Die Donovans 2. Die Spur des Kidnappers - Nora Roberts - E-Book

Die Donovans 2. Die Spur des Kidnappers E-Book

Nora Roberts

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Beschreibung

Der Donovan-Clan: Eine bezaubernde Familiensaga mit einem Hauch Magie.

Die Privatdetektivin Mel Sutherland muss diesen Fall einfach lösen. Das Baby ihrer Freundin Rose ist entführt worden. Verzweifelt sucht sie nach Hinweisen. Schließlich kontaktiert Rose den Telepathen Sebastian Donovan. Mel glaubt nicht recht an Hellseherei und hält den Mann für einen Hochstapler. Zähneknirschend arbeitet sie mit ihm zusammen. Als Sebastian tatsächlich eine heiße Spur findet, sieht sie den beeindruckenden Mann plötzlich mit ganz anderen Augen: Mit Respekt und mit Leidenschaft zugleich.

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Seitenzahl: 315

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Nora Roberts

Die Donovans 2

Die Spur des Kidnappers

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Sonja Sajlo-Lucich

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe Entranced ist bei Silhouette Books, Toronto, erschienen. Die deutsche Erstausgabe ist im MIRA Taschenbuch erschienen.
Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Copyright © 1992 by Nora Roberts Published by Arrangement with Eleanor Wilder Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by MIRA Taschenbuch in der Cora Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Fotos von shutterstock/Monkey Business Images Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN: 978-3-641-12060-3 V003
www.penguinrandomhouse.de/nora-roberts

PROLOG

Schon früh verstand er, welche Macht er besaß. Was durch seine Adern floss und ihn ausmachte, musste ihm nicht erklärt werden. Und niemand brauchte ihm zu sagen, dass dies eine Gabe war, die nicht jeder besaß.

Er konnte sehen.

Die Visionen waren keineswegs immer angenehm, doch wenn sie kamen – noch als er ein kleines Kind war, das kaum laufen konnte –, akzeptierte er sie mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er auch akzeptierte, dass morgens die Sonne aufging.

Oft würde sich seine Mutter vor ihn hinknien, ihr Gesicht dem seinen ganz nahe, und ihre Augen würden in seinen suchen. In der unermesslichen Liebe, die sie für ihn empfand, war auch die Hoffnung enthalten, dass er dieses Geschenk immer akzeptieren würde. Und dass er nie dadurch verletzt werden würde.

Obwohl sie es besser wusste.

Wer bist du?

Er konnte ihre Gedanken so deutlich hören, als hätte sie sie laut ausgesprochen.

Wer wirst du sein?

Das waren Fragen, die er nicht beantworten konnte. Schon da begriff er, dass es schwieriger war, in sich selbst hineinzusehen als in andere. Er merkte, wie schwierig es war, sich selbst zu kennen.

Während die Jahre vergingen und er heranwuchs, hielt die Gabe ihn nicht davon ab, zu toben und zu rennen und seinen Cousinen Streiche zu spielen. Er liebte Eiscreme an einem heißen Sommertag, lachte lauthals über die Cartoons am Samstagvormittag im Fernsehen.

Er war ein normaler, quicklebendiger Junge mit den üblichen Flausen im Kopf und einem bemerkenswert hübschen Gesicht mit geradezu hypnotischen graublauen Augen und einem Mund, der gern lächelte.

Er durchlief alle Phasen des Heranwachsens, die Jungen durchmachten. Die abgeschürften Ellbogen und Knie, die Trotzphasen und Rebellionen, große und kleine, das erste Herzklopfen, weil ein hübsches Mädchen ihn angelächelt hatte. Wie alle Kinder wurde er erwachsen und verließ das Elternhaus, um auf eigenen Füßen zu stehen.

So wie er heranwuchs, wuchs auch die Macht in ihm.

Er empfand sein Leben als wohl geordnet und angenehm.

Und er akzeptierte, wie er es schon immer getan hatte, dass er ein Hexenmeister war.

1. KAPITEL

Sie hatte von einem Mann geträumt, der von ihr träumte. Aber er schlief nicht. Sie konnte ihn sehen, wie er vor einem großen, dunklen Fenster stand, die Arme in die Seiten gestützt. Das Bild von ihm war so deutlich, ganz und gar nicht wie ein verschwommenes Traumbild.

Seine Augen … sie waren tief, unergründlich. Grau, dachte sie, und drehte sich im Schlaf. Nein, nicht wirklich. Da war auch eine Andeutung von Blau. Die Farbe erinnerte sie an raue Klippen, die steil ins Meer fielen, und im nächsten Moment musste sie an die Wasseroberfläche eines stillen Sees denken.

Seltsam, sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Und doch wusste sie, dass es angespannt und ernst war. Aber sie sah seine Augen, diese faszinierenden, beunruhigenden Augen …

Sie wusste, dass er an sie dachte. Nicht nur an sie dachte, nein, er konnte sie sehen. So als würde sie von der anderen Seite auf dieses Fenster, auf ihn zugehen. Und sie hatte das Gefühl, würde sie die Hand ausstrecken und an das Fenster legen, würden ihre Finger durch das Glas hindurchgleiten und seine finden.

Wenn sie es wollte.

Stattdessen wälzte sie sich im Bett und murmelte im Schlaf. Selbst wenn sie schlief, konnte Mel Sutherland sich nicht mit Unlogik abfinden. Im Leben gab es Regeln, grundlegende Regeln. Sie gehörte zu den Menschen, die überzeugt waren, dass man besser zurechtkam, wenn man diese Regeln einhielt.

Also streckte sie die Hand nicht aus, weder um das Glas zu berühren noch den Mann dahinter.

Ein Kissen fiel zu Boden, als sie sich weiter unruhig bewegte. Sie verdrängte den Traum, und er verblasste.

Erleichtert und irgendwie auch enttäuscht, fiel sie in einen traumlosen Schlaf.

Einige Stunden später, die nächtliche Vision tief in ihrem Unterbewusstsein verschlossen, schlug Mel bei dem lauten Schrillen des Mickymausweckers neben ihrem Bett die Augen auf. Eine geübte Handbewegung, und das Geräusch verstummte. Es bestand keine Gefahr, dass sie sich wieder unter die Decke verkriechen und weiterschlafen würde. Mels Verstand war ebenso diszipliniert wie ihr Körper.

Sie setzte sich auf und gähnte ausgiebig, fuhr sich mit den Fingern durch das vom Schlaf wirre, dunkelblonde Haar. Ihre Augen, von einem satten Moosgrün – eine Farbe, die sie von einem Vater geerbt hatte, an den sie sich kaum erinnern konnte –, blickten nur einen Moment trübe. Dann klärte sich ihr Blick, und sie nahm die zerwühlten Laken wahr.

Was für eine Nacht, dachte sie und befreite ihre Beine. Aber das war ja kein Wunder, nicht bei dem, was ihr heute bevorstand. Sie atmete einmal tief durch, riss dann mit einem Ruck ihre Shorts vom Boden hoch und zog sie über. In dem T-Shirt, in dem sie auch geschlafen hatte, trat sie fünf Minuten später in die milde Morgenluft hinaus und machte sich daran, ihr Drei-Meilen-Tagespensum im Jogging zu absolvieren.

Sie hauchte einen Kuss auf ihre Fingerspitzen und legte diese Finger auf die Haustür. Weil es ihr Heim war. Ihr eigenes. Selbst nach vier Jahren betrachtete sie es nicht als Selbstverständlichkeit.

Nichts Pompöses, dachte sie, während sie Dehnübungen machte. Nur ein kleines Haus, flankiert von einem Waschsalon und einer kleinen Buchhaltungsfirma, die ums Überleben kämpfte. Aber sie brauchte auch nichts Pompöses.

Mel ignorierte den anerkennenden Pfiff aus einem vorbeifahrenden Wagen. Der Fahrer betrachtete ausgiebig ihre langen, muskulösen Beine. Sie joggte nicht, um besser auszusehen, sondern weil regelmäßiges Training Körper und Geist stählte. Ein Privatdetektiv, der entweder das eine oder das andere vernachlässigte, hielt sich nicht lange im Geschäft. Mel hatte vor, noch sehr, sehr lange zu bestehen.

Sie ließ es langsam angehen, verfiel in einen lockeren Trab, lauschte auf das rhythmische Tappen ihrer Sportschuhe auf dem Bürgersteig und genoss das erste Morgenlicht. Es war August, ein wunderbarer Sommertag kündigte sich an. Sie dachte daran, wie unerträglich heiß es in Los Angeles werden würde, aber hier in Monterey war es angenehm warm, wie im Frühling. Ganz gleich, welche Jahreszeit der Kalender anzeigte, die Luft war immer frisch wie eine Rosenknospe.

Noch war es früh, es herrschte kaum Verkehr. Außerdem war es sowieso höchst unwahrscheinlich, hier in der Stadtmitte einem anderen Jogger zu begegnen. Am Strand wäre das sicher anders, aber Mel lief lieber allein.

Langsam wurden ihre Muskeln warm. Der erste dünne Schweißfilm bildete sich auf der Haut. Sie beschleunigte das Tempo, fiel in ihren gewohnten Rhythmus, der schon so selbstverständlich war wie Atmen.

Für die erste Meile verbannte sie bewusst alles Denken, konzentrierte sich nur auf das Wahrnehmen. Ein Wagen mit einem defekten Auspuff donnerte an ihr vorbei, zögerte nur andeutungsweise an dem Stopp-Zeichen.

Ein 82er Plymouth Sedan, dunkelblau. Fahrertür eingedellt, Nummernschild: Kalifornien, ACR 2289.

Es ging darum, den Geist geschärft zu halten.

Im Park lag jemand im Gras. Gerade als Mel vorbeilief, setzte er sich auf, streckte sich und schaltete das Kofferradio neben sich ein.

Ein Student, der per Anhalter durchs Land trampt, entschied sie, während ihr Blick noch über den Rucksack glitt. Blau, die amerikanische Flagge auf der Seite aufgenäht … Haarfarbe braun … und dieser Song … wie hieß er noch?

Bruce Springsteen. »Cover Me.«

Sah süß aus, der Junge. Mit einem leisen Lächeln lief Mel um die Straßenecke.

Der Geruch von frisch gebackenem Brot, der aus der kleinen Bäckerei strömte, stieg ihr in die Nase. Dieses wunderbare Guten-Morgen-Aroma. Und der Duft von Rosen aus den Vorgärten.

Sie sog den Blumenduft tief ein. Aber bevor sie zugeben würde, dass sie eine Schwäche für Rosen hatte, würde sie sich eher die Zunge abbeißen. Die Blätter der Bäume raschelten leicht in der sanften Brise, und wenn sie sich konzentrierte, konnte sie sogar das Meer riechen.

Es war gut. So gut, sich stark und bewusst und allein zu fühlen. Es war gut, diese Straßen zu kennen und zu wissen, dass sie hierhergehörte. Dass sie hier bleiben konnte. Dass es keinen mitternächtlichen Aufbruch in dem zerbeulten Kombi mehr geben würde, nur weil ihre Mutter mal wieder von einer ihrer Launen gepackt worden war.

Zeit, weiterzufahren, Mary Ellen. Zeit, dass wir hier wegkommen. Ich habe das Gefühl, dass wir es mal im Norden versuchen sollten.

Und so würden sie sich also aufmachen, sie und die Mutter, die sie anbetete. Die Mutter, die immer mehr Kind geblieben war als das kleine Mädchen, das sich auf dem Beifahrersitz zusammenrollte. Die Scheinwerfer würden sich durch die Nacht fressen, bis zu einem neuen Ort, einer neuen Schule, neuen Menschen.

Doch es dauerte nie lange. Nie lange genug, um dazuzugehören. Nur die Straße, die war wie ein Zuhause. Schon bald würde ihre Mutter wieder das verspüren, was sie »Kribbeln in den Beinen« nannte. Und dann würden sie wieder weiterziehen.

Warum hatte es immer den Anschein gehabt, als würden sie vor etwas wegrennen, nicht zu etwas Bestimmtem hinfahren?

Nun, das war vorbei. Alice Sutherland war jetzt stolze Besitzerin eines gemütlichen kleinen Wohnwagens – in sechsundzwanzig Monaten würde Mel ihn endlich abbezahlt haben – und glücklich wie im siebten Himmel. So konnte Alice von Bundesstaat zu Bundesstaat weiterziehen und von Abenteuer zu Abenteuer.

Was nun Mel anging – sie konnte endlich bleiben. Zugegeben, in L.A. hatte es nicht geklappt. Aber sie hatte einen Vorgeschmack von dem bekommen, was es hieß dazuzugehören. Sie hatte zwei sehr frustrierende und sehr lehrreiche Jahre beim Police Department von Los Angeles zugebracht. Zwei Jahre, die ihr bewiesen hatten, dass Polizeiarbeit genau das Richtige für sie war, auch wenn Protokolle für falsches Parken ausstellen und Formulare ausfüllen nicht gerade das Gelbe vom Ei gewesen waren. Dennoch hatte sie die geeignete Tätigkeit gefunden.

Also war sie gen Norden gezogen und hatte »Sutherland Investigations« eröffnet. Schön, sie hatte Unmassen von Formularen ausfüllen müssen, aber es waren ihre Formulare gewesen.

Mel war bei der Hälfte ihres morgendlichen Laufs angekommen und kehrte um. Wie immer erfüllte sie ein Gefühl der Befriedigung, dass ihr Körper ihr so gut gehorchte. Das war nicht immer so gewesen. Als Kind viel zu groß, zu mager und zu schlaksig, hatte sie dauernd aufgeschürfte Knie und Ellbogen gehabt. Aber jetzt war sie achtundzwanzig und besaß absolute Kontrolle über ihren Körper. Jawohl. Sie hatte es auch nie als enttäuschend empfunden, dass sie keine üppigen Rundungen entwickelt hatte. Schlank und rank war effektiver. Und die langen Beine, die ihr früher Spitznamen wie »Bohnenstange« und »Streichholz« eingebracht hatten, waren jetzt durchtrainiert, muskulös und – wie sie sich selbst bescheiden eingestand – durchaus einen zweiten Blick wert.

Genau in diesem Augenblick hörte sie das Weinen eines Babys. Irgendwo aus einem offenen Fenster des Apartmenthauses neben ihr. Ihre Stimmung sank auf den Nullpunkt. Erinnerungen wurden wach.

Das Baby. Roses Baby. Der süße, pummelige David mit den roten Wangen.

Mel lief weiter. Das Laufen war wie ein Reflex, der auch allein funktionierte. Aber ihre Gedanken wanderten. Bilder tauchten vor ihr auf.

Rose, die nette, freundliche, leicht unscheinbare Rose mit ihrem krausen roten Haar und dem offenen Lächeln. Mel, von Natur aus eher reserviert, hatte sich ihrem Charme nicht entziehen und die angebotene Freundschaft nicht ablehnen können.

Rose arbeitete als Bedienung in dem kleinen italienischen Restaurant, zwei Blocks von Mels Büro entfernt. Es war so leicht gewesen, bei einem Cappuccino oder über einem Teller Spaghetti ein kleines Gespräch anzufangen, vor allem, da Rose den größten Teil des Redens übernahm.

Mel erinnerte sich noch gut daran, wie sie Rose bewundert hatte, die volle Tabletts jonglierte, obwohl ihr runder Bauch fast die kleine Servierschürze sprengte. Noch besser erinnerte sie sich daran, wie Rose ihr erzählt hatte, wie überglücklich ihr Mann Stan und sie waren und wie sehr sie sich auf ihr erstes Kind freuten.

Als David dann vor acht Monaten zur Welt gekommen war, hatte sie Rose im Krankenhaus besucht. Als sie durch die Glasscheibe die Babys in ihren Bettchen auf der Kinderstation gesehen hatte, war ihr klar geworden, warum Menschen alle möglichen Opfer brachten, um Kinder zu haben.

Sie waren so perfekt. So niedlich und wunderschön.

Als sie gegangen war, war sie glücklich für Rose und Stan. Und einsamer als je zuvor in ihrem Leben.

Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, bei den jungen Eltern vorbeizuschauen, immer ein kleines Spielzeug für David dabei. Als Vorwand. Um mit dem Kleinen eine Stunde spielen zu können. Sie hatte sich in David verliebt, mehr als nur ein wenig. Also war es ihr auch nicht peinlich gewesen, seinen ersten Zahn zu bewundern oder jubelnd zu bestaunen, dass er zu krabbeln anfing.

Und dann, vor zwei Monaten, war dieser Anruf gekommen. Von einer völlig aufgelösten Rose.

»Er ist weg. Er ist weg. Er ist weg.«

Mel legte die kurze Strecke von ihrem Büro zur Wohnung der Merricks in Rekordzeit zurück. Die Polizei war schon dort. Rose und Stan saßen auf dem Sofa, hielten einander umfasst wie zwei verlorene Seelen. Beide in Tränen aufgelöst.

David war verschwunden. Aus seinem Laufstall entführt, in dem er auf dem kleinen Rasenstück vor der Wohnung im Parterre geschlafen hatte.

Mittlerweile waren zwei Monate vergangen, und der Laufstall war noch immer leer.

Alles, was Mel gelernt hatte, alle Erfahrung und alle geschulten Instinkte hatten nicht geholfen, David zu seinen Eltern zurückzubringen.

Nun wollte Rose einen anderen Weg beschreiten. Etwas so Absurdes versuchen, dass Mel gelacht hätte, wäre da nicht der entschlossene Ausdruck in Roses sonst so sanften Augen gewesen. Rose war es gleichgültig, was Stan sagte, was die Polizei sagte, was Mel sagte. Sie würde alles versuchen, um ihr Kind zurückzubekommen.

Selbst wenn das hieß, sich an einen Menschen mit übernatürlichen Kräften zu wenden.

Während sie zusammen in dem alten, abgeschmirgelten MG über die Küstenstraße dahinbrausten, wollte Mel ein letztes Mal an Roses Vernunft appellieren.

»Rose …«

»Gib dir keine Mühe. Du wirst es mir nicht ausreden.« Obwohl Rose leise sprach, klang ihre Stimme stahlhart. Eine Eigenschaft, die erst in den letzten Monaten zu Tage getreten war. »Das hat Stan schon versucht.«

»Weil wir dich mögen, Rose. Wir wollen beide nicht, dass du dich in etwas verrennst und noch mehr verletzt wirst.«

Sie war erst dreiundzwanzig, aber Rose fühlte sich so alt wie das Meer, das dort tief unter ihnen wogte, und so hart wie die Klippen, die steil herabfielen. »Verletzt? Nichts kann mich noch verletzen. Ich weiß, dass du es nur gut meinst, Mel, und ich weiß auch, dass es viel von dir verlangt ist, heute mit mir dorthin zu gehen …«

»Das ist es nicht.«

»Doch, das ist es.« Roses Augen, diese fröhlichen, lachenden Augen, blickten traurig und waren voll von einer Angst, die scheinbar nie wieder vergehen wollte. »Ich weiß, du hältst es für unsinnig, und vielleicht ist es sogar beleidigend für dich, weil du alles tust, um David zu finden. Aber ich muss es versuchen. Ich muss jede sich bietende Möglichkeit ergreifen.«

Mel schwieg, denn sie schämte sich dafür, dass sie tatsächlich beleidigt war. Sie war ausgebildet, trainiert und erfahren, und hier saßen sie und fuhren die Küste entlang, um irgendeinen Scharlatan aufzusuchen.

Aber man hatte ja auch nicht ihr Kind entführt. Sie war nicht diejenige, die jeden Tag vor einem leeren Kinderbett stehen musste.

»Wir werden David finden, Rose.« Mel nahm die Hand vom Lenkrad und drückte Roses eiskalte Finger. »Das schwöre ich.«

Statt einer Antwort nickte Rose nur unmerklich und blickte hinaus aufs Meer und über die rauen Klippen. Wenn ihr Baby nicht bald gefunden wurde, würde es sehr einfach sein, den letzten Schritt über diese Klippen zu nehmen und der Welt ein für alle Mal den Rücken zu kehren. Einzutauchen in die Unendlichkeit des Meeres.

Er wusste, dass sie kamen. Das hatte nichts mit seiner Macht zu tun. Die Frau mit der zitternden Stimme hatte ihre Ankunft bereits gestern telefonisch angekündigt. Hatte ihn angefleht. War das nicht genau der Grund, weshalb er sich eine Geheimnummer hatte geben lassen? Hatte er nicht deshalb einen Anrufbeantworter, falls jemand sich tatsächlich die Mühe machen sollte, seine Telefonnummer herauszufinden?

Aber nein, er hatte den Hörer abgenommen. Weil ihn etwas dazu gedrängt hatte. Weil er gewusst hatte, dass er es tun musste. Also wusste er von ihrer Ankunft und stellte sich darauf ein, eine Absage zu erteilen, ganz gleich, worum sie ihn bitten würde.

Verdammt, er war so müde. Er war gerade erst zurückgekommen. Nach drei schrecklichen Wochen in Chicago, wo es der Polizei mit seiner Hilfe gelungen war, den Mann dingfest zu machen, den die Presse mit dem Namen »South Side Schlitzer« belegt hatte.

Er hatte Dinge gesehen, die er nie wieder sehen wollte.

Sebastian stellte sich an das große Fenster, das den Blick freigab auf den weiten Rasen, einen farbenfrohen Steingarten und die Klippen, die steil ins Meer hinabfielen.

Ihm gefiel dieser Ausblick, er hatte etwas Dramatisches an sich. Die gefährliche Tiefe, das tosende Wasser, ja sogar das schwarze Band der Straße, die sich durch die felsige Landschaft schlängelte. Ein Symbol für die Entschlossenheit des Menschen, voranzuschreiten, weiterzukommen.

Am meisten jedoch gefiel ihm die Abgeschiedenheit, die ihm die nötige Distanz verschaffte. Distanz zu Eindringlingen. Nicht nur räumlich gesehen, sondern auch jene, die in seine Gedanken eindringen wollten.

Aber irgendjemandem war es gelungen, diese Distanz zu überbrücken. Irgendjemand war bereits eingedrungen. Und er fragte sich immer noch, was das wohl zu bedeuten hatte.

Er hatte geträumt letzte Nacht. In seinem Traum hatte er genau hier gestanden. Auf der anderen Seite des Fensters war eine Frau gewesen. Eine Frau, nach der er sich verzehrt hatte.

Aber er war so müde gewesen, so leer und ausgebrannt, dass er nicht die Konzentration aufgebracht hatte. Und dann hatte sie sich aufgelöst und war verschwunden.

Wogegen er überhaupt nichts einzuwenden hatte. Im Moment wollte er nichts anderes als schlafen. Ein paar faule Tage verbringen, sich um seine Pferde kümmern, den liegen gebliebenen Papierkram aufarbeiten und das Leben seiner Cousinen ein bisschen durcheinanderbringen.

Seine Familie fehlte ihm. Es war Ewigkeiten her, seit er das letzte Mal in Irland gewesen war, um seine Eltern, seine Tanten und Onkel zu besuchen. Seine beiden Cousinen lebten nur ein paar Meilen die Küstenstraße hinunter, aber es schien Jahre, nicht Wochen her zu sein, seit er sie gesehen hatte.

Morgana wurde immer runder. Die Schwangerschaft bekam ihr. Sebastian grinste. Ob sie wohl ahnte, dass sie Zwillinge erwartete?

Anastasia wusste es bestimmt. Sie wusste alles über Heilkunst und traditionelle Medizin. Aber sie würde nichts sagen, es sei denn, Morgana fragte sie direkt.

Er wollte sie sehen. Beide. Jetzt. Sebastian verspürte Lust, Zeit mit seinem Schwager zu verbringen, obwohl er wusste, dass Nash gerade mal wieder bis über beide Ohren in der Arbeit an seinem neuen Drehbuch steckte. Also, er könnte sich einfach auf sein Motorrad schwingen, nach Monterey fahren und in die Vertrautheit seiner Familie eintauchen. Die beiden Frauen, die gerade auf dem Weg zu ihm waren, mit ihren Bitten um Hilfe und ihren Ängsten, wollte er um jeden Preis vermeiden.

Aber er würde es nicht tun.

Er war durchaus kein uneigennütziger Mensch, hatte das auch nie von sich behauptet. Aber er verstand die Verantwortung, die ihm mit der Gabe übertragen worden war.

Man konnte nicht zu jedem Ja sagen. Falls man das tat, würde man langsam, aber sicher verrückt werden. Dann gab es Fälle, da sagte man Ja, aber der Pfad war blockiert. Das war Schicksal. Und es gab Fälle, da wollte man ablehnen, unbedingt, aus Gründen, die einem selbst nicht so ganz klar waren. Und gleichzeitig wusste man, dass es völlig gleichgültig war, was man selbst wollte.

Das war auch Schicksal.

Er hatte das ungute Gefühl, dass dieser Fall hier einer von denen war, wo seine eigenen Wünsche nicht die geringste Rolle spielten.

Er hörte den Wagen, der sich den Hügel hinaufquälte, bevor er ihn sah. Fast hätte er gelächelt. Sebastian hatte sein Haus bewusst hoch und abgelegen gebaut, der schmale Weg zu seinem Heim wirkte nicht sehr einladend. Selbst ein Seher hatte das Recht auf Privatsphäre.

Er erblickte den Wagen, ein grauer Punkt auf der Straße, und seufzte. Da waren sie also. Je schneller er sie wieder loswurde, desto besser.

Er verließ sein Schlafzimmer und stieg die Treppen hinab. Ein großer Mann, fast zwei Meter, mit schmalen Hüften und breiten Schultern. Das schwarze Haar dramatisch aus der Stirn gekämmt, dunkle Locken, die sich über den Kragen seines Jeanshemdes kringelten. Er hatte, wie er hoffte, eine höfliche, aber abweisende Miene aufgesetzt. Das markante Gesicht, ein Erbe seiner keltischen Vorfahren, war tief gebräunt.

Mit seiner schlanken Hand, an deren einem Finger ein Amethystring aufblitzte, fuhr Sebastian über das glatte hölzerne Geländer der Treppe. Ebenso wie die Sonne liebte er auch Strukturen, weiche und raue. Die letzten beiden Stufen übersprang er leichtfüßig.

Bis das Auto am Haus angekommen war und Mel das erste Erstaunen über die exzentrische, fließende Architektur des Hauses verarbeitet hatte, stand Sebastian auf der Veranda.

Das Haus wirkte, als hätte ein Kind eine Hand voll Bauklötze genommen und sie einfach hingeworfen, sodass sie wie zufällig zu einem faszinierenden Gebilde gefallen waren. Dieser Vergleich drängte sich Mel auf, als sie aus dem Wagen stieg und der Duft von Blumen, Pferden und des Meeres sie übermannte.

Sebastian ließ seinen Blick kurz und mit dem leisesten Hauch eines Stirnrunzelns über Mel wandern, dann wandte er sich Rose zu.

»Mrs. Merrick?«

»Ja, Mr. Donovan.« Rose spürte den dicken Kloß in ihrer Kehle aufsteigen, der sich in ein Schluchzen verwandeln wollte. »Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, mir Ihre Zeit zu gewähren.«

»Ich weiß nicht, ob es liebenswürdig ist oder nicht.« Er hakte die Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Jeans und musterte die beiden Frauen. Rose Merrick trug ein einfaches, akkurates blaues Kleid. Man konnte sehen, dass sie abgenommen hatte. Sie hatte sich offensichtlich Mühe mit ihrem Make-up gegeben, aber das würde sicher nicht lange halten, wenn man bedachte, dass ihr Tränen in den Augen standen.

Er wehrte sich gegen die Welle des Mitgefühls, die ihn überkam.

Die andere Frau hatte keinen großen Wert auf ihre Erscheinung gelegt. Was sie umso interessanter machte. Wie Sebastian selbst, so trug auch sie Jeans und Stiefel, beides weit davon entfernt, neu zu sein. Das T-Shirt musste einmal von einem leuchtenden Rot gewesen sein, jetzt war es verblasst und ausgewaschen. Kein Schmuck, kein Make-up. Aber dafür eine Einstellung, die ganz deutlich zu spüren war. Eine negative Einstellung.

Aha, du bist also die Harte. Er suchte nach ihrem Namen und wurde von einem Strudel von Gedanken mitgerissen, der ihm sagte, dass sie gefühlsmäßig genauso aufgewühlt war wie Rose Merrick.

Großartig.

Rose kam auf ihn zu. Sebastian wollte zurückweichen, unbeteiligt bleiben, aber er hatte den Kampf schon verloren. Sie versuchte die Tränen zurückzuhalten, diese Tränen, von denen er wusste, dass ihr Herz sie weinte.

Nichts auf der Welt machte einen Mann so schwach wie eine mutige Frau.

»Mr. Donovan, ich will nicht zu viel Ihrer Zeit rauben, ich möchte nur …«

Mel stand an Roses Seite, als deren Stimme erstarb. Der Blick, den sie Sebastian zuwarf, war alles andere als freundlich. »Werden Sie uns hineinbitten, oder müssen wir hier …?«

Jetzt war es an Mel, den Satz nicht zu Ende zu sprechen. Aber nicht Tränen hatten ihre Stimme erstickt, sondern der Schock.

Seine Augen. An mehr konnte sie nicht denken. Dachte es so klar und so laut, dass Sebastian den Widerhall dieser Worte in seinem Kopf hören musste.

Lächerlich, schalt sie sich und mühte sich um Fassung. Irgendein dummer Traum, und sie vermischte Realität und Traum. Es war nur, weil er so unglaublich schöne Augen hatte. Beunruhigend schöne Augen.

Sebastian musterte sie einen Moment länger, doch er drang nicht tiefer als bis zu ihrem Gesicht, obwohl er neugierig war. Eigentlich war sie ziemlich attraktiv, selbst im grellen Sonnenlicht. Vielleicht lag es an dem trotzigen Ausdruck in den grünen Augen, der ihn so faszinierte. Oder an dem herausfordernd vorgereckten Kinn mit dem sexy kleinen Grübchen. Ja, attraktiv war das richtige Wort. Auch wenn ihr Haar kürzer war als seines und vermuten ließ, dass sie mit der Küchenschere selbst Hand angelegt hatte.

Er wandte sich ab und schenkte Rose ein kleines Lächeln. »Natürlich. Bitte, kommen Sie herein.« Mit Rose an der Hand ging er ins Haus und überließ es Mel, ihnen zu folgen.

Was sie tat. Es hätte ihn sicherlich amüsiert zu sehen, wie unsicher sie die Verandastufen emporstieg und erstaunt in den geräumigen Raum mit den großen Oberlichtern und der offenen Galerie trat. Sie wünschte sich, sie wäre nicht so überwältigt von diesem warmen honigfarbenen Ton der Wände, der das Licht so weich und sinnlich wirken ließ. Am anderen Ende des Raumes stand eine überlange Couch, in tiefem Königsblau, zu der Sebastian Rose jetzt über einen riesigen Teppich in zarten Pastellfarben führte.

Alles war blitzblank, aber die Ordnung wirkte nicht pedantisch. Moderne Skulpturen aus Marmor, Holz und Bronze waren dekorativ zwischen den mit Sicherheit sehr wertvollen antiken Möbeln aufgestellt. Alles hatte Übergröße, was bewirkte, dass der Raum trotz seiner riesigen Maße gemütlich wirkte.

Hier und da lagen und standen Kristalle, manche so groß, dass ein Mann allein sie nicht würde heben können, andere klein genug, um in die Hand eines Kindes zu passen. Mel fand das Blinken und Blitzen faszinierend, die Anordnung zu mittelalterlich anmutenden Städten und kleinen Gebirgen bezaubernd.

Ihr wurde bewusst, dass Sebastian sie mit einem geduldig-amüsierten Funkeln in den Augen ansah. »Hübsch haben Sie’s hier«, sagte sie mit einem Achselzucken.

Jetzt verzogen sich auch seine Lippen zu einem Lächeln. »Danke. Setzen Sie sich doch.«

Die Couch mochte vielleicht eine Sonderanfertigung sein und Überlänge haben, aber Mel setzte sich auf einen der einzelnen Sessel auf der anderen Seite des mit reichen Schnitzereien verzierten Couchtisches.

Sebastian ließ seinen Blick noch einen Moment auf ihr ruhen, dann wandte er sich an Rose. »Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten, Mrs. Merrick? Oder vielleicht etwas Kühles?«

»Nein. Nein, danke, bitte machen Sie sich keine Umstände. Ich weiß, wir behelligen Sie. Aber ich habe von Ihnen gelesen. Und meine Nachbarin, Mrs. Ott, hat erzählt, wie Sie im letzten Jahr der Polizei geholfen haben, den Jungen zu finden. Den, der ausgerissen war.«

»Joe Cougar.« Sebastian setzte sich neben Rose. »Ja, er wollte nach San Francisco, um seinen Eltern eins auszuwischen. Wahrscheinlich muss das so sein, wenn man jung ist.«

»Aber er war fünfzehn.« Roses Stimme brach. Sie presste die Lippen zusammen und rang um Fassung. »Ich … ich will nicht sagen, dass seine Eltern keine Angst um ihn gehabt haben, aber er war fünfzehn. Mein David ist nur ein Baby. Er schlief in seinem Laufstall.« Sie sah Sebastian flehend an. »Ich bin nur kurz hineingegangen, weil das Telefon läutete, er stand doch direkt neben der Tür. Es war nicht so, als hätte ich ihn auf der Straße allein gelassen. Er war neben der Tür. Ich war nur eine Minute weg …«

»Rose.« Obwohl sie es vorgezogen hätte, auf Abstand zu Sebastian zu bleiben, ging Mel sofort zu ihrer Freundin. »Es ist nicht deine Schuld. Jeder weiß das.«

»Ich habe ihn allein gelassen«, widersprach Rose leise. »Ich habe nicht auf mein Baby aufgepasst, und nun ist er verschwunden.«

»Mrs. Merrick, Rose … Sind Sie eine schlechte Mutter?« Sebastian stellte diese Frage beiläufig und sah das schockierte Entsetzen in Roses Augen. Und die Wut in Mels.

»Nein! Nein, ich liebe David! Ich würde alles für ihn tun, er ist mein Ein und Alles. Ich …«

»Wenn das so ist, dann hören Sie auch damit auf, sich Vorwürfe zu machen.« Er nahm ihre Hand und hielt sie so sanft und mitfühlend, dass die drohenden Tränen verschwanden. »Es ist nicht Ihre Schuld. Dass Sie sich das einreden wollen, hilft nicht dabei, David zu finden.«

Er hatte genau die richtigen Worte gewählt. Mels Wut verpuffte mit einem Schlag.

»Also werden Sie mir helfen?«, murmelte Rose. »Die Polizei sucht schon lange. Und Mel tut alles, was in ihrer Macht steht. Aber David ist immer noch nicht wieder zu Hause.«

Mel also. Ein interessanter Name für eine große schlanke Blondine mit mürrischem Gesicht.

»Wir werden David finden.« Aufgeregt sprang Mel auf. »Wir haben Spuren, schwache zwar nur, aber …«

»Wir?«, unterbrach Sebastian sie. Ein Bild drängte sich ihm auf, ganz kurz nur – wie sie eine Pistole mit beiden Händen hielt und zielte, die Augen kalt wie grünes Eis. »Sind Sie bei der Polizei, Miss …?«

»Sutherland. Ich bin Privatdetektivin.« Sie spie ihm die Worte förmlich entgegen. »Sollten Sie so etwas nicht wissen?«

»Mel …«, mischte sich Rose warnend ein.

»Ist schon in Ordnung.« Sebastian tätschelte beruhigend Roses Hand. »Ich kann sehen, oder ich kann fragen. Bei Fremden ist es eigentlich höflicher zu fragen, meinen Sie nicht auch?«

»Sicher.« Mit einem abfälligen Schnauben ließ Mel sich wieder auf den Sessel fallen.

»Ihre Freundin ist eine Zynikerin«, bemerkte Sebastian. »Ein wenig Zynismus kann manchmal ganz amüsant sein, aber manchmal auch sehr plump.« Er bereitete sich innerlich darauf vor, Rose eine Absage zu geben. Er konnte sich einfach nicht noch einmal einem solchen Trauma aussetzen.

Mel war es, die alles änderte. Wahrscheinlich genau die Rolle, die ihr zugedacht war, wie er annahm.

»Ich würde einen Menschen nicht als Zyniker bezeichnen, weil er einen Scharlatan erkennt, der als barmherziger Samariter daherkommt.« Ihre Augen sprühten Funken, als sie sich vorlehnte. »Diese ganze Geschichte mit dem Sehen ist genauso falsch wie ein Magier in einem billigen Varieté, der auf der Bühne Kaninchen aus seinem Zylinder zieht.«

Sebastian zog eine Augenbraue in die Höhe, das einzige Anzeichen von Ärger. »Ist dem so, ja?«

»Täuschung bleibt Täuschung, Mr. Donovan. Hier geht es um das Leben eines Babys, und ich werde nicht zulassen, dass Sie das benutzen, um sich mit Ihrem Hokuspokus in Szene zu setzen und in die Schlagzeilen zu kommen.« Mel stand auf, zitternd vor unterdrückter Wut. »Entschuldige, Rose, aber mir liegt zu viel an dir und an David. Ich werde nicht dastehen und zusehen, wie dieser Typ dich über den Tisch zieht.«

»Er ist mein Baby.« Die Tränen, gegen die Rose gekämpft hatte, ließen sich nicht mehr aufhalten. »Ich muss wissen, wo er ist. Muss wissen, ob es ihm gut geht oder ob er Angst hat.« Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Er hat noch nicht einmal seinen Lieblingsteddy bei sich.«

Mel verfluchte sich selbst, verfluchte ihr Temperament, verfluchte Sebastian Donovan und die Welt im Allgemeinen. Aber als sie neben Rose in die Hocke ging und deren Hand nahm, war ihre Stimme sanft und leise. »Es tut mir leid, Liebes. Ich weiß, wie viel Angst du hast. Ich habe auch Angst. Wenn du möchtest, dass Mr. Donovan …«, fast erstickte sie an dem Wort, »… hilft, dann wird er helfen.« Sie sah mit trotzigem, wütendem Gesicht zu Sebastian. »Das werden Sie doch, oder?«

»Ja.« Er nickte langsam und ließ dem Schicksal seinen Lauf. »Ja, ich werde helfen.«

Es gelang ihm, Rose zu überreden, etwas Wasser zu trinken und sich zu beruhigen. Während Mel mit grimmiger Miene zum Fenster hinausstarrte, holte Rose einen kleinen gelben Plüschteddy aus ihrer Tasche hervor.

»Das ist Davids Lieblingsspielzeug. Und das hier …«, sie zog ein Foto aus ihrer Brieftasche, »… ist David. Ich dachte … Mrs. Ott meinte, Sie würden irgendetwas brauchen.«

»Es hilft, ja.« Er nahm den Teddy in die Hand und spürte augenblicklich das Ziehen in seinem Magen. Roses Angst, ihre Trauer. Das würde er ertragen müssen. Und noch mehr. Aber er betrachtete das Foto nicht. Noch nicht. »Lassen Sie mir die Sachen da. Ich melde mich.« Er half ihr aufzustehen. »Sie haben mein Wort. Ich werde tun, was ich tun kann.«

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Jetzt habe ich etwas, worauf ich hoffen kann. Stan und ich, wir haben etwas Geld gespart, und …«

»Darüber reden wir später.«

»Rose, warte doch im Wagen auf mich«, warf Mel leise ein. Allerdings konnte Sebastian sehen, dass sie alles andere als ruhig war. »Ich werde Mr. Donovan die Fakten berichten, die ich kenne. Das hilft ihm vielleicht auch weiter.«

»Ja, sicher.« Die Andeutung eines Lächelns huschte über Roses Gesicht. »Danke.«

Mel wartete, bis Rose außer Hörweite war, dann legte sie los. »Wie viel, glauben Sie, können Sie aus ihr herausquetschen für diese Show? Sie arbeitet als Kellnerin, ihr Mann ist Automechaniker.«

Er lehnte sich lässig an den Türrahmen. »Miss Sutherland, haben Sie den Eindruck, ich benötigte Geld?«

Sie schnaubte. »Nein, ich bin sicher, Sie haben es bündelweise. Für Sie ist das alles nur ein Spiel.«

Seine Finger legten sich mit eisernem Griff um ihren Arm. »Das ist kein Spiel.« In seiner tiefen Stimme schwang mühsam kontrollierte Wut mit. »Was ich habe, was ich bin, ist kein Spiel. Und Kleinkinder aus Laufställen zu entführen ist auch kein Spiel.«

»Ich werde nicht zulassen, dass man Rose noch mehr verletzt.«

»In diesem Punkt sind wir uns also einig. Wenn Sie so wenig von mir halten, warum haben Sie sie hergebracht?«

»Weil sie nun einmal meine Freundin ist. Und weil sie mich darum gebeten hat.«

Er akzeptierte ihre Begründung mit einem knappen Nicken. Loyalität war auch etwas, das er von ihr ausströmen fühlte. »Meine Geheimnummer – die haben also Sie ausfindig gemacht?«

Sie verzog abfällig die Lippen. »So etwas gehört zu meinem Job.«

»Und? Sind Sie gut in Ihrem Job?«

»Darauf können Sie Gift nehmen.«

»Sehr schön. Denn ich bin auch gut in dem, was ich tue. Wir werden also zusammenarbeiten.«

»Wie kommen Sie auf die Idee?«

»Weil Ihnen an diesem Fall liegt. Und sollte auch nur die geringste Möglichkeit bestehen, dass ich tatsächlich das bin, was von mir behauptet wird, werden Sie es nicht wagen, es zu ignorieren.«

Sie spürte die Hitze, die von seinen Fingern ausging. Wie Feuer schien sie sich durch ihre Haut zu brennen, bis auf die Knochen. Ihr wurde bewusst, dass sie Angst hatte. Nicht in körperlicher Hinsicht. Nein, es ging tiefer. Sie hatte Angst, weil sie noch nie eine solche Macht gespürt hatte.

»Ich arbeite allein.«

»Ich auch«, erwiderte er ruhig. »In der Regel. Aber für jede Regel gibt es eine Ausnahme. Deshalb werden wir beide hier eine Ausnahme machen.« Er tauchte ein, schnell und gewandt wie eine Schlange. Nur ein kleines Ding wollte er finden, um es ihr unter die Nase zu reiben. Sobald er es gefunden hatte, lächelte er. »Ich melde mich. Schon bald, Mary Ellen.«

Er genoss es zu sehen, wie sie den Mund aufklappte, die Augen zusammenkniff und angestrengt nachdachte, ob Rose während des Gesprächs vielleicht ihren vollen Namen benutzt hatte. Aber sie erinnerte sich nicht, war sich nicht sicher. Verwirrt zog sie mit einem Ruck ihren Arm zurück.

»Verschwenden Sie nicht meine Zeit, Donovan. Und nennen Sie mich gefälligst nicht so.« Sie warf den Kopf in den Nacken und stolzierte zu ihrem Wagen.

Vielleicht konnte sie keine Gedanken lesen, aber sie wusste, dass er hinter ihrem Rücken grinste.

2. KAPITEL

Sebastian stand noch lange auf der Veranda und sah dem kleinen Wagen nach. Er war amüsiert und gleichzeitig irritiert über die wütenden Funken, die Mel in der Luft zurückgelassen hatte.

Viel Willenskraft, dachte er. Und überschäumende Energie. Ein friedfertiger Mann würde sich bei einer solchen Frau völlig verausgaben. Sebastian betrachtete sich als friedfertigen Mann. Nicht, dass es ihn nicht reizte, sie ein wenig zu provozieren. So wie ein kleiner Junge in glühenden Kohlen herumstocherte, um zu sehen, ob er nicht eine Flamme zum Lodern bringen könnte.

Manchmal lohnte sich eben das Risiko, sich die Finger zu verbrennen.

Aber im Moment war er einfach nur müde. Zu müde, um so etwas genießen zu können. Schon jetzt war er wütend auf sich, weil er sich hatte einwickeln lassen. Das war nur geschehen, weil die beiden Frauen zusammen aufgetreten waren. Die eine so voller Angst und verzweifelter Hoffnung, die andere vor Wut schäumend und mit verächtlichem Unglauben. Er hätte sowohl mit der einen wie auch mit der anderen fertig werden können, aber vor dieser Kombination hatte er kapitulieren müssen.

Also würde er sehen. Obwohl er sich selbst eine lange Pause versprochen hatte, bevor er den nächsten Fall übernahm. Und er würde beten, dass er mit dem, was er sehen würde, leben konnte.

Aber erst einmal würde er sich Zeit nehmen, einen langen, faulen Morgen, um seinem erschöpften Geist und seiner zerrissenen Seele die Chance zu heilen zu gönnen.

Hinter dem Haus lag eine Weide, mit einem niedrigen, weiß gestrichenen Stall. Als er jetzt näher kam, hörte er schon das Wiehern und musste unwillkürlich lächeln.

Da waren sie, der kraftvolle schwarze Hengst und die stolze weiße Stute. Beide standen so still, dass sie wie Statuen wirkten, eine aus Ebenholz und eine aus schimmerndem Alabaster. Dann schlug die Stute mit dem langen Schwanz und kam zum Zaun gelaufen.

Beide hätten ohne Schwierigkeiten über den Zaun springen können. Sie hatten es mehr als einmal getan – mit ihm im Sattel. Aber zwischen ihnen herrschte Vertrauen. Das Einverständnis, dass dieser Zaun nicht Käfig, sondern Zuhause bedeutete.

»Hallo, Schönheit.« Sebastian streichelte den langen, schlanken Hals. »Hast du aufgepasst, dass dein Mann nicht über die Stränge schlägt, Psyche?«

Sie schnaubte sanft in seine Handfläche. In ihren dunklen Augen sah er die Freude – und etwas, das er als Humor interpretierte. Sie wieherte leise, als er sich über den Zaun schwang. Dann stand sie ruhig da, während er über ihre Flanken und ihren gewölbten Bauch streichelte.