Immer wenn es Sterne regnet - Susanna Ernst - E-Book
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Immer wenn es Sterne regnet E-Book

Susanna Ernst

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Beschreibung

Als Mary auf einem Trödelmarkt einen alten Sekretär erwirbt und darin ein Bündel Briefe findet, stürzt sie Hals über Kopf in eine Geschichte, die ihr Leben für immer verändert. Es sind Liebesbriefe aus den 1920er Jahren, geschrieben von einem gewissen Adam an seine heimliche Angebetete Gracey. Die sehnsüchtigen Zeilen treffen Mary mitten ins Herz, und sie beschließt, mehr über das ungleiche Paar und ihre verbotene Liebe herauszufinden. Dabei entdeckt Mary etwas, womit sie nie gerechnet hätte; und als der Himmel plötzlich aufreißt und es mit einem Mal Sterne regnet, wird der Ausflug in die Vergangenheit zu einer Reise zu sich selbst.

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Seitenzahl: 536

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Susanna Ernst

Immer wenn es Sterne regnet

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

WidmungNewcastle, 6. Oktober 1927JeremyMaryJeremyMaryJeremyMaryJeremyMaryJeremyMaryJeremyMaryJeremyMaryJeremyMaryJeremyMaryJeremyMaryJeremyMaryJeremyMaryJeremyMaryJeremyDanksagung
[home]

 

 

 

Für Oliver

 

Weil ich durch dich gelernt habe, dass nicht die Zeit, die du mit einem Menschen verbringst, dafür verantwortlich ist, wie tief er sich in deine Seele einbrennt, sondern nur die Intensität der Momente, die du mit ihm teilst.

[home]
Newcastle, 6. Oktober 1927

Sir, ich habe alles erledigt, wie Sie es sagten. Kann ich sonst noch etwas tun?«

Demütig, wie er sich in Anwesenheit seines Meisters fühlte, traute sich Adam Winterfield kaum, sein Kinn zu heben und zu dem Mann aufzuschauen, der sich seiner erst vor wenigen Wochen angenommen hatte. Einen vierundzwanzigjährigen Aushilfsarbeiter ohne nachweisbare Bildung aufzunehmen, ihn nicht nur mit dem Handwerk vertraut zu machen, sondern auch mit dem kaufmännischen Part und der Buchführung, ihm ein Dach über dem Kopf zu bieten und mindestens eine warme Mahlzeit am Tag, dazu all die Bücher, mit denen er sein Allgemeinwissen aufbessern sollte … Das zeugte von besonderer Gutherzigkeit. Nichtsdestotrotz misstraute Adam seinem Glück bis jetzt. Viel zu lange schon hatte ihm das Schicksal übel mitgespielt.

Nun erwartete er beinahe, jeden Moment zu scheitern. Einen Fehler so gravierenden Ausmaßes zu begehen, dass man ihn dafür in hohem Bogen vor die Tür setzen würde. Zurück auf die Straße – dorthin, wo er herkam.

Straßenköter, Gassenjunge, Bastard …

In Adams Kopf hallten die Beschimpfungen wider, die sein Leben so lange begleitet hatten. Doch auch in diesem Moment erwiderte der Meister seinen Blick mit reiner Sanftmut.

»Nein, sonst gibt es hier nichts mehr zu tun. Geh nur! Wasch dich, iss ordentlich und mach die Nacht nicht zum Tage. Denn morgen geht es weiter.«

»Ich danke Ihnen, Sir! Einen schönen Abend wünsche ich.«

»Den wünsche ich dir auch … Ach, und Adam?«

Die Schultern des jungen Mannes zuckten; reflexartig zog er den Kopf ein, als sein Name noch einmal fiel. Hatte er etwas vergessen, etwas Entscheidendes womöglich? Seine letzten Aufgaben schossen ihm noch einmal durch den Kopf; schnell wie Blitze durchzuckten sie ihn:

Kehren – erledigt.

Neues Holz in den Kamin legen, damit es über Nacht trocknen kann – erledigt.

Den Müll entsorgen – erledigt.

»Ja, Sir?«, antwortete er dennoch mit banger Stimme.

»Du hast heute sehr gut gearbeitet. Weiter so!«

Erleichtert atmete er auf. Ein Lob. Ein echtes Lob.

»Vielen Dank. Gute Nacht!«

 

Leichten Herzens schloss er die Tür hinter sich und stieg über die hölzerne Treppe in das Obergeschoss des Hauses empor. Hier, am Ende des schmalen Korridors, lag sein Zimmer, direkt neben dem des Meisters. Gegen die zentraleren Bauten der Stadt wirkte das Haus nahezu veraltet. Dort, in Hafennähe, wo sich die Baukräne quasi aneinanderreihten und ein vielstöckiges Gebäude neben dem anderen entstand, sprachen die Menschen geringschätzig über die östlichen Vorstadthäuser, die durch den Lake Washington vom Rest der Stadt so gut wie abgetrennt waren und deren Wände teilweise nicht einmal fließendes Wasser und elektrischen Strom führten.

Adams Zimmer verfügte zwar über Strom, doch an ein eigenes Bad war nicht einmal zu denken.

Dennoch füllte er das Wasser mit einem Gefühl des Stolzes von dem rissigen Porzellankrug in die große Emailleschüssel. Immerhin konnte er sich waschen. Er besaß sogar ein Stück Seife. Dieses nahm er nun zur Hand, wusch sich damit den feinen Staub von den Armen, den Händen, dem Gesicht und seinen Haaren. Mit einem Handtuch rubbelte er über seine Locken und betrachtete sich im Spiegel über der Waschschüssel.

Zunächst seine spröden Lippen. Der Meister ermahnte ihn ständig, mehr Flüssigkeit zu sich zu nehmen, doch er war ja selbst kein gutes Vorbild, und Adam war das regelmäßige Trinken schlichtweg nicht gewohnt.

Sein Blick glitt weiter über die nach wie vor gerade Nase, die von dem Bruch vor drei Jahren lediglich eine leichte Verdickung der Nasenwurzel davongetragen hatte, und die tief liegenden grünen Augen mit den mittlerweile markanten dunklen Schatten darunter.

Adam war müde. Himmel, war er müde.

Aber er wollte vorbereitet sein, sollte der Moment des Wiedersehens tatsächlich so unverhofft kommen, wie er es sich in all seinen Träumen – und die ereilten ihn bei Gott nicht nur nachts – immer wieder ausmalte.

Jedes Mal war sie plötzlich da. Klopfte an seine Tür und stand vor ihm, wenn er öffnete. Einfach so, völlig unvermittelt. Sie sahen sich an, fielen einander in die Arme, küssten sich, hielten sich. Liebten sich. Am helllichten Tage, in dunkelster Nacht, immer wieder. Ein Leben lang.

Gedankenverloren glitten Adams Zeige- und Mittelfinger über seine Unterlippe – federleicht –, denn es war wie ein Zauber: Wann immer er an ihre Küsse dachte, spürte er tatsächlich ein Kribbeln in seinen Lippen, als säßen Schmetterlinge wie Boten des Vergangenen auf seinem Mund und kitzelten ihn mit ihren sanften Flügelschlägen. Dann hörte er noch einmal die Musik, die an diesem schicksalhaften Abend ihrer ersten Begegnung gespielt hatte, roch noch einmal Graceys Haar, das so verführerisch nach Vanille und Rosen geduftet hatte.

Natürlich war die Erinnerung nie mehr als ein vager Schatten des realen Erlebnisses. Dennoch reichte sie jedes Mal wieder aus, ihn in den leicht dümmlich vor sich hin lächelnden Jungen zu verwandeln, den er schon längst hatte hinter sich lassen wollen. Verärgert über sich selbst, schüttelte er so stark den Kopf, dass das Wasser von seinen Haaren spritzte und den Spiegel besprenkelte.

»Schluss mit der Träumerei!«, gebot er sich streng, während er die Tropfen von dem hinterlegten Glas wischte.

Nein, für Gracey wollte Adam nicht länger ein schwärmender Junge sein, für sie wollte er endlich zum Mann werden. Für sie wollte er lernen, lernen und noch mal lernen. Geld verdienen, ein besserer Mensch werden und schließlich ein ihr würdiger Ehemann. Handeln, anstatt zu träumen. Das war sein Plan.

Doch was so simpel klang, war leider ein ziemlich schwieriges Unterfangen. Wie auch nicht, wenn man direkt aus der Gosse kam und sich zum Ziel gesetzt hatte, eines Tages auf rechtmäßigem Wege und zumindest mit der vagen Hoffnung auf Erfolg um die Hand eines der reichsten und hübschesten Mädchen der Stadt anzuhalten.

Zuvor hatte er es auf die einzige ihm vertraute Art und Weise versucht und seinen Stand damit so sehr verschlechtert, dass er nach dem Scheitern dieser erbärmlichen Taktik beschlossen hatte, sich zunächst auf unbestimmte Zeit zurückzuziehen und Gras über die Angelegenheit wachsen zu lassen. Er hatte sie alle getäuscht. Die kluge Mutter, den von Natur aus gutmütigen Vater und selbst Graceys alte Anstandsdame.

Alle, außer sie selbst. Sie hatte er nicht zu täuschen brauchen, war sie doch von sich aus eine kleine Rebellin, die eher ihrem übermütigen Herzen gehorchte als den vernünftigen Worten ihrer verstockt wirkenden Mutter. Nein, Gracey war nicht wie sie. Nicht so ernst und zugeknöpft.

»Pffff«, machte Adam und raufte sich die feuchten Haare, als ihn der letzte Begriff buchstäblich durchzuckte. »Zugeknöpft«, das erinnerte ihn an »aufgeknöpft« … und dieser Gedanke war … nun ja, nicht gerade förderlich, wenn man in seiner Situation steckte und verzweifelt um einen klaren Kopf rang. Aber es stimmte: Gracey war wunderbar temperamentvoll und ungehorsam. Sonst hätten die Bilder, die sich nun wieder in seinem Kopf ausbreiteten, nicht realen Begebenheiten entspringen und niemals Erinnerungen sein können.

Gracey merkte man an, dass ihr alter Herr aus Oklahoma stammte; durch ihre Adern floss unverkennbar das Blut einer Südstaatlerin.

Ein stolzes Lächeln eroberte Adams Gesicht, als er daran zurückdachte, wie sie ihn in den kleinen Raum neben der Küche gezerrt und zwischen Besen, Leitern und Putzeimern stürmisch geküsst hatte. Vollkommen überrumpelt hatte sie ihn damit, auf so wunderbare Art.

Doch das war lange her. Viel zu lange, wenn es nach Adam ging. Wie zur Bestätigung löste sich das Kribbeln seiner Lippen auf, wie Brausepulver in Wasser. Plötzlich war es ausgelöscht und hinterließ nur ein furchtbar bitteres Gefühl tiefster Einsamkeit. Adam war es nicht fremd, auf sich allein gestellt zu sein, dennoch verabscheute er dieses Gefühl.

Gracey hingegen war noch nie zuvor in ihrem Leben mit wahrem Verlust konfrontiert gewesen, das hatte sie ihm selbst erzählt. Umso mehr wunderte es ihn, schon seit Wochen nichts mehr von ihr gehört zu haben. Sehnte sie sich denn nicht ebenso nach ihm, wie er sich nach ihr verzehrte?

Bei ihrer letzten heimlichen Begegnung hatte sie noch hoch und heilig versprochen, einen Weg zu ihm zu finden – Verbot hin oder her.

Dieses Treffen lag beinahe zwei Monate zurück.

Adam wusste, dass sein Freund David ihr die Nachricht über seinen momentanen Aufenthaltsort erfolgreich übermittelt hatte. Ihm konnte er vertrauen. Gracey hatte also Kenntnis darüber, wo er lebte und dass er dabei war, seinen Plan für ihre gemeinsame Zukunft, einen neuen Anfang, in die Tat umzusetzen. Für sie!

Was war also geschehen? Warum meldete sie sich nicht mehr?

Seufzend legte Adam die Seife in die kleine Schale und hängte das Handtuch zurück an seinen Haken. Dann schnitt er sich eine dicke Scheibe Brot ab, sammelte mit angefeuchteter Fingerspitze akribisch die Krumen vom Brett, wickelte den Rest des Laibs zurück in das Tuch und trat vor das einzige, winzige Fenster seines Zimmers. Trotz der Kälte und des rauen Windes, der um das Haus pfiff, öffnete er das Fenster und beugte sich mit freiem Oberkörper in unfassbarer Sehnsucht den letzten Strahlen der untergehenden Sonne entgegen, als wollte er einen davon erfassen und den glühenden Stern daran zurück an den höchsten Punkt des Himmels ziehen.

Wieder ein Tag, der sich viel zu schnell dem Ende neigte. Wieder ein Tag, der ohne eine Nachricht von ihr verstrich.

Als er gegessen und auch einen Schluck Wasser getrunken hatte, schloss Adam das Fenster und trat entschlossen hinter seinen Sekretär.

Es war ein schönes Möbelstück. Sein erstes eigenes, und Adam war sehr stolz darauf. Zwar schlief er dafür nach wie vor auf dem Boden, auf einer mit Stroh gefüllten Matratze, aber das war ihm egal. Er kannte es ohnehin nicht anders; darum hatte er sich für den Sekretär entschieden, als es um seinen ersten Lohn ging.

Die Briefe an Gracey und sein Selbststudium besaßen höchste Priorität. Seinen Schulabschluss wollte er so schnell wie möglich absolvieren. Der Schlaf kam nach Tagen wie diesem – und im Prinzip glich ein Tag dem anderen – ohnehin von ganz allein und oft viel früher, als ihm lieb war. Da brauchte er keine butterweiche Matratze auf einem edlen Bettgestell, die ihn zum Schlafen einlud und ihm das Erwachen noch zusätzlich erschwerte.

Schreiben musste er. Schreiben, rechnen und lernen in einer vernünftigen Haltung, in der er sich möglichst lange und gut konzentrieren konnte.

Oh ja, Adam Winterfield war entschlossen. Und er war verstört und verzweifelt, weil er schon so lange nichts von seinem Mädchen gehört hatte. Vermutlich hätte er selbst nicht sagen können, welches dieser Gefühle in seinem Inneren überwog, denn die Liebe zu Grace Alice Sanders überschattete und betäubte ohnehin alle anderen Gefühle, die sein junges Herz bereits kennengelernt hatte: Trauer, Angst, den bitteren Geschmack des Verrats, unsagbare Einsamkeit.

Und inmitten all dieses Elends jenes Quäntchen Glück, das ihn bis zum heutigen Tag lebendig gehalten und zur rechten Zeit an den rechten Ort geführt hatte. Zuerst in Graceys Arme und dann in dieses wunderbare, wenn auch ein wenig veraltete Haus am südöstlichen Rand von Seattle.

Hart, wie sein Leben war, fühlte sich Adam dennoch privilegiert.

Und so nahm er – seiner Erschöpfung zum Trotz – auch an diesem stürmischen Herbstabend hinter seinem Sekretär Platz, zog einen Bogen Papier aus einer der oberen Schubladen und begann ohne Zögern zu schreiben:

Newcastle, WA, 6. Oktober 1927

An das Mädchen meines Herzens, die bezaubernde Grace!

Wie sehr wünschte ich, Du würdest nun neben mir sitzen, mich noch einmal so ansehen wie vor all diesen Wochen und mir ganz beiläufig von Deinen schönsten Momenten dieses fast schon verstrichenen Tages berichten. Denn dann würde es sich sicherlich schließen, dieses dumme Loch in meiner Brust.

Entstanden durch die fehlende Nähe zu Dir, mit jeder weiteren Minute durch meine Sehnsucht genährt, wurde es auch heute immer tiefer und schmerzhafter, wie eine klaffende Wunde.

An jedem einsamen Abend glaube ich fest, keinen weiteren Sonnenuntergang mehr ohne Dich zu überstehen. Doch Du bist nicht da, bleibst verschollen, bist fast so weit entfernt wie der Mond von der Erde, zumindest fühlt es sich so an. Dennoch muss ich weitermachen. Ich atme, überrede mich zu jedem einzelnen Schritt, zu jedem Bissen Brot und zu jedem Schluck Wasser. Jeder Schlag, den ich mit meinem Hammer ausführe, und jeder Pinselstrich, den ich ziehe – alles wird von der Hoffnung bestimmt und getragen, Dich bald wiederzusehen. In meinen Träumen wird nämlich alles gut, solange Du nur weiterhin davon überzeugt bist, ich sei der einzige Mann, der es schaffen kann, Glück und Zufriedenheit zurück in Dein Leben zu bringen, und vor allem, dort zu halten.

Denn kommt es nicht allein darauf an, liebste Gracey? Auf das große Glück der einzig wahren Liebe, nach dem alle Menschen so sehr streben? Wie unermesslich groß war unser Glück an dem Tag des großen Balles, als wir einander zum ersten Mal begegneten, hast Du Dich das schon einmal gefragt? Ich selbst stelle mir diese Frage ständig, und egal, wie die Dinge auch für uns ausgehen mögen, mein Lebtag lang möchte ich diesen Moment nicht vergessen, als ich auf Dich traf und Du auf mich, unter all diesen Menschen. Wie gut meinte es der Himmel damals mit uns, meine Gracey?

Ja, ich schreibe noch immer »meine Gracey«, denn tief in meinem Herzen hoffe ich, dass es der Wahrheit entspricht. Du, meine Liebste, magst von Hause aus eine gewisse Etikette gewohnt sein. »Anstand« nennt Ihr es, ich nenne es Heuchelei und sehe Dich dabei in Gedanken vor mir, wie Du vor Empörung die Hände in die Hüften stützt und mit funkelnden Augen den Kopf zur Seite neigst. Aber lass mich erklären! Ich rede von all den vielen überschwänglichen Floskeln und Worten, die in Euren Kreisen immer wieder gesagt, in den seltensten Fällen aber auch gemeint werden. Es tut mir leid, aber dies entspricht nicht der Weise, in der ich erzogen wurde. Meine Mutter, Gott hab sie selig, war zwar eine einfache, aber doch sehr kluge Frau. Sie pflegte stets zu sagen: »Sprich die Wahrheit, offen und ehrlich, dann wird Dir niemand auf lange bös sein können. Und sind sie es doch, so lass sie nur zieh’n. Echte Freunde vertragen jedes aufrichtige Wort.«

Süße Gracey, ich möchte dem Rat meiner Mutter nun folgen, indem ich Dir schreibe, was Du hoffentlich schon längst weißt:

Ich liebe Dich, Grace Alice Sanders. Ich liebe Dich mehr als das Leben selbst.

Was uns verbindet, ist groß und rein und so gut, wie nur irgendetwas gut sein kann. Niemandem wird es je gelingen, mir etwas anderes einzureden.

Ich wünschte, du wärest gerade jetzt an meiner Seite und würdest mir zusehen, wie ich nun, wo die Kälte langsam Einzug in die Häuser hält, das Feuer in dem alten Kamin meines Zimmers schüre. Du könntest Deinen Kopf auf meinen Schoß betten und mir lauschen, wenn ich Dir bis spät in die Nacht hinein Deine geliebten Gedichte vorlese. Ich verspreche, ich werde sie Dir Abend für Abend vorlesen, ohne dessen müde zu werden, bis an das Ende unserer Tage.

Ja, Du solltest hier sein, mir von den kleinen Wundern Deines Tages berichten und das schreckliche Loch in meinem Herzen mit Deiner Nähe ausfüllen. Ich vermisse Dich so sehr.

Den Blick auf den schmalen Streifen des schwindenden Lichts am Horizont gerichtet, frage ich mich, wie viele einsame Sonnenuntergänge mir noch bevorstehen, Gracey? Wann erlöst Du mich?

Doch vor allem frage ich mich, ob ich es wohl jemals wagen werde, David mit einem weiteren Botengang zu beauftragen und Dir auch nur einen dieser erbärmlich schwülstigen Briefe zukommen zu lassen.

 

In ewiger Liebe,

Dein Adam

[home]

Jeremy

Downtown Seattle, 6. Oktober 2013

Was ich an deiner Stelle tun würde? Pfff, keinen Schimmer, Jerry!«

Gut, das ist nicht gerade die hilfreichste Antwort, aber zumindest ist er ehrlich. Und Ehrlichkeit scheint in dieser Welt ein rares, wertvolles Gut zu sein, wie ich soeben schmerzlich erfahren musste.

Was soll er auch sagen? Die ganze Scheißsituation ist total verzwickt.

Mein bester Freund sitzt mir in unserer Stammkneipe gegenüber, dreht den Hals seiner Bierflasche zwischen Daumen und Zeigefinger und zuckt schließlich mit den Schultern. »Es ist immerhin dein Appartement, also sag ihr doch einfach, sie soll ihr Zeug packen und verschwinden. Am besten noch heute Abend. Und, ach ja, kündige ihr!«

»Rob, ist das dein Ernst? Wo soll sie denn bitte hin? Mitten in Seattle, von jetzt auf gleich, und dann auch noch ohne Job? Sie kennt doch hier niemanden, ist praktisch völlig fremd.«

»Ach! Das hat sie aber nicht davon abgehalten, sich den erstbesten Typen zu schnappen und mit ihm …«

»Hey!« Mit nur einem Blick bringe ich ihn zum Schweigen. Er hat recht. Ich weiß es ja. Dennoch …

»Erspar mir bitte die Details, ja?« Ich widerstehe nur mit Mühe dem Impuls, mir die Ohren zuzuhalten. »Oder weißt du nach all der Zeit immer noch nicht, wie mein krankes Hirn funktioniert? Du sagst: ›Strapse tragendes Schwein heizt mit Motorrad über Hochspannungsleitung –‹ und ich sehe ein Strapse tragendes Schwein mit dem Motorrad über ’ne scheiß Hochspannungsleitung brettern. Verstehst du? Ich sehe alles, was du mir erzählst, bildlich vor mir. Es ist wie ein Fluch! Also, bitte: Erspar. Mir. Die. Details!«

Rob lässt die Luft, die er für weitere Ausführungen schon tief aus seinen Lungen geschöpft und in seine Wangen gepumpt hatte, wieder geräuschvoll entweichen.

Es passt ihm ganz und gar nicht, dass er nicht weiter auf seine Entdeckung eingehen soll, in der meine Freundin Jeannine und ihr muskelbepackter Fitnesstrainer die unrühmlichen Hauptrollen spielen. Aber Rob ist nicht nur mein Partner in der Kanzlei, sondern auch ein guter Freund.

Und so wirft er resignierend die Hände in die Luft und lehnt sich so weit auf seiner Sitzbank zurück, dass sich sein rundlicher Bauch deutlich unter dem grauen Sweatshirt abzeichnet. Ein Shirt, das seinem Namen heute alle Ehre gemacht hat. Denn auf Robs breiter Stirn stehen Hunderte kleine Schweißperlen, die in mir die Frage aufkommen lassen, welcher Teil des Nachmittags wohl stärker zu seinem Zustand beigetragen hat. Die Aufregung über seine Entdeckung oder die körperliche Anstrengung?

Rob ist zehn Jahre älter als ich, steuert mit Riesenschritten auf seinen vierzigsten Geburtstag zu und versucht seit geraumer Zeit vergeblich, sein überflüssiges Bauchfett zu verbrennen. Irgendwie.

Mit diesem Ziel besuchte er heute zum ersten Mal seinen neuen Aerobic-Kurs. Eindeutig hormongesteuert und angetrieben von der verzweifelten Hoffnung, auf diesem Wege endlich die Frau fürs Leben – oder zumindest für eine lang schon überfällige heiße Nacht – zu finden, hatte er den Kurs gebucht.

Was er jedoch anstelle seiner Traumfrau entdecken musste, schockiert ihn bis jetzt immer noch sichtlich.

Meine vermeintliche Traumfrau nämlich, die unter der Aufsicht des besagten Muskelprotzes mit einem Paar Hanteln trainierte. Der Personal Trainer meiner Freundin war dabei so aufmerksam gewesen, Jeannine ein wenig unter die Arme zu greifen. Sprichwörtlich. Von hinten.

Seine Hände hatte er an Stellen ihres Oberkörpers platziert, die ich bislang naiverweise für privat erachtet hatte. Privat für mich!

All das und noch viel mehr hatte Rob unbemerkt beobachtet, als er Jeannine nach seinem Kurs in einer entlegenen Ecke des Fitnessraums entdeckte und sie gerade freudig begrüßen wollte.

An diesem Punkt seiner Schilderung habe ich ihn allerdings unterbrochen. Mehr wollte und brauchte ich nicht zu hören. Strapse tragendes Schwein und so. Nein danke!

Plötzlich schaut Rob von seiner Bierflasche zu mir auf. Seine Augen weiten sich, und für einen winzigen Moment blitzt die verrückte Idee in mir auf, er könne eine alles rettende Erleuchtung haben.

»Scheiße, das ist tatsächlich das erste Mal, dass dir ein Mädchen fremdgeht, richtig? Ich meine, sie dir und nicht umgekehrt.«

»Rob?«

»Hm?«

»Halt die Klappe!«

Doch leider liegt er auch mit dieser vollkommen überflüssigen Bemerkung richtig. Nicht, dass ich wirklich jeder Frau vor Jeannine fremdgegangen wäre, aber … nun ja, so ganz kann ich mich nicht von seiner Anklage freisprechen.

Während der letzten Jahre meiner Senior-High-Zeit und über die Etappe meines anschließenden Studiums hinweg hangelte ich mich quasi von einer Party zur nächsten, sammelte so viele One-Night-Stands wie nur möglich und prahlte nach jeder erfolgreichen Nacht mit meinen Eroberungen. Nur selten – und wenn, dann immer nur für kurze Zeit – startete ich in diesen Jahren vage Beziehungsversuche. Schlechtes Gewissen? Ehrlich gesagt, nicht! Dafür fühlte es sich einfach zu gut an.

Gestärkt durch meine Studienfreunde, die größtenteils ähnlich tickten wie ich, redete ich mir damals ein, diese unbeschwerte Zeit in vollen Zügen genießen zu müssen. Und das war leicht, denn keines der Mädchen hatte mir wirklich etwas bedeutet.

Bis auf Jeannine.

Ich lernte sie auf einer beruflichen Reise in Frankreich kennen, wo sie gerade für ein paar Wochen ihre Tante besuchte und in deren kleinem Bistro im Herzen von Paris jobbte. Es war Liebe auf den ersten Blick, im wahrsten Sinne des Wortes.

Groß, schlank und mit den perfekten Rundungen an den richtigen Stellen, bediente sie mich an einem heißen Maitag. Sie trug ein kurzes Kleid, strich sich immer wieder eine hellbraune Haarsträhne, die sich aus dem lockeren Zopf in ihrem Nacken gelöst hatte, hinter ihr Ohr zurück und nahm meine Bestellung mit einem kessen Lächeln entgegen. Es traf mich wie ein Blitz. Und da Jeannine aus einem Vorort von Ontario in Kanada stammt und bis zu dieser Zeit in ihrem Leben überwiegend Französisch gesprochen hatte, beantwortete sie meine neugierigen Fragen tatsächlich mit diesem süßen Akzent. Jeder zweite ihrer Sätze fing mit einem »Oh, oui Monsieur!« an. Ich meine, welcher Mann wird dabei nicht schwach?

Damals ahnte ich noch nicht, dass sie mich so in die Irre führen würde.

Was, um alles in der Welt, soll ich denn jetzt machen?

Seitdem Jeannine zurück nach Ontario flog und unmittelbar danach meiner Aufforderung folgte, mich in Seattle zu besuchen, fühle ich mich für sie verantwortlich. Denn schließlich war ich derjenige, der sie schon nach zwei Wochen, unmittelbar vor ihrer Rückkehr nach Kanada, überredete, doch noch länger bei mir zu bleiben. Als sie einwilligte, erledigte ich sämtliche Behördengänge mit ihr und besorgte ihr sogar einen Job in unserer Kanzlei. Nichts Großes. Kaffee kochen, die Post öffnen, Telefonate annehmen, sollte unsere Sekretärin gerade anderweitig beschäftigt sein. Aber so hatte Jeannine eine Arbeitserlaubnis, einen Job, und die Formalitäten waren erfüllt.

Also machten wir unsere Beziehung bereits nach den ersten paar Wochen offiziell, und sie zog dauerhaft bei mir ein, obwohl ihre Eltern alles andere als begeistert davon waren.

Da kann ich sie doch jetzt nicht einfach auf die Straße setzen, oder?

»Darf ich euch noch was zu trinken bringen?«, fragt die leicht gestresst wirkende junge Kellnerin, als sie im Vorbeigehen unsere leeren Bierflaschen bemerkt. Rob und ich einigen uns stumm, verneinen dankend und verlangen stattdessen die Rechnung.

Die hübsche Blondine nickt, stellt unsere Flaschen auf ihr Tablett und wendet sich schwungvoll ab. Rob fällt es sichtlich schwer, seine Augen von ihr zu nehmen. Beinahe sehnsüchtig löst er seinen Blick von ihr und seufzt theatralisch. Wie der Hauptdarsteller einer alten Schwarz-Weiß-Schnulze.

Oh Mann, der Kerl ist so was von überfällig!

»Himmel, Rob, reiß dich mal zusammen!«, raune ich ihm zu. Mit attraktiven Kellnerinnen flirten, tss! Er sollte es verdammt noch mal besser wissen.

»Pass auf, dass dir der Sabber nicht aus den Mundwinkeln trieft. Und jetzt komm, ich habe heute Abend noch was zu tun. Zum Beispiel meine treulose Freundin zur Rede stellen und so. Du weißt schon.«

 

Keine halbe Stunde später ist es so weit. Mit rasendem Herzen und einem unwohlen Grummeln im Bauch verlasse ich den Fahrstuhl und durchquere den schmalen Korridor, die Tür zu meiner Wohnung fest im Blick. Das metallene Geräusch des sich im Schloss drehenden Schlüssels klingt übermäßig laut in meinen Ohren. Meine Sinne befinden sich in Habtachtmodus, ich agiere angespannt und alarmiert.

Jeannine hingegen sitzt seelenruhig und offenbar vollkommen relaxt auf meiner Couch und lacht über die abgedroschenen Sprüche irgendeiner Nachmittags-Sitcom. Mich begrüßt sie lediglich mit einem kurzen »Ey Jerry!«.

Oh Mann, ich liebe es, wie sie spricht!

Aus ihrem Mund klingt mein lahmer Spitzname beinahe wie das französische »Chéri«.

Fokus, Jeremy! Lass dich nicht einlullen!

Ich verharre noch einen Moment stumm auf der Schwelle zu meiner Wohnung, bevor ich tief durchatme, den Knauf in meinem Rücken packe und die Tür entschlossen zudrücke. »Schalt das bitte ab, Jeannine! Wir müssen reden.«

Und das tun wir. Gut, eigentlich rede vorerst nur ich. Berichte ihr gestenreich, in einem leidenschaftlichen Monolog, dass Rob sie und Mr Sixpack unbemerkt beobachtet hat. Mache ihr unzählige Vorwürfe, zähle all die Dinge auf, die ich in den vergangenen Monaten, seit unserem Kennenlernen, für sie getan habe. Beobachte den sekundenlangen Schock in ihren Augen, der den letzten Hoffnungsschimmer auf einen Irrtum unwiderruflich auslöscht. Ärgere mich, dass ich von Satz zu Satz lauter werde – hatte ich mir auf der Heimfahrt doch noch felsenfest vorgenommen, nur ja die Ruhe zu bewahren und sachlich zu bleiben. Und plötzlich, ganz unverhofft, spüre ich einen starken, bislang unbekannten Schmerz, ausgelöst durch eine Erkenntnis, die zwar erst spät einsetzt, mich aber dennoch wie ein Schlag trifft.

Sie hat mich tatsächlich hintergangen. Vermutlich hat sie mich nicht einmal geliebt. Das erste Mal in meinem Leben fühle ich mich wirklich bereit, eine feste Beziehung einzugehen … und dann das!

Während mein Mund mitten im Satz offen stehen bleibt und ich wie ein Hornochse ins Leere gaffe, fängt sich Jeannine ausreichend, um ihren Schock unter Zorn zu begraben.

»Das ist doch alles deine Schüld, Jerry!«, schimpft sie. »In den letzten Wochen gab es immer nur Arbeit, Arbeit, Arbeit. Du ’ast misch gar nischt mehr beachtet. Warüm bist du nischt einfach mitgekommen in die Fitnessstüdeo?«

Ihre Worte dringen seltsam gedämpft zu mir hindurch. Ich versuche, meine Fassung zurückzuerlangen, und blinzle so oft, bis ich wieder klar sehe. Mit in die Hüften gestemmten Händen steht mir Jeannine gegenüber – bildschön, wie immer – und schaut mich wütend an. Sie mich. Wütend.

Warum nur klingen ihre Vorhaltungen so, als wären wir schon seit Jahrzehnten miteinander verheiratet? Wir kennen uns nicht einmal sechs Monate! Und ich habe sie nicht beachtet? Das ist absolut lächerlich.

»Du hast doch gesagt, du möchtest etwas allein machen. Etwas nur für dich, um eigene Bekanntschaften zu knüpfen«, halte ich dagegen und fühle mich plötzlich sehr erschöpft, als mir bewusst wird, auf welche Weise sie ihren Wunsch umgesetzt hat. Resigniert werfe ich die Hände in die Luft. »Weißt du was, Jeannine? Ich möchte, dass du ausziehst. Und zwar so schnell wie möglich.«

»Fein!« Wutentbrannt greift sie den überfüllten Aschenbecher, den ich überhaupt erst für sie in meine bis dahin strenge Nichtraucherwohnung geholt habe, kippt die Asche und Überreste ihrer Glimmstängel quer über meine helle Couch und pfeffert ihn dann mit voller Wucht gegen die Wand über meiner Schallplattensammlung. Dort prallt er ab, knallt zu Boden, schlägt eine Delle ins Parkett und zerschellt dabei lautstark.

»Chuck hat sowieso gesagt, dass ich jederzeit bei ihm in die Fitnessstüdeo arbeiten kann!«, kreischt sie.

»Womit auch die Jobfrage geklärt wäre, ist ja wunderbar!«, brülle ich zurück und beschließe im selben Moment, dass ich hier nicht länger bleiben kann. Nicht an diesem Abend. Das würde meinem armen Appartement überhaupt nicht gut bekommen.

»Ich gebe dir eine Woche, dann bist du draußen, kapiert?«

Jeannine greift nach der Vase auf meiner Anrichte, die ich ihr erst vor wenigen Tagen in einem Designershop gekauft habe. Gerade noch rechtzeitig gelingt mir die rettende Verrenkung, bevor das edle Porzellan unmittelbar hinter mir, an der Innenseite meiner Wohnungstür, zerschellt. 279 Dollar. Vermutlich ebenso viele Scherben.

Während mich meine vom Adrenalinkick noch zittrigen Beine zurück ins Parkhaus zu meinem Wagen tragen, zücke ich mein Smartphone und tippe eine schnelle SMS ein:

Hey Rob,

müsste doch auf dein Angebot zurückkommen. Klapp schon mal dein Gästebett auf, ich bin in zehn Minuten bei dir.

– J –

[home]

Mary

Einige Hundert Meilen nordöstlich, zur selben Zeit

Maryyy!« Mein Name klingt wie eine Warnung aus ihrem Mund, aber das ist mir egal.

»Nein, Amy, ich werde dich immer weiter nerven, bis du mit der Sprache herausrückst. Und das ist ein Versprechen.« Die Dielen ihrer Frontveranda ächzen, als ich mich energisch darauf abstoße und der Schaukel neuen Schwung verpasse. »Du magst Nachgiebigkeit von mir gewohnt sein, aber dieses Mal wirst du mich nicht los. Ich werde bohren und bohren, bis ich endlich weiß, was ihr beide im Schilde führt«, erkläre ich entschlossen. Für einige Sekunden blicken wir uns noch stur an, dann wenden wir uns – wie auf ein stummes Zeichen hin – beide ab.

Das hohe Schilf neigt sich im Abendwind und gibt die Sicht auf den See frei. Eine Weile sitzen wir nahezu reglos nebeneinander und starren über die leicht aufgeworfene Wasseroberfläche. Lediglich unsere Arme streifen sich bei jedem Atemzug.

Leises Geschrei ertönt über uns und erwischt uns in seiner Eindeutigkeit so kalt, dass wir unseren Trotz postwendend unterbrechen, um mit zusammengekniffenen Lidern unter der Überdachung der Hollywoodschaukel hervorzuspähen. Suchend starren wir in den blassgrauen Himmel. Die Dämmerung ist bereits so weit fortgeschritten, dass unsere Augen eine Weile brauchen, um den Schwarm winziger schwarzer Punkte auszumachen, der dem Horizont entgegensteuert.

Gen Süden. Winterboten.

Amy lehnt ihren Kopf an meine Schulter, ich lege meinen Arm um ihren Rücken und ziehe sie an mich. Halte sie, stütze sie. Wie sie mich.

In Momenten wie diesem müssen wir nicht sprechen. Denn ich weiß genau, was in meiner besten Freundin vorgeht, ich teile ihren Schmerz. Ein wehmütiges Seufzen entringt sich meiner Kehle.

Sanft schmiegt Amy ihre Wange an meinen Oberarm und flüstert: »An manchen Tagen fehlt er mir so sehr, dass es beinahe körperlich wehtut.«

»Ich weiß«, wispere ich zurück, als wäre mein Geständnis ein Geheimnis. Doch das ist es nicht und war es auch nie.

Wir liebten beide denselben Mann. Und nun vermissen wir beide seine tiefe, leicht raue Stimme, seinen sanften, stets latent unsicheren Blick. Sein schiefes Lächeln, die großen schlanken Hände, mit denen er wahre Wunder vollbringen konnte.

Allerdings kannte nur Amy das Glück, von diesem großartigen Mann auch zurückgeliebt zu werden.

Die Rufe der Zugvögel über unseren Köpfen werden immer leiser, bis der Schwarm nach und nach vom Grau der Dämmerung verschluckt wird. Die markanten Laute bleiben uns noch eine Weile erhalten, dann werden auch sie vom Rascheln des Schilfes überschattet.

Und so endet er, der dritte Sommer ohne ihn. Ohne den Mann unserer Träume.

Was mit ihm geschah und warum Amy und ich auch heute noch – trotz alledem – die besten Freundinnen sind, das ist eine lange Geschichte, die wohl locker mehrere Hundert Seiten zwischen zwei Buchdeckeln füllen könnte. Aber in diesem Moment nimmt Amy ihren Kopf von meiner Schulter und sieht mich so eindringlich von der Seite aus an, dass ich meinen wehmütigen Erinnerungen nicht länger nachhängen kann.

»Okay, ich verrate dir, was Caro und ich mit dir vorhaben. Aber nur, wenn du mir versprichst, nicht wieder direkt abzublocken.« Ihre grünen Augen durchbohren mich herausfordernd. Ich weiß, sie wird kein weiteres Wort von sich geben, solange ich ihr nicht das geforderte Versprechen gebe. Also lenke ich ein und hebe die Finger zum Schwur, wie eine Zwölfjährige.

Amys Blick wird prüfender. Ich halte ihm stand, bis sie sich eine lange, wirre Haarsträhne ihrer braunen Mähne aus dem Gesicht fegt und endlich nickt. »Na schön! Aber zuerst hilfst du mir, diese wild gewordenen Zwerge in ihre Betten zu verfrachten!«

Als hätte Carolyn Amys Bemerkung von drinnen gehört, reißt sie just in diesem Moment Amys Haustür auf. »Mädels, könnt ihr hier übernehmen? Fred kommt sicher bald, und ich müsste unbedingt noch unter die Dusche springen.«

»Wir kommen!«, rufe ich und ziehe Amy mit mir.

Amys dreijährige Tochter Julie und Carolyns Sohn Matty – nur wenige Monate älter als seine kleine Freundin – springen ausgelassen auf der Gästematratze in Julies Zimmer herum.

Die beiden sollten schon lange ihre Pyjamas tragen, doch stattdessen tollen sie quietschend in ihrer Unterwäsche umher. Die abgestreiften Kleidungsstücke liegen kreuz und quer im Kinderzimmer verteilt.

»Julie!«, tadelt Amy halbherzig bei dem Anblick ihrer Kleinen, die es nicht mal geschafft hat, sich den Pullover selbstständig auszuziehen, sondern bei dem Versuch mit dem Kopf stecken geblieben ist.

»Mattys Schuld«, sagt Julie, zeigt mit ihrem ausgestreckten Knubbelfingerchen auf ihren Freund und schaut aus riesigen braunen Rehaugen zu uns empor. »Titzelt miss immer.«

»Matty kitzelt dich also immer, ja?«, wiederholt Amy und befreit die Kleine dabei geschickt von ihrem Pullover. »Na, dann kommen jetzt die großen Kitzelbären und kitzeln ihn zurück.« Sie wirft mir einen verschwörerischen Blick zu, und schon begeben wir uns in Position. Machen uns groß und so mächtig, wie es unsere ähnlich zierlichen Figuren zulassen, formen die Hände zu Pranken und stolzieren breitbeinig, wie zwei Sumo-Ringer, durch das liebevoll gestaltete Kinderzimmer. Die beiden Kleinen quietschen laut auf und rennen zunächst kopflos hin und her. Doch dann packt Matty, der nur wenige Monate älter ist als Julie, seine Freundin bei der Hand und zieht sie beschützend mit sich unter das Bett. Amy und ich legen uns bäuchlings davor, jeder von uns bekommt ein Kinderbein zu fassen.

Wir ziehen die beiden hervor – ich Julie, sie Matty – und kitzeln, was das Zeug hält, bis die Angst vor Pipi-Pfützen auf den Holzdielen überhandnimmt.

Matty hat so sehr gelacht, dass er nun mit einem Schluckauf kämpft.

»Tante – hicks – Amy?«, sagt er und schaut dabei so treuherzig aus seinen großen hellblauen Augen, dass ich weiß, die Antwort wird »ja« lauten, ohne seine Frage zu kennen. »Eintlich wollte ich ja bei Julie schlafen.«

»Na schön«, willigt sie ein. »Ich mache dir einen Vorschlag, Schatz: Ihr geht jetzt baden und putzt brav eure Zähne, dann darfst du auch mit Julie zusammen in ihrem Bett schlafen, in Ordnung?« Die Knirpse jubeln.

Mein Blick fällt auf Julie. Sie sieht aus wie ihr Vater, mit ihren dunklen Augen und den sanften Locken. Sie hat sogar seinen Schmollmund geerbt. Ja, er hat Amy einen Trost hinterlassen. Den besten der Welt. Ein wunderschönes kleines Mädchen, das meiner Freundin Tag für Tag von Neuem klarmacht, dass ihre Liebe zwar nicht glücklich endete, dass sie aber dennoch fruchtbar war. Lohnenswert.

Im Gegensatz zu meiner Liebe, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Hoffnungslos.

»Tante Mary«, sagt eine dünne Stimme. Ich schrecke aus meinen trüben Gedanken, bemerke erst jetzt, dass das fröhliche Geschrei verebbt ist und Amy und Julie das Zimmer bereits verlassen haben. Hellblaue Augen schauen zu mir auf. Sie sind so viel näher, als ich erwartete, und so viel mitfühlender, als es das Alter des kleinen Jungen vor mir rechtfertigt. »Matty«, wispere ich.

»Nicht traurig sein«, sagt er leise und legt sein leicht verschwitztes Händchen an meine Wange. »Okay«, flüstere ich und küsse seine Fingerspitzen.

Und in diesem Moment, als ich mich dabei erwische, von einem gerade mal dreijährigen Kind getröstet zu werden, wird mir schmerzlich bewusst, dass sich in meinem Leben dringend etwas ändern muss. Ich kann nicht ewig einem Mann hinterhertrauern, dessen Liebe ohnehin niemals für mich bestimmt war. Ich kann nicht weiterhin wie das fünfte Rad am Wagen zwischen meinen Freundinnen sitzen und sie voller Wehmut dabei beobachten, wie sie ein Leben leben, das ich mir auch für mich gewünscht hätte.

Ein bescheidenes, aber glückliches Leben mit Kindern und einem Partner, einem Ehemann, der mich ebenso liebt wie ich ihn.

Wie schön wäre es, einmal nicht diejenige zu sein, die mehr liebt, die mehr gibt? Ein ganz normales Leben zu führen, mit Höhen und Tiefen. Mit durchwachten Nächten, aber auch mit Kitzelbären, Lachschluckauf und der Möglichkeit, von fröhlichem Geplapper geweckt zu werden. Mit Wochenenden, die man als Familie und ab und zu auch mal nur mit seinem Ehemann verbringt. Wie wäre es, einmal nicht diejenige zu sein, die das Kind der Freundin für einen solch seltenen Abend hütet, sondern diejenige, die ihre Freundinnen anruft und um einen derartigen Gefallen bittet?

Ich wollte niemals etwas Außergewöhnliches für mein Leben, immer nur Normalität. Doch die vergangenen Jahre haben mir klargemacht, dass schon das alltägliche Glück, das die meisten für vollkommen normal und unspektakulär halten, ein unfassbar kostbares Gut ist.

Schnell raffe ich mich auf, spüre jeden Gesichtsmuskel, den mein unechtes Lächeln strapaziert, und reiche Matty die Hand.

 

Amy und ich sitzen auf dem Wannenrand im Badezimmer, während die Kinder baden. Mit jeder verstrichenen Minute, in der wir die beiden bettfertig machen, wird meine Sehnsucht größer. Manchmal sitze ich hier, mitten unter ihnen, und fühle mich so einsam, dass ich mir beinahe durchsichtig vorkomme.

Ich möchte nicht nur die ewig nette Tante sein, die den Kleinen eine »Gute Nacht« wünscht, um dann mitten in ebendieser meinen Wachposten zu verlassen und in meine einsame Wohnung zu fahren. Ich möchte mit einem fröhlichen »Guten Morgen« ein nach Schlaf riechendes Zimmer betreten und die Vorhänge zurückziehen. Die Sonne hereinlassen und dem gemeinsamen Tag entgegenblicken.

Als ich mich über Julies Bett herabbeuge, überrascht mich Matty ein weiteres Mal, indem er mir einen Kuss auf die Wange drückt und mich anlächelt. »Träumt süß, ihr zwei«, sage ich. Beide nicken und kuscheln sich eng aneinander, während Amy und ich den Raum auf leisen Sohlen verlassen.

»Hm, das kann ja noch was geben mit den beiden«, murmele ich, als wir über die Treppe in den Wohnraum schleichen. »Süß, nicht wahr?«, kichert Amy. Sie holt eine Schale mit Schokolade und eine weitere mit Chips aus der Küche und stellt sie auf den Wohnzimmertisch, wo auch schon mehrere DVDs liegen. »Der Wein ist im Kühlschrank. Weiß ist dir doch lieber, oder?«, erkundigt sie sich. Ein leises Klopfen vereitelt meine Antwort.

Es sind Carolyn und Fred, die ihrem Sohn noch schnell eine gute Nacht wünschen wollen, bevor sie für ihren Kinoabend in die Stadt fahren. Dass die beiden Amys Nachbarn sind, ist in vielerlei Hinsicht ein wahrer Segen.

»Ihr seid wirklich Engel!«, sagt Carolyn, als sie mich zum Abschied fest in den Arm nimmt und an sich drückt.

»Wir revanchieren uns dann, wenn ihr demnächst unterwegs seid«, verspricht Fred, wackelt mit den Augenbrauen in meine Richtung und erinnert mich damit wieder an Amys und Caros seltsames Verhalten. Geheimniskrämerisch erklärten mir die beiden heute, dass ich mir für das letzte Oktoberwochenende nichts vornehmen sollte. Mit meiner Chefin sei bereits abgesprochen, dass ich den Montag auch noch freibekommen würde. Auf mein Nachhaken hin hatte Amy nur preisgegeben, dass sie mit mir »einen Ausflug unternehmen« wollten. Wohin und zu welchem Zweck, das weiß ich bis jetzt nicht.

Auch diesmal kichern Caro und sie wieder nur verschwörerisch. Ich warte – nur äußerlich geduldig –, bis Caro und ihr Mann die Biege gemacht haben, schließe lächelnd die Haustür hinter ihnen und wende mich dann mit einem Blick, der hoffentlich ebenso streng ausfällt, wie er sich anfühlt, wieder Amy zu.

»Und jetzt erzählst du mir, was ihr beide ausgeheckt habt. Und das ist keine Bitte, Amy Andrews!«

Ihr Mund formt ein tonloses »Oh«. Doch dann lächelt sie, nimmt auf der Couch Platz und tätschelt das Polster neben sich. »Komm her, du kleines Biest!«, fordert sie sanft und schließt mich versöhnlich in die Arme, als ich ihrer Aufforderung mürrisch nachkomme. »Mary, ich liebe dich über alles, das weißt du. Versprich mir, das nicht zu vergessen, wenn ich dir von unseren Plänen erzähle, okay? Egal, wie du darüber denkst, ich weiß, dass es eine tolle Idee ist.«

Nun, alles, was sie da sagt, klingt sehr viel weniger tröstlich, als sie es vermutlich gerne hätte.

»Amy?«

»Ja?«

»Schluss mit dem Gesäusel und raus mit der Sprache!«

»In Ordnung …«

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Jeremy

Seattle, 26. Oktober 2013

Was für eine beschissene Idee!

Als ob ich den ersten Abend meines lang ersehnten Urlaubs nicht besser verbringen könnte! Genervt verdrehe ich meine Augen – wohl zum zehnten Mal während der letzten drei Minuten –, schließe sie dann wieder und wünsche mich erneut weit weg.

Jedes andere Lokal dieser Stadt, jedes, nur nicht dieses hier …

Rob scheint ganz und gar anderer Meinung zu sein. Mein Freund, der übrigens froh sein kann, wenn ich ihm am Ende dieses Abends noch nicht den Hals umgedreht habe, wippt von einem Bein auf das andere und kichert dabei völlig grundlos wie ein pubertierendes Mädchen. Fehlt nur noch, dass er seinen Arm unter meinem hindurchfädelt und mir einen Stoß mit der Hüfte versetzt. Ich kämpfe auch so schon gegen den Impuls an, meinen Ellbogen auszufahren und die Spitze zwischen seine Rippen zu rammen. Schließlich habe ich diesen erniedrigenden Spießrutenlauf, der mir zweifellos bevorsteht, einzig und allein Robs Hartnäckigkeit zu verdanken. Mann, kann der Typ nerven, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat!

Eine junge Kellnerin erscheint an der Eingangstür. Sie ist hübsch, mit ihren langen blonden Haaren und dem Lächeln, das den Ansatz ihrer makellosen Zähne preisgibt. Nur ihre Augen wirken trüb, der Blick geht ins Leere. Ich verspüre Mitleid und senke unwillkürlich meinen Kopf, obwohl ich natürlich weiß, dass in diesem Lokal ausschließlich Blinde arbeiten.

»Guten Abend, meine Herren! Willkommen zu Ihrem ersten echten Blind Date«, grüßt die Kellnerin in die kleine Gruppe der wartenden Männer. »Sie werden schon sehnsüchtig erwartet, denn die Damen trafen bereits vor einer halben Stunde hier ein.«

Rob lässt seine Augenbrauen hüpfen. Er sieht mich so euphorisch an, als hätte er soeben den Lotto-Jackpot geknackt. Ich hingegen strafe ihn mit Todesblicken, was ihn jedoch kaltlässt.

»Meine Kollegen und ich führen Sie nun zu Ihren Tischen«, fährt die junge Frau fort. »Sobald wir die Schwelle passieren, befinden Sie sich in absoluter Dunkelheit. Wenn der Gong erklingt, sind die drei Minuten um. Sie werden dann von uns abgeholt und weitergeführt, während die Damen einfach sitzen bleiben. Auf jedem Tisch stehen eine Schale mit drei Rosenblüten und zehn aneinandergereihte Plastikbecher. Dabei steht jeder Becher für einen Mann, eins bis zehn, von links nach rechts, wie beim Lesen. Gefällt der Dame ihr Gegenüber und möchte sie ihr Gespräch mit ihm vertiefen, dann legt sie eine ihrer Rosenblüten in den entsprechenden Becher. Die Becher der ausgeschiedenen Gesprächspartner dreht sie hingegen einfach um. Für Sie, meine Herren, ist es viel leichter. Werden Sie nach einem Ihrer Gespräche von uns abgeholt, wird die Frage kommen, ob Ihnen die Dame zugesagt hat. Ein Händedruck bedeutet ›ja‹, zweimal drücken ›nein‹. Am Schluss werten wir die Übereinstimmungen aus und führen die entsprechenden Paare noch einmal zusammen. Erst dann zünden wir die Kerzen an den Tischen an, und Sie bekommen Ihr Gegenüber endlich zu Gesicht. Eventuell haben Sie dann zwei oder sogar drei Damen vor sich, vielleicht sitzen Sie aber auch ganz allein an Ihrem Tisch. Alles ist möglich.«

Ein Seufzen geht durch die Gruppe der Wartenden. Hoffnungsvoll, sehnsüchtig, nervös.

Erbärmlich.

Die blinde Kellnerin lacht. »Ja, ich gebe zu, es hat was von ›Herzblatt‹.«

»… für Verzweifelte«, murmele ich bitter und zucke dann zusammen, als Rob mir einen Hieb in die Seite verpasst. Im gleichen Augenblick ärgere ich mich über meinen eigenen Kommentar, denn ich will nicht verbittert oder gar frustriert klingen. Mein Leben mag nicht perfekt sein und meine treulose Exfreundin sich nach wie vor in meiner Wohnung verbarrikadieren und sich vielleicht sogar mit ihrem Popeye auf meinem gemütlichen Doppelbett wälzen, während ich Robs Gästebett endgültig durchliege, aber ich verdränge die Gedanken daran.

Nun stehe ich vor einem Dunkellokal, unmittelbar vor einem Speed-Dating in absoluter Dunkelheit. Wem will ich eigentlich was vormachen? Ich bin so was von frustriert!

»Du bist zu wählerisch, gehst nur nach dem Äußeren«, hatte Rob mir während der vergangenen Wochen immer wieder vorgeworfen, sobald ich ihm mein Leid mit Jeannine klagte. Und es stimmte: Er hatte mir von Anfang an prophezeit, dass sie zwar gut aussah, leider aber so oberflächlich und dumm wie eine Boje war.

Irgendwann hüpfte meinem Freund dann ein »Für dich wär’s vermutlich das Beste, du wärst blind« über die Lippen, und das war sie, die Geburtsstunde dieser wahnwitzigen Idee.

Rob ist bis jetzt ganz Feuer und Flamme dafür. Im Gegensatz zu mir freut er sich wie verrückt auf dieses Flirtabenteuer der etwas anderen Art.

Die Kellnerin hat nicht übertrieben. Direkt hinter der Eingangstür werden wir von tiefstem Schwarz gefressen. Ein erstauntes Raunen geht durch die Reihe, in die wir uns aufstellen sollten und deren Schlusslicht ich bilde. Wir halten uns wie bei einer Polonaise an den Schultern und betreten den Raum im Gänsemarsch mit vorsichtigen Tippelschritten. Zum Glück sieht niemand, wie albern unser Einzug vonstattengeht. In dieser Position kann ich Rob wenigstens noch einmal zeigen, was ich von seiner Idee halte. Ich gebe mein Bestes, ihm die Schultern zu zerquetschen, doch er lässt sich nichts anmerken.

Derartige Dunkelheit wie hier habe ich noch nie zuvor erlebt. Nicht mal der leiseste Lichtschimmer kommt hindurch, nichts. Man sieht buchstäblich die eigene Hand vor Augen nicht. Als die Kellnerin an der Spitze der Schlange stehen bleibt, trete ich Rob prompt in die Hacken.

»Au! Pass doch auf, verdammt«, zischt der. Zu laut.

Ein Lachen, viel zu schrill für die angespannte Stille, in die wir getreten sind, kommt zurück und hallt in meinen Ohren wider.

Die Frauen!

Eine Hand, die sich zu kräftig und rau anfühlt, um zu der zierlichen Kellnerin zu gehören, legt sich um mein Handgelenk und löst meinen nach wie vor verkrampften Griff von Robs Schultern. Ich stehe eine Weile still in der Dunkelheit und fühle mich völlig orientierungslos. So wie damals, als ich mich als kleiner Junge in diesem riesigen Kaufhaus verlaufen hatte und mein Bruder mich erst nach etlichen Minuten wiederfand.

Reiß dich zusammen, Jeremy!

Wie aus dem Nichts tauchen die kräftigen Hände wieder auf, tasten sich an meinen Armen entlang und erfassen meine Hand. Eine seltsam intime Geste, die wechselhafte Gefühle in mir auslöst. Einerseits will ich meine Hand zurückziehen, habe ich doch noch nie zuvor mit einem Mann Händchen gehalten. Andererseits bietet mir der Griff des Fremden die ersehnte Sicherheit. Eigenartig.

Wir laufen exakt zehn Schritte. Jeden einzelnen davon mache ich unsicher und rechne immer wieder damit, irgendwo anzustoßen und mir das Schienbein anzuschlagen, was jedoch nicht geschieht.

»Setzen Sie sich hier hin!«, fordert mich der Mann auf und legt meine Hand auf einer Stuhllehne ab. Vorsichtig hangele ich mich daran entlang, betaste die Sitzfläche und nehme erleichtert Platz.

Ich höre ein Knacken und erkenne die Plastikbecher, von denen die hübsche Kellnerin sprach, am Geräusch. Ihr Kollege zeigt sie wohl der Frau, die mir nun gegenübersitzt. Mit ruhiger Stimme erklärt er ihr noch einmal die Regeln. Dass sie nur drei Blüten zur Verfügung hat, die sie vergeben kann. Genauso, wie auch ich nur dreimal durch meinen einfachen Händedruck mein Interesse bekunden darf. Ich vermute, dass er die Hand der Dame bei seiner Erläuterung an die Schale mit den Rosenblüten führt, denn plötzlich höre ich sie murmeln.

»Falls ich die überhaupt brauche«, grummelt sie leise vor sich hin.

Amüsiert stoße ich ein wenig Luft durch die Nase.

Also noch jemand, der sich deplatziert vorkommt.

»Na, das klingt ja erfolgversprechend«, wispere ich.

»Sorry!«, erwidert sie und weckt mit ihrem Flüsterton zumindest schon mal die Neugierde auf ihre Stimme in mir.

Die folgenden Minuten verbringen wir schweigend an ihrem Tisch, bis auch alle anderen Männer ihre Plätze eingenommen haben. Überhaupt herrscht eine seltsam angespannte Stille und lässt mich meinen Entschluss, Rob tatsächlich zu begleiten, in der kurzen Zeit ungefähr hundertmal bereuen.

»Ein wenig verrückt das Ganze, nicht wahr?«, fragt sie plötzlich. Ihre sanfte Stimme kommt dabei näher, und ihr Atem trifft warm auf meine Hände, die starr vor mir auf der Tischplatte liegen. Eine Spur von Vanilleduft streift mich nur einen Moment später.

»Nicht nur ein wenig, allerdings.«

Das tut gut. Die Stille zu durchbrechen, nimmt die Anspannung.

»Warum hast du dich dazu entschieden?«, frage ich flüsternd und breche damit die Regeln, denn es ist nicht erlaubt, den Frauen schon vor dem Gongschlag Fragen zu stellen.

Sie scheint das nicht zu kümmern. Allerdings spüre ich, dass sie sich auf ihrem Stuhl hin- und herwiegt.

Verlegenheit? War meine Frage zu direkt?

So oder so, sie entschließt sich, mir dennoch eine Antwort zu geben. »Meine Freundinnen. Sie finden, ich habe jetzt lange genug Liebeskummer gehabt und … na ja, dass ich nach vorne schauen sollte oder so.«

Ich schaffe es nicht, ein leises Lachen zu unterdrücken. »Und dafür schicken sie dich ausgerechnet ins Dunkle? Wie nett!« Für einen Moment lacht auch sie, bevor ich ihre helle Stimme erneut höre. »Was war es bei dir? Du klingst auch nicht gerade begeistert.«

Ich räuspere mich – einfach, weil ich nicht weiß, ob ich ehrlich sein soll. Die gewonnenen Sekunden bringen mich zu dem Entschluss, dass ich ohnehin nichts zu verlieren habe und ihre Offenheit getrost erwidern kann.

»Tja, was soll ich dir sagen, ich wurde auch fremdgesteuert, aus der gleichen Richtung. Mein Kumpel ist der Meinung, dass ich zu sehr auf Äußerlichkeiten achte und mir dabei selbst im Weg stehe.«

Sie lächelt; ich spüre es irgendwie. »Wer braucht Feinde, wenn man Freunde wie unsere hat, nicht wahr?«

»Du sprichst mir aus der Seele.« Mein Lächeln dehnt sich im Schutz der Dunkelheit zu einem Grinsen.

Wie alt sie wohl ist? Blond oder brünett? Groß oder klein?

In diesem Moment ertönt die Stimme der jungen Kellnerin. Sie erklärt noch einmal, dass uns für jede Etappe, für jeden ersten Eindruck, exakt drei Minuten gegeben werden. Speed-Dating eben. Im Dunklen. Wer kommt nur auf so eine bescheuerte Idee?

Die Frau an meinem Tisch seufzt leise. Ob sie sich auch wünscht, dieses ganze Theater schon hinter sich zu haben?

Plötzlich wünsche ich, ich hätte mir im Vorfeld ein paar Fragen überlegt. Nichts ist unangenehmer als betretenes Schweigen bei einem ersten Kennenlernen. Selbst bei einem so dämlichen ersten Kennenlernen wie diesem.

»Keine Angst, wird schon gut gehen«, versichere ich ihr, alles andere als überzeugt.

Der Gongschlag ertönt. »Du fängst an!«, bestimme ich und erschrecke im selben Moment ein wenig, denn rings um uns herum bricht die Hölle los. Warum Menschen glauben, Zeitdruck durch Lautstärke wettmachen zu können, erschließt sich mir nicht.

Vielleicht ist mein Lärmempfinden auch durch das vorübergehende Ausschalten meines Sehsinns geschärft, ich weiß es nicht. Fakt ist jedenfalls, dass ich noch nie zuvor einen Geräuschpegel als so massiv empfunden habe wie jetzt, als sich zwanzig bislang stumme Menschen auf einen Schlag gleichzeitig unterhalten. Es wirkt fast wie ein Donnerschlag und setzt auch ebenso überraschend ein.

Mein Gegenüber erschrickt genauso wie ich. Sie zuckt zusammen – ich spüre das an ihren Knien, die meine für einen winzigen Augenblick berühren – und erstarrt dann stumm in ihrer Position. Gemeinsam lauschen wir dem Wirrwarr fremder Stimmen, dem schrillen gekünstelten Lachen einer Frau hinter mir, dem nervösen Räuspern eines weiter entfernten Mannes und dem schnellen Klopfen nervöser Finger, die offenbar auf der benachbarten Tischplatte herumtrommeln.

Dann, als hätten wir uns abgesprochen, prusten die Fremde und ich gemeinsam los. Ich senke meinen Kopf, um dem Lachflash Herr zu werden, bevor er unkontrollierbare Ausmaße annehmen kann. Erfahrungsgemäß bleibt mir an diesem Punkt nur noch sehr wenig Zeit für Gegenmaßnahmen. Als ich mich seitlich an der Kante des Tisches festhalte, um mich aufrechter hinzusetzen, berühren sich unsere Fingerspitzen, und das Lachen verstummt abrupt auf beiden Seiten.

In diesem winzigen Augenblick unseres ersten Hautkontaktes passiert etwas sehr, sehr Eigenartiges: Trotz der herrschenden Dunkelheit sehe ich mit einem Mal Jeannines Gesicht vor mir. Glasklar.

Das heißt, eigentlich sehe ich eine junge Frau, die meiner Exfreundin zwar zum Verwechseln ähnelt, von der ich aber zugleich sicher bin, dass es nicht Jeannine ist. Außerdem wirkt das Bild vor meinem geistigen Auge … ja, wie aus einer anderen Zeit.

Sanfte hellbraune Wellen fallen in das hübsche ovale Gesicht mit den mandelförmigen Augen und den unfassbar langen Wimpern, unter denen sie zu mir aufblickt. Und genau dieser Blick, dieser sanftmütige Schimmer in dem warmen Braun, gibt mir die Gewissheit, dass es sich bei der Frau in meinem Kopf nicht um Jeannine handelt.

Doch das Bild erlischt ebenso schnell, wie es aufgeblitzt ist, hallt in mir nach und lässt mein Herz höherschlagen.

Meine Finger verselbstständigen sich. Ich streiche über den Handrücken meiner Tischpartnerin, ehe ich verstehe, warum und weshalb.

Auch sie atmet schwer aus, bevor sie mein Streicheln mit zitternden Fingern erwidert. Was auch immer man unter der »Magie eines Augenblicks« versteht, hier ist er, unser magischer Moment.

Ein Kribbeln durchrieselt mich. Es beginnt in den Haarwurzeln, endet in meinen Zehenspitzen und hüllt auf seinem Weg meinen gesamten Körper in Gänsehaut.

Ihre Fingerspitzen sind warm, weich und unsagbar zart.

Unter ihrem Streicheln halte ich vollkommen still und widerstehe nur mit Mühe und flatternden Lidern dem Drang, meine Augen zu schließen. Es ist, so kitschig das auch klingen mag, als hätte ich mich mein Leben lang nach genau dieser zaghaften Berührung gesehnt. Kaum stärker als der Schlag eines Schmetterlingsflügels, ist sie das Sinnlichste, was ich bisher erlebt habe.

Unsere Zeit läuft ab, und die Magie zerbirst in dem schweren Klang des Gongs.

Was, schon?

Die Frau zieht ihre Hand so ruckartig zurück, als hätte sie glühendes Eisen berührt. Ich fühle, dass sie ähnlich verwirrt und … ja, vermutlich auch erschrocken ist wie ich. Mit einem Räuspern rutsche ich auf meinem Stuhl zurück. »Das war …«

… Unerwartet. Intensiv. … Unerwartet intensiv.

»Ja.« Ihre kleine Zustimmung wird von viel zu viel Luft getragen.

Schon steht der Kellner mit dem sicheren Griff neben mir und zieht mich mit ebendiesem von meinem Platz. »Hat Ihnen das Gespräch zugesagt? Würden Sie die Dame gerne näher kennenlernen?«

Oh Mann, aber hallo! Nur …

»Ähm … wie war das noch gleich, ein Mal drücken für ›ja‹, zwei Mal für ›nein‹?«

»Ganz genau, ja.«

Ich drücke seine Hand fest in meiner. Unmissverständlich, nur ein einziges Mal.

»Ich werde Ihre Entscheidung notieren«, sagt er leise, und ich glaube, ein unterdrücktes Schmunzeln in seiner Stimme schwingen zu hören.

 

Den Fragen der folgenden neun Frauen begegne ich ohne das geringste Interesse und ohne eine einzige Gegenfrage.

Wann immer mir der blinde Kellner seine Hand reicht und mich zu der nächsten Station führt, drücke ich seine Finger zwei Mal, ohne seine Frage überhaupt abzuwarten.

Als ich endlich die letzte Kandidatin hinter mich gebracht habe und vom Klang des Gongs erlöst werde, führt man mich gemeinsam mit den anderen Männern an den Rand des Lokals. Dort muss ich mich weitere fünf Minuten gedulden, in denen ich unruhig auf meinem Stuhl hin und her rutsche und meine schweißfeuchten Hände immer wieder an meiner Jeans abwische.

Endlich werde ich erneut abgeholt und an einen Tisch geführt. Der Kellner legt meine Hand auf der Stuhllehne ab, und ich nehme Platz. Eine Schuhspitze berührt mein Bein, und für einen winzigen Augenblick triumphiere ich innerlich. Schließlich kann es für mich nur eine Übereinstimmung geben. Ich habe nur bei ihr weiteres Interesse bekundet.

Dann erinnere ich mich an die Erläuterung der jungen Kellnerin, die uns zu Beginn dieses Abends empfing: »Eventuell haben Sie dann zwei oder sogar drei Damen vor sich, vielleicht sitzen Sie aber auch ganz allein an Ihrem Tisch. Alles ist möglich.«

Was, wenn sie die Männer, die leer ausgegangen sind, an einen Tisch zusammengeführt haben? Was, wenn diese Schuhspitze nicht zu ihr, sondern … zu Rob gehört? Ugh!

Ich setze an, um etwas zu sagen, besinne mich dann jedoch auf die Regeln und schweige. Mein Gegenüber sitzt mucksmäuschenstill und bleibt mir weiterhin ein Rätsel. Nur Rob kann es nicht sein. Er schafft es ja nicht mal für drei Sekunden, still auf einem Fleck zu sitzen.

Endlich zählt die Kellnerin neben uns bis drei, dann sollen die Kerzen angezündet werden.

»Eins …«

Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich bin so schrecklich nervös, dass es mir mehr als nur albern erscheint.

»Zwei …«

Oh Gott, reiß dich am Riemen, Jerry!

»Drei.«

Bitte sei es! … Bitte!

Das schwache Licht einiger Feuerzeuge flackert durch den Raum, die Kerzen an den Tischen werden angezündet.

Als ich mein Gegenüber endlich sehe, bin ich zunächst ein wenig verwirrt. Ich bin mir zwar sicher, dass sie es sein muss, da nur sie es sein kann, allerdings hat das Gesicht, das ich nun sehe, keinerlei Ähnlichkeit mit dem, das mir zuvor – in der perfekten Dunkelheit – durch den Kopf spukte. Diese junge Frau ist zwar ebenso hübsch, jedoch blond, und ihre Haare sind kürzer und glatt, die Augen größer und hell. Ob blau oder grün, kann ich in dem schwachen Licht der Kerzen nicht ausmachen.

Schließlich ist es ihr Mund, auf dem mein Blick haften bleibt. Wunderschön geschwungene Lippen, die sich zu einem vorsichtigen Lächeln verziehen, das sie erst einmal auszuprobieren scheint. Doch so schüchtern es auch ausfallen mag, es ist ein aufrichtiges Lächeln.

Als unsere Blicke endlich länger aufeinandertreffen, vollzieht diese erste wirkliche Begegnung jedoch eine unschöne Wandlung. Ich sehe deutlich, was sich vor mir abspielt, ohne es zu verstehen: Die junge Frau wird von einer Erkenntnis überrollt, die ihre schönen Gesichtszüge erbarmungslos entgleisen lässt. Von jetzt auf gleich erlischt der Ansatz ihres Lächelns, die ohnehin schon großen Augen weiten sich in an Schock grenzender Fassungslosigkeit.

Sie kennt mich, das kapiere ich sofort. Nur habe ich nicht die leiseste Ahnung, wo wir uns schon einmal begegnet sein könnten. Der Schock in ihrer Mimik wächst mit jedem verstreichenden Herzschlag … und lässt auch bei mir endlich den Groschen fallen.

Das kann doch nicht wahr sein!

Ohne ein einziges Wort zu sagen, schiebt sie ihren Stuhl zurück – das energische Geräusch hallt durch den gesamten verfluchten Raum – und stürmt aus dem Lokal.

Sämtliche Augenpaare, selbst die blinden, sind nun auf mich gerichtet. Kein gutes Gefühl. Es ruft auf sehr unangenehme Weise Erinnerungen an meine Kindheit wach.

Ich suche nach Rob. Finde ihn mit in Falten gelegter Stirn in einer Ecke des Raums, am Tisch einer Rothaarigen. Er zuckt mit den Schultern und schüttelt fragend den Kopf. Als würde ich ihm hier, vor allen anderen, erklären, was sich soeben ereignet hat!

Sie ist hier! Nach all diesen Jahren sehe ich sie tatsächlich wieder.

Noch immer starren mich alle an. In meiner Scham tue ich das Einzige, was mir logisch erscheint und zugleich Erleichterung verspricht. Ich schiebe meinen Stuhl zurück und verlasse ebenfalls hastig den Raum.

Die kühle Abendluft lässt den Schock von mir abfallen. Zurück bleibt schließlich nur ein einziger, kristallklarer Gedanke:

Wo ist sie? Wo ist Mary?

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Mary

Selber Ort, selbe Zeit – na ja, fast!

Dieses Gesicht.

Diese Augen.

Oh Himmel, dieser Mund!

»Du hässliche Ente!«, ruft der sommersprossige Junge in meinen Erinnerungen, die ich erst vor wenigen Jahren erfolgreich verbannt hatte. Jetzt ist er zurück – lauter als je zuvor.

Ich schüttele meinen Kopf und rufe mich zurück ins Hier und Jetzt. Streife mir im Laufen meinen Mantel über und stürme in die kleine Bar an der nächstgelegenen Straßenecke, in der Amy, diese Verräterin, auf mich wartet. Vereinbarungsgemäß sitzt sie am Tresen, ihren kleinen Notizblock vor sich, und skizziert unbemerkt ein Pärchen, das in einer entlegenen Ecke miteinander schmust.

Für einen Moment bleibe ich in der Eingangstür stehen und beobachte sie. Immer wieder schaut sie verstohlen und beinahe sehnsüchtig zu dem verliebten Paar. Den gut aussehenden Mann an ihrer Seite, der sie hingegen stumm betrachtet, scheint sie gar nicht wahrzunehmen.

Als ich bemerke, dass mein Mitleid die Wut zu verwässern droht, stiefele ich entschlossen auf meine beste Freundin zu. Ein halb geleertes Wasserglas steht vor ihr. Also müsste die Fünf-Dollar-Note, die ich mit einem »Stimmt so!« auf seinen Tresen knalle, ausreichen.

»Mary!«, ruft Amy erschrocken.

»Komm, wir gehen!«, kommandiere ich und schleife sie am Arm mit mir nach draußen, in die Kühle der anbrechenden Nacht.

»Hey, wie war es denn?«, fragt Amy.

Ich sehe sie an und gebe mir keinerlei Mühe, meinen Zorn zu verschleiern. »Nun, was denkst du, wie es war?«, rufe ich und werfe – vielleicht ein wenig theatralisch – die Arme in die Luft. Zeit für eine Antwort lasse ich ihr nicht. »Es war eine Katastrophe! Dieses Leben verhöhnt mich, weißt du das, Amy?«

»Um Gottes willen, was ist denn nur passiert?« Plötzlicher Schock tritt in ihre Augen. »Oh nein, hat … etwa niemand …« Sie bringt es nicht fertig, ihren Satz zu beenden, also erlöse ich sie.