Das Gefühl, noch immer der Schauspielschüler von damals zu sein, dem seine Lehrer stets vorhersagten, aus ihm würde – trotz Begabung – wohl nie etwas werden, wenn es ihm nicht gelänge, diese verdammte Schüchternheit abzulegen, ist mir zuwider. Trotzdem schleicht es sich in diesen Sekunden wieder ein.

Ich höre die Stimme meines Rhetoriklehrers, als stünde der alte Hopkins leibhaftig neben mir: »In diesem Business musst du kämpfen und dich durchsetzen können, Junge. Mit roten Ohren und geflüsterten Sätzen wirst du es nicht weit bringen.«

Gott sei Dank haben sich seine Prophezeiungen bislang nicht bewahrheitet, aber natürlich ist mir bewusst, dass ich ohne Randys Freundschaft und Loyalität nach wie vor auf schäbigen Bühnen spielen würde. Doch egal, in welcher Form auch immer, Schauspiel ist mein Leben.

Neben Sarah Pace spielen zu dürfen, das ist eine fast schon surreale Chance.

Unmittelbar vor der Kamera, in den intimen Szenen, ist es mir vorhin problemlos gelungen, ihre Person auszublenden und sie tatsächlich nur als Lea wahrzunehmen. Und als die war sie wirklich hinreißend und sehr authentisch. Der Dreh mit Sarah fühlte sich ohnehin so natürlich an, dass ich mich nun, im Nachhinein, nicht daran erinnern kann, auch nur für eine Sekunde über meinen Text nachgedacht zu haben. 

Sarah lässt währenddessen meine Worte sinken. Schließlich zucken ihre Mundwinkel und verziehen die vollen Lippen zu einem Lächeln, das fast schelmisch wirkt.

»Was?«, frage ich. Ihr Schweigen bringt mich in noch größere Verlegenheit. »Ich habe Respekt vor dir, das ist alles.« Warum nur habe ich überhaupt das Gefühl, mich verteidigen zu müssen? Fast schon trotzig sehe ich sie an.

Ihr Lächeln dehnt sich zu einem Grinsen, das meinen Blick automatisch auf die tiefen Grübchen in ihren Wangen lenkt. »Ich hoffe, du respektierst mich auch jetzt noch, wo wir uns aufs Du geeinigt haben und ich dir etwas beichten werde.«

Mit bedeutsamer Miene beugt sie sich vor und reckt sich auf die Zehenspitzen zu mir hoch. Haltsuchend stützt sie sich auf meiner Schulter ab. Ihre Stimme ist nun kaum mehr als ein Flüstern. »Weißt du, mein Vater war nämlich nicht unerheblich daran beteiligt, dass ich bereits mit vier Jahren meine erste kleine Filmrolle spielen durfte. Du weißt ja, ein großer Name öffnet tausend Tore.«

Sie blinzelt mir zu, weicht wieder zurück und spricht dann in normaler Lautstärke weiter. »Du hingegen hast die Schlüssel für all diese Tore allein gefunden, nicht wahr?« Mit hochgezogenen Augenbrauen sieht sie mich an.

Noch bevor ich etwas erwidern kann, tippt sie mit ihrem Zeigefinger gegen meinen Brustkorb. »Ich habe mich im Vorfeld übrigens genau über dich informiert, Ben Todd. Man muss ja schließlich wissen, mit wem man es zu tun hat.«

Ich erwidere Sarahs Grinsen und beschließe im selben Moment, mich auf ihr Spiel einzulassen. »So? Und, hast du schmutzige Storys gefunden?« In Wahrheit hoffe ich nur, dass sie nicht auf die eine, wirklich wichtige Story gestoßen ist.

Zu meiner Erleichterung winkt sie jedoch schon ab. »Nein, privat bist du genauso langweilig wie ich. Aber Mr. Google hat mir erzählt, dass du schon in unglaublich interessanten Stücken gespielt hast. Und deine Kritiken sprechen für sich. Aber ich muss zugeben, ich war erstaunt. Ein Vergewaltiger, ein Transsexueller, ein hochbegabter Autist, ein nackter Maler. Du schreckst wirklich vor keiner Rolle zurück, oder?«

Ich erwidere nichts. Wie sollte ich ihr das auch erklären? Dass alle diese extremen Charaktere nur dem einen Zweck dienten, mich möglichst effektiv von meinem realen Leben abzuschirmen? Mich nur nicht damit beschäftigen zu müssen, dass so gut wie alles, was mein Leben einmal lebenswert gemacht hatte, nicht mehr existierte? Nun, das würde der neuen Leichtigkeit dieses Gesprächs vermutlich schnell jede Basis rauben. Also zucke ich nur mit den Schultern und halte an meinem Schweigen fest.

Sarah schüttelt den Kopf. »Nein, wirklich. Verkauf dich nicht unter deinem Wert, Ben. Du bist sehr gut. Und es gibt absolut keinen Grund für dich, vor mir schüchtern zu sein.«

»Okay«, sage ich gedämpft.

»Versprochen?«

»Versprochen!«

»Also dann, schönen Abend noch, Ben Todd. Und eine gute Nacht«, sagt sie erneut, greift nach meiner Hand und drückt sie kurz, bevor sie sich abwendet und geht. 

***

Auf meinen Pfiff hin schießt Jack unter einem der Lorbeersträucher, die im hinteren Teil des Gartens wachsen, hervor und prescht mit flatternden Ohren auf mich zu.

»Jack! Da bist du ja, Junge. Und, wie war dein Tag?« Ich beuge mich zu ihm hinab und kraule ihn hinter den Schlappohren. Hechelnd, mit heraushängender Zunge, sieht er immer aus, als würde er lachen. Nach einer Weile taucht er unter meinem Arm hindurch und läuft in die Küche. Erwartungsvoll setzt er sich vor seinen Fressnapf und schaut zu mir auf. Ich nicke. »Recht hast du, jawohl!«

Im Kühlschrank steht noch eine angebrochene Dose Hundefutter, deren Inhalt ich in Jacks Napf fülle, während ich mit dem Ellbogen versuche, meinen ungeduldigen Hund vom sofortigen Sturm auf das Futter abzuhalten. »Lass das, so dauert es doch nur länger. So, es ist serviert. Guten Appetit.«

Eine Weile beobachte ich Jack beim Fressen, dann öffne ich den Kühlschrank ein weiteres Mal. Gähnende Leere starrt mir entgegen.

»Einkaufen, Ben, einkaufen«, ermahne ich mich. »Jeder andere schafft das doch auch.«

Wie automatisch greife ich nach meinem Telefon und wähle die Nummer meines Lieblings-Chinesen. Nachdem ich meine Bestellung aufgegeben habe, spüle ich Jacks Trinknapf aus und fülle frisches Wasser ein.

Mir bleiben fünfzehn Minuten, also streife ich mir schnell das T-Shirt ab und gehe ins Bad. Die Jeans fällt auf die Fliesen, Shorts und Socken landen in der Badewanne. Summend steige ich unter die Dusche und lasse meine Gedanken abschweifen, während das warme Wasser an mir herabläuft. 

Ich habe in der vergangenen Nacht nicht gut geschlafen. Wieder und wieder bin ich meine Texte durchgegangen und habe mich dabei bestimmt hundertmal gefragt, ob ich sie auch noch wüsste, wenn ich später neben Sarah Pace vor der Kamera stehen würde.

Rückblickend muss ich nun lächeln. Wozu die Aufregung?

Ich stelle das Wasser ab und angele nach dem Handtuch, das ich wieder einmal außer Reichweite plaziert habe. Das Wasser perlt über meinen ausgestreckten Arm und tropft auf die Fliesen herab. Einen Moment lang blicke ich starr auf die sich bildende Pfütze, doch ehe sie sich vor meinem geistigen Auge rot färben kann, wende ich den Blick ab und atme tief durch.

Die Türschelle surrt. Lange und wohl nicht zum ersten Mal.

Mist, habe ich so lange geduscht?

In der Eile verheddere ich mich im Ärmel meines T-Shirts und rutsche um ein Haar auf dem nassen Fußboden aus. Mit triefenden Haaren laufe ich zur Tür, steige dabei irgendwie in meine Pyjamashorts und nehme von dem leicht entnervten Boten endlich mein Essen entgegen.

Wie üblich setze ich mich neben Jack auf die Couch und esse vor dem laufenden Fernseher. Mittlerweile kann ich sogar mit Stäbchen essen, der regelmäßigen Übung sei Dank.

Der leere Pappbehälter und die Bierdose landen anschließend im Mülleimer, dann widme ich mich dem Skript für den folgenden Tag. Spiele alle Szenen in Gedanken noch einige Male durch, bis mir mit einem Mal bewusst wird, wie sehr ich mich eigentlich auf die bevorstehenden Dreharbeiten freue.

Der Gedanke an meine berühmte Kollegin ängstigt mich nicht länger. Ich fasse den Entschluss, Sarah – wie versprochen – als das zu nehmen, was sie ist: meine Schauspielpartnerin.

Damit fällt auch der letzte Rest Anspannung der vorangegangenen Tage und Wochen von mir.

Zufrieden nicke ich mir selbst zu, lege das Skript zur Seite und erhebe mich von der Couch. Jack weiß sofort, was vor sich geht. Schon steht er schwanzwedelnd vor der Terrassentür, die ich nun öffne, um ihn noch einmal rauszulassen. Ich folge ihm in den Garten.

Die Nacht ist klar und frisch. Die salzgetränkte Luft riecht nach den Rosen, die am Rande der Terrasse wuchern und gerade in ihrer vollen Blüte stehen. Eine Mischung, die mich unwillkürlich an unsere lange zurückliegende Zeit in Italien erinnert. Wie von selbst schließen sich meine Lider; ich lege den Kopf in den Nacken und atme tief durch. Als ich die Augen wieder öffne und in den sternenübersäten Himmel hinaufblicke, fällt mir sofort der Mond auf, der breit und schief zwischen den unzähligen funkelnden Lichtpunkten hängt. Irgendwie sieht er blasser aus als sonst. Die Umrisse seiner Sichel sind unscharf, das Schwarz der Nacht verschwimmt zu einem nebligen Tintenblau, wo es mit dem silbrigen Schein in Berührung kommt.

Vielleicht ist es der Mond selbst – seine Form und diese seltsam fahle Farbe –, vielleicht auch die Faszination, die das Sternenmeer, in dem er zu schwimmen scheint, in mir auslöst. Doch mit Sicherheit ist es die plötzlich auflodernde Erinnerung, die mich hier draußen verharren lässt, obwohl Jack schon längst aus seiner Pinkelecke zurückgekehrt und in der Wohnung verschwunden ist. Vermutlich liegt er bereits auf seiner Decke und schnarcht, während ich in aller Ruhe meinen Gedanken nachhänge… 

 

»Silbermond!«, flüsterte sie.