Plötzlich lachte Dr. Bunsen - Wolfgang Eckert - E-Book

Plötzlich lachte Dr. Bunsen E-Book

Wolfgang Eckert

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Beschreibung

Es gibt Leute, die fangen das Buch von hinten zu lesen an und entscheiden danach, ob sie es kaufen oder nicht. Machen wir es doch auch einfach mal so und schauen uns statt der zehn Geschichten dieses Buches zuerst das eine Nachwort an. Und danach können Sie entscheiden, ob sie die 10 Geschichten zuvor auch haben wollen oder nicht … Das eine Nachwort stammt vom selben Autor wie die zehn Geschichten zuvor. Darin ist viel von Meerane die Rede, der Geburts- und Heimstadt des Verfassers, aber auch vom benachbarten Glauchau sowie von der Gefährlichkeit des Schreibens – zumal, wenn der Schriftsteller wie in diesem Falle in einer kleinen Stadt zu Hause ist, die neben einer anderen kleinen Stadt liegt. Meerane neben Glauchau oder umgekehrt. So scheint alles überprüfbar: Im Postamt bemerkte ich, wie sich einige Leute in meiner Nähe über mich verständigten. Danach hörte ich den Ausruf: „Der Dichter!“ Ich verließ die Post, ohne etwas einzuzahlen, und rannte einem seriösen Herrn in die Arme, der mich vertraulich festhielt und fragte: „Hören Sie mal, Sie schreiben da, zwölf Fabrikanten aus unserer Stadt hätten nach fünfundvierzig das Land verlassen. Ich bekomme aber nur elf zusammen. Wer ist denn der zwölfte?“ Ich riss mich los, aber er verfolgte mich klagend. „Wer ist denn der zwölfte um alles in der Welt! Ich kann nicht mehr schlafen! Ich bin doch hiergeblieben!“ Auf dem Marktplatz schüttelte eine Bekannte bei meinem Anblick missbilligend den Kopf. „Im zweiten Kapitel läuft dein Paul Weidauer von hier aus, wo wir stehen, über die Augasse zum Thälmannplatz. Guck mal: Wenn er durch die Marienstraße geht, hat er es kürzer. Müsstest du als Meeraner eigentlich wissen! Dann war ich in der Karl-Schiefer-Straße. Das Haus hat eine Etage, nicht zwei. Meine Güte, du bist auch noch darin geboren! Sag mal, hast du das Buch überhaupt selber geschrieben –?“ Ich lief weiter und hielt mir ein Taschentuch vor das halbe Gesicht, so wie bei einem, der vom Zahnarzt kommt. Aber ein Dritter erkannte mich, verstellte mir den Weg und tadelte: „Die Musiker in Berthels Hotel trugen schon sofort nach dem Krieg gleichfarbige Sakkos und waren nicht, wie Sie das behaupten, bunter als ein Schwarm Papageien, Mann!“ Schriftsteller leben gefährlich. Besonders wenn sie in kleinen Städten wohnen. Und warum lachte übrigens Doktor Bunsen plötzlich? Das steht in der zehnten der zehn Geschichten zuvor und hat etwas mit einer ganz besonderen Erfindung zu tun. Ja erfinden, das können sie, diese Schriftsteller.

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Impressum

Wolfgang Eckert

PLÖTZLICH LACHTE DOKTOR BUNSEN

Zehn Geschichten und ein Nachwort

ISBN 978-3-96521-808-6 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Das Buch erschien 1990 im Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig.

© 2022 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

EIN HUT AUF DER ELBE

Es war auf der Elbe bei Pirna, als sich in Oswald Lindenlaub zum ersten Mal dieser Gedanke regte. Das Gebirge lag hinter ihnen und hatte nichts bewirkt. Sie kehrten so zurück, wie sie gekommen waren. Unten spielte die Bordkapelle „Ein Schiff ist aus Holz oder Eisen“, oben standen trotz der aufkommenden Kühle einige wetterharte Ausflügler an der Reling. Lindenlaub fror. Aber seine Frau, die er aus irgendeinem Grunde früher einmal Käthi gerufen hatte, bestand darauf, dieser Bumsmusik fernzubleiben. Außerdem würden die Kinder später dann ebenfalls hier stehen und zum Ufer winken wollen. Seit Beginn der Reise von Dresden aus probte sie Schulausflug. Und Oswald war die Testfigur, gewissermaßen die zu einer Person zusammengeschrumpfte dritte Klasse der Tännicht-Oberschule. Beim Kartenverkauf für die Benutzung der „Weißen Flotte“ musste er sich so stellen, dass sie ihn ständig unter Kontrolle behalten konnte. Und schon während des Weges vom Hauptbahnhof bis hierher durfte er nicht schneller laufen als eben kleine Mädchen und Jungen – wegen der Zeitnahme und der Einhaltung des Tagesplanes.

Als sie Schmilka erreicht hatten, kannte er alle Sehenswürdigkeiten und ihre geschichtliche Bedeutung, er hatte seine Limonade und seine Bockwurst bekommen und einmal sogar, weil er nicht wusste, wer die Festung Königstein erbaute, einen Tadel. Jetzt war er müde wie ein ausgelaugter Prüfling und fror neben ihr an der Reling. Die Berge blieben zurück, das Land wurde wieder flach, flach wie sein Leben. Er war fünf Zentimeter kleiner als seine Frau. Aber die neue Schuhabsatzmode für Herren machte ihn ebenbürtig. Trotzdem blieb der Eindruck, er schaue zu seiner Frau auf, nicht wie ein Anbeter, sondern eben wie einer, der um gute Zensuren bemüht ist.

Frau Lindenlaubs Gesicht war einst beinahe lieblich gewesen, wenn man von der breiten Stirn absah. Nun wurde auch das Kinn breit, ihr Gesicht bekam die Form eines Rechteckes.

Oswald Lindenlaub tröstete sich manchmal, darin einen stärkeren Ausdruck zu sehen. Seit einiger Zeit vermied er es, ihr gegenüberzustehen. Nach dreißig Jahren Ehe kein allzu großes Problem mehr. Vielleicht lag das an ihrem Blick, der ihn oft ganz körperlich traf wie eine ordnende Hand, die ihm die Jacke geraderückte, die Nase putzte, bedauernd, dass er so etwas nicht selber bemerkte. Zwischen ihre Brauen hatte sich eine winzige, aber harte Falte der Enttäuschung eingegraben. In der Mitte ihrer Ehezeit glaubte sie noch, er werde sich eines Tages zum Abteilungsleiter der Materialbuchhaltung aufschwingen. Stattdessen blieb er der kleine Angestellte am siebenten Schreibtisch, damit betraut, Sparmaßnahmen zu überwachen. Das tat er gewissenhaft. Doch um Käthis Mund zuckte unausgesprochen der Vermerk: Wird nicht versetzt. Er hatte das Klassenziel nicht erreicht und litt darunter. Und seine Hoffnung, dieser eheliche Schulausflug Dresden–Schmilka–Dresden könnte die knisternde Rohrstockatmosphäre zwischen ihnen beenden, erlosch. Das Gebirge lag hinter ihnen und hatte nichts bewirkt. Sie kehrten so zurück, wie sie gekommen waren.

Unten spielte noch immer die Bordkapelle auf Wunsch eines besoffenen Herrn „Ein Schiff ist aus Holz oder Eisen“, oben standen trotz der aufkommenden Kühle einige wetterharte Ausflügler an der Reling. Auch Frau Lindenlaubs Gesicht war wetterhart. Ein gefrorenes Rechteck. Je länger es Oswald Lindenlaub jetzt von der Seite betrachtete, desto mehr schien ihm das so. Er starrte dorthin, raffte auf einmal, einem inneren Zwang folgend, seine kleine Gestalt zusammen, reckte sich und grölte voller Wut, das Rauschen des Bugwassers übertönend: „Frau Wirtin hatte einen Sohn, der konnte es mit vierzehn schon.“ Er schickte sich an, alle Verse, die er kannte, aus seinem plötzlich wachsenden Körper hinauszuschreien, mitten in das Rechteck. Und die Umstehenden froren nicht mehr.

„Oswald!“, rief Frau Lindenlaub entsetzt. „Was soll das! Höre sofort auf, oder ich hole den Kapitän!“

„Das könnte dir so passen!“, frohlockte Oswald. „Nachher, wenn du mit deiner Schulklasse hier stehst, kannst du auch nicht gleich zum Kapitän rennen, sobald einer rappelt.“

Er horchte ermutigt seiner Stimme nach, einer Reihung überstürzender Worte, die er da auf seine Frau abfeuerte.

Frau Lindenlaub bekam einen starren Blick. Sie vollführte eine Handbewegung, als wollte sie ihren Mann ohrfeigen. Es konnte aber auch sein, dass sie eine Haarsträhne im Gesicht störte. Oswald Lindenlaub jedenfalls duckte sich, und das bisschen Revolution war zu Ende. Lachen ringsum, vorgetäuscht als Hüsteln, drang an sein Ohr. Er fühlte die Sympathie der Augenzeugen für ihn, den Schwächeren. Aber er fand nicht die Kraft, sich noch einmal zusammenzuraffen. Er hatte in aller Öffentlichkeit das Äußerste gewagt. Nun spürte er, wie ihn das Schiff unaufhaltsam vom Ort seines Widerstandes davontrug. Er umkrampfte die Reling, und es war bei Pirna, als sich zum ersten Mal dieser Gedanke in ihm hochschlich.

Es mochte wohl anfangs mehr ein Bild gewesen sein: Er sah seine Frau übers Heck hinabstürzen, dorthin, wo nach seinen Vorstellungen eine riesige Flügelschraube unter dem Wasser rotieren musste. Heftiges Quirlen verriet, dass sie vorschriftsmäßig arbeitete. Ein Bein seiner Frau erschien an der Wasseroberfläche, eine Hand, wie ein letztes Winken. Dann trieb ihr senfbrauner Hut, einem verwelkten Blatt gleichend, auf den ruhiger werdenden Wellen, als wäre sie noch darunter. Aber sie war es nicht mehr, halleluja, und nun erst begann Oswald zu schreien, ja er machte tatsächlich Anstalten, über die Reling zu klettern, so lange, bis ihn die anderen zurückhielten. Auf Oswald Lindenlaubs Gesicht zeigte sich für Sekunden ein Schimmer stillen Glücks. Das Schiff stieß ein langgezogenes Signal aus und drosselte die Fahrt. Aber keine Rettungsringe wurden hinabgeworfen. Nur eine Stimme im Lautsprecher kündigte das bevorstehende Ende der Reise an. Neben Oswald Lindenlaub stand Käthi, unverletzt, den senfbraunen Hut kerzengerade auf dem Rechteck, und es waren jetzt zu viele Leute in Bewegung, dass er noch durch einen kräftigen Ruck hätte seine Träume in Wirklichkeit verwandeln können. Kurz danach legte das Schiff an, und er musste diszipliniert bis zuletzt warten, weil er wieder die personifizierte dritte Klasse der Tännicht-Oberschule wurde, bleich, mit vor Schreck geweiteten Augen.

Sie kehrten zurück in die dritte Etage eines Althauses, in dem wahrhaftig noch ein Schild hing: BETTELN UND HAUSIEREN VERBOTEN und sich die hölzernen Vorsaaltüren hochreckten wie gotische Gewölbe.

Oswald Lindenlaub begann bald in der Küche geschäftig zu werden, führte, die Lippen gespitzt, ein Gespräch mit seinem Wellensittich. Käthi fiel im Wohnzimmer über einen Stoß Schülerarbeiten her. Gemalte Gartenzäune, mit der pädagogischen Absicht, den Kindern exakte Querstriche – die Riegel – und Längsstriche – die Latten – beizubringen. Hinter einem Zaun wuchsen bunte Blumen, auf einem anderen saß ein komischer Vogel. Käthis Kinn prägte sich missbilligend aus. Mit einer energischen Handbewegung schrieb sie an den Rand der Blätter: Thema verfehlt. Am Abend ließ sie wie immer Oswald allein vor dem Fernseher sitzen und ging mit der bissigen Bemerkung ins Bett, er sei ja ausgeruht. Scheinbar nichts hatte sich verändert. Wäre sie aber plötzlich aus irgendeinem Grund noch einmal ins Wohnzimmer gekommen, hätte sie Oswalds Unkonzentriertheit für die Abläufe auf dem Bildschirm beobachten können. Er trat sogar vor den Spiegel, wo er sich musterte, als wollte er die Fähigkeit für eine besondere Belastung feststellen. Manchmal lag er auf dem Sofa, die Augen geschlossen, und jener Schimmer stillen Glücks aus der Gegend von Pirna wurde sichtbar. Es geschah eine Veränderung mit ihm. Sobald er die Augen schloss, sah er kreisende Schatten, wie von Windmühlen. Und je länger er diese Erscheinung auf sich einwirken ließ, desto klarer wurde eine riesige Flügelschraube daraus. Auf dem Sofa liegend, begann er seine Frau zu ermorden. Eine gewisse Gemütlichkeit war seinen Überlegungen nicht abzustreiten.

Wie nun, wenn er sie noch einmal zu einer Flussfahrt verleitete? Sie müssten dann backbord oder steuerbord stehen, mehr in der Mitte des Schiffes, damit sie auch gründlich unter den Rumpf geriet und die Umdrehungen der Schraube voll ausnutzen konnte. Schweiß trat ihm auf die Stirn, weil er sich jetzt schon aus irgendwelchen Bullaugen beobachtet fühlte. Mit der Axt, dann zersägen und in der Aktentasche wegschaffen, dazu fehlten ihm die handwerklichen Fertigkeiten. Auch war das nicht seine Art. Sein Interesse für Krimiserien stieg. Doch nachdem er eine Reihe davon absolviert hatte, erkannte er, sie waren nicht verwendungsfähig, Leerfilme statt Lehrfilme. Vor dreißig Jahren hätte er sich beinahe vor lauter Sehnsucht umgebracht, als Käthi drei Tage verreiste. Jetzt packte ihn wilde Freude, wenn sie einmal für drei Stunden davon abgehalten wurde, nach Hause zu kommen. Ohne sie schien die Wohnung größer, und er konnte die Hosenträger über die Hüften hinabbaumeln lassen. Mit ihr trat die Schulordnung ein. Klingelte sie an der Vorsaaltür, war für ihn die große Pause beendet. Dann wurde er aufgerufen, korrigiert und durfte sich erst setzen, wenn sie es bestimmte. Er war lebenslang unter Aufsicht. Sogar im Bett. Und als es einstmals noch geschah, zitterte er wie ein Prüfling. Nun schnarchte eine Lehrerin neben ihm, die im Schlaf brabbelte: „Biesold, halt den Mund!“

Vor dem Spiegel zog er nüchterne Bilanz: Dreißig Jahre Ehe lagen hinter ihm. Davon das erste Drittel mit dem Gefühl, sie passen gut zusammen; das zweite mit der Einschränkung, sie könnten ganz gut, wenn sich einer ändert, und das letzte Drittel mit der Gewissheit, er soll der eine sein.

Oswald Lindenlaub spürte Aufsässigkeit bis in die Zehen. Die Revolte bei Pirna ermunterte ihn. Wenn er noch etwas mit Inbrunst wünschte, so die Chance, ihren rechteckigen Dickschädel zu verändern. Und da es sich von innen nicht machen ließ, dann auf höchst praktische Art von außen. Er war jetzt fünfundfünfzig Jahre alt. Auf dem Konto befand sich eine stattliche Grundlage für Hotelzimmer und Frauen, welche in ausreichendem Maße die richtige Müdigkeit dazu besaßen. Bei jeder von ihnen wollte er dankbar eines senfbraunen Hutes gedenken, der auf der Elbe trieb. Er wurde lustig, wenn er daran dachte.

Käthi, im Wohnzimmer, das sie mit der Zeit in ein Lehrerzimmer umfunktioniert hatte, hob misstrauisch den Kopf, als sie Oswald hinter den Wänden singen hörte, und bekam ihren starren Blick. Sie zensierte Aufsätze und teilte ihre Klasse in die Leistungsstufen 1 bis 5. Singende Männer waren entweder besoffen oder ordinär. Ihr Mann trank aber nur Limonade. Sie wurde das Gefühl nicht los, sich damals vor die Säue geworfen zu haben. Am Sonntag wird sie ihm sein Singen heimzahlen, draußen im Garten, den sie am Stadtrand besaßen. Wäre der Zaun nicht gestanden, hätte ihn der Buchenwald ringsum schon lange in sich aufgenommen. Waldmeister wucherte durch die Zaunlücken herein. Und in diesem Geviert trug Käthi verbissen den Endkampf um ihre eingetrocknete Ehe aus. Einen Sieger gab es nie. Dann wäre ja der Endkampf zu Ende gewesen. In der Regel legte Oswald Lindenlaub im Frühjahr Beete an, geizte im Sommer Tomatentriebe aus, pflanzte im Herbst ein Bäumchen, schippte im Winter Schnee von den Wegen. Und in der Regel behauptete Käthi Lindenlaub, die Beete seien zu breit, die Tomatenpflanzen verunstaltet, das Bäumchen stünde an der falschen Stelle, der Schnee sei zu dreckig. Lindenlaub musste ändern. Er zerrte das Bäumchen aus der Erde und zertrat dabei voller Wollust ihre Erdbeerreihen. Der Garten wurde zur Arena. Mit Wucht sauste Oswald auf das ihm vorgehaltene Tuch zu, wütend und schnaufend, und vergrub sich abends restlos zermürbt hinter seine Zeitungen, die er wie eine Wand zwischen sich und Käthi aufstellte.

An solch einem Abend las er anfangs gelangweilt, dann aber mit steigendem Interesse folgende Zeilen: Asperula, vom lateinischen asper kommend, was soviel wie rau und borstig heißt, auch Waldmeister genannt, besitzt nach neuesten Erkenntnissen Gifte, die zu einer Blutgerinnung im menschlichen Körper führen können, und ist deshalb nicht mehr für den Genuss zum Beispiel in der Maibowle zu empfehlen. Untersuchungen bewiesen, dass es sich hierbei um Kumarine …

Oswald Lindenlaub ließ das Blatt sinken, lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück, nahm es erneut zur Hand und las gierig, wobei er das Wort Blutgerinnung mehrmals wiederholte. Ihm gegenüber saß Käthi, ihr Kinn eckiger denn je auf die Brust gedrückt, und schmökerte in einem Buch, das DER ERZIEHUNGSFAKTOR ALS EINE METHODE ZUR HERAUSBILDUNG SELBSTBEWUSSTEN HANDELNS, TEIL I hieß. Aber er stellte sich vor, sie sitzt mit diesem Werk im Garten, und der Waldmeister wächst durch den Zaun, kriecht auf sie zu, schießt hoch wie Unkraut, umschlingt sie, und schließlich verschwindet sie vollends wie ein Blatt, das langsam zerfällt. Dies war es! Er wäre am liebsten hochgesprungen und hätte sie mit Küssen geprügelt. Langzeitwirkung! Keine Axt, keine Schiffsschraube, sondern Waldmeister, schlicht Asperula. Das klang besser als Arsen. Der Mai drängte ins Land und ins Blut. Warum sollte er nicht in Form von Waldmeister in Käthis Blut dringen? Asperula stand kurz vor der Blüte, die beste Zeit also.

Am anderen Tag eilte Oswald Lindenlaub nach der Arbeit fieberhaft zum Garten und schuftete wie ein alter Baumwollpflücker. Der Duft betäubte ihn, er taumelte in den Buchenwald, pflückte, pflückte, pflückte. Die gefüllten Säcke stellte er in den Geräteschuppen. Wieder zu Hause, überprüfte er die Weißweinbestände, ergänzte sie durch einige neue Sorten. Nun stand das Schwierigste bevor: Käthi an die Tränke zu locken. Doch es gelang besser als erwartet. Zum Wochenende erschnupperte Käthi den betörenden Duft aus dem Geräteschuppen. Mürrisch fragte sie, was denn nun das wieder für ein Unsinn sei. Flugs hatte Oswald einen Krug „Valencia“ bereit, den er vorsorglich mit Waldmeister gewürzt hatte. Er füllte zwei Römer – einmal ist keinmal –, und Käthi bestaunte die Farbe des Weines. Sie schob ihr Kinn an das Glas, spitzte die Lippen und nippte. Oswald saß reglos und voller Konzentration. Ihm schien es ein Wunder zu sein. Käthi nippte ein zweites Mal, verdrehte die Augen, und so etwas wie Anerkennung glitt über Oswald. Käthi nippte, das Glas war leer. Oswald füllte eilends nach. Und Käthi süffelte. Grüner Wein verließ den Kelch und verschwand in ihr. Ein zweites Glas lehnte Oswald ab. Das Zeug sei ihm zu süß, er bekäme Sodbrennen davon. Käthi freute sich, dass ihr eines mehr blieb. Oswald war sehr zufrieden. Drei, vier Tage lang. Dann bemerkte er, dass der Waldmeister im Geräteschuppen seine Frische verlor. Und ewig blühte auch kein Mai. Oswald überlegte und erschrak. Käthi würde bis zum nächsten Mai wieder hervorragend in Schuss sein, und die Mühe war umsonst. Er grübelte abendelang verzweifelt. Not macht erfinderisch. Und so kam er auf die Idee, er müsse den Waldmeister konservieren, damit Käthi jeden Tag einen tüchtigen Tropfen bekam, bis sie grün wurde. Er besorgte sich unter größtem läuferischem Aufwand Primasprit und setzte seine Waldmeisterernte im reinsten Alkohol an. Es entstand ein ausgezeichneter Extrakt, etwas wie Waldmeisterschnaps. Eine behutsame Kostprobe fiel so aus, dass er sich am schnellsten selber voller Wonne umgebracht hätte.

Käthi brauchte das Zeug nun regelmäßig, wenn sie Schularbeiten zensierte. Er servierte schweigend im Wohnzimmer und wartete im Hintergrund, bis sie mit einem energischen Ruck ihres Kinnes und einem kurzen „Ah!“ den Inhalt hineinschleuderte. Dann goss er nach. Sie sah nicht das Blitzen in seinen Augen, ihr Rotstift fuhr zischend durch die Arbeiten. Oswald ging in die Küche. Dort hatte er ein Notizbuch. Auch er strichelte. Eines Tages wird er Bilanz machen. Im Keller füllten sich die Regale mit bauchigen Flaschen, auf denen Heftpflaster klebte, und es war überall zu lesen: ASPERULA. Nach seinen Berechnungen musste der Vorrat mindestens ein Jahr ausreichen.

Monate später sah ihn Käthi während des Servierens an. Ihr kurzer Blick kontrollierte seine Verrichtungen, und sie bat ihn, die Flasche gleich stehenzulassen. Er hüpfte vor Freude wie toll in der Küche herum. Am nächsten Tag verzögerte er seine Kellerdienste und ließ sie mehrmals ärgerlich seinen Namen rufen. Schließlich spielte er den Vergesslichen und erlebte triumphierend, wie sie schimpfend in den Keller hinabmarschierte, um sich ihr Asperula zu holen. Sie hatte angebissen oder genauer: Sie hatte sich festgesaugt. Ihr Gesicht glühte, die Augen glänzten. Auch schien ihm, ihr Gesicht sei ovaler geworden. Alle Lebensgeister gerieten in Bewegung, und dafür gab es nur eine Erklärung: Das Gift wirkte. Es trieb noch einmal längst verschollene Eigenschaften in ihr hervor. Dahinter lauerte der plötzliche Verfall. Oswald Lindenlaub prüfte bereits insgeheim, welches Möbel und sonstige Gerümpel für den Schuttplatz war und welches sich noch verkaufen ließ. Denn eines stand fest: Er würde wegziehen, gramgebeugt, um in irgendeiner Großstadt, vielleicht Leipzig, mit seiner Verjüngungskur zu beginnen. Die Erregung ließ ihn abends schlecht einschlafen. Früher hatte er sich bei solchen Zuständen Schafe vorgestellt, die über Hecken springen, ein Schaf, zwei Schafe, drei Schafe … bis zur Müdigkeit. Jetzt versuchte er dasselbe. Aber nach dem ersten Schaf sah er ein dralles Weib mit gerafftem Rock Anlauf nehmen, es folgten weitere, alle im reifen Alter, versteht sich, eine Blonde, eine Schwarze, eine Rote … Sie segelten mit ausgebreiteten Armen wie Quellwölkchen über sein Bett, und er wurde immer munterer.

Käthi wollte nicht mehr allein süffeln. Bei ihr war jener Grad von Trinken eingetreten, der nach Geselligkeit drängte. Unbewusst vielleicht spürte sie den Fall ins Dunkle, und sie klammerte sich an Oswald, um ihn mit in die Tiefe zu ziehen. Natürlich lehnte Oswald ab, mit der alten Begründung, es sei ihm zu süß. Da entschied Käthi in ihrer resoluten Art, sie habe keine Lust mehr, Schluss, aus, basta. Er erschrak bis ins Innerste. Nur das nicht: Käthi gesundend und auf eine ganz entgegengesetzte Art wieder kalt werdend, als er es, fast wie ein Züchter, anstrebte. Nach langem Drängen war er schließlich bereit, eine andere Mischung zu probieren, die Wodka hieß und einem harmlosen Wässerchen ähnelte. Das erste Glas verursachte bei ihm leichte Schüttelfröste. Doch er hielt durch. Es galt, Opfer zu bringen. Eine Feuersbrunst loderte in seine Eingeweide. Er hatte das Gefühl, Flammen schlagen aus seinen Ohren. Aber schon einige Wochen später goss Käthi nach. Ihre Augen blitzten, die Schülerarbeiten lagen unbeachtet auf dem Schreibtisch. Noch keine zwei Monate waren vergangen, da kontrollierte er ihre Verrichtungen beim Servieren und bat, die Flasche gleich stehenzulassen. So zogen sich die Abende hin. Wenn Oswald dann in die Küche stricheln ging, kollidierte er leicht mit dem Türrahmen, und die Zeichen im Notizbuch gaukelten ihm vielfach das nahe Ziel vor. Er spürte ein bisschen Verlegenheit, Reue konnte man es nicht nennen, denn Käthi behandelte ihn jetzt wie ihresgleichen. Sie hatten sich aus Ermangelung sonstigen Gesprächsstoffes angewöhnt, Sechsundsechziger zu spielen. Oswald verlor meistens, sosehr er auch die Trumpffarben auf den Tisch knallte. Aber hinter ihren Karten, die sie wie einen Fächer unter den Augen hielt, fixierte ihn Käthi ohne Erbarmen. Der Endkampf war vom Garten in die gute Stube verlegt worden. Nur wirkte er um vieles gemäßigter, weil Oswald seine Zunge nicht mehr so schnell bewegen konnte und Käthi durch ihren Waldmeisterschnaps gelockerter schien. Oswald wusste, was es war: das zweite Stadium, die Lähmung des Blutkreislaufes. Als er dies feststellte, war das früh vorm Arbeitsweg, und er hatte noch so viel Zeit, in den Keller zu laufen, eine Flasche Wodka aufzuschrauben und einen Freudenschluck zu nehmen. Er streichelte liebevoll über die Armee der Asperulaflaschen, und es durchfuhr ihn mit eisiger Wonne: Mein Gott, er war ein Mörder! Einer von der eleganten Sorte. Er brachte kein Blut zum Fließen, er brachte es zum Stocken. Saubere, spurenfreie Arbeit. Am Ende konnte dem Opfer nur Unwissenheit als Todesursache vorgeworfen werden. Er ging beschwingt ins Büro, und alle freuten sich, welchen Elan er neuerdings bewies.

Jeden Morgen feierte Oswald nun im Keller eine neue Erkenntnis. Es wurde sein liebster Aufenthaltsraum. Er sah zunehmend gesünder aus. Seine blasse Bürofarbe wechselte in beständiges Rot, die Nase sogar ins Violett, und er besaß die langsamen, auf Sicherheit bedachten Schritte eines Mannes, der es gelernt hatte, nicht zu schwanken. Längst waren seine Eingeweide feuerfest wie Asbest geworden. Käthi fand oft liebevoll etikettierte Fläschlein in seinen Jackentaschen, Proviant für unterwegs. Das sei gegen die Kälte, verteidigte er sich und behauptete, er friere auch an heißen Tagen. „Altenburger Klarer“, „Adlershofer Wodka“ und „Alter Sachse“ – das war der Beginn eines wunderbaren Alphabetes. Nur an „Asperula“ vergriff er sich nicht. Und er spürte die Bereitschaft in der Gurgel, fleißig bis zum Z – „Zubrowka“ – durchzulernen. Bei dem Wort Limonade spie er angewidert aus. Lief jedoch etwas Hochprozentiges in seine Kehle, grunzte er wie ein Eber. Oh, himmlische Wonne! Sein Gaumen wurde allmählich der hochqualifizierteste Teil seines Körpers, was zur Vernachlässigung anderer Bereiche führte. So kam er in einer schwachen Minute gläsernen Blickes und mit herunterbaumelnden Hosenträgern zur Wohnzimmertür herein, verfing sich deshalb an der Klinke, schwebte in der Luft, ruderte mit den Armen wie ein Schwimmlehrling, machte ein Winken daraus und sagte etwas schwerfällig: „Hello, Käthi.“ Es sah lustig aus. Man hätte sich darüber krummlachen können. Käthi aber nannte ihn in ihrer charmanten Art ein besoffenes Ferkel und holte sich ärgerlich eine neue Flasche Asperula aus dem Keller. Abhängen musste er sich selber. Sie trank nie mehr als fünf Gläschen am Tag, und Oswald hatte sich ausgerechnet, dies waren im Jahr fast zweitausend Prösterchen. Durch ihre Adern musste der reinste Waldmeister fließen! Und die Wut ihrer verdammten Gesundheit wegen brachte ihn eines Sonntagmorgens so weit, dass er beim Anblick des zusammengeschrumpften Häufleins Asperulaflaschen vor Schreck im Keller eine halbe Flasche Wodka auf ex austrank. Dann hockte er eine Weile zwischen den Briketts, stieg endlich mit seinen auf Sicherheit bedachten Bewegungen die Treppe hoch und kippte oben, so, als hätte er es sich anders überlegt, kerzengerade wie ein Richtbrett wieder hinunter.

Käthi fand ihn erst Stunden später. Sie war ziemlich aufgebracht. Nachdem sie aber bemerkte, daraus wird er sich nie mehr etwas machen, fühlte sie Enttäuschung. Es war Prüfungszeit, und es gab eine Riesenmenge Aufsätze zu zensieren. Sie war böse, weil er sich nicht die Ferienzeit ausgesucht hatte.

Zur Beerdigung trug sie einen grünen Lodenmantel und – einziger heller Lichtblick – einen senfbraunen Hut. Sie warf vorschriftsmäßig drei Häufchen Dreck auf den Deckel und klopfte sich die Handflächen sauber, als wollte sie sagen: So, geschafft.

Dann strebte sie wieder ihrem Schreibtisch zu. Aber die Arbeit ging ihr an diesem Tag nicht so recht von der Hand. Sie räumte sein kleines Schrankfach leer, unsinnige Tabakdosen darin aus der Zeit, da er noch Pfeife rauchen durfte, ein Ersatzrasierpinsel, drei Zeitungsfotos mit den langen Beinen des Friedrichstadtballettes. Endlich brauchte sie ihre Bücher nicht mehr zweireihig aufzustellen. Sie warf diese Utensilien wie junge Sperlinge aus dem Nest. Dabei geriet ihr auch eine kleine Pappschachtel in die Hand, die sich noch in der Luft öffnete und weiße bedruckte Kärtchen wie Flugblätter über den Teppich verstreute. DANKSAGUNG, las sie wohl hundertfach, FÜR DAS MIR ZUM PLÖTZLICHEN ABLEBEN MEINER LIEBEN FRAU KÄTHE LINDENLAUB DARGEBRACHTE BEILEID BEDANKT SICH IN TIEFEM SCHMERZ IHR LIEBER GATTE OSWALD LINDENLAUB.

Etwas wie Rührung suchte Käthis Gesicht heim. Dann aber entdeckte sie in der Küche ein Notizbuch, jede Seite bis zum Rand gefüllt mit Strichen. Um ihre Mundwinkel zuckte jenes bekannte Wirdnichtversetzt. Er hatte nie Gescheites zustande gebracht. In der Küche rief der Wellensittich mehrmals krächzend: „Oswald! Oswald!“

Käthi nahm das Buch DER ERZIEHUNGSFAKTOR ALS EINE METHODE ZUR HERAUSBILDUNG SELBSTBEWUSSTEN HANDELNS, TEIL I zur Hand, klappte es dort auf, wo sie unterbrochen hatte, und ihr Gesicht erreichte wieder die rechteckige Form. Manchmal schaute sie aus Gewohnheit noch und auch ein bisschen zerstreut zur Tür, ob bald serviert wird. Aber Oswald Lindenlaub war gestorben.

Im Grunde genommen schon bei Pirna.

ICH HABE ZWEI JAHRE BAU HINTER MIR

PROLOG

Ich war einmal ein anständiger Mensch. Nachts fuhr mein Gewissen nicht zusammen und blickte sich nervös nach allen Seiten um. Nein, es ruhte wie ein Embryo in mir. Und von Embryos kann man wohl mit größter Sicherheit behaupten, die sind unschuldig. Dann aber irrte sich die Akademie der Künste, oder sie verwechselte mich mit einem anderen Schriftsteller, denn sie verlieh mir einen Preis. Die Summe war nicht allzu hoch. Hätte mir aber einer über die Schulter auf meinen Kontoauszug sehen können, so wäre er wenig verwundert gewesen, dass sie bei mir wie ein mittleres Erdbeben wirkte. Euphorisch beschloss ich, von dem Geld eine Reise auf einem Handelsschiff zu machen. Mir hatte einer versichert, Reisen bilden. In dieser Hinsicht war bei mir dringend eine sehr große Reise nötig. Es wurde aber nichts daraus. Ich weiß heute nicht mehr, weshalb. Vielleicht wimmelte es schon auf allen Handelsschiffen von Preisträgern. So wollte ich mir ein aus- und anbaufähiges Haus kaufen. Denn zwischen einer Schiffsreise und einem Hausbau gibt es keinen Unterschied. Beides ist gefährlich, und man kann gleichermaßen untergehen.

Das Haus schmiegte sich in den Hang. Es war ein Häuschen. Es war ein kleines Häuschen. Es war alles klein an ihm. Unter dem Giebelchen drei Fensterchen, an der Ecke ein Laternchen, die Fensterstöckchen aus Klinker, leuchtend rot. Knusper, knusper, knusper … Ich stand verzaubert mit meiner Frau davor. Hänsel und Gretel im Sozialismus. Wir knabberten mit unseren Blicken daran herum. Aus den Fensterchen ließen sich Fenster machen. Sohlbänke aus Terrazzo. Hinten konnte dem Häuschen ein Buckel wachsen: das Arbeitszimmer mit einer Veranda daran. Auf dieser sah ich mich sitzen, vertieft in die Zeugung eines Manuskriptes, korrigierend den Irrtum der Akademie. Meine Frau, eine glückliche Hausbesitzerin, trat mit dem Kaffee zu mir heraus. Am Rande meines Gartens – nein, Grundstück klingt besser – wuchs ein Weizenfeld hinan. Der Wind blies goldene Wellen gegen den neuverputzten Bug meines Hauses. Ich trat nun doch die Reise an. Auch Häuschen können groß werden.

Die Frau, die uns das Haus verkaufte, kam heraus. Es war keine Hexe, es war ein Engel. Denn sie wollte nur den Schätzpreis, nicht mehr. Solange sie lebt, sei ihr Glück beschieden. Ich trat über die Schwelle und bückte mich instinktiv. Eine Handbreit über meinem Kopf hing die Decke. Meine Frau behauptete später, solch gebückte Haltung hätte mich plötzlich älter aussehen lassen. Aber endlich auch reifer.

WIE ICH EIN BAUHERR WURDE

Das Gefühl ist nicht zu beschreiben, wenn ein Handwerksmeister ins Haus tritt und fragt: „Wo ist denn der Bauherr?“ Man bekommt sofort ein projektierendes Verhalten.

„Wie ist Ihr Wunsch? Wohin sollen wir das Ganze bauen?“, fragt der Handwerksmeister.

Und schon die Handbewegung, mit der man die entsprechenden Ideen an die vorgesehene Stelle wirft, hat zukunftweisende Bedeutung. Ein Handwerksmeister fügt sich!

„Dorthin“, sagt man wie: Es werde Licht.

Der Handwerksmeister nickt ergeben. Und er baut die Sache so, dass es für den Bauherrn praktisch und für ihn bequem ist, nämlich an eine ganz andere Stelle.

Ich war also nun Bauherr. Meine Frau beeindruckte das keineswegs, denn sie maßte sich an, Bauherrin zu sein.

„So“, sagte ich, „da fangen wir an. Was brauchen wir zuerst?“

„Kredit und einen Bauleiter“, erwiderte sie. Frauen denken immer nur ans Geld und aus Misstrauen ihren eigenen Männern gegenüber an andere. Wieso muss sich ein Bauherr leiten lassen?

Der Bauleiter sagte: „Zuerst einhundert Sack Zement.“

„Wenn's weiter nichts ist!“, rief ich.

Auf der Baustoffversorgung fragte man uns: „Haben Sie ein Kontingent?“

„Haben wir nicht.“

„Dann müssen Sie warten.“

Ich war also ein Bauherr ohne Kontingent. Ein Bauherr ohne Kontingent ist kleiner. Das Bauherrchen ging nun zur Baustoffversorgung wie Strenggläubige in die Kirche. Also jeden Tag. Es glaubte auch. Endlich wurde sein Glaube erfüllt. Einhundert Sack Zement! Es lief zum VEB Gütertaxi.

„Guten Tag, ich hätte gern eine Fahrt.“

„Name? – Von wo nach wo? – Wird aber erst morgen. – Welche Fracht?“

„Einhundert Sack Zement.“

Dröhnendes Gelächter. Aus den Nebenräumen eilten die Angestellten herbei und besahen sich das Wunder. „Wollen Sie unsere Taxis vernichten?“

Das Bauherrchen trippelte hinaus. Ein Mitleidiger flüsterte ihm zu, auf dem Lagerplatz stünden während des Befrachtens immer LKW-Fahrer herum. Es sah sie: Nachfahren der ehemaligen Planwagenkutscher aus vergangener Zeit. Breit in den Schultern, muskulöse Bäuche, Zigarette fast wie ein Echolot senkrecht im Mundwinkel nach unten. Das Bauherrchen schlich entmutigt vorbei und entsann sich freudig, es besaß nicht nur ein Haus, sondern auch eine Bauherrin. Die Bauherrin machte sich fein: enger Rock, enge Bluse, Signalrot auf die Lippen, Haare etwas verworfen locker, Beine durch hohe Absätze verlängert.

Die LKW-Fahrer pfiffen durch die Zähne. Einem fiel das Echolot heraus. Er konnte also reden. „In einer Stunde bin ich bei dir, Biene!“

Als er mit seinem Schiff vor dem Häuschen ankerte, stand das Bauherrchen dort. In einem viel zu weiten sogenannten Berufsmantel.

„Tut mir leid, ich bin der Mann“, sagte ich.

Der LKW-Fahrer schlug sich feixend mit der Hand an die Stirn. „Ist dir einwandfrei gelungen! Na gut, sollst deine Beutelchen haben.“

WIE ICH DEN VERSUCH UNTERNAHM, EINEN ZEMENTSACK ZU HEBEN

Der Fahrer war mit seinem Schiff abgerauscht. Ich stand inmitten der Dieselwolken und klopfte mir voller Arbeitselan meine sauberen Hände sauber. Es galt, einhundert Sack Zement in den Schuppen zu transportieren. Ich legte die rechte Hand unter die Schmalseite eines Sackes, die linke unter die linke Schmalseite, wie sich das gehört. Ich sagte: „Hau ruck!“ Der Sack gab sich an beiden Seiten Mühe, zu mir hochzukommen, sackte aber in der Mitte durch. Ich begriff, dass daraus wohl das Wort Sack entstanden war. Wir trennten uns. Nun kam ich auf die Idee, ich müsste vielleicht meine Arme zu einer Art Zange biegen. Ich kreuzte sie vor der Brust. Die linke Hand fuhr jetzt unter die rechte Schmalseite des Sackes, die rechte unter die linke Schmalseite. Meine Schlüsselbeine knirschten unheildrohend. Der Sack erwies sich abermals als Sack. Es dauerte eine Weile, bis ich die Arme wieder in Normallage bringen konnte. Ich schüttelte die Ecken, damit ich ihn an den Zipfeln hineintragen konnte. Dazu hätte der Sack aber in Kopfkissenbezüge abgefüllt sein müssen. Wahrscheinlich sollte ich meinen Arm unter die Mitte des Sackes schieben und ihn handhaben wie ein Ober sein Serviertuch. Der Sack erhob sich und blieb ähnlich einem auf den Kopf gestellten V liegen. Ich dachte darüber nach, wie schwer doch so ein Sack ist. Ich blickte mich vorsichtig nach allen Seiten um, ob meine geometrischen Übungen von den Nachbarhäusern aus beobachtet wurden. Nur eine Katze saß auf einer Gartensäule und sah höflich weg. So kroch ich bäuchlings mit dem Kopf voran unter das V, brüllte, stemmte den Sack mit den Schultern hoch, verlor die Orientierung und rannte mit eingeknickten Beinen mehrmals im Kreis herum. In Bruchsekunden hatte ich die Vision, irgendeine Jury müsste mir doch nun ein Zeichen geben, dass es genug sei. Aber dies war meine ganz private Weltmeisterschaft im Hausbau. Und so torkelte ich kopfüber mit dem ersten Zementsack in den Schuppen.

An diesem Abend kehrte ich in meine Kindheit zurück. Meine Frau wusch mich, fütterte mich, zog mich aus, streifte mir den Schlafanzug über und trug mich mehr, als sie mich schob, die steile Treppe ins Schlafzimmer hinauf. Ganz langsam seilte sie mich ins Bett hinab. Ich sah ihre Brüste, ihre Beine, das Signalrot auf den Lippen – und schlief ein. Sofort hielten Lastwagen vor unserem Häuschen und lieferten Zementsäcke. Der Garten war nicht mehr zu sehen, der Schuppen zugedeckt. An der Hauswand stapelten sich bereits die Säcke hoch. Und meine Frau stöckelte noch immer aufgetakelt, ein rotes Handtäschchen schwingend, an allen Lagerplätzen entlang, neue Lieferanten zu werben. Nachts fuhr mein Gewissen zum ersten Mal ein kleines bisschen zusammen und blickte sich nervös um.

WIE ICH SPRINGEN LERNTE

Allmählich konnte ich spielend Riesensandhaufen durchwerfen, Hohldielen schichten und Ziegelsteine schmeißen. Allerdings gelang mir nie der gerade Wurf eines Ziegels. In der Luft schlug er jedes Mal einen Salto, bevor er zwischen die Handschuhe meiner Bauherrin flog. Sie erschrak nur, wenn mir aus Versehen ein Normalwurf gelang. Im Zirkus Aeros hätten sie sich für mich interessiert, und der alte Sarasani wäre bestimmt begeistert gewesen. Mein Anbauhaus versammelte sich langsam in Einzelteilen um mich her.

Eines Tages kreuzten vier Männer im Stil einer Rockerbande mit ihren Motorrädern bei mir auf. Werbeopfer der Bauherrin. Sie betrachteten mich neugierig. Als hätte ihnen jemand gesagt, ich sei gar kein Schimmel, sondern ein Zebra ohne dunkle Streifen. Eine unruhige Jugend ging von ihnen aus. Es war meine erste Begegnung mit Maurern. Ich wusste nichts von den Geheimnissen ihrer Zunft. Ich erinnerte mich nur an eine Faustregel: Ein Kalk, ein Stein, ein Bier. Diese aber, mit den schlafarmen Knabengesichtern, sahen aus wie abends herumstreunende Raubkatzen. Heute hier, morgen da. Ein Steinhäger, ein Bier, eine Kalkwand. Jetzt weiß ich, sie waren die harmlosen Vorfahren derjenigen, die es nun gibt.

„Schreiben Sie am Tag?“, fragte einer.