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Die fünfjährige Lucy Karlsson ist mit dem Down-Syndrom geboren worden. Ihre Mutter Theodora gab ihr den Namen Luzia - weil Lucy jede Form von Licht über alles liebt. Nach einem Besuch in der Notaufnahme der Sauerbruch-Klinik entdeckt das kleine Mädchen einen leuchtenden Stern, den Valentin Thalberg, der den verunglückten Hausmeister vertritt, auf die Spitze der großen Tanne vor dem Klinikeingang stecken will. Sie ist von dem wundervollen Leuchten so fasziniert, dass sie eine kurze Abwesenheit ihrer Mutter dazu nutzt, um durch die Straßen der Stadt zu ziehen. Mit dem Licht will sie den Menschen ein Lächeln schenken und ihre mürrischen Gesichter erhellen. Völlig versunken in ihre wichtige Mission entfernt sie sich immer weiter und vergisst alles um sich herum. Ein drogensüchtiger Mann packt die Gelegenheit beim Schopf und bringt Lucy dazu, für ihn zu betteln. Von einem behinderten Kind verspricht er sich gerade in der Vorweihnachtszeit reichen Geldsegen. Damit sie das "arme Kind" glaubhafter mimt, gibt er ihr eine seiner Fentanyltabletten. Als sie daraufhin einen schlimmen Anfall erleidet und an einer Überdosis zu sterben droht, lässt er sie einfach auf der Straße liegen ...
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Seitenzahl: 122
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Inhalt
Und dann kehrt das Licht zurück
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Impressum
Cover
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsbeginn
Impressum
Aus Tränen wuchs ein neues Glück
Von Karin Graf
Wie jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit wartet ganz Frankfurt gespannt auf den prächtig geschmückten Weihnachtsbaum vor der Sauerbruch-Klinik, den schönsten der Stadt. Gerade will der junge Valentin Thalberg, der den verunglückten Hausmeister Krause vertritt, den leuchtenden Stern an der Spitze anbringen, als er ein staunendes Mädchen bemerkt.
Die fünfjährige Luzia hat das Down-Syndrom und liebt alles, was glitzert und funkelt. Valentin ist sofort entzückt von dem kleinen Mädchen und seiner Mutter Tori. Er erlaubt Luzia, den Stern zu halten, während er kurz etwas erledigt. Aber als auch Tori ihre Tochter einen Moment aus den Augen lässt, macht sich Luzia mit dem Stern auf, um anderen das Licht von Weihnachten zu bringen. Sie zaubert vielen Leuten ein Lächeln ins Gesicht – doch nicht alle Menschen sind gut, und Luzia gerät in tödliche Gefahr.
Bald sucht die ganze Stadt nach der kleinen Lichtbringerin. Erst wenn sie unversehrt gefunden ist, soll der Weihnachtbaum erstrahlen. Aber er bleibt tagelang dunkel. Wird das Licht je zurückkehren?
Emil Rohrmoser, der Verwaltungsdirektor der Frankfurter Sauerbruch-Klinik, war freudig erregt, als er an diesem wolkenverhangenen Montagmorgen kurz vor sieben Uhr in die schmale Zufahrtsstraße einbog, die zum Haupteingang seines Krankenhauses führte.
Es ging auf Heiligabend zu, und schon seit einigen Wochen konnte Emil beobachten, wie Hans Krause, der Hausmeister der Sauerbruch-Klinik, zunehmend unruhiger wurde.
Am Freitagabend hatte Direktor Rohrmoser den Hausmeister dabei erwischt, wie dieser heimlich Kisten in die große Eingangshalle schleppte.
Emil hätte alle Schweinebraten der Welt dafür verwettet, dass die Kisten randvoll mit Weihnachtskitsch gefüllt waren. Lichterketten, Sterne, Kugeln, Weihnachtsmänner, Rentiere, Engel, Wichtel, das ganze Zeug, das Emil verabscheute, weil es leuchtete und blinkte und einen Haufen Strom verbrauchte, den er dann teuer bezahlen musste. Und das in Zeiten, in denen der Strompreis sich langsam, aber sicher dem Goldpreis annäherte.
Jedes Jahr lieferte Emil sich mit Hans Krause einen hitzigen Kampf um jedes einzelne Glühlämpchen. Jedes Jahr hatte er seine helle Freude daran, den Hausmeister zur Schnecke zu machen und zu beobachten, wie dieser immer nervöser und nervöser wurde. Wie er wirklich versuchte, sich an das Verbot zu halten, bis er es nicht mehr aushielt und schließlich, das schlechte Gewissen im Gesicht, heimlich zum Heimwerkermarkt fuhr.
Wenige Wochen vor Heiligabend wurde der ganze blinkende Ramsch zum Sonderpreis verschleudert, und Krause konnte einfach nicht anders, als immer noch mehr von dem Zeug zu holen.
Jedes Jahr zeterte und tobte Emil, wenn die Eingangshalle trotz des Verbots dann doch von vorne bis hinten und von oben bis unten flimmerte und blinkte. Und jedes Jahr gelang es ihm, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sich in Wahrheit an der funkelnden Pracht erfreute.
Dazu kam, dass der jährliche Weihnachtsbaum vor der Klinik und die Dekoration in der Eingangshalle bereits Berühmtheit erlangt hatten.
Krause dekorierte die hohe Tanne vor dem Haupteingang jedes Jahr nach einem bestimmten Motto, und jedes Jahr versuchten die Medien, das Motto zu ergründen. Jedes Jahr erschienen die Fotos davon in den meisten Tageszeitungen, und die Weihnachtsdekoration wurde sogar von den lokalen Fernsehsendern aufgenommen und in den lokalen Nachrichten besprochen, was für den Ruf der Sauerbruch-Klinik von unschätzbarem Wert war.
Gespannt, was wohl in diesem Jahr Krauses Weihnachtsmotto sein würde, nahm Emil sich gar nicht erst die Zeit, seinen Wagen in die Tiefgarage zu steuern. Er hielt gleich auf dem kleinen Gästeparkplatz vor seinem Krankenhaus an, stieg aus und ...
»Der ist ja nackig! Heiliges Sparschwein, warum ist der pudelnackt?«
Wie jedes Jahr stand ein mindestens zehn Meter hoher Tannenbaum vor dem Haupteingang, doch anders als jedes Jahr war der Baum heute nicht mit hunderten Glühlämpchen, Kugeln, Sternen und Engeln geschmückt. Der Baum war splitterfasernackt!
Na gut, vielleicht war Krause noch nicht dazugekommen, ihn zu schmücken. Vermutlich hatte er sich das ganze Wochenende lang auf die Eingangshalle konzentriert und diese dafür heuer ganz besonders üppig geschmückt.
Voller Vorfreude, erstens auf den schönen Anblick und zweitens darauf, Krause dafür ganz klein zusammenzufalten, eilte er durch die gläserne Drehtür und ...
Nichts! Kein einziges Glühlämpchen! Keine Weihnachtsmänner, keine Rentiere, keine Engel, gar nichts! Nicht einmal ein winziges Zweiglein Reisig irgendwo!
Eine Tanne – nicht ganz so hoch wie die vor dem Gebäude – stand in der Ecke rechts vom Eingang, in der Krause üblicherweise eine ganze Weihnachtslandschaft aufbaute.
Lebensgroße Rentiere, die einen Schlitten voller bunter Pakete zogen. Ein lebensgroßer Weihnachtsmann, der zusammen mit seinen Wichteln auf dem Kutschbock saß. Eine Weihnachtskrippe mit der Heiligen Familie, mit Ochse, Esel, Schafen, Hirten und den Heiligen drei Königen.
Um die sonst immer von oben bis unten geschmückte Tanne herum fuhr in jedem Jahr eine große Spielzeugeisenbahn durch den hohen Kunstschnee, deren Waggons mit bunten Paketen, lustigen Tieren und Weihnachtswichteln beladen waren.
Die etwa sechs Meter hohe Tanne stand auch tatsächlich in der Ecke, doch sie war, wie die Tanne vor dem Eingang, nackt.
»Heiliges Sparschwein!« Geschockt und entrüstet stapfte Emil auf den Informationstresen zu, an dem Schwester Barbara saß.
»Ist Krause vom wilden Affen gebissen worden, oder was?«, herrschte er die Pflegerin an. »Wieso sind die Bäume nackig, und wo ist der übrige Ramsch?«
»Das ist ein trauriger Anblick, nicht wahr?« Schwester Barbara seufzte tief. »Ich hatte mich schon so sehr auf Herrn Krauses Weihnachtswunderwelt gefreut, als ich vor zehn Minuten meinen Dienst hier angetreten habe. Ich war richtig enttäuscht. Sie auch, Herr Direktor?«
»Enttäuscht? Ich? Sind Sie vom wilden Affen gebissen, Schwester? Warum sollte ich enttäuscht sein, wenn Krause sich endlich einmal an mein striktes Weihnachtsdekorationsverbot hält? Oder meinen Sie, ich sollte enttäuscht sein, weil ich dieses Jahr endlich einmal keine mindestens zehntausend Euro Weihnachtsbeleuchtungsstromkosten extra bezahlen muss? Oder was?«
Die Pflegerin zuckte ratlos mit den Schultern.
»Dann ist für Sie ja alles in Ordnung, Herr Direktor. Worüber regen Sie sich dann so auf?«
»Über Krauses Eigenmächtigkeit rege ich mich auf!«, erwiderte Emil ziemlich aufgebracht. »Er hätte wenigstens darauf warten können, dass ich es ihm verbiete. Wie kommt er dazu, einem Verbot vom letzten Jahr zu gehorchen und nicht auf das diesjährige Verbot zu warten? Einfach von sich aus nichts zu dekorieren und die Tannen nackig herumstehen zu lassen, das ist glatte Arbeitsverweigerung! Dafür könnte ich ihn fristlos entlassen!«
»Ach ja? Ach ja ...« Schwester Barbara versuchte, das Gesagte irgendwie zu verstehen, aber sie schaffte es nicht. Deshalb beließ sie es bei einem Nicken.
»Dem werde ich was erzählen!«, zischte Direktor Rohrmoser und eilte auf die Aufzüge im hinteren Bereich der großen und ungewohnt kahlen Eingangshalle zu. »Der kann sich schon mal warm anziehen! Wenn ich mit ihm fertig bin, dann ...«
»Warten Sie, Herr Rohrmoser!«, rief ihm die Pflegerin nach. »Herr Krause ist nicht unten in seinem Büro!«
»Aha!« Emil machte kehrt. »Er ist nicht in seinem Büro? Ist er im Magazin oder im Heizraum oder draußen bei den Tanks für unser Notstromaggregat?«
»Auch nicht. Er ist heute überhaupt nicht ...«
»Nicht hier?«, fiel Emil ihr heftig ins Wort. »Hat er verpennt oder macht unerlaubten Urlaub? Das kostet ihn seinen Job, und Weihnachtsgeld kriegt er auch keines. Nicht einen Cent!«
»Lassen Sie mich doch einmal kurz zu Wort kommen, Herr Direktor«, bat Schwester Barbara. »Dann kann ich es Ihnen erklären.«
»Bitte!« Emil verschränkte die Arme vor der Brust, was ihn wegen seiner Leibesfülle einige Anstrengung kostete. Dann trommelte er ungeduldig mit der Schuhspitze auf den Boden. »Ich warte und höre!«
»Herr Krause liegt oben auf der Unfallstation. Er wollte am Samstagmorgen mit dem Dekorieren der Tanne vor dem Eingang beginnen, doch ein Autofahrer, der seinen Wagen auf den Parkplatz lenken wollte, ist ins Schleudern geraten und hat die Leiter gerammt, auf der Herr Krause stand.«
»Und wegen so einer Lappalie legt er sich gleich ins Bett?«
»Es ist leider keine Lappalie, Herr Direktor«, protestierte die Pflegerin. »Dr. Kersten musste ihn operieren. Sein Bein ist gebrochen. Es handelt sich um eine instabile und offene Fraktur. Warten Sie mal ...«
Sie tippte etwas in ihren Computer. Dann nickte sie. »Unfallstation, Zimmer sieben. Soll ich oben anrufen und fragen, für wie lange er wohl ungefähr ausfallen wird?«
»Sehe ich so aus, als ob ich das nicht selbst könnte?«, blaffte Emil sie an. »Halten Sie mich vielleicht für der deutschen Sprache nicht mächtig? Oder für schüchtern?«
»Keineswegs, Herr Direktor.« Schwester Barbara schüttelte überdeutlich den Kopf. Direktor Rohrmoser und schüchtern, nein, das passte überhaupt nicht zusammen.
»Unfallstation, Zimmer sieben, also?«, hakte Emil noch einmal nach. »Beim Versuch, den Baum zu schmücken, verunglückt? Na, der kann sich auf was gefasst machen! Er wollte also seinen Glitzerkitsch aufhängen, obwohl ich es ihm doch Jahr für Jahr immer wieder ausdrücklich verboten habe! Dem erzähle ich was!«
Schwester Barbara schaute dem Verwaltungsdirektor kopfschüttelnd nach, als dieser nun abermals auf die Aufzüge zueilte.
»Erst wollte er ihn zur Schnecke machen, weil die Halle kahl ist und die Bäume nackt sind, und jetzt ...«, murmelte sie und schüttelte erneut den Kopf. »Falls da irgendeine Logik dahintersteckt, dann bin ich vermutlich zu dumm, um es zu kapieren.«
***
Die fünfjährige Luzia Karlsson besuchte seit rund einem Jahr den Kindergarten. Es war ein Sonderkindergarten, weil Lucy ein ganz besonderes kleines Mädchen war. Sie war mit dem Down-Syndrom geboren worden.
Lucy ging leidenschaftlich gerne in den Kindergarten. Deshalb war ihre Mutter, die fünfundzwanzigjährige Theodora Karlsson, auch sehr besorgt, als sie Lucy um sieben Uhr weckte und ihr kleines Mädchen sagte, sie wolle heute lieber im Bett bleiben.
»Fühlst du dich nicht gut, mein Schatz?«, fragte sie und legte ihrer Tochter die flache Hand auf die Stirn. »Fieber scheinst du keines zu haben. Was fehlt dir denn?«
»Es rumpelt und pumpelt in meinem Bauch«, klagte Lucy. »Aber ich bin doch gar kein Wolf, und es gab auch gar keine sieben Geißlein zum Abendbrot«, scherzte sie und kicherte matt.
»Bauchschmerzen also.« Tori, wie ihre Freunde sie nannten, seufzte erleichtert auf. Bei einem Kind mit Down-Syndrom musste man stets auf das Schlimmste gefasst sein. Das hatten ihr zumindest etliche Ärzte prophezeit. Aber Bauchschmerzen waren mit Fencheltee, Bettruhe und dem neuen dicken Märchenbuch gut in den Griff zu bekommen. Dennoch ...
»Soll ich den Kinderarzt anrufen, damit er später vorbeikommt und dich mal untersucht?«
Lucys Augen weiteten sich erschrocken. »Nein, nein, nein!«, protestierte sie heftig. Lucy mochte keine Ärzte. Sie vertraute ihnen nicht. Sie war schon so oft gepikst worden, dass sie mit denen nichts mehr zu tun haben wollte.
Außerdem redeten die immer direkt neben ihr über sie und glaubten, sie sei zu dumm, um zu verstehen, was sie sagten. Doch Lucy war klug. Sie verstand alles. Sie hörte sehr wohl, dass die Ärzte sagten, dass sie vermutlich sehr bald sehr krank werden und dann bald sterben würde. Und manche fügten sogar noch hinzu, dass das in ihrem Fall ein Segen sei, weil sie ohnehin bloß eine Belastung für Mama wäre.
Es gab nur einen Arzt auf der ganzen Welt, den sie mochte und dem sie blind vertraute, und das war ...
»Ach, entschuldige, meine Süße, ich habe einen Moment lang nicht mitgedacht. Sollen wir in die Notaufnahme zu Dr. Kersten fahren, um ganz sicher zu sein, dass es wirklich nur gewöhnliche Bauchschmerzen sind?«
»Ja, ja, ja, zu Doktor Peter!«
Theodora lachte. »Dann rufe ich mal gleich in der Sauerbruch-Klinik an und frage nach, ob Herr Kersten heute Früh- oder Spätschicht hat. Aber zuvor mache ich dir noch einen Tee.«
Als Theodora in der Küche stand und den Teekessel füllte, merkte sie, wie sehr ihre Hände zitterten. Sie ließ es sich nie anmerken, aber wann immer ihr kleines Mädchen über irgendetwas klagte, überkam sie die nackte Angst.
Bereits während der Schwangerschaft, als feststand, dass ihr Baby mit dem Down-Syndrom zur Welt kommen würde, und Tori sich hartnäckig geweigert hatte, eine Abtreibung vornehmen zu lassen, hatte man ihr eine fast endlos lange Liste mit Erkrankungen präsentiert, die Lucy aller Wahrscheinlichkeit nach alle bekommen würde, ehe sie jung starb.
Hör- und Sehbehinderungen, schwere Herzfehler, Diabetes, diverse Erkrankungen der Schilddrüse, Arthritis, Leukämie, Schlafapnoe, Zwangsstörungen, Depressionen und Angststörungen, um nur ein paar davon zu erwähnen.
Auch der Kinderarzt, bei dem sie seit rund einem Jahr nicht mehr gewesen waren, weil Lucy ihn nicht mochte, hatte sie immer wieder darauf hingewiesen, dass sich die ersten schlimmen Erkrankungen ganz bestimmt sehr bald einstellen würden.
Nun, bislang hatte Lucy nichts Schlimmeres gehabt als einmal eine Angina, hin und wieder Bauchschmerzen und eine Erkältung. Dennoch war die Angst um das Leben ihres kleinen Sonnenscheins Toris ständiger Begleiter. Die Angst war ihr so oft und so intensiv eingeredet worden, dass sie nun nicht mehr davon loskam, obwohl sie es eigentlich besser wusste.
Das Down-Syndrom oder die Trisomie 21, wie es eigentlich korrekt hieß, war keine Krankheit, es war eine Anomalie. Das Chromosom einundzwanzig war dreifach statt doppelt vorhanden, und das prägte das typische Äußere dieser Menschen.
Dass so viele von ihnen schwer erkrankten oder geistig zurückblieben, das musste nach Toris Meinung nicht sein. Sie hatte die Lebensgeschichten von Menschen mit Trisomie einundzwanzig gelesen, die sogar ein Universitätsstudium erfolgreich abgeschlossen hatten. Der Wille eines Menschen, davon war sie fest überzeugt, konnte fast jede Anomalie überwinden.
Da gab es zum Beispiel den Fall eines hochbegabten jungen Mannes, der Mathematik studiert hatte. Als er dann einmal geröntgt werden musste, hatte man festgestellt, dass sein Schädelinnenraum zu fünfundneunzig Prozent leer war. Er war mit nur fünf Prozent der üblichen Gehirnmasse geboren worden.
Sie hatte mit Dr. Kersten darüber gesprochen, und er hatte sie darin bestärkt, nicht ausschließlich auf die Wissenschaft zu hören, sondern ihrem Instinkt zu vertrauen und mit Lucy eigene Wege zu gehen. Tori war unendlich froh und dankbar dafür, dass der Zufall sie zu diesem wunderbaren Arzt geführt hatte.
Vor rund einem Jahr war Lucy auf dem Spielplatz so dumm von einer Schaukel gefallen, dass sie sich den Knöchel schlimm verstaucht hatte. Da es Sonntag gewesen war, hatte Theodora mit ihr die Notaufnahme der Sauerbruch-Klinik aufgesucht, und Lucy hatte sich augenblicklich in Dr. Peter Kersten verliebt.
Tori musste schmunzeln, während sie den Tee aufgoss. Wen Lucy einmal in ihr kleines Herzchen schloss, der kam von dort nie mehr wieder raus. Ihre Liebe war selbstlos, rein und unendlich.
Die Miene der bildhübschen jungen Frau verdüsterte sich, als sie daran dachte, wie sehr die Ärzte und vor allem Arnold, der leibliche Vater von Lucy, ihr damals zugesetzt und auf eine Abtreibung gedrängt hatten.
Das arme Kind hätte ja doch nichts vom Leben, hatten sie ihr weismachen wollen. Sie würde sehr klein bleiben, hässlich und geistig zurückgeblieben sein. Verlacht und verspottet und ständig krank, würde sie ein elendes Dasein fristen. Ein sehr kurzes, elendes Dasein, denn solche Kinder starben üblicherweise früh.
