Der Meeraner Bote - Wolfgang Eckert - E-Book

Der Meeraner Bote E-Book

Wolfgang Eckert

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Beschreibung

In diesen Texten geht es um eine doppelte Ermutigung. Dazu müssen wir uns zunächst in den November des Wendejahres 1989 zurückbegeben: In Meerane wurde ein kleines Wochenblatt, das Meeraner Blatt, gegründet. Es bot mir die Chance, regelmäßig dazu eine Unterhaltungsbeilage zu schreiben gegen eine bescheidene Geldprämie, die es mir gestattete, wenigstens von der Hand in den Mund zu leben. Mehr noch aber erwies sich als lebenserhaltend die Tatsache, dass ich aus meiner geistigen Lähmung erwachen und mich wieder zur Zeit äußern konnte. Der Autor, ein zu DDR-Zeiten nicht unbekannter und einigermaßen erfolgreicher Schriftsteller, der wie alle anderen seiner Kollegen auch, nach dem gesellschaftlichen Umbruch vom Schreiber zum Unternehmer mutieren muss, ist froh, eine neue Aufgabe gefunden zu haben. Wöchentlich kann er jetzt Feuilletons über die kleine Stadt Meerane, seine Geburtsstadt, schreiben und seinen Leserinnen und Lesern Entdeckungen präsentieren. Und noch etwas: Mir wurde beim Schreiben bewusst, dass viele Meeraner von mir eine Ermutigung erhofften. Aber ich habe solche wohl selber dabei dringend gesucht. Vielleicht war diese Suche das Motiv. Sein Prinzip beschreibt der Autor so: An dieser Stelle möchte ich jetzt immer mit Ihnen ein bisschen durch die Stadt bummeln, mich an Meeraner Persönlichkeiten erinnern, heiter-besinnlich in Nebengassen verlieren oder hart in eines der zahlreichen Schlaglöcher sacken, mich tief in die Vergangenheit der Stadt verirren, um uns wiederzufinden. Wenn bei Ihnen dann das Gefühl entsteht, die Stadt sei ein guter alter Hund, dem man gerührt über das graue Fell streicheln muss, so ist das keine Tierliebe, sondern Stadtliebe und hoffentlich das Wachsen eines Verständnisses füreinander. Wir wollen zunächst ganz allgemein durch die Stadt schlendern – hoppla, hier sträubt sich schon die Feder! Es geht keiner allgemein, er geht immer subjektiv, denn er sieht nur das, was er sehen will, und er übersieht, was er hätte sehen müssen. Also gut, gehen wir trotzdem … Zu den Entdeckungen im „Meeraner Boten“ gehören unter anderem eine „Meeranische gott geheiligte Friedens Feyer“ am 21. Martii 1763, die Geschichte des Meeraner Markplatzes und die Erklärung, was ein Blattergrübscher ist, aber auch die Erinnerung an mit Meerane verbundene Persönlichkeiten wie August Bebel, der dort seinen Wahlkreis hatte, an den Schriftsteller Erich Knauf und an den Komponisten Werner Bochmann. Von beiden stammt der Film-Hit „Heimat, deine Sterne.“

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Impressum

Wolfgang Eckert

Der Meeraner Bote

Geschichten aus einer kleinen Stadt

ISBN 978-3-96521-812-3 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Das Buch erschien 1991 in: Chemnitzer Verlag und Druck GmbH, Chemnitz.

© 2022 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

Vorbote

Im November 1989 wurde in Meerane ein kleines Wochenblatt, das Meeraner Blatt, gegründet. Es bot mir die Chance, regelmäßig dazu eine Unterhaltungsbeilage zu schreiben gegen eine bescheidene Geldprämie, die es mir gestattete, wenigstens von der Hand in den Mund zu leben. Mehr noch aber erwies sich als lebenserhaltend die Tatsache, dass ich aus meiner geistigen Lähmung erwachen und mich wieder zur Zeit äußern konnte.

Das wöchentliche Feuilleton blieb und findet seitdem seine Leser, die es nicht mehr missen wollen. Sie „zwingen“ mich jede Woche zu einer neuen Idee. Neu ist aber auch der Weg zur Veröffentlichung: Das Geschriebene unter den Arm nehmen, zur Druckerei gehen und dort mit den Beschäftigten über die technischen Varianten des Druckes beraten. Dabei erleben, wie ihnen das Spaß macht. Kein Redakteur streitet mehr darüber mit mir, dass dies oder jenes nicht drinstehen sollte, da es nicht objektiv genug sei oder man doch damit keine schlafenden Hunde wecken möchte. Und es geschieht auch nicht mehr, dass ich mein Gedrucktes dann voller Zorn lese, weil man, ohne mit mir darüber zu sprechen, genau die kritischen Sätze gestrichen hatte, auf die es mir angekommen war.

Das erste Feuilleton des vorliegenden Buches stammt vom 6. April 1990, das letzte vom 17. Mai 1991. Auf eine chronologische Folge und das jeweilige Datum wird verzichtet, da der Zeitbezug des Inhaltes auch so deutlich zu erkennen ist.

Ich danke allen, die mir halfen, dass fast ungewollt mit dieser Sammlung ein kleines Zeitdokument in einer für uns schweren Phase entstand und meine Geburtsstadt Meerane dazu der Hintergrund sein durfte.

Mir wurde beim Schreiben bewusst, dass viele Meeraner von mir eine Ermutigung erhofften. Aber ich habe solche wohl selber dabei dringend gesucht. Vielleicht war diese Suche das Motiv.

Liebe Meeranerinnen, liebe Meeraner!

An dieser Stelle möchte ich jetzt immer mit Ihnen ein bisschen durch die Stadt bummeln, mich an Meeraner Persönlichkeiten erinnern, heiter-besinnlich in Nebengassen verlieren oder hart in eines der zahlreichen Schlaglöcher sacken, mich tief in die Vergangenheit der Stadt verirren, um uns wiederzufinden. Wenn bei Ihnen dann das Gefühl entsteht, die Stadt sei ein guter alter Hund, dem man gerührt über das graue Fell streicheln muss, so ist das keine Tierliebe, sondern Stadtliebe und hoffentlich das Wachsen eines Verständnisses füreinander. Wir wollen zunächst ganz allgemein durch die Stadt schlendern – hoppla, hier sträubt sich schon die Feder! Es geht keiner allgemein, er geht immer subjektiv, denn er sieht nur das, was er sehen will, und er übersieht, was er hätte sehen müssen. Also gut, gehen wir trotzdem …

Als mich kürzlich ein Freund aus Hamburg besuchte, bemühte ich mich krampfhaft, ihm die Sehenswürdigkeiten von Meerane zu zeigen. Mit unserem schönen Rathausportal sammelte ich Punkte für die Stadt. Sofort verwies ich dann seine Blicke auf die neuen Stadthausfassaden. Und so gelang es mir geschickt, dass er keinen Kontakt zu unserem Kontakt-Kaufhaus fand, welches wie die Faust aufs Auge ins Marktplatzbild passt. Ich habe immer den Eindruck, das Gebäude wurde während des Transportes in eines der allbekannten DDR-Neubaukastengebiete hier an dieser Stelle verloren. Und so liegt es denn. Am Thälmannplatz rief mein Hamburger: „Oh, unser Thälmann!“ Sogleich legte er mit seinem Fotoapparat los. Ich gestehe, ich wollte zum sehenswerten Postamt, dessen Äußeres allerdings unübersehenswert restaurationsbedürftig ist. Wenn dies eines Tages geschehen ist, werden wir staunen, was für ein Postamt wir haben! Aber Thälmann also. Vielleicht haben Hamburger ein anderes Verhältnis zu ihm. Das ist nachdenkenswert. Thälmann hat seinen Kopf hingehalten, mehr noch, er wurde deswegen umgebracht von den Nazis. Könnte es die Scheu vor soviel Mut und Standhaftigkeit sein, die manchen Wahnwitzigen davon abhält, das Entfernen des Denkmals zu fordern. Manche möchten doch blindlings alles entfernen, um ja auch richtig als Revolutionär zu gelten. Vorher stand dort Bismarck. An seine eisernen Stiefel schmiegte sich halb oder krallte sich, wenn mich meine Kindheit nicht täuscht, ein prächtiger Reichsadler. War der Schöpfer des Denkmals ein ahnungsvoller Prophet? Fotos verfremden und zwingen zum genaueren Erkennen. Als ich später aus Hamburg ein Foto vom Thälmannplatz erhielt, sah ich hinter Thälmanns Rücken eine Häuserreihe mit der typischen Fassadenornamentik und Giebelgestaltung der Jahrhundertwende, die auch Meerane eine bestimmte, zwar nicht stilreine, Originalität gab. Da erkannte ich, dass der rechte Abschluss der Häuserreihe einst geschmack- und gewissenlos zu fantasiearmer Glätte verstümmelt wurde. Wer es nicht glaubt, der gehe hin und überzeuge sich. Und wenn ihm dann danach ist, laufe er die Thälmannstraße hinauf zur Kirche, wo er für die, die das getan, nachträglich um Vergebung bitten kann. Von der Kirche wäre viel zu reden. Aber wir wollen ja vorerst schlendern. Ab Oktober 1989 war sie montäglicher Schauplatz einer großen – der Kirche sei Dank! – friedlichen Erhebung. Zwei Männer unterhielten sich zu dieser Zeit draußen in meiner Nähe. „Gehst du ooch 'rein?“, fragte der eine. „Nee“, erwiderte der andere, „ich bin gläubig“. Aber vielleicht sind manche damals wirklich gläubig geworden und haben hoffentlich bis heute nicht vergessen, was sie da ergriffen hatte. Es heißt ja, wenn der Mensch schwach wird, dann glaubt er. Am Fischladen wird eine freundliche Verkäuferin gesucht! Früher nur eine Verkäuferin. Jetzt könnte Unfreundlichkeit bestraft werden. Wie schön. Bald erleben wir ein Lächeln, zwar ein freies marktwirtschaftliches, aber immerhin ein Lächeln. Auf dem Weg zum Markt eine Galerie vergangener Wahlparolen: Eine neue Politik. Eine neue Moral. Es gibt immer nur die Moral. Alles andere ist keine. Freiheit statt Sozialismus. Was ist Sozialismus? Wir hatten keinen. Höchstens den real existierenden, und der ging in die Hosen – pardon, in die Binsen! Und was ist Freiheit? Die ich meine? Freunde helfen Freunden. Da gibt es im Leben höchstens eine Handvoll. Ein Schelm, wer eine Hand wäscht die andere liest. Links hatten sie schon – rechts wollen sie nicht. Aber wer in der Mitte zum Markt will, kann leicht überfahren werden. Auf dem Meeraner Marktplatz ein ECKERT–Reisebus. Erneut verkneife ich es mir, einen Klapptisch zu kaufen und – wo mich doch alle kennen – ihn neben die Bustür zu stellen mit einem Zettel vorn dran: Hier Kasse! Hier bezahlen! Die Kasse ist oben in der Marienstraße. Auf phosphoreszierendem Papieruntergrund leuchtet mir im Schaufenster entgegen, wohin wir jetzt können – sofern wir können. Sogar nach Spanien! Sofort sehe ich zwei leidenschaftliche Meeranerinnen in der Stierkampfarena von Madrid. „Karramba, itze kimmt dr Schdier!“, „Guckema, wie dar off dann kleen Schiedsrichdr losgitt!“ „Das is doch dr Dorrärooo!“ „Das heeßd nicht Dorräroo, das heeßd Ferrärooo.“ „Was isn das?“ „Das sinn die kleen Dingr, die se uns immr Weihnachdn rüberschiggn inner Bonkschäre.“

„Escha! Das heeßd Monk Scherrie. Und die kannsde itze selbr holn, wo mir doch nu oobald dr Wesdn sinn.“ „Guckema, itze haddn dar Ferrärooo abgekändscherd!“ „Nu ehm. Du, was wärndn die mit dann vieln Fleesch machn?“ „Nu Boggwärschde!“ Schon will ich mich abwenden, da lese ich im Schaufenster: Wer Eckert wählt, hat richtig gewählt. Aber meine Partei stand doch gar nicht auf der Liste! Machen Sie's vorerst gut. Wir sind bei Uhren-Gnauck angelangt. Mal sehen, ob er meine repariert hat. Damit ich wieder weiß, was die Uhr geschlagen hat.

Friedens Feyer zu Meerana

Fast könnte man annehmen, in Meerane gab es schon vor 227 Jahren den blauen Montag. Heute sind bei uns manche schon montags blau. Es könnte aber auch sein, Ostern fiel 1763 genau auf den 20. und 21. März. Im „Manuscripto de schönburgischen Amptmann Georg Christian Kröhne“, der ab 1772 auch schönburgischer gemeinschaftlicher Regierungs- und Konsistorialdirektor in Glauchau war, fand ich folgende Aufzeichnung: „Meeranische gott geheiligte Friedens Feyer, den 21. Martii 1763 zusammen getragen und entworfen durch, Carl Friedrich Maurer, Bürgermeister d. Stadt.“ Die Friedensfeier war „von höchst – und hoher Landt-Obrigkeit“ angeordnet. Sie wurde am Sonntag, dem 20. März von der Kanzel verkündigt und die Gemeinde ermahnt, sich auch am Montag wie die Städte Dresden, Zittau und Wittenberg daran zu beteiligen. Na, bitte, so weit waren wir also gar nicht von der Vergangenheit weg! Nur, dass es damals noch keine Wink-Elemente, sprich Papierfähnchen, zum Schwenken gab. Preußens Friedrich der Große, der Alte Fritz, hätte wahrscheinlich seine helle Freude an solcher Erfindung gehabt. Denn für den war eben zu seiner eigenen Rettung der Siebenjährige Krieg zu Ende gegangen. Nichts war für die kleinen Leute gewonnen, aber Preußen erstarkt und Sachsen durch die Kriegsauswirkungen heruntergekommen. So auch Meerane. Wieder sind wir nicht weit von der Vergangenheit weg. In solchen Situationen werden dann immer Feiern zur patriotischen Belebung befohlen. Nach geendigtem Gottesdienst am 20. März 1763 wurde das Meeraner Friedensfest mit drei Schlägen (im Manuskript des Amtmannes Kröhne steht: mit drei Pulsen) eingeläutet. Der „Choro Musico“, mit Trompeten und Pauken begleitet, musizierte vom Kirchturme aus, und es wurde „jedesmahl von 200 Mann auf dem sogenannten Rothenberge, hinter der Stadt dem Kirchturme gegen über, von der Bürgerschaft 3. Schützen-Compagnie Freuden-Salve gegeben“. Das muss ein Knallen gewesen sein! Abends sang der Nachtwächter „auf jeder Stelle das gantze Lied: Nun dancket alle Gott mit Hertzen“. Früh um 3 Uhr schon wieder die letzten vier Verse des Liedes: „Sey Lob und Ehr dem höchsten Guth“. Dafür wurde er von „verschiedenen Bürgern, sonderlich von Christoph Simonen, mit 16 Groschen beschenkt“. Danach wieder Pauken und Trompeten vom Kirchturm und Freuden-Salven vom Rotenberg. Um 8 Uhr läuteten die Glocken. Zu gleicher Zeit versammelten sich in der Schule „die Kinder männl. und weibl. Geschlechtes, teils mit Cräntzen, teils sonst auch möglichst geputzt“. Ansonsten waren alle Erwachsenen in schwarzen Kleidern, „der Rath aber in Mänteln“. Dann begann der Umzug. Voran wurde das schönburgische Wappen getragen. Rot-weiße Bänder überall. Voran die hochwohlgeborenen gnädigen Herrn aus Glauchau (sieh einer an!), dann der „Rath“, Bürgermeister, Meister, Wohltäter, die Geistlichkeit nicht zu vergessen, die Schützen, die Schulkinder, „Officiers und Marschalle der Bürgerschaft“ … Fünf Marschälle mit ihren bändergeschmückten Stäben führten die einzelnen Abteilungen. Die gesamte Prozession geschah unter entblößten Häuptern. Von der Pfarrwohnung zum Markt ging es, von dem Markt zur Schule, zur Kirche und zurück. Dazu ständig Gesänge, Pauken und Trompeten, Glockengeläut, Ehren-Salven, Vivat-Rufe. Die Stadt war aus dem Häusel, und in Gößnitz dachten sie vielleicht, es brennt wieder einmal. „Der Directorial-Bürgermeister Wunderlich ruft alsdann oben zum Rath-Haus Fenster heraus: Friede, Friede, Friede sey über Ihro Kayser!. Maj. auch Churfürsten, Fürsten, Stände …“ Bürgermeister Maurer ruft dasselbe „über Ihro Königl. Maj. aus“. Dazwischen „Vivat! – Vivat!“ und Schützensalven. Abends bei Finsternis dann die Attraktion: Die von einem Bürger namens Möschler gestiftete „Möschleriche Illumination“ in den Rathausfenstern. Drei mit brennenden Lichtern bestückte Pyramiden erhellten den Markt. Der Bürger Gottfried August Brumm hatte ebenfalls eine Illumination gestiftet, so dass auch die meisten Häuser erleuchtet werden konnten. In die Abendstille hinein sprach der Bürgermeister Maurer seine Rede, die mit „Schwerd, Blut, Feuer!“ beginnend, an die Kriegsgräuel erinnerte und mit den Worten endete: „Herr erbarme dich über uns, und erhalte uns diesen Frieden. Amen!“

Schließen wir einmal die Augen für Sekunden und stellen uns das Ganze vor: Wie klein war damals Meerane, wenn der Rotenberg schon „hinter der Stadt“ lag? Wie reich waren Christoph Simon oder die Illuminationswohltäter Möschler und Brumm? Wir lächeln heute über die drei erleuchteten Pyramiden in den Rathausfenstern. Damals aber werden sie noch wochenlang begeisternder Gesprächsgegenstand gewesen sein und für die Kinder vielleicht später einzigste freudige Erinnerung. Wer lächelt in 227 Jahren über uns, wenn er liest, dass uns allabendlich eine flimmernde Illumination in die Wohnzimmersessel verbannte? Es ist schon rührend, sich vorzustellen, wie damals unsere Meeraner Vorfahren, ausgehungert und verhärmt, in schlichter Einfachheit durch die Stadt zogen, dankbar darüber, dass jetzt kein durchziehender Soldat mehr die Häuser plünderte, in ihrer Mitte die Kinder, „teils mit Cräntzen, teils sonst auch möglichst geputzt“. Möglichst hieß ja, wer es konnte. Und in den „Vivat Rex!“-Rufen verbarg sich wahrscheinlich der Irrglaube, sie hätten diesen Frieden nun dem „Alten Fritz“ zu verdanken. Sanssouci war weit … Später wurde „Hoch lebe der Kaiser!“ gerufen, noch später „Heil unserem Führer!“ und noch später „Hoch leben die Mitglieder und Kandidaten unseres Politbüros!“ Wir sollten es mit den Hochrufen lassen. Je höher man andere ruft, desto kleiner wird man. Meerane 1990 ist anders als Meerana 1763. Aber die drei erleuchteten Pyramiden in den Rathausfenstern drückten das aus, was wir auch heute noch, und nun um vieles bewusster, empfinden: Sehnsucht nach Glück und Frieden.

Meeraner Marktbilder

Unser Markt ist das Schrumpfstück eines einstigen Riesenplatzes, der sich von der Kirche bis zum Rathaus erstreckte. Auf diesen wurden die inneren Häuserzeilen der August-Bebel- und Marienstraße gebaut. Die der Marienstraße zuerst. So entstand der heutige Marktplatz. Wenn der erzählen könnte! Auf seinem pflastersteinigen Rücken vollzog und vollzieht sich der einfache Alltag, gab es der Kleinstadt angemessen Signale politischer Veränderungen. Zum Heimatfest 1930 wurde sogar auf ihm getanzt. Foxtrott oder Charleston? Von der Friedensfeier am Ende des Siebenjährigen Krieges wissen wir schon. Die Butterfrauenrevolte ist uns vielleicht neu. Sie war ein Musterbeispiel weiblichen Mutes gegen die Obrigkeit und eine Mahnung für diese, dass sie nicht unfehlbar ist. Am Markttag des 27. Februar 1869 wurde von den städtischen Polizeidienern wieder einmal das Gewicht der Butter geprüft. Das Stück musste 1/2 Pfund wiegen. Es stellte sich heraus, die Ware blieb im Gewicht darunter. Oh, welcher Betrug! Also konfiszierte man die Butter und schleppte sie ins Rathaus. Einige Butterfrauen flohen mit ihrer Last, ehe sie an die Reihe kamen. Nur eine hielt mutig Stand und verlangte eine Überprüfung der Ratswaage.

Und siehe da – die ging falsch! Danach stürmten die rehabilitierten Butterfrauen das Rathaus und butterten sich ihre Butter wieder unter. Ein Triumph der Ehrlichkeit. Ich frage mich nur: Warum sind einige Butterfrauen vor der drohenden Kontrolle geflohen? In alter Zeit stand auf dem Markt ein gediegener Steinbrunnen, etwa vor dem Haupteingang zum jetzigen Kaufhaus. Vier Eisensäulen darüber trugen ein Dach. Darunter wölbte sich von Säule zu Säule eine solide schmiedeeiserne Arbeit. Der Brunnen musste, wie es 1937 in den „Heimatstimmen aus Meerane und Umgebung“ hieß, dem Verkehr weichen. Ich hätte das schon damals nicht eingesehen. Unter der Stelle, wo einst der Brunnen stand, soll sich noch der Wasserbehälter befinden. Wenn nicht, dann bestimmt noch die Wasserleitung. Welche Freude, hätten wir einst wieder solchen Marktbrunnen! Kunstschmiede haben wir vielleicht bald. Die linke Seite des Kaufhauses hieß damals „Hotel zur Sonne“, Inhaber Robert Etling. Auf der rechten Seite hieß der Ladenbesitzer H. R. Rudolph. Vermutlich verkaufte er Stoffe. Hinter dem Ladenfenster sind noch einige Restballen gestapelt. Dies – wie auch das vorher Beschriebene und das Kommende – betrachtete ich auf alten Fotos. An der schmalen Schaufensterscheibe steht: Vollständiger Ausverkauf Geschäfts-Aufgabe. Der Besitzer steht mit zwei Gehilfen an der Tür – Anzug, Weste, Krawatte. Aber er schaut bekümmert drein. Der Nachfolger wird Hermann Motulsky heißen. Er lässt zwei breite Schaufenster in die Fassade setzen, darüber ein herausklappbares Sonnenschutzdach. Der Brunnen ist weg. Dafür steht in der Marktmitte ein Kandelaber mit etwa acht Gaslaternen rundum am Mast und einer thronend darüber. Kandelaber – das Wort ist aus der Mode gekommen. Mir fällt nur noch der Schulwitz ein: „Fritz, bilde einen Satz, wo Kandelaber darin vorkommt!“ Fritz: „Mei Vador kann de Laberwurscht nicht verdrachn.“ Der Kandelaber ist verschwunden. Motulsky verschwand auch. Dann hieß, glaube ich, einer C. Prange und an seine Stelle kam das Kaufhaus Sorge, Herrenkleidung, Damenkleidung. Der Meeraner Markt im Wandel der Pleiten … An den Meeraner Markttagen leuchteten mehr als fünfzig Sonnenschirme zum Himmel. Darunter gab es Gemüse, Obst, Eier, Käse, Quark, Butter – alles, was Stadt und Land zu bieten hatten. Eisverkäufer warteten mit ihren Karren an den Marktzugängen. Die Lieferfahrzeuge der Händler waren Handwagen. Meine Urgroßmutter holte sich mit solch einem die Kohlköpfe vom Dorf und gründete später in der Karl-Schiefer-Straße einen winzigen Gemüseladen. Am 1. Mai 1922 konnte der Markt die Menschenmenge kaum fassen. Zum ersten Mal feierten die Arbeiter in Sachsen den 1. Mai als gesetzlichen Feiertag! (Wir feierten soeben wieder den ersten gesetzlichen Ostermontag.) Am 27. Juni 1922 gab es auf dem Markt eine Protestkundgebung gegen die Ermordung des Außenministers Walther Rathenau. Er hatte schon deshalb viele Feinde, weil er ein Jude war. Am 2. Dezember 1933 prangte der Marktplatz voller Hakenkreuzfahnen. Ein gewisser Mutschmann, seines Zeichens Gauleiter und Reichsstatthalter, erhielt im Rathaus den Ehrenbürgerbrief der Stadt überreicht. Nach 1945 versteckte er sich kläglich als Knecht in Tellerhäuser. Bitte in Zukunft nicht so schnell mit Ehrenbürgerbriefen! Etwa 1943/44 wurde auf dem Marktplatz einer jungen Frau der Kopf kahl geschoren. Bis auf die Fußsteige rechts und links des Marktes standen die Leute dicht gedrängt und starrten auf die mittelalterlich anmutende seelische Folterung eines Menschen. Es gibt nichts Schöneres als die Liebe. Dies hatte sie getan, einen Mann geliebt und er sie. Aber er war Kriegsgefangener. Er gehörte nicht zur deutschen Rasse. Sie hatte einen Feind begünstigt. Am 1. April 1946 fand eine Massenkundgebung auf dem nun Platz der Roten Armee genannten Markt statt. Die KPD vereinigte sich mit der SPD. Die SPD könnte sich vielleicht heute darauf berufen, dass es am 1. April geschah. April! April! Und wir können uns heute öffentlich über die Folgen den Kopf zerbrechen. Wie oft blickten die Menschen voller Hoffnung zum Mikrofon hoch? Wie viele Enttäuschungen erlebten sie? Der Meeraner Markt ist schuldlos. Auf seinen Bänken sitzen die Menschen und reden über den möglichen Umtauschsatz, über neue Autos, über Arbeitslosigkeit, über eine bessere Zukunft. Kommt alles wieder? Wird alles anders? Statt der Handwagen fahren jetzt Westwagen vor, fluggs öffnen sich die Türen, werden Verkaufsstände aufgebaut. Meeraner Markttag heute. Es gibt Bananen, Apfelsinen, Kiwis, Erdbeeren, Spargel, Pilze, Frischgemüse. Zwei Einheimische stehen davor: „Du, was sindn Kiwis?“ – „Weeßsch nicht.“ – „Die sehn aus wie griene Ardeppeln.“ – „Willsde mich vorhunebiebeln? 's Schdigg for eene Marg sechzsch!“ – „Nu, weilse vielleichd ausn Wesdn sinn!“

Türkische Teppiche liegen auf dem Marktplatz. Die Meeraner steigen darüber und begucken die Ornamente. Kommt ran, Leute! Wer hat die meisten D-Mark? Ist es nett oder Nepp? Wir haben keine andere Wahl; wir haben keinen Vergleich; wir sind wehrlos. Das einzige, was wir haben könnten, wäre Stolz.

Zum Gedenken an Erich Knauf

Auch in Meerane sind Menschen geboren, die – zugegeben, erst als sie die Stadt verlassen hatten – Persönlichkeiten wurden. Wir sollten uns entschließen, Gedenktafeln an ihre Geburtshäuser zu schlagen. Dann werden besonders die Jungen wissen wollen, wer das war. Und mit ihren Fragen wächst ihr Verhältnis zur Stadtgeschichte. Eine Gedenktafel gehörte an das Haus Philippstraße 3. Dort wurde am 21. Februar 1895 Erich Knauf geboren. Der Vater, Schneidermeister Heinrich Knauf, stammte aus dem Thüringischen, die Mutter aus einer Meeraner Hausweberfamilie namens Lippold. Meerane ist später in der Erinnerung Erich Knaufs: „… nur noch ein Bild, eine Fotomontage: Fabriken, Arbeiterhäuser, ein paar Unternehmervillen, eine Kirche, ein Bismarckdenkmal, ein Gondelteich im spärlichen Gehölz und Armut.“ Es kann sich jeder selber heraussuchen, was noch stimmt. Wer war Erich Knauf? Zunächst erlernte er in Gera den Beruf eines Schriftsetzers. Die Eltern waren etwa 1907 nach Straßburg und dann nach Gera verzogen. Als Geselle ging er mit einigen Freunden auf die Wanderschaft – über Griechenland, Italien kamen sie bis nach Syrakus. Heimwärts überraschte sie der Ausbruch des 1. Weltkrieges.