DER WIDERSACHER - Eberhard Weidner - E-Book
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DER WIDERSACHER E-Book

Eberhard Weidner

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Beschreibung

Nach der Ermordung ihres Kollegen, des Mordermittlers Anton Krieger, wird Kriminalhauptkommissarin Anja Spangenberg von der Vermisstenstelle der Kripo München vom Dienst suspendiert und widmet sich der Renovierung ihres Hauses. Doch ihr Widersacher gönnt ihr keine Ruhepause. Innerhalb weniger Stunden werden drei Menschen ermordet, allem Anschein nach von drei Serienkillern. Allerdings wird bei jedem Leichnam eine Visitenkarte von Anja Spangenberg gefunden. Damit ist nicht nur ihr, sondern auch den Kollegen von der Mordkommission klar, dass Anjas Widersacher dahinterstecken muss, dessen Identität noch immer nicht bekannt ist. Die drei Morde sind jedoch nur der Auftakt einer Serie, denn DER WIDERSACHER und seine Handlanger haben es vor allem auf Anjas unmittelbares Umfeld und letzten Endes auf sie selbst abgesehen. Als dann nach und nach ihre nächsten Angehörigen spurlos verschwinden, weiß Anja, dass DER WIDERSACHER dieses Mal alle Register zieht und aufs Ganze geht …

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Seitenzahl: 691

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INHALTSVERZEICHNIS

COVER

TITEL

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

ERSTER TEIL: DER LEBENDE TOTE

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

ZWEITER TEIL: DER GOURMET

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

DRITTER TEIL: DER TOD

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

VIERTEL TEIL: DER WIDERSACHER

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

EPILOG

Kapitel 28

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

Prolog: Die Kälte des Todes!

MITTWOCH

Kapitel 1: »Dafür sind Nachbarn doch da.«

PROLOG

Kapitel 1

Sobald sie in der Tiefgarage war, überkam Doris Sonntag stets ein überwältigendes Gefühl der Angst. Auch an diesem Abend war das nicht anders, obwohl die Garage des Hauses, in dem sie und ihr Mann eine Eigentumswohnung besaßen, hell ausgeleuchtet und überschaubar war. Bereits vor neun Jahren, kurz nach ihrem Einzug, hatte Doris auf der Eigentümerversammlung den Antrag gestellt, anstatt der trüben Funzeln hellere Lampen zu installieren. Der Antrag war von den anderen Wohnungseigentümern unterstützt und daher vom Hausverwalter umgehend in die Tat umgesetzt worden. Doch auch die bessere Beleuchtung half nichts gegen die tiefsitzende Angst, die sie jedes Mal empfand, sobald sie aus dem Aufzug trat oder mit dem Wagen in die Tiefgarage fuhr.

Dabei wusste sie als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie ganz genau, dass ihre Ängste irrational oder zumindest deutlich übertrieben waren, da sie auf keiner realen Gefahr oder Bedrohung beruhten. Sie hatte auch noch nie ein traumatisches Erlebnis in einer Tiefgarage gehabt, das derartige Ängste nachvollziehbar erscheinen lassen würde. Doch trotz ihres Fachwissens konnte sie sich nicht davon befreien, sondern musste sich ihnen fünf Tage in der Woche mindestens zweimal täglich stellen. Immerhin hatte sie in der Nähe ihrer Praxis einen oberirdischen Stellplatz anmieten können, sodass sie dort nicht an jedem Arbeitstag haargenau in dieselbe Situation geriet.

Als sie nun ihren Wagen, einen obsidianschwarzen Mercedes CLS 350 Coupé, langsam durch die Tiefgarage lenkte, sah sie sich nervös in alle Richtungen um. Sie verrenkte sogar den Kopf, um in die hintersten Ecken sehen zu können. Gleichzeitig musste sie heftig schlucken, um den vermeintlichen Kloß zu entfernen, der in ihrem Hals steckte und ihr die Atmung erschwerte. Diese war ebenso wie ihr Herzschlag unwillkürlich schneller geworden, sobald sie den Wagen durch das geöffnete Tor auf die abwärts führende Rampe gefahren hatte.

Doris hatte erst vor wenigen Tagen ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert. Sie war ein Meter sechsundsechzig groß, hatte eine knabenhaft schlanke Statur, kurze mittelbraune Haare und braune ausdrucksstarke Augen, bei denen ihre Patienten unwillkürlich das Gefühl hatten, sie könnte damit bis in die verborgensten Tiefen ihres Innersten blicken. Sie war heute etwas später als sonst dran, weil sie auf dem Heimweg von der Praxis noch am Supermarkt haltgemacht hatte. Normalerweise kauften sie und ihr Mann, der als Chirurg in einer Privatklinik für plastische, ästhetische und rekonstruktive Chirurgie tätig war, samstags für die gesamte Woche ein. Doch vor einer Stunde hatte ihr Mann Dietmar angerufen und ihr mitgeteilt, dass er überraschend einen alten Studienfreund getroffen und heute Abend zum Essen eingeladen hatte. Doris konnte es nicht ausstehen, wenn ihr straffer, meistens minutiös durchgeplanter Tagesablauf durcheinandergewirbelt wurde, doch Dietmar schaffte es immer wieder, dass sie seinem sprunghaften Verhalten und seinen spontanen Einfällen nachgab und ihm nicht lange böse sein konnte. Deshalb hatte sie rasch alle Zutaten für eine Tomatensuppe als Vorspeise, einen gemischten Salat und provenzalisches Hähnchen mit Grillgemüse eingekauft. Sie war zwar, wie sie sich selbst gegenüber eingestehen musste, keine besonders gute Köchin, doch da sie die ausgewählten Gerichte inzwischen oft genug zubereitet hatte, würde es keine unliebsamen Überraschungen geben.

Als sie sich nun dem Doppelstellplatz näherte, der zu ihrer Wohnung gehörte, war Doris überzeugt, dass sich außer ihr niemand in der Tiefgarage aufhielt. Allerdings beruhigte sie dieser Gedanke nicht, da die irrationale Furcht, jemand könnte ihr an diesem Ort auflauern, sich von rationalen Überlegungen nicht im Mindesten beeindrucken ließ. Im Gegenteil, ihre Angst intensivierte sich sogar noch, denn solange sie im Wagen saß und die Türen verriegelt waren, fühlte sie sich noch verhältnismäßig sicher. Sobald sie allerdings geparkt hätte, würde sie den Wagen verlassen müssen, um ihre Einkäufe aus dem Kofferraum zu nehmen und zum Aufzug zu gehen. Zum Glück lagen ihre Stellplätze nicht weit davon entfernt, sodass sie nur wenige Meter zurücklegen musste. Für sie war es dennoch der nervenaufreibendste und gefühlt gefährlichste Teil ihres Weges in die Sicherheit, die die Fahrstuhlkabine ihr versprach.

Da das Einparken aufgrund der Pfeiler ein hohes Maß an Konzentration erforderte, war ihr eine kleine Atempause vergönnt, in der sie nicht so stark von ihren Ängsten geplagt wurde. Doch sobald das Auto stand und sie sich davon überzeugt hatte, dass sie rechts genug Platz für Dietmars Jaguar gelassen hatte, kehrte die Furcht in unverminderter Stärke zurück.

Doris stellte den Automatikhebel auf P, zog die Feststellbremse an und schaltete dann den Motor aus. Sobald das Motorbrummen verstummt war, verhielt sie sich eine Weile mucksmäuschenstill, hielt sogar den Atem an und lauschte aufmerksam. Doch über das rasche Klopfen ihres Herzens hinaus war nur das Knacken abkühlender Metallteile des erhitzten Motorblocks zu hören. Sie sah sich mit ruckartigen Bewegungen um, wobei sie wie ein aufgeregter Vogel wirkte, konnte jedoch nichts Verdächtiges entdecken.

Niemand da!

Sobald sie zu diesem Schluss gekommen war, hatte sie es eilig, den Wagen zu verlassen, denn sie wollte in der Aufzugskabine sein, bevor die Zeitschaltuhr dafür sorgte, dass das Licht in der Tiefgarage ausging. Erschaudernd erinnerte sie sich daran, wie sie einmal zu lange im Wagen sitzen geblieben war, weil sie zu ängstlich gewesen war, um auszusteigen. Auf dem Weg zum Fahrstuhl war es dann plötzlich dunkel geworden. Nur die Notbeleuchtung hatte gebrannt. Doris hatte geglaubt, sie würde an Ort und Stelle sterben, weil ihr Herz jäh zu schlagen aufgehört und sich geweigert hatte, seinen Dienst sofort wieder aufzunehmen. Doch dann hatte der Herzschlag zum Glück wieder eingesetzt, heftiger als je zuvor, und sie war wimmernd zum Fahrstuhl gerannt und hatte den erleuchteten Lichtschalter daneben betätigt, worauf es endlich wieder hell geworden war. Der furchtbare Vorfall hatte sie einige graue Haare und mit Sicherheit ein paar Jahre ihres Lebens gekostet. Damit er sich nicht wiederholte, hatte sie den Hausmeister gebeten, den Zeittakt der Tiefgaragenbeleuchtung zu verlängern. Es waren wahrscheinlich weniger ihre Worte, sondern eher der Hunderteuroschein gewesen, der den Mann schließlich davon überzeugt hatte, ihren Wunsch zu erfüllen, doch das war ihr egal, denn am Ende zählte nur das Ergebnis. Seitdem war sie nicht mehr von der Dunkelheit überrascht worden. Dennoch wusste sie, dass sie nicht trödeln durfte und sich beeilen musste.

Sobald sie sich ihre Handtasche geschnappt hatte und eilig ausgestiegen war, wurde das Angstgefühl in ihr intensiver und schnürte ihr die Kehle zu, sodass sie Schwierigkeiten hatte, genügend Luft zu bekommen. Der rationale Teil ihres Verstandes, der weiterhin in der Lage war, ihr zutiefst irrationales Verhalten zu analysieren, erklärte ihr im Tonfall eines gelangweilten Hochschulprofessors, dass die Angst zur Alarmreaktion ihres Körpers und damit zur Aktivierung verschiedener Körperfunktionen führte. Indem ihr Herz schneller schlug, ihre Atmung rascher erfolgte, die Muskeln sich am ganzen Körper anspannten und gleichzeitig sämtliche Sinnesorgane mit erhöhter Aufmerksamkeit reagierten, wurde sie in die Lage versetzt, rascher und effizienter auf eine mögliche Gefahr oder Bedrohung zu reagieren. Entweder indem sie sich der Gefahr durch Flucht entzog oder dieser in einem Kampf begegnete. Doch da nicht wirklich eine Gefahr drohte und die Angst daher irrational war, waren die Reaktionen ihres Körpers wie das Herzrasen, die Schwindelgefühle, die leichte Übelkeit und die Atemnot in diesem Fall wenig hilfreich und daher eher eine Belastung für sie.

Und obwohl sie sich ihrer Angststörung an jedem Arbeitstag morgens und abends aussetzen musste, war kein Gewöhnungseffekt eingetreten und war es ihr auch nicht gelungen, sie in den Griff zu bekommen. Aber immerhin schaffte sie es aufgrund ihrer nahezu täglichen Routine inzwischen, ein wenig besser damit umzugehen und angemessener darauf zu reagieren.

Doris wusste aus Erfahrung, dass sie die körperlichen Auswirkungen ihrer Angststörung für kurze Zeit komplett ignorieren konnte, indem sie sich stattdessen intensiv auf andere Dinge konzentrierte. Deshalb ging sie nun in Gedanken noch einmal die Zutatenliste für das Essen durch, das sie zubereiten wollte, sobald sie in ihrer Wohnung war und sich frischgemacht und andere Sachen angezogen hatte. Anschließend vergegenwärtigte sie sich in allen Einzelheiten geradezu bildhaft die jeweiligen Arbeitsschritte.

Während sie das tat, eilte sie zum Kofferraum ihres Wagens und entnahm ihm rasch die beiden Tüten mit den Einkäufen. Anschließend schloss sie den Kofferraum und verriegelte das Fahrzeug trotz ihrer Eile gewissenhaft, bevor sie sich schließlich in Bewegung setzte und zum Fahrstuhl lief, so schnell ihre Last es ihr erlaubte.

Das Geräusch ihrer eiligen Schritte wurde von den kahlen Betonwänden zurückgeworfen und verstärkt, sodass sie ihr überlaut vorkamen. Denn auch wenn sie sich gedanklich anderweitig beschäftigte, lauschte Doris weiterhin auf verdächtige Laute in ihrer Umgebung und sah sich wie ein hypernervöses Beutetier ständig um.

Erst als sie ohne Zwischenfall den Fahrstuhl erreicht und auf den Knopf gedrückt hatte, wagte sie es zum ersten Mal, erleichtert aufzuatmen. Es war ihr zwar von vornherein klar gewesen, dass ihr – wie unzählige Male zuvor – in der Tiefgarage keine reale Gefahr drohte, dennoch war sie heilfroh, dass sie wieder einmal recht behalten hatte.

Die Fahrstuhlkabine war in einem der oberen Stockwerke gewesen. Doris hörte, wie sie sich von dort aus in Bewegung setzte und nach unten fuhr. Sie wandte der Fahrstuhltür den Rücken zu, um die Tiefgarage weiterhin im Auge behalten zu können. Doch nun, da sie alsbald die Garage verlassen konnte und damit in Sicherheit war, legten sich sowohl ihre Angst als auch die physiologischen Reaktionen allmählich, die diese ausgelöst hatte. Doris erlaubte sich sogar ein angedeutetes Lächeln, als ihr bewusst wurde, dass sie es wieder einmal überstanden und gleichzeitig ihrer größten irrationalen Angst getrotzt hatte, ohne sich ihr zu unterwerfen. Schließlich könnte sie es sich auch einfach machen, indem sie Situationen, die diese Angst in ihr auslösten, komplett vermied und sich schlicht und einfach weigerte, die Tiefgarage auch nur zu betreten. Es war zwar schwierig, in dieser Gegend einen oberirdischen Parkplatz zu finden, aber nicht völlig unmöglich. Doch Doris betrachtete es als Therapie, sich ihrer Angst zu stellen, auch wenn diese Therapie in ihrem Fall bislang kaum angeschlagen hatte.

Erst als die Fahrstuhlkabine im Schacht hinter ihr ruckelnd zum Stillstand kam und sich die Tür öffnete, wandte sie sich um. Sie wollte den Aufzug rasch betreten und unverzüglich den Schalter für ihr Stockwerk drücken. Wenn sich die Tür dann endlich schloss, wäre sie endgültig in Sicherheit und könnte damit beginnen, sich zu entspannen.

Doch noch ehe Doris sich in Bewegung setzen konnte, trat jemand aus der Kabine und ihr entgegen.

Doris stieß vor Schreck einen Schrei aus. Sie ließ die beiden Tüten mit ihren Einkäufen sowie ihre Handtasche fallen. Dann fasste sie sich mit beiden Händen an die Brust, weil sie befürchtete, diesmal den tödlichen Herzinfarkt zu bekommen, mit dem sie schon damals gerechnet hatte, als das Licht ausgegangen war. Gleichzeitig schalt sie sich selbst für ihre Dummheit, denn zweifellos war es nur einer der anderen Hausbewohner, der zu seinem Wagen wollte und über die unerwartete Begegnung nun ebenso erschrocken wie sie war.

Die Einkaufstüten prallten mit einem dumpfen Laut rechts und links von ihr auf den Boden. Etwas Gläsernes in ihrem Innern zerbrach mit einem lauten Klirren, worüber Doris sich trotz ihres Schrecks unwillkürlich ärgerte.

Doch ihr Ärger verflog augenblicklich, als ihr Blick auf ihr Gegenüber fiel. Erstens erkannte sie in ihm keinen der anderen Hausbewohner wieder, die sie fast alle persönlich kannte, wenn auch nur von kurzen Begegnungen im Treppenhaus oder von den jährlichen Eigentümerversammlungen. Zweitens machte er keinen erschrockenen, sondern einen eher zielgerichteten Eindruck. Und drittens sah er darüber hinaus auch noch extrem merkwürdig aus.

Er war groß und überragte sie um mehr als einen ganzen Kopf, wirkte aber noch deutlich größer, weil er beinahe skelettartig dünn war. Der Eindruck eines lebenden Toten, den er bei seinen Mitmenschen unwillkürlich erwecken musste, wurde durch den Rest seiner Erscheinung noch verstärkt. So hatte er unter anderem das fahle Äußere eines blutleeren Leichnams und extrem kurz geschnittenes weißblondes, fast durchscheinend wirkendes Haar, durch das seine geäderte Kopfhaut zu sehen war. Seine grauen, leblos erscheinenden Augen lagen tief in den dunkel umrandeten Höhlen seines an einen Totenschädel erinnernden Kopfes. Darüber hinaus verströmte er einen unangenehmen Geruch, der sie unwillkürlich an Beerdigungen denken ließ. Er war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, was seine Gesichtshaut noch bleicher wirken ließ, und trug schwarze enganliegende Lederhandschuhe.

In dem kurzen Augenblick, den Doris benötigt hatte, um all diese Einzelheiten in sich aufzunehmen, hatte der unheimliche Mann sie bereits erreicht. Und bevor sie in irgendeiner Form darauf reagieren konnte, prallte er gegen sie und stieß sie mit beiden Händen kräftig zu Boden. Sie schrie ein weiteres Mal, doch der Schrei endete wie abgeschnitten, als ihr Hinterkopf heftig und schmerzhaft auf den Betonboden prallte, sodass sie für einen kurzen Moment das Bewusstsein verlor. Sie erlangte es zwar sofort wieder, war jedoch leicht benommen und stöhnte leise.

Der Angreifer gönnte ihr allerdings keine Atempause. Er setzte sich rittlings auf ihren Brustkorb, sodass er mit den Unterschenkeln ihre Arme gegen den Boden pressen konnte.

Als die Benommenheit endlich wich und Doris realisierte, dass ihre irrationale Angst plötzlich Wirklichkeit geworden war, begann sie, sich panisch zur Wehr zu setzen. Ihre eingeklemmten Arme waren nutzlos, deshalb wand sie sich wie eine Schlange, um den Mann abzuwerfen. Doch obwohl er erschreckend mager war und nur wenig mehr als sie wiegen mochte, lastete er wie ein Tonnengewicht auf ihr und drückte ihren Körper und ihre Arme zu Boden. Sie hob daher die Beine und trommelte mit den Knien gegen seinen Rücken. Doch das schien ihn ebenfalls nicht besonders zu beeindrucken; er verzog lediglich das Gesicht zur Grimasse eines Totenkopfgrinsens und lachte meckernd.

Aufgrund der Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen änderte Doris daraufhin ihre Taktik. Sie riss den Mund weit auf und schrie so laut, wie sie es noch nie in ihrem Leben getan hatte und hoffentlich auch nie wieder tun musste. Womöglich war einer der anderen Hausbewohner zufällig in der Nähe, hörte ihren Schrei und kam ihr zu Hilfe.

Doch der skelettartige Mann legte ihr blitzschnell die linke Hand auf dem Mund und drückte mit dem Daumen ihren Unterkiefer nach oben, sodass ihr Schrei augenblicklich erstickt wurde und sie ihn nicht beißen konnte. Auch wenn er überhaupt nicht danach aussah, schien er erstaunlich kräftig zu sein, denn obwohl Doris erbittert dagegen ankämpfte, war sie gezwungen, den Mund zu schließen, bis ihre Lippen so fest aufeinandergepresst wurden, dass es schmerzte.

»Spar dir deinen Atem«, sagte der Mann in einem leisen Flüstern, sodass Doris sich anstrengen musste, um ihn überhaupt zu verstehen. Dann beugte er sich nach vorn und sah sie mit seinen Leichenaugen eindringlich an. »Schließlich brauche ich ihn noch.«

Obwohl es weder der rechte Ort noch die richtige Zeit dafür war, dachte Doris automatisch über seine rätselhaften Worte nach. Was meint er damit?, fragte sie sich. Worauf unvermittelt die viel bedeutsamere Frage folgte: Und was hat er mit mir vor?

Sie dachte zunächst an einen Raubüberfall. Immerhin befanden sie sich hier in einem Gebäude mit großzügigen und exklusiven Eigentumswohnungen, in denen vorwiegend wohlhabende Leute wohnten. Außerdem ließ das Äußere des Mannes vermuten, dass er möglicherweise drogenabhängig war und dringend Geld für seinen nächsten Schuss benötigte. Allerdings machte er auf sie überhaupt nicht den Eindruck eines Junkies. Also vermutlich doch kein Raubüberfall.

Aber was dann?

Der zweite Gedanke, den sie zunächst verdrängt, der ihr nun aber immer wahrscheinlicher vorkam, war erschreckender: Er will mich vergewaltigen!

Doris schüttelte den Kopf, so gut es die Hand auf ihrem Mund zuließ, während ihr Tränen in die Augen traten und ihre Sicht verschleierten.

»Hab keine Angst«, flüsterte er, als könnte er ihre Gedanken lesen. »Alles, was ich von dir will, ist deine Atemluft.«

Obwohl Doris fürchterliche Angst hatte, runzelte sie ob der Worte des Mannes verwirrt die Stirn, während die Psychiaterin in ihr versuchte, einen Sinn darin zu erkennen und gleichzeitig eine Diagnose zu stellen.

Was stimmt mit dem Kerl nicht?

Erneut kam es ihr so vor, als hätte der skelettartige Mann ihre Gedanken gelesen. Aber vermutlich konnte er ihr die Verwirrung an den Augen ablesen oder ihre Körpersprache richtig deuten.

»Ich bin tot und verwese allmählich«, hauchte er und nickte dann nachdrücklich, als hätte sie ihm widersprochen. »Und um die Verwesung meines Körpers aufzuhalten oder zumindest zu verlangsamen, benötige ich deine Atemluft.«

Trotz ihrer Angst war Doris in der Lage, sofort eine Diagnose zu stellen. Der Mann litt vermutlich am sogenannten Cotard-Syndrom. Bei diesem Wahn, der im englischen Sprachraum auch Walking Corpse Syndrome genannt wird, ist die betroffene Person davon überzeugt, sie sei tot, existiere nicht, verwese oder habe ihr Blut und ihre inneren Organe verloren. Das Cotard-Syndrom, benannt nach dem französischen Neurologen Jules Cotard, der es als Erster beschrieb, ist häufig eine Folge schwerer Hirnerkrankungen.

Der Verstand der Psychiaterin lieferte ihr wie ein zuverlässiger Computer weitere Daten zum geschichtlichen Hintergrund, zur Symptomatik, zur Pathophysiologie und zur Behandlung dieses Krankheitsbildes. Allerdings zeigte er ihr keine Möglichkeit, wie ihr dieses Wissen in ihrem gegenwärtigen Zustand helfen sollte. Das frustrierte sie, sodass sie all das theoretische Wissen kurzerhand verwarf und ihre Überlegungen stattdessen darauf konzentrierte, was sie tun sollte.

Der Wunsch des Mannes nach ihrer Atemluft erschien ihr eher harmlos. Anscheinend glaubte er in seinem Wahn, er könnte damit die Verwesung seines Körpers aufhalten, von der er überzeugt zu sein schien. Wenn dieser durchgeknallte Irre – als Frau vom Fach vermied Doris eigentlich derartiges Vokabular, doch in der gegenwärtigen Situation scherte sie sich nicht darum – also unbedingt ihre Atemluft wollte, dann konnte er sie gerne haben. Hinterher würde sie sich einfach den Mund abwaschen und gründlich mit einem Mundhöhlenantiseptikum ausspülen.

Um ihm zu signalisieren, dass sie ihm ihren Atem geben wollte, nickte Doris zustimmend.

Sofort verzog er das Gesicht wieder zu seinem unangenehmen Totenkopfgrinsen, das sie erneut erschaudern ließ. »Ich wusste, dass du vernünftig bist«, flüsterte er. »Schließlich bist du Psychiaterin, und mit denen kenne ich mich aus.«

Seine Worte überraschten sie nicht, denn bei seiner Erkrankung musste er eine entsprechende Vorgeschichte und bereits Erfahrungen mit Psychologen und Psychiatern gemacht haben, doch dieses Wissen war im Moment zweitrangig. Wichtig war, dass sie das Beste aus dieser Situation machte und unversehrt davonkam. Sobald er erst einmal seine Hand von ihrem Mund genommen hätte, könnte sie mit ihm reden. Schließlich war das ihr Job, und sie war ausgebildet worden, mit psychisch gestörten Menschen wie ihm umzugehen.

Doch er nahm die Hand nicht von ihrem Mund. Stattdessen griff er mit der anderen Hand unter die leichte Windjacke, die er trug.

Doris schielte ängstlich dorthin, wo seine Hand verschwunden war. Eisiges Entsetzen durchfuhr sie, als die Hand mit einem Messer wieder zum Vorschein kam. Es besaß eine schmale, beidseitig geschliffene Klinge und sah wie ein Brieföffner aus. Doris wollte wieder schreien, doch da seine linke Hand unverrückbar auf ihrem Gesicht lag und ihren Mund verschloss, wurde daraus nur ein unterdrücktes Wimmern.

»Pssssst!«, machte der Mann tadelnd und schüttelte den Kopf. »Wehr dich nicht dagegen, denn ich würde dir ungern mehr als unbedingt nötig wehtun.« Anschließend setzte er die Klingenspitze in der Höhe ihres Herzens unter ihre linke Brust und übte ein klein wenig Druck aus, sodass die Klinge sowohl ihre Kleidung als auch die obersten Hautschichten durchstieß.

In diesem Moment gingen die Deckenlampen in der Tiefgarage aus. Doch aus dem Fahrstuhl, dessen Tür der Mann blockiert haben musste, sodass sie noch immer offenstand, fiel weiterhin Licht auf die beiden Menschen.

Doris stöhnte vor Schmerzen und sog durch die Nase Luft ein, denn mehr war ihr nicht möglich. Sie versuchte, den Kopf herumzuwerfen, um die Hand auf ihrem Mund loszuwerden, doch der Mann ließ sie nicht los. Erneut wollte sie sich aufbäumen und ihn abwerfen, aber auch das ließ er nicht zu.

Er verstärkte den Druck auf das Messer, dessen Klinge langsam, aber unerbittlich tiefer in ihren Körper eindrang.

Der Schmerz durchfuhr ihren Körper wie ein Blitzstrahl. Es fühlte sich an, als würde sie von einem weißglühenden Eisendorn durchbohrt werden. Doris atmete keuchend und stoßweise durch die Nase.

Der Mann beugte sich noch weiter herunter, bis sein Totenschädelgesicht, auf dem ein erwartungsvolles Lächeln lag, unmittelbar über dem ihren schwebte. Dann nahm er rasch die Hand vor ihrem Gesicht, hielt ihr stattdessen mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu, öffnete den Mund ganz weit und presste schließlich seine Lippen auf ihre.

Doris hielt unwillkürlich die Luft an.

Das schien ihm nicht zu gefallen, denn augenblicklich schob er die Messerklinge ein gutes Stück weiter in sie hinein.

Vor Schmerz stieß sie die angehaltene Luft aus, die er daraufhin gierig in sich einsog.

Er nahm seinen Mund von ihrem und sagte: »Atme!«

Doris blieb nichts anderes übrig, als nach Luft zu schnappen. Kaum hatte sie das getan, presste er seinen Mund wieder auf ihren und schob das Messer erneut tiefer in ihren Körper, sodass sie gezwungen war, auszuatmen.

Der Schmerz in ihrer Brust wurde immer stärker, je tiefer sich die Klinge hineinbohrte, sodass sie sich nur noch darauf konzentrieren konnte und kaum etwas anderes wahrnahm. Deshalb bekam sie nicht mit, wie oft ihr Angreifer seine Aktion wiederholte und die Luft inhalierte, die sie ausatmete.

»Gleich ist es vorbei«, sagte er, wie ihr schien, nach einer Ewigkeit flüsternd.

Doris hätte daraufhin Todesangst empfinden müssen, doch über diesen Punkt war sie längst hinaus. Alles, was sie fühlte, war grenzenlose Erleichterung, dass die Qualen endlich ein Ende haben würden.

Schließlich explodierte der Schmerz in ihrer Brust, als er das Messer bis zum Heft hineindrückte und ihr Herz durchbohrte, und überrollte ihren Verstand wie eine lodernde Feuersbrunst.

Gierig inhalierte er ihren letzten Atemzug, bis ihre Atmung schließlich versiegte, hob den Kopf und blickte in ihre brechenden Augen.

»Ich danke dir.«

Sein Flüstern war das Letzte, was sie in dieser Welt wahrnahm. Es begleitete sie, tausendfach widerhallend, als ihr Bewusstsein in den Abgrund jenseits des Todes stürzte.

Sobald die Frau tot war, richtete sich der skelettartige Mann auf und kam auf die Beine. Er trat einen Schritt zurück und sah sich um. Während er die letzten Atemzüge seines Opfers inhaliert, sie gleichzeitig getötet und dadurch gewissermaßen ihr Leben eingeatmet hatte, war es ihm nicht möglich gewesen, auf seine Umgebung zu achten. In diesen ekstatischen Momenten war daher die Gefahr am größten, dass jemand zufällig des Weges kam und ihn auf frischer Tat überraschte. Doch er und der Leichnam der Psychiaterin waren noch immer allein in der dunklen Tiefgarage.

Erneut warf er einen Blick auf sein Opfer, das im Licht, das aus dem Fahrstuhl nach draußen fiel, so aussah, als schliefe es nur. Er war der Frau zutiefst dankbar, dass sie ihm ihre letzten Atemzüge geschenkt und sein Leben für ihn gegeben hatte, auch wenn sie es natürlich nicht freiwillig getan hatte. Doch er spürte bereits, wie es wirkte, denn er fühlte sich kraftvoller und energiegeladener als zuvor. Und der Geruch der Verwesung, der ihn seit seinem Tod umgab und in der Regel sein ständiger Begleiter war, war nicht mehr wahrnehmbar. Allerdings würde die Wirkung nicht allzu lange anhalten und den Zerfall seines toten Körpers letztendlich nur hinauszögern.

Jäh besann er sich darauf, wo er war und dass noch immer die akute Gefahr bestand, dass jemand kam und ihn am Tatort ertappte. Deshalb riss er schließlich den Blick von seinem Opfer los.

Er sah den Schweizer Dolch in seiner Hand an, an dem noch immer das Blut der Frau klebte. Rasch bückte er sich und wischte die Klinge aus Torsionsdamast an ihrem Blazer sauber. Anschließend steckte er den Dolch zurück in die Scheide, die er verborgen unter seiner Jacke trug, und holte stattdessen einen transparenten Tiefkühlbeutel heraus. Dieser enthielt einen einzigen Gegenstand, den er behutsam entnahm und unmittelbar neben der Stichwunde, die inzwischen zu bluten aufgehört hatte, auf dem Leichnam deponierte. Anschließend wandte er sich ab und trat in den Aufzug. Er beseitigte die Türblockade und drückte den Knopf fürs Erdgeschoss. Ihm war noch ein allerletzter kurzer Blick auf sein jüngstes Opfer vergönnt, bevor sich die Tür schloss und der Fahrstuhl mit einem leichten Ruck in Bewegung setzte.

Kapitel 2

Ralf Kohler wischte den Spiegel ab, der nach dem Duschen beschlagen war, und betrachtete dann sein darin leicht verschwommen sichtbares Ebenbild. Mit dem, was er sah, war er höchst zufrieden, sodass er nicht anders konnte, als breit zu grinsen. An den strahlend weißen Zähnen in seinem Gesicht mit den männlich markanten Zügen, die das Bild der Perfektion ergänzten, das er abgab, hatte sein Zahnarzt ein kleines Vermögen verdient. Kein Wunder, dass der Mann jetzt einen Porsche fuhr. Aber nach Kohlers Meinung hatte er sich das Geld redlich verdient, denn er hatte wahrhaftig hervorragende Arbeit geleistet.

Kohler hob die Arme und spannte die Muskeln an. Er wandte den Kopf zuerst nach rechts und dann nach links und betrachtete selbstgefällig seine ausgeprägten Bizepse, für deren Aufbau er nicht nur lange schweißtreibende Stunden in der Muckibude verbracht, sondern auch haufenweise Proteine und Anabolika geschluckt hatte. Doch auch das hatte sich, wie er fand, ausgezahlt.

Er entspannte seine Muskeln wieder und ließ die Arme sinken. Anschließend kehrte sein Blick zu seinem Spiegelbild zurück. Mit argwöhnischer Miene und zusammengekniffenen Augen, denn er war etwas kurzsichtig, suchte er seinen nur mit einem um die Hüften geschlungenen Badetuch bekleideten Körper nach einem Makel ab. Er konnte jedoch keinen finden. Mit einer Körpergröße von zwei Metern und zwei Zentimetern – auf die beiden Zentimeter legte er großen Wert, denn sie hoben ihn von all den gewöhnlichen Zweimetermännern ab – und dem muskulösen Körper eines durchtrainierten Bodybuilders sah er nicht nur äußerst eindrucksvoll, sondern geradezu ehrfurchtgebietend aus. So mancher hatte ihn schon mit dem jungen Arnold Schwarzenegger verglichen, auch wenn Kohler der Meinung war, dass ihm der Vergleich nicht wirklich schmeichelte, weil er viel besser aussah als Arnie zu seinen besten Zeiten.

Begegnete Kohler anderen Männern, erfüllte es ihn jedes Mal mit Genugtuung und Stolz, wenn sie nach einem ängstlichen Blick auf seine Körpergröße und enorme Muskelmasse sofort respektvoll zur Seite traten, um ihm Platz zu machen. Er liebte es, von anderen geachtet und gleichzeitig gefürchtet zu werden. Aus diesem Grund war es nur naheliegend gewesen, dass er sich nach dem Abschluss der Mittelschule bei einem Münchner Wach- und Sicherheitsdienst als Personenschützer beworben hatte. Und obwohl er keine militärische oder polizeiliche Ausbildung genossen hatte und keine einzige Form der waffenlosen Selbstverteidigung beherrschte, war er sofort eingestellt worden, denn in der Regel genügte schon sein bloßer Anblick, um andere Menschen einzuschüchtern und nicht auf dumme Gedanken kommen zu lassen.

Kohler war hauptsächlich im Personenschutz, bei Bedarf aber auch immer mal wieder als Chauffeur sowie im Objekt- und Veranstaltungsschutz tätig. Von seinen Bekannten wurde er wegen seines Jobs als Schutzengel der Reichen und Berühmten Angel genannt. Allerdings erst, als er eines Abends selbst den Namen ins Spiel gebracht hatte.

Nachdem er keinen offensichtlichen Makel in seiner äußeren Erscheinung gefunden hatte, hob Kohler die rechte Hand und fuhr sich mit den Fingern durch sein dunkelbraunes Haar, das noch nass und eine seiner wenigen Schwachstellen war. Obwohl er erst dreißig Jahre alt war, hatte sein Kopfhaar bereits frühzeitig damit begonnen, zu ergrauen und sich an der Stirn und am Oberkopf deutlich sichtbar zu lichten. Der plastische Chirurg hatte ihm erklärt, dass der Haarausfall und das Ergrauen in seinem Fall neben den Steroiden, die er zu sich nahm, auch genetische Gründe hatten. Es war ein Erbe seines Vaters, der bereits mit fünfunddreißig Jahren nur noch einen mickrigen silbernen Haarkranz besessen hatte, der ihn um mindestens fünfzehn Jahre älter gemacht hatte. Da Kohler darauf absolut keine Lust hatte, hatte er sich 1.500 Haarwurzeln aus dem Hinterkopf entnehmen und im Stirnbereich und am Oberkopf einsetzen lassen. Außerdem ließ er seine Haare regelmäßig färben. Mit dem Ergebnis war er vollauf zufrieden, denn mittlerweile merkte niemand mehr, dass sein Haar einmal eine seiner Problemzonen gewesen war.

Problem Nummer zwei waren seine Augen. Er litt seit seinem zwanzigsten Lebensjahr unter einer leichten Kurzsichtigkeit, die sich in letzter Zeit zu verschlimmern schien. Allerdings war er zu eitel, um eine Brille zu tragen. Außerdem fand er, dass ein Personenschützer mit Brille auf der Nase höchst uncool war. Deshalb hatte er es mit Kontaktlinsen versucht. Doch er schaffte es einfach nicht, sich die Linsen in die Augen zu setzen. Sein Lidschlussreflex, der das Augenlid jedes Mal unmittelbar vor dem Einsetzen automatisch schloss, machte ihm immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Das wunderte ihn allerdings nicht, denn seine Augen waren schon immer seine sensible Zone gewesen. Bereits als Kind hatte er Probleme gehabt, sich Tropfen ins Auge zu träufeln. Vor allem im Job bemühte er sich daher, sich von seiner Kurzsichtigkeit nichts anmerken zu lassen und sich irgendwie durchzumogeln. Bisher war ihm das gelungen, ohne dass jemand Verdacht geschöpft hatte, doch wenn sich die Sehschwierigkeiten verstärkten, musste er wohl oder übel allmählich doch über eine Brille nachdenken.

Kohler seufzte. Nachdem sein nahezu perfekter Adoniskörper ihn vor wenigen Augenblicken noch mit so viel Freude erfüllt hatte, wollte er sich den Abend nicht vermiesen lassen, indem er noch länger über seine Kurzsichtigkeit nachgrübelte. Deshalb verdrängte er das Thema kurzerhand aus seinem Bewusstsein. Doch da eins meist zum anderen führte, machte er sich plötzlich Gedanken über seine Erektionsstörungen, womit er unversehens und ungewollt beim Problembereich Nummer drei angelangt war. Er hatte den starken Verdacht, dass es vor allem an den Anabolika lag, dass er nicht nur ordentlich Muskeln aufgebaut, sondern inzwischen immer größere Schwierigkeiten hatte, einen Ständer zu bekommen. Doch da er gegenüber Frauen ohnehin unerwartet schüchtern war, war es bislang kein riesiges Problem für ihn gewesen. Dennoch machte er sich gelegentlich Gedanken, ob es nicht doch besser wäre, auf Steroide zu verzichten. Aber dann, so befürchtete er, würde er einen Teil seiner eindrucksvollen Muskelmasse und vielleicht sogar seinen Job verlieren. Außerdem fürchtete er mögliche Entzugserscheinungen. Also kam ein Verzicht auf Anabolika für ihn im Grunde überhaupt nicht infrage, sodass es sich gar nicht lohnte, darüber nachzugrübeln.

Erneut seufzte Kohler tief, bevor er all die negativen Gedanken aus seinem Bewusstsein verdrängte. Ein letzter Blick in den Spiegel auf seinen athletisch wirkenden gebräunten Körper hob seine Stimmung sofort wieder und ließ ihn erneut breit grinsen, sodass seine unnatürlich weißen Zähne im Lichtschein der Beleuchtung aufblitzten. Dann wandte er sich ab, verließ das Badezimmer und schaltete das Licht aus.

Auf dem Weg durch den Flur zum Schlafzimmer, wo er seine Kleidung für diesen Abend bereits vor dem Duschen ausgewählt und aufs Bett gelegt hatte, sang er leise vor sich hin: »I’m too sexy for my love, too sexy for my love …«

Doch als er gerade die Kommode passierte, auf der sein Smartphone lag, gab dieses plötzlich die Tonfolge für einen eingehenden Anruf von sich, sodass er unwillkürlich erschrak und verstummte.

»Irgendwann bekomme ich noch einen Herzinfarkt«, murmelte er, wovor er tatsächlich große Angst hatte. Denn der längerfristige Konsum anaboler Steroide führte nach Meinung anerkannter Experten nicht nur zu einer gestörten Spermienproduktion, Schrumpfhoden und Unfruchtbarkeit, sondern erhöhte auch das Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko. Doch ebenso wie ein nikotinabhängiger Raucher, den auch keine noch so furchtbaren Schockbilder möglicher gesundheitlicher Folgen auf Zigarettenschachteln vom Rauchen abhielten, ignorierte Kohler sämtliche Risiken, die die Einnahme von Anabolika für ihn bedeuten konnten.

Er griff nach seinem Handy und warf einen Blick auf das Display, um zu sehen, wer ihn anrief. Es handelte sich jedoch um eine unbekannte Nummer. Da er auf dem Telefon allerdings nur wenige Kontakte gespeichert hatte, kam das oft vor. Deshalb dachte er sich nichts dabei und nahm den Anruf entgegen.

»Ja?«

»Spreche ich mit Ralf Kohler, der von seinen wenigen Freunden auch Angel genannt wird?«, fragte die tiefe Bassstimme eines Mannes.

Kohler runzelte verwirrt die Stirn. Er kannte die Stimme nicht, die aufgrund ihrer Tiefe auf ihn allerdings unwillkürlich einschüchternd wirkte. Aber vielleicht erlaubte sich einer seiner Bekannten einen Spaß mit ihm und hatte einen Freund gebeten, ihn anzurufen. Deshalb beschloss er, erst einmal mitzuspielen, um den Spieß dann umzudrehen und dem Anrufer und seinem Freund den Spaß zu verderben.

»Ja, der bin ich. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Ich bin der Tod!«

Kohler machte ein verdutztes Gesicht und sah sich dabei in dem mannshohen Spiegel an, der im Flur hing. Es gab noch weitere Spiegel, die in der ganzen Wohnung verteilt waren, ebenso wie unzählige Fotografien von ihm selbst, denn Kohler konnte nicht genug von seinem Ebenbild bekommen. Als er jetzt seinen entgeisterten Gesichtsausdruck sah, musste er unwillkürlich grinsen. Zuerst hatten ihn die Worte des Anrufers, vor allem wegen der tiefen Stimme und seiner Ernsthaftigkeit, erschreckt, doch jetzt fand er es nur noch lächerlich. Aber anstatt der Farce ein schnelles Ende zu bereiten, indem er das Gespräch beendete, spielte er den Ahnungslosen.

»Wer, sagten Sie, sind Sie noch mal? Ich hab es leider akustisch nicht richtig verstanden. Es klang doch tatsächlich so, als behaupteten Sie, Sie wären … der Tod.«

»Du hast schon richtig verstanden, Angel«, antwortete die tiefe Stimme, in der keine Spur von Humor mitschwang, was Kohler, auch wenn er noch immer überzeugt war, dass er hier nach Strich und Faden verarscht werden sollte, dennoch ein unwohles Gefühl und eine Gänsehaut bescherte. »Ich bin tatsächlich der Tod!«

Kohler lachte, obwohl es etwas aufgesetzt klang. »Und weswegen rufen Sie mich an, Herr … Tod?« Er bemühte sich, das letzte Wort möglichst hämisch auszusprechen, doch da seine Stimme dabei leicht zitterte, misslang sein Vorhaben.

»Ich wollte dir nur sagen, dass ich in diesem Moment auf dem Weg zu dir bin, um dich zu holen, Angel.«

Kohler konnte im Spiegel mitansehen, wie das unechte Lächeln auf seinem Gesicht zerfloss und sich in einen Ausdruck der Wut verwandelte, denn allmählich ging der Anrufer entschieden zu weit. Für einen Spaß war Kohler immer zu haben, solange er nicht auf seine Kosten ging. Aber was der Kerl hier tat, war kein Spaß mehr. »Jetzt hör mir mal gut zu, du dummes Arschloch«, sagte er daher, spannte die Muskeln an und ballte die linke Hand unwillkürlich zur Faust. »Das ist nicht witzig. Also hör sofort auf damit und sag mir, was dieser Scheiß soll!«

»Ich sagte dir doch schon, was ich vorhabe. Ich komme, um dich zu holen.«

Kohler schnaubte verächtlich. Die absolut humorfreie tiefe Stimme erfüllte ihn zwar immer stärker mit Unbehagen, doch er hatte nicht vor, sich davon beeindrucken zu lassen. Immerhin war er ausgebildeter Personenschützer und würde sich daher von irgendeinem dahergelaufenen Idioten nicht ins Bockshorn jagen lassen. »Hör zu, Arschloch. Ich glaube nicht, dass du wirklich den Mumm hast, zu mir zu kommen, denn in Wahrheit bist du nur ein perverser Schwächling, der am Telefon eine große Klappe hat, aber den Schwanz einzieht, wenn es darauf ankommt. Aber komm ruhig her, wenn du dich traust. Mach dich allerdings darauf gefasst, dass ich dir dann deine hässliche Fresse poliere und anschließend den Boden damit aufwische.« Den letzten Satz hatte Kohler mal irgendwo gehört und sich gemerkt, um ihn irgendwann selbst zum Besten geben zu können.

»Bis gleich!«, erwiderte der Anrufer daraufhin nur und legte auf.

Kohler nahm das Telefon vom Ohr und starrte es für ein paar Sekunden ungläubig an. Dann schnaubte er noch einmal kopfschüttelnd und legte es zurück auf die Kommode.

»Was war das denn, verdammt noch mal?«, fragte er sein Spiegelbild, das ebenso ratlos aussah, wie er sich fühlte. Das unbehagliche Gefühl, das ihm die tiefe Stimme und die Worte des Anrufers bereitet hatten, erfüllte ihn noch immer. Doch da er davon überzeugt war, dass der Kerl nur heiße Luft von sich gegeben hatte, schüttelte er es einfach ab. Immerhin hatte er diesem Perversling gehörig den Spaß verdorben, indem er sich am Telefon unbeeindruckt gezeigt hatte. Vermutlich rief der Kerl in diesem Moment bereits die nächste Nummer auf seiner Liste an und hoffte, dass er damit mehr Erfolg hatte.

Kohler beschloss, den merkwürdigen Anruf so schnell wie möglich wieder zu vergessen, was ihm in der Regel leichtfiel, und überlegte stattdessen konzentriert, was er eigentlich vorgehabt hatte, bevor das Telefon ihn dabei gestört hatte. Bei einem erneuten Blick auf sein eindrucksvolles Spiegelbild fiel es ihm wieder ein, denn er trug noch immer nicht mehr als ein Badetuch um die Hüften.

Er eilte daher ins Schlafzimmer, riss das Handtuch von seinem Körper und ließ es einfach zu Boden fallen, wie er es immer tat. Die Putzfrau, die zweimal in der Woche kam, würde sich schon darum kümmern. Dann nahm er seine Armbanduhr, eine Rolex Oyster Perpetual 34, und legte sie an. Es war zwar ein günstigeres Modell, das ihn, da er es unter der Hand erworben hatte, nur 2.000 Euro gekostet hatte, aber immerhin war es eine echte Rolex und machte etwas her. Als er einen Blick auf das schwarze Ziffernblatt warf, sah er, dass er noch genug Zeit hatte. Er war an diesem Abend mit zwei seiner Kollegen verabredet. Sie wollten zusammen in einen Club gehen. Und da er am nächsten Tag nicht arbeiten musste, würde es vermutlich spät werden.

Vor der verspiegelten Front des riesigen Kleiderschranks zog er sich einen knappen weißen Slip und weiße Socken an, die sich deutlich von seiner gebräunten Haut abhoben. Er nahm verschiedene Posen ein, ließ die Muskeln spielen und betrachtete sich dabei im Spiegel. Anschließend schlüpfte er in eine hellgraue Leinenhose, ein naturweißes Hemd, das wie angegossen passte und daher seine ausgeprägte Brust- und Schultermuskulatur besonders hervorhob, und schließlich ein hellgraues Leinensakko. Die Sachen hatte er erst vor wenigen Tagen gekauft. Als er sich anschließend im Spiegel betrachtete, kehrten sowohl seine gute Laune als auch sein breites Grinsen zurück, und der merkwürdige Telefonanruf war längst vergessen.

»Wow, siehst du heute Abend aber wieder mal gut aus!«, sagte er zu seinem Spiegelbild und zwinkerte ihm zu. Als er das Schlafzimmer verließ, sang er erneut ein paar der wenigen Zeilen des Liedes I’m Too Sexy von Right Said Fred, die er auswendig kannte: »I’m too sexy for my shirt, too sexy for my …«

Doch er verstummte wie abgeschnitten und blieb wie zur Salzsäule erstarrt stehen, als er im erleuchteten Flur angekommen war und plötzlich eine Gestalt im dunklen Wohnzimmer stehen sah.

Der Eindringling wandte ihm den Rücken zu und sah aus dem Fenster auf die Straße, als gäbe es dort etwas besonders Interessantes zu sehen. Entweder hatte der Mann noch nicht bemerkt, dass Kohler aus dem Schlafzimmer gekommen war, was eher unwahrscheinlich war, nachdem dessen Gesang soeben abrupt geendet hatte, oder es kümmerte ihn überhaupt nicht.

Sobald Kohler verstummt war, war in der Wohnung Stille eingekehrt. Außerdem bewegte sich keiner der beiden Männer, als spielten sie ein kindisches Spiel, bei dem der Erste, der sich rührte, verlor. Kohler hatte daher Zeit, den Mann, dem es gelungen war, in seine Wohnung einzudringen, in aller Ruhe zu mustern. Der Kerl war einen Kopf kleiner als er, aber von stämmiger, gedrungener Gestalt und machte daher einen kräftigen Eindruck, auch wenn er natürlich längst nicht so muskulös wie Kohler war. Das lange dunkelbraune Haar hatte er zu einem Zopf geflochten, der so schnurgerade an seinem Rücken herunterhing, als wäre er mithilfe einer Wasserwaage ausgerichtet worden. Er trug eine schwarze Übergangsjacke, eine blaue Jeanshose, robuste schwarze Stiefel und schwarze Handschuhe aus dünnem Leder.

Es dauerte nicht lange, bis Kohler sich einen ersten Eindruck von dem Eindringling verschafft und sich zudem von seinem Schrecken erholt hatte. Was er vor sich sah, machte keinen besonderen Eindruck auf ihn. Er war nicht nur größer, sondern auch viel muskulöser als der Kerl und würde ihm zuerst die Fresse polieren und anschließend den Boden mit ihm wischen, so wie er es ihm am Telefon versprochen hatte. Denn für Kohler bestand nicht der geringste Zweifel, dass er den Mann mit der tiefen Stimme vor sich hatte, der sich als Tod bezeichnet und gedroht hatte, er würde vorbeikommen, um ihn zu holen. Also hatte er tatsächlich den Mut gefunden, seine Drohung wahrzumachen, auch wenn ihm das schlecht bekommen würde. Kohler bedauerte lediglich, dass sein neuer Anzug bei der bevorstehenden Auseinandersetzung in Mitleidenschaft gezogen werden könnte. Aber eventuell war es ja gar nicht nötig, dass er handgreiflich wurde. Vielleicht sah der Kerl ein, dass er sich mit dem Falschen angelegt hatte, sobald er sich umdrehte und einen Blick auf Kohler warf, schließlich hatte er bislang noch nicht gesehen, wen er vor sich hatte.

»Wie sind Sie hier hereingekommen?«, stellte Kohler die erstbeste Frage, die ihm in den Sinn kam, und brach damit das Schweigen. Er ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten und setzte einen bedrohlich wirkenden Gesichtsausdruck auf, den er unzählige Male vor dem Spiegel eingeübt und dann als Personenschützer perfektioniert hatte.

Der Mann reagierte allerdings nicht sofort auf Kohlers Worte, beinahe so, als hätte er ihn gar nicht gehört. Kohler öffnete bereits den Mund, um seine Frage zu wiederholen, da seufzte der andere vernehmlich und wandte sich um.

Im Licht, das aus dem Flur auf ihn fiel, sah Kohler, dass der Eindringling sowohl einen Schnauz- als auch einen Kinnbart trug. Außerdem besaß er eine lange, spitze Nase und eng beieinanderstehende Augen. Er sah gar nicht wie der Verrückte aus, für den Kohler ihn hielt, sondern im Grunde völlig normal. Beinahe wie ein Künstler, dachte Kohler. Er konnte ihn sich zwar nicht unbedingt mit Pinsel und Palette vor einer Leinwand vorstellen, dafür aber mit Hammer und Meißel vor einem Marmorblock oder mit einer Kettensäge vor einem Baumstamm, um gekonnt eine Skulptur aus dem Material herauszuarbeiten.

»Willst du wirklich, dass wir die kurze Zeit, die uns miteinander verbleibt, mit solchen Nebensächlichkeiten vertrödeln, Angel?«, fragte der Mann mit derselben tiefen Stimme, die Kohler bereits von ihrem Telefonat kannte. Er beseitigte damit nicht nur jeglichen Zweifel darüber, ob er der Anrufer war, sondern riss Kohler auch aus seinen Überlegungen. Dann schnaubte er und schüttelte den Kopf, um sein Unverständnis zum Ausdruck zu bringen.

Kohler gefiel es, wenn seine Freunde – der Kerl hatte am Telefon recht gehabt, er hatte tatsächlich nur wenige – ihn Angel nannten. Deshalb hatte er ihnen diesen Namen ja auch vorgeschlagen. Doch aus dem Mund dieses Mannes, der den Spitznamen ständig mit einem höhnischen Unterton aussprach, hörte es sich lächerlich an.

»Mein Name ist Ralf Kohler«, sagte er daher. »Ich empfehle Ihnen also, mich auch so anzusprechen.« Wie er es in der Ausbildung gelernt hatte, blieb er weiterhin höflich und sachlich, auch wenn es ihm schwerfiel. »Und jetzt sagen Sie mir gefälligst, wie Sie in meine Wohnung gekommen sind.«

Der Fremde stieß deutlich hörbar die Luft aus und machte einen gelangweilten Gesichtsausdruck. »Na schön, wenn du es unbedingt wissen und deine restliche Lebenszeit mit diesem Unsinn verplempern willst, dann sage ich es dir eben: Ich habe mir erlaubt, einen Nachschlüssel sowohl für deine Wohnung als auch für die Haustür unten anzufertigen.« Er griff mit der rechten Hand in die Jackentasche und holte einen Ring heraus, an dem nur zwei Schlüssel hingen.

»Was?«, fragte Kohler entgeistert. Er fiel aus allen Wolken und konnte nicht glauben, dass der Kerl tatsächlich einen Schlüssel für seine Wohnung besaß. »Aber wieso haben Sie das gemacht?«

»Was glaubst du denn, Einstein?« Er klimperte mit den Schlüsseln, bevor er sie wieder einsteckte. »Natürlich, damit ich deine Wohnung betreten kann, um dich zu holen, so wie ich es dir bei unserem kurzen Telefonat versprochen habe. Erinnerst du dich? Du hättest mir besser glauben und abhauen oder die Polizei rufen sollen, solange du noch die Gelegenheit dazu hattest. Aber dafür ist es jetzt zu spät!«

»Moment mal«, sagte Kohler, hob beide Hände und schüttelte verwirrt den Kopf. »Wieso sind Sie nicht einfach eingebrochen?«

Der Mann zuckte mit den Schultern. »Das ist nun mal nicht mein Stil. Außerdem hättest du es dann unweigerlich bemerkt, als ich vorgestern hier war.«

»Wie bitte?« Kohler riss vor Überraschung die Augen weit auf. »Sie waren schon mal in meiner Wohnung?«

Der Mann nickte. »Das sagte ich doch soeben.«

»Aber aus welchem Grund?«

»Um die Abhörgeräte zu installieren.«

»Abhörgeräte?«

Erneut nickte der Mann. »Schließlich musste ich wissen, wie du auf meine telefonische Ankündigung reagierst. Hättest du die Polizei gerufen, dann hätte ich dich in Ruhe gelassen und mir eine andere Herausforderung gesucht. Aber du hast das Ganze ja für einen Witz gehalten und dich nicht an die Polizei gewandt. Also bin ich jetzt hier, und wir können allmählich anfangen.«

»Anfangen?« Kohler schwirrte bereits der Kopf von all dem Unsinn, den der Eindringling erzählte. Seiner Meinung nach war der Kerl sogar noch verrückter, als er gedacht hatte, auch wenn er nicht danach aussah. »Anfangen womit?«

»Mit unserem Kampf natürlich«, sagte der Mann mit der tiefen Stimme, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. »Ich fordere dich hiermit zu einem fairen Kampf auf Leben und Tod heraus. Aber da ich, wie ich dir bereits am Telefon sagte, der Tod bin, wird es für dich schwer werden, mich zu besiegen.«

Zum ersten Mal veränderte sich die neutrale Miene des Eindringlings, als nun ein zuversichtliches Lächeln in seinem Gesicht auftauchte, das Kohler eine Gänsehaut bescherte.

»Sie sind ja vollkommen irre!«, sagte er und schüttelte den Kopf.

Der andere Mann wiegte, noch immer lächelnd, den Kopf hin und her. »Das ist Ansichtssache, würde ich mal sagen. Aber jetzt lass uns nicht noch mehr Zeit vergeuden und endlich anfangen, Angel.« Sobald er ein weiteres Mal Kohlers Spitznamen auf seine unnachahmlich herablassende Weise ausgesprochen hatte, setzte er sich auch schon in Bewegung und kam näher.

Kohler zögerte einen Moment. Rein körperlich gesehen hatte er weder Angst noch Bedenken, den anderen zu besiegen. Doch dessen Selbstsicherheit und resolutes Auftreten erzeugten ein mulmiges Gefühl in ihm. Und nachdem der Kerl selbst mehrere Male von der Polizei gesprochen hatte, erschien es Angel inzwischen gar nicht mehr so abwegig, dort anzurufen. Er wandte daher kurz den Blick von dem Eindringling und suchte auf der Kommode neben sich nach seinem Handy. Aber es war nicht mehr da.

»Suchst du das hier?«, fragte der andere Mann. Er war unmittelbar jenseits der Türschwelle im Wohnzimmer stehen geblieben und damit nur noch wenige Meter entfernt. In der erhobenen linken Hand hielt er Kohlers Smartphone.

»Geben Sie das sofort her! Das gehört mir!« Noch während Kohler es sagte, kamen ihm seine Worte lächerlich vor. Wie zwei Fünfjährige, die sich im Sandkasten um einen Eimer stritten.

Die Reaktion des Eindringlings fiel auch tatsächlich so aus, wie Kohler befürchtet hatte. »Geben Sie das sofort her! Das gehört mir!«, äffte er ihn nach und machte dabei sehr überzeugend die Stimme eines kleinen Jungen nach. Dann sprach er mit seiner normalen Stimme weiter: »Na, dann hol es dir doch, Angel.«

Doch noch ehe Kohler sich in Bewegung setzen konnte, sagte er »Ups!« und ließ das Handy fallen. Als es auf dem Parkettboden aufkam, verzog Kohler unwillkürlich das Gesicht. Aber das Telefon, das direkt vor den Füßen des Eindringlings zu liegen gekommen war, schien den Aufprall unbeschadet überstanden zu haben, und so atmete Kohler auf. Doch er hatte sich zu früh gefreut, denn unvermittelt hob der Fremde den rechten Fuß und ließ den Stiefelabsatz auf das Display des Smartphones krachen, das sofort zersplitterte. »Nochmal ups!«, sagte er, zuckte in gespieltem Bedauern mit den Schultern, konnte sich dabei aber ein Grinsen nicht verkneifen.

Jeder Gedanke daran, die Polizei zu rufen, war jäh vergessen. Glühender Zorn erfüllte Kohler und ließ ihn rot sehen, jede Furcht vergessen und jegliche Vorsicht über Bord werfen.

»Das wirst du mir büßen, Arschloch«, knurrte Kohler, der nun ebenfalls auf jede Form von Höflichkeit verzichtete und zum Du überging. »Dafür nehme ich dich auseinander, Freundchen.« Und damit stampfte er auf den fremden Mann zu.

Normalerweise wichen andere ängstlich zurück oder bemühten sich zumindest um beschwichtigende, Unterwerfung signalisierende Gesten, wenn ein in Rage geratener Ralf Kohler mit hochrotem Kopf und finsterem, Mord verheißendem Gesichtsausdruck wie ein außer Kontrolle geratener Gefahrgutlastwagen auf sie zu rauschte. Sogar Männer, die ihm sowohl in der Größe als auch in der Statur nahekamen, überlegten es sich unwillkürlich zweimal, ob es tatsächlich so wichtig war, auf ihrem Standpunkt zu beharren, oder sie in diesem Fall nicht doch lieber eine Ausnahme machen und nachgeben sollten. Der Eindringling schien allerdings keine derartigen Bedenken zu haben. Im Gegenteil. Er lächelte strahlend, als bereitete ihm die Aussicht auf einen Ringkampf mit diesem zornigen Muskelberg allergrößtes Vergnügen, und wartete scheinbar gelassen und entspannt auf seinen Gegner.

Kohler, dem jede Kampfsporttechnik fremd war, vertraute stattdessen auf seine Muskelmasse, die Reichweite seiner langen Arme und seine Kraft. Aus Erfahrung wusste er, dass es am besten war, wenn er mit der Wucht einer Dampframme über seinen Gegner herfiel und jeden möglichen Widerstand unverzüglich im Keim erstickte. Er lief daher ins Wohnzimmer und schlug mit der zur Faust geballten Rechten ansatzlos nach dem Kopf des anderen. Hinter dem Schlag lag zwar nicht so viel Kraft, als wenn er vorher ausgeholt hätte, doch es dürfte dennoch genügen, um Nasenbein oder Kiefer des Gegners zu zertrümmern und ihn halb bewusstlos zu schlagen. Das Wichtigste war allerdings, dass der andere den Hieb erst gar nicht kommen sah. Auf diese Weise wollte Kohler den Eindringling überrumpeln und den Kampf bereits in den ersten Augenblicken für sich entscheiden. Denn obwohl er sich dem Mann körperlich weit überlegen fühlte, hatte ihn dessen forsches Auftreten und Unerschrockenheit dennoch tief beeindruckt.

Als sein Gegner überhaupt keine Anstalten machte, sich zur Wehr zu setzen, sah sich der Personenschützer bereits auf der Siegerstraße. Doch unmittelbar bevor seine Faust ins Schwarze traf, riss sein Widersacher mit einer Schnelligkeit, die Kohler nicht erwartet hatte, den Kopf zur Seite, sodass der Hieb ins Leere ging und Kohler unvermittelt nach vorn taumelte. Bereits im nächsten Augenblick rammte der andere ihm die rechte Faust in die Magengrube, sodass Kohler unvermittelt das Gefühl hatte, er wäre von einer Dampframme getroffen worden. Unmittelbar gefolgt von einem Leberhaken, ausgeführt mit der anderen Faust, der so schmerzhaft war, dass Kohler augenblicklich pechschwarz vor Augen wurde. Von einer Sekunde zur anderen hatte er massive Kreislaufprobleme und geriet ins Wanken.

Er hatte Angst, der andere könnte sofort nachsetzen, seine momentane Schwäche und Hilflosigkeit ausnutzen und ihn kurzerhand niederschlagen. Doch der Eindringling zog sich stattdessen zurück und ließ seinem Gegner Zeit, sich zu erholen.

Kohler schnaufte schwer, als ginge der Kampf bereits über mehrere Runden. Er war sichtlich angeschlagen und kämpfte darum, nicht in die Knie zu gehen. Schwer atmend richtete er sich auf, rieb sich mit der rechten Hand die Seite, die noch immer wahnsinnig wehtat, denn Leberhaken waren sogar bei Profiboxern gefürchtet. Manch einer war bereits nach einem einzigen davon zu Boden gegangen.

Der Eindringling lächelte noch immer und wirkte weiterhin völlig entspannt. Der bisherige Kampfverlauf hatte ihn weder ins Schwitzen gebracht, noch seinen Zopf in Unordnung gebracht. Er atmete nicht einmal wesentlich schneller.

»Warum gehen Sie nicht einfach, und wir vergessen, dass Sie hier eingedrungen sind und mein Handy kaputtgemacht haben«, schlug Kohler vor, sobald er wieder halbwegs zu Atem gekommen war, als wäre die Situation andersherum und er würde nach Punkten führen. Nach den beiden Schlägen, die er eingesteckt hatte, war er jetzt allerdings wieder um Höflichkeit bemüht. »Die Nachschlüssel müssen Sie allerdings hier lassen.«

Der Eindringling lachte leise. »Du bist nicht besonders helle, oder?«

Kohler ging nicht auf die Frage ein. »Ich will nur nicht, dass jemand ernsthaft verletzt wird.«

»Mit jemand kannst du nur dich selbst meinen«, sagte der andere. »Aber anscheinend hast du es noch immer nicht begriffen, dass es hier genau darum geht. Wie ich schon sagte, kämpfen wir um Leben und Tod. Das beinhaltet automatisch, dass jemand – in diesem Fall du – ernsthaft verletzt wird.«

Kohler schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht. Wieso tun Sie das?«

»Weil es mir Spaß macht«, erwiderte der Eindringling lächelnd. »Gibt es denn einen besseren Grund? Und wenn du dich genug ausgeruht hast, können wir ja allmählich in die zweite Runde gehen.«

Während der kurzen Kampfpause hatte sich Kohler wieder etwas erholt, auch wenn er noch immer heftige Schmerzen in der rechten Seite hatte. Er hatte fieberhaft überlegt, was er tun sollte. So angeschlagen, wie er war, und angesichts der kämpferischen Fähigkeiten, die sein Gegner bislang an den Tag gelegt hatte, war seine Siegesgewissheit geschmolzen wie ein Schneemann in der Wüste. Jetzt ging es ihm nur noch darum, ohne größere Blessuren und mit dem Leben davonzukommen.

Aber wie?

Schreien nützte ihm wahrscheinlich nichts. Bis seine Nachbarn realisierten, was los war und die Polizei riefen, und bis diese dann auch eintraf, hatte ihn der andere vermutlich längst auf die Bretter geschickt, bewusstlos oder, falls er es tatsächlich ernst meinte, vielleicht sogar tot. Also blieb ihm als einzige Alternative, so schmachvoll es auch war, die Beine in die Hand zu nehmen und abzuhauen. Unter Umständen war er dem Eindringling ja wenigstens im Davonlaufen überlegen.

Kaum hatte Kohler diesen Entschluss gefasst, wirbelte er auch schon herum und lief in Richtung Flur, um die Haustür zu erreichen.

Doch sein Widersacher schien vorausgeahnt zu haben, was in Kohlers Kopf vorgegangen war, denn er reagierte mindestens ebenso rasch. Und er war erheblich flinker als Kohler, der, noch bevor er die Tür erreicht hatte, am Oberarm gepackt und vehement zurückgerissen wurde. Erst da wurde es ihm so richtig bewusst, wie kräftig der andere sein musste, um seine 135 Kilogramm Lebendgewicht so mühelos zur Seite zu schleudern.

Sobald der Eindringling ihn wieder losgelassen hatte, stolperte Kohler rückwärts. Noch ehe er sein Gleichgewicht wiedererlangen konnte, prallte er mit den Kniekehlen gegen ein Hindernis und kippte nach hinten. Er wusste bereits, worauf er landen würde, bevor die Kristallglasplatte des Wohnzimmertischs unter seinem enormen Gewicht zerbarst und er inmitten des Gestells aus poliertem Stahl und den Scherben landete, die sich an mehreren Stellen durch seine Kleidung in seinen Körper bohrten. Kohler schrie vor Schmerz.

Er wälzte sich sofort zur Seite und befreite sich dabei vom Tischgestell. Dann tastete er hektisch nach den Stellen, wo die Schmerzen am heftigsten wüteten, und riss Glasscherben heraus. Die meisten Verletzungen waren zum Glück nur oberflächlich, weil die Scherben nur wenige Millimeter tief eingedrungen waren. Doch zwei dolchartige Glasstücke hatten sich tiefer in seinen Körper gebohrt, die eine in seinen Oberschenkel und die zweite in seinen Hintern, sodass er an diesen Stellen heftig blutete.

Auf Händen und Knien und schwer atmend sah Kohler sich hektisch nach dem Eindringling um. Doch bevor er ihn entdeckte, bekam er bereits einen heftigen Tritt in die Seite, der ihn herumschleuderte, sodass er wieder auf dem malträtierten Rücken landete. Er schrie erneut. Inzwischen konnte er gar nicht mehr unterscheiden, wo der Schmerz am heftigsten wütete, denn längst tat ihm alles weh. Dennoch wollte er nicht einfach liegen bleiben und alles geduldig über sich ergehen lassen, sondern sich wenigstens zur Wehr setzen. Er musste nur die Gelegenheit bekommen, den Kerl einmal richtig zu treffen. In dem Fall reichte ein einziger Schlag, um das Blatt zu wenden.

Kohler setzte sich stöhnend auf, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Doch kaum hatte er das getan, sah er eine Stiefelsohle auf sich zukommen. Sie wurde riesengroß, bevor sie ihn mit so enormer Wucht am Kopf traf, dass er beinahe schon dadurch das Bewusstsein verloren hätte. Sein Oberkörper wurde wieder nach hinten geschleudert, und sein Hinterkopf knallte auf den Parkettboden, worauf er tatsächlich bewusstlos wurde.

Der Eindringling schnaufte einmal tief durch und sah missmutig auf den gefällten Giganten zu seinen Füßen hinab.

Er hatte sich auf diesen Kampf gefreut und mit einer echten Herausforderung gerechnet. Doch der Kerl war letztendlich nur ein Scheinriese gewesen. Ein Zweimetermann mit viel Muskeln und wenig Hirn, der nicht einmal wusste, wie man effektiv kämpfte. Und so etwas wurde auch noch Personenschützer. Dabei hatte er sich nicht einmal selbst schützen können.

Der Eindringling seufzte, bevor er sich abwandte und an die Arbeit machte. Als Erstes entfernte er die beiden Wanzen, die er vor zwei Tagen im Wohnzimmer und im Flur angebracht hatte, und steckte sie ein. Anschließend holte er einen Gefrierbeutel aus der Innentasche seiner Jacke. Er nahm den Gegenstand heraus, der sich im Beutel befand, und schob ihn in die Brusttasche des Sakkos, das der Bewusstlose trug. Dann steckte er den leeren Beutel wieder ein, bevor er zum Fenster ging und nach draußen sah. Da im Wohnzimmer hinter ihm kein Licht brannte, vor dem sich seine Silhouette abzeichnen konnte, und der Nachthimmel dicht bewölkt war, sodass der sichelförmige Mond dahinter verborgen war, war die Gefahr verschwindend gering, dass ihn jemand sah. Außerdem befanden sie sich im vierten Stock, wohin das Licht der Straßenlaternen nicht reichte. Um dennoch keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen, bewegte er sich behutsam und wie in Zeitlupe, als er sich nach allen Richtungen umsah. Die Straße vor dem Haus war verlassen. Hinter einem offenen Fenster auf der anderen Straßenseite stand ein alter Mann, rauchte eine Zigarette und sah auf die Straße hinunter. Ansonsten war im Augenblick niemand zu sehen.

Der Eindringling wartete reglos und geduldig, bis der alte Mann seine Zigarette ausdrückte, das Fenster schloss und verschwand. Erst nachdem auch noch das Licht ausgegangen war, öffnete er das Fenster. Anschließend kehrte er nach einem letzten Blick in die Runde zu seinem Opfer zurück.

Der Personenschützer war noch immer bewusstlos und hatte sich nicht gerührt. Als der Mann mit der tiefen Stimme ihn an den Füßen packte und zum Fenster schleifte, stöhnte er leise, wachte aber nicht auf.

Nachdem der Eindringling sich noch einmal davon überzeugt hatte, dass niemand ihn beobachten konnte und die Straße unter ihnen noch immer verlassen war, hievte er den Bewusstlosen übers Fensterbrett und ließ ihn dann los.

Ralf Kohler fiel vier Stockwerke tief, bevor er mit einem eigentümlichen Klatschen zwischen der Hausmauer und den am Straßenrand geparkten Autos auf dem Bürgersteig landete und augenblicklich starb. Allerdings bekam er davon gnädigerweise nichts mehr mit, da er bis zur letzten Sekunde ohne Bewusstsein blieb.

Noch bevor der Körper am Boden aufgekommen war, hatte der Eindringling bereits das Fenster geschlossen und sich abgewandt, um eilig und ungesehen zuerst die Wohnung und anschließend das Haus zu verlassen.

Kapitel 3

Es war bereits nach Mitternacht, als Edgar Wimmer die Abkürzung durch den Luitpoldpark nahm.

Wimmer hatte den Park, von Westen kommend, an der Brunnerstraße betreten. Nun war er auf einem der Wege in östlicher Richtung unterwegs und hatte soeben den Pumucklspielplatz mit dem Brunnen und dem Heckenlabyrinth passiert.

Obwohl der Luitpoldpark um diese Uhrzeit ausgesprochen finster und völlig menschenleer war, hatte der 55-jährige Mann mit den kurzen mittelbraunen Haaren keine Angst. Warum auch? Schließlich nahm er diesen Weg an jedem Arbeitstag, und das sogar zweimal. Einmal bei Tageslicht am Vormittag, wenn er von seiner kleinen Zweizimmerwohnung in einem fünfstöckigen Mietshaus in der Hörwarthstraße zu seiner Arbeitsstätte ging. Dabei handelte es sich um ein bayerisches Wirtshaus mit Biergarten auf der anderen Seite des Parks, wo er als Kellner arbeitete. Nach Schließung der Wirtschaft um Mitternacht ging es anschließend wieder in die andere Richtung, nur dass es dann dunkel und vor allem an Werktagen kaum noch jemand im Park unterwegs war. Doch das machte Wimmer nichts aus. Im Gegenteil. Er liebte die nächtliche Stille nach den lauten und anstrengenden, oft hektischen Stunden in der Wirtschaft mit den manchmal nervigen, quengelnden Gästen, denen man oft nichts recht machen konnte.

Da Wimmer diesen Weg schon so oft gegangen war, dass er ihn sogar im Schlaf mit verbundenen Augen gefunden hätte, und seine Beine ihn wie ein Autopilot nach Hause brachten, ohne dass er ständig darauf achten musste, wohin er lief, war er dabei meistens tief in Gedanken versunken. In der Regel ließ er dabei die vergangenen Stunden noch einmal vor seinem inneren Auge Revue passieren und dachte an die bemerkenswertesten der zahlreichen Gäste, die er im Laufe dieses Arbeitstages bedient hatte.

In den mehr als fünfunddreißig Jahren, in denen er nun schon als Kellner tätig war, hatte er eine Art geheimes Ranking für seine Gäste entwickelt. Dabei vergab er wie in der Schule Noten von eins bis sechs. Zunächst gab es eine Note für die Freundlichkeit des Gastes, dann eine weitere für seine Großzügigkeit im Hinblick auf das Trinkgeld. Denn da der Beruf des Kellners zu den schlechtbezahltesten überhaupt gehörte, bildete das Trinkgeld einen wichtigen Bestandteil des Verdienstes. Aus diesen beiden Noten bildete Wimmer anschließend eine Durchschnittsnote. Natürlich war er nicht in der Lage, sich sämtliche Gäste und ihre Noten zu merken, aber sowohl die schlimmsten als auch die positivsten Fälle behielt er im Gedächtnis.