Die Donovans 3. Das geheime Amulett - Nora Roberts - E-Book

Die Donovans 3. Das geheime Amulett E-Book

Nora Roberts

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Beschreibung

Der Donovan-Clan: Eine bezaubernde Familiensaga mit einem Hauch Magie.

Anastasia Donovan hat eine besondere Fähigkeit: Das Heilen und das Empfinden von Schmerzen. Sie möchte nicht, dass viele Menschen ihr Geheimnis kennen. Auch deshalb lebt sie zurückgezogen. Als ihr neuer Nachbar Boone und dessen kleine Tochter Jessie nebenan einziehen, ist Anastasia sofort begeistert von dem kleinen Wirbelwind und ihrem Vater. Der attraktive Boone und sie kommen sich immer näher. Wie wird der Mann, den sie liebt, reagieren, wenn er erfährt, was sie ihm bisher verheimlicht hat? Aber wie groß wird seine Enttäuschung sein, wenn sie es ihm weiter verschweigt?

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Seitenzahl: 329

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Nora Roberts

Die Donovans 3

Das geheime Amulett

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Sonja Sajlo-Lucich

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe Charmed ist bei Silhouette Books, Toronto, erschienen.
Die deutsche Erstausgabe ist im MIRA Taschenbuch erschienen.
Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Copyright © 1992 by Nora Roberts Published by Arrangement with Eleanor Wilder Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by MIRA Taschenbuch in der Cora Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Fotos von Thinkstock Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN: 978-3-641-12061-0 V003
www.penguinrandomhouse.de/nora-roberts

PROLOG

Magie existiert. Wer sollte das anzweifeln, wenn es einen Regenbogen und wilde Blumen, die Musik des Windes in den Bäumen und die stille Erhabenheit der Sterne gibt?

Jeder, der liebt, spürt, wie die Magie ihn berührt. Es ist ein so selbstverständlicher und doch so außergewöhnlicher Teil unseres Lebens.

Dann gibt es jene, die mehr besitzen. Die auserwählt wurden, ein Erbe zu empfangen, seit endlosen Zeiten über die Jahrhunderte weitergereicht. Ihre Vorfahren waren Merlin, der Zauberer, Ninian, die Fee, Rhiannon, die Elfenkönigin, die Wegwarte aus Deutschland, jene jungfräuliche Maid, die, zur Blume verwandelt, nach ihrem Liebsten Ausschau hält, die Dschinns aus Arabien. In diesen Auserwählten pulsiert das Blut von Finn, dem Kelten, der ehrgeizigen Morgan le Fay und anderer, deren Namen nur im Geheimen geflüstert werden. Ihre Kräfte sind wunderbar und durchdringen alles.

Als die Welt noch jung war und Magie so selbstverständlich wie der Regen und die Sonne, wie der Tag und die Nacht, tanzten Elfen in den Wäldern und vereinten sich – manchmal aus Mutwilligkeit, manchmal aus Liebe – mit den Sterblichen. Sie tun es heute noch.

Ihre Linie reichte weit zurück. Ihre Kraft war uralt. Schon als Kind verstand sie, dass es einen Preis für solche Gaben zu zahlen gab. Ihre liebenden Eltern konnten diesen Preis weder mindern noch selbst bezahlen, konnten nur lieben, unterweisen und zusehen, wie das junge Mädchen zur jungen Frau heranwuchs. Die Eltern konnten nur dabeistehen und hoffen, während sie die Freuden und Leiden dieser faszinierendsten aller Reisen durchmachte.

Und da sie mehr als andere fühlte, weil es das war, was ihre Gabe ihr abverlangte, lernte sie den Frieden zu schätzen und zu lieben.

Als erwachsene Frau lebte sie ein ruhiges, abgeschiedenes Leben, war oft allein, doch ohne den Schmerz der Einsamkeit zu verspüren.

Als Hexe akzeptierte sie ihr Geschenk und vergaß nie die Verantwortung, die mit dieser Gabe einherging.

Manchmal. Nur manchmal sehnte sie sich, so wie Sterbliche und andere seit Anbeginn der Zeiten, nach der einen, der wahren, bedingungslosen Liebe. Denn sie wusste besser als die meisten, dass es keine Macht, keine Beschwörung und keinen Zauber gab, die mächtiger und wirkungsvoller waren als die Liebe eines reinen und weiten Herzens.

1. KAPITEL

Als Anastasia das kleine Mädchen neugierig durch die Heckenrosen lugen sah, ahnte sie nicht, dass dieses Kind ihr Leben verändern würde. Sie arbeitete in ihrem Garten, wie so oft, und summte vor sich hin, genoss den Duft der Blumen und die Wärme der Erde. Die Septembersonne schien, das leise Rauschen der Wellen, die an die Felsen am Ende des abfallenden Hangs schlugen, war sanfter Hintergrund für das Summen der Bienen und den Gesang der Vögel. Der große graue Kater lag ausgestreckt dösend neben ihr, die Schwanzspitze zuckte ab und an, wohl in einem angenehmen Katzentraum. Über all dem lag eine fast träumerische Idylle.

Ein Schmetterling landete auf ihrer Hand, und sacht streichelte sie mit einer Fingerspitze über die hauchfeinen blauen Ränder der Flügel. Als der Falter sich wieder in die Lüfte erhob, hörte sie das Rascheln. Und als sie hinüberblickte, entdeckte sie ein kleines Gesicht, das durch die Hecke aus Rosen spähte.

Ana musste lächeln. Ein hübsches Gesicht mit einem kleinen, aber energischen Kinn, einer vorwitzigen Stupsnase und großen Augen, von der gleichen Farbe wie der Spätsommerhimmel. Ein seidig glänzender brauner Haarschopf vervollständigte das Bild.

Das Mädchen lächelte zurück, der Schalk blitzte in den blauen Augen.

»Hallo«, sagte Ana freundlich und mit einer Selbstverständlichkeit, als würden jeden Tag kleine Mädchen durch die Rosenhecke auftauchen.

»Hi.« Die Stimme des Mädchens war hell und klar und klang ein wenig atemlos. »Du kannst Schmetterlinge fangen? Ich habe noch nie einen so streicheln können.«

»Es wäre auch sehr unhöflich, sie zu streicheln, wenn sie dich vorher nicht dazu einladen würden, oder?« Ana strich sich mit dem Arm das Haar aus der Stirn. Am Tag zuvor hatte sie einen Umzugswagen ein Stück weiter oben an der Straße gesehen. Sie nahm an, dass sie gerade einen ihrer neuen Nachbarn kennenlernte. »Seid ihr nebenan eingezogen?«

»Ja. Wir werden jetzt hier wohnen. Ich mag das. Vom Fenster meines Zimmers kann ich direkt auf das Wasser blicken. Ich habe sogar schon eine Robbe gesehen. In Indiana gab’s die nur im Zoo. Darf ich zu dir rüberkommen?«

»Aber natürlich.« Ana legte die kleine Gartenschaufel beiseite, während das Mädchen sich durch die Hecke zwängte. »Wen haben wir denn hier?«, fragte sie und deutete auf das zappelnde Fellbündel, das das Mädchen im Arm hielt.

»Das ist Daisy.« Das Kind drückte dem Welpen einen liebevollen Kuss auf den Kopf. »Sie ist ein Golden Retriever. Ich durfte sie mir aussuchen, bevor wir aus Indiana weggegangen sind. Sie ist mit uns im Flugzeug geflogen, und wir hatten beide überhaupt keine Angst. Ich muss auf sie aufpassen und sie füttern und ihr frisches Wasser geben und sie bürsten und alles so was, denn ich habe die Verantwortung für sie.«

»Sie ist sehr hübsch«, sagte Ana ernsthaft. Und sicher sehr schwer für ein Mädchen von fünf oder sechs. Sie streckte die Arme aus. »Darf ich?«

»Magst du Hunde?« Das Mädchen plapperte munter weiter, während es den Hund in Anas Arme legte. »Ich mag Hunde und Katzen und alle Tiere. Sogar die Hamster von Billy Walker. Irgendwann werde ich vielleicht sogar ein eigenes Pferd kriegen. Wenn ich ein paar Jahre älter bin. Wir werden sehen. Das sagt mein Daddy immer: ›Wir werden sehen‹.«

Ana streichelte den Welpen und wurde mit einem begeisterten feuchten Hundekuss übers ganze Gesicht belohnt. Sie war hingerissen von dem Kind. »Ich mag Hunde auch, und Katzen und alle Tiere«, sagte sie lächelnd. »Mein Cousin hat Pferde. Zwei ganz große und außerdem auch ein neues Fohlen.«

»Wirklich?« Das Mädchen setzte sich ins trockene Gras und begann, den großen Kater zu streicheln. »Ob ich sie sehen darf?«

»Er wohnt nicht weit von hier entfernt, vielleicht klappt es ja. Du musst aber vorher deine Eltern fragen.«

»Meine Mommy ist im Himmel. Sie ist jetzt ein Engel.«

Mitgefühl versetzte Anas Herz einen Stich. Sie strich der Kleinen über den Kopf und öffnete sich. Aber da war kein Schmerz, und das war eine Erleichterung. Da waren nur gute Erinnerungen. Bei der Berührung sah das Mädchen auf und lächelte.

»Ich heiße Jessica. Aber du kannst mich ruhig Jessie nennen.«

»Ich bin Anastasia.« Und weil sie nicht widerstehen konnte, beugte sie sich vor und setzte einen kleinen Kuss auf die vorwitzige Stupsnase. »Aber du kannst mich ruhig Ana nennen.«

Nachdem die offizielle Vorstellung also erledigt war, bombardierte Jessie Ana mit Fragen und gab mit ihrem munteren Geplauder großzügig Auskunft über sich selbst. Sie hatte gerade Geburtstag gehabt und war sechs geworden. Nächsten Dienstag würde sie in die erste Klasse der neuen Schule kommen. Lila war ihre Lieblingsfarbe, und Bohnen konnte sie überhaupt nicht ausstehen.

Ob Ana ihr beibringen könnte, wie man Blumen pflanzte? Wie hieß denn die Katze? Ob sie auch ein kleines Mädchen hätte? Und warum nicht?

So saßen sie gemeinsam im Sonnenschein, ein kleiner Kobold in pinkfarbenen Shorts und eine junge Frau mit Erde an den Händen und auf den gebräunten Beinen, während Kater Quigley Hund Daisys tollpatschige Aufforderungen zum Spiel hoheitsvoll ignorierte.

Anas langes, weizenblondes Haar wurde von einem Band im Nacken zusammengehalten, aus dem sich einige Strähnen gelöst hatten, die der Wind um ihr Gesicht spielen ließ. Sie war ungeschminkt. Ihre überwältigende, zarte Schönheit war so natürlich wie ihre Macht. Eine Kombination aus keltischen Gesichtszügen, grauen Augen, dem vollen, schön geschwungenen Mund der Donovans – und noch etwas anderes, etwas Geheimnisvolles, das sich nur erahnen ließ. Ihr Gesicht war das Spiegelbild ihres weiten Herzens.

Der Welpe marschierte zu einem Kräuterbeet und schnüffelte aufgeregt, Ana lachte über etwas, das Jessie gerade erzählte.

»Jessie!« Der Ruf klang über die Rosenhecke. Die Stimme eines Mannes, tief, voll und eindeutig voller Ärger und Sorge. »Jessica Alice Sawyer! Kannst du mir mal erklären, was du da machst?«

»Oh, oh. Er hat meinen vollen Namen benutzt.« Doch Jessies Augen funkelten verschmitzt, als sie auf die Füße sprang. Ganz augenscheinlich fürchtete sie keine Schelte.

»Ich bin hier, Daddy! Hier bei Ana. Komm doch bitte auch mal her.«

Nur einen Augenblick später ragte ein Mann über die Hecke. Es benötigte keiner besonderen Gabe, um die Wellen der Erleichterung und des Ärgers zu spüren. Ana blinzelte kurz, überrascht, dass dieser raubeinig wirkende Mann der Vater der quicklebendigen kleinen Elfe sein sollte, die jetzt neben ihr auf und ab hüpfte.

Vielleicht liegt es an dem Zweitagebart, dass er so gefährlich aussieht, dachte sie. Aber nein, korrigierte sie sich. Selbst unter dem dunklen Schatten war ein markantes Gesicht mit scharfen Konturen und harten Linien zu erkennen, volle Lippen, die jetzt ärgerlich zusammengepresst waren. Nur die Augen waren die gleichen wie die seiner Tochter, von einem strahlenden hellen Blau, jetzt allerdings hatte die Ungeduld sie düsterer werden lassen. Im Sonnenlicht blitzten satte Rottöne in dem dunklen, wirren Haar auf, durch das er sich jetzt seufzend fuhr.

Von ihrem Platz auf dem Rasen wirkte der Mann riesig auf Ana. Durchtrainiert und beunruhigend kräftig, in einem zerrissenen T-Shirt und ausgewaschenen Jeans, deren Naht an einer Seite aufgeplatzt war.

Er warf einen langen, verärgerten und augenscheinlich misstrauischen Blick auf Ana, bevor er sich Jessie zuwandte. »Jessica, hatte ich dir nicht gesagt, du sollst im Garten bleiben?«

»Stimmt schon«, gab Jessie bereitwillig zu. »Aber Daisy und ich haben Ana singen gehört, und als wir nachgesehen haben, da hatte sie diesen Schmetterling auf ihrer Hand. Und sie hat uns erlaubt, herüberzukommen. Sie hat eine Katze, siehst du? Und ihr Cousin hat Pferde. Und ihr Cousine hat eine Katze und einen Hund.«

Ganz offensichtlich an Jessies unaufhörliches Geplapper gewöhnt, wartete ihr Vater auf das Ende des Wortschwalls. »Wenn ich dir sage, du sollst im Garten bleiben, und du dann nicht da bist, mache ich mir Sorgen.«

Es war eine einfache Feststellung, in ruhigem Ton gemacht. Ana respektierte den Mann dafür, dass er weder seine Stimme anhob noch mit Strafe drohte, um seinen Standpunkt klarzumachen. Und sie fühlte sich genauso gescholten wie Jessie.

»Es tut mir leid, Daddy«, murmelte die Kleine mit hängendem Kopf.

»Ich muss mich wohl auch entschuldigen, Mr. Sawyer.« Ana erhob sich und legte Jessie eine Hand auf die Schulter. Sah ganz so aus, als steckten sie gemeinsam in dieser Patsche. »Ich habe sie eingeladen herüberzukommen, und ich habe ihre Gesellschaft so genossen, dass ich mir keine Gedanken darüber gemacht habe, jemand könnte sie vielleicht suchen.«

Er sagte nichts, musterte sie nur durchdringend mit diesen hellen Augen, bis sie sich am liebsten unter diesem Blick gewunden hätte. Als er sich wieder Jessie zuwandte, wurde Ana klar, dass sie den Atem angehalten hatte.

»Du solltest jetzt zurückkommen und Daisy füttern.«

»Okay.« Jessie hob den sich wehrenden Welpen auf die Arme und hielt mitten im Schritt inne, als ihr Vater sie eindringlich ansah.

»Und du solltest Mrs. …?«

»Miss«, half Ana aus. »Donovan. Anastasia Donovan.«

»… Miss Donovan danken, dass sie dich ertragen hat.«

»Danke, dass du mich ertragen hast, Ana.« Jessies Ton war sehr, sehr höflich, aber ihr Lächeln verschwörerisch. »Darf ich wiederkommen?«

»Das hoffe ich doch.«

Mit einem fröhlichen Lächeln trat Jessie durch die Rosenhecke zu ihrem Vater. »Ich wollte dir keine Sorgen machen, Daddy.«

Er beugte sich vor und versetzte ihrer Nase einen zärtlichen Stüber. »Freche Göre.« Ana hörte die grenzenlose Liebe, die in diesem entnervten Tadel lag.

Kichernd rannte Jessie mit dem Welpen auf dem Arm davon. Und Anas Lächeln erstarb, sobald sie den Kopf wandte und den Blick aus den kühlen blauen Augen auf sich liegen sah.

»Sie ist ein wunderbares Kind«, setzte Ana an und wurde sich verwundert bewusst, dass sie ihre feuchten Handflächen an den Shorts abwischen musste. »Ich entschuldige mich dafür, nicht darauf geachtet zu haben, dass Sie wissen, wo sie ist. Aber ich hoffe wirklich, Sie erlauben ihr, mich wieder zu besuchen.«

»Es oblag nicht Ihrer Verantwortung.« Seine Stimme war sachlich, weder freundlich noch unfreundlich. Ana hatte die unangenehme Gewissheit, genauestens abgeschätzt zu werden, von Kopf bis Fuß. »Jessie ist sehr neugierig und offen. Manchmal übertreibt sie in beidem. Ihr ist noch nicht bewusst, dass es Menschen auf dieser Welt gibt, die das ausnützen könnten.«

Jetzt in dem gleichen kühlen Ton, erwiderte Ana: »Ich weiß, was Sie meinen, Mr. Sawyer. Allerdings kann ich Ihnen versichern, dass es nicht meine Angewohnheit ist, kleine Mädchen zum Frühstück zu verspeisen.«

Er lächelte. Langsam, träge. Eine Bewegung der Lippen, die seinem Gesicht alle Härte nahm und es überwältigend attraktiv machte. »Nun, Miss Donovan, Sie entsprechen keineswegs meiner Vorstellung von einem Ungeheuer. Außerdem muss ich mich für das unhöfliche Benehmen entschuldigen. Ich hatte Angst um Jessie, daher war ich so unfreundlich. Es ist noch nicht einmal alles ausgepackt, und schon habe ich sie verloren.«

»Nur verlegt.« Ana wagte ein neuerliches vorsichtiges Lächeln. Sie sah zu dem zweigeschossigen Holzhaus hinüber, dessen weiße Fensterrahmen in der Sonne funkelten. Obgleich sie ihre Privatsphäre liebte, war sie doch froh, dass das Haus nicht lange leer geblieben war. »Es ist schön, ein Kind in der direkten Nachbarschaft zu haben, vor allem eines, das so nett und lebendig ist wie Jessie. Ich hoffe wirklich, sie darf wieder herkommen. Ich würde mich über ihre Gesellschaft freuen.«

»Manchmal frage ich mich, ob es überhaupt einen Unterschied macht, was ich ihr erlaube und was nicht.« Er schnippte leicht gegen eine der zarten Rosenblüten. »Solange Sie diese hier nicht durch eine drei Meter hohe Ziegelsteinwand ersetzen, wird sie wieder kommen.« Zumindest wusste er jetzt, wo er Jessie zu suchen hatte, sollte sie wieder verschwinden. »Und schicken Sie sie ruhig nach Hause, wenn sie Ihre Gastfreundschaft zu sehr strapaziert.« Er steckte die Hände in die Hosentaschen. »Jetzt sollte ich besser zum Haus zurückgehen, bevor sie unser Dinner an Daisy verfüttert.«

»Mr. Sawyer?«, rief Ana hinter ihm her, als er sich schon umgedreht hatte. »Willkommen in Monterey. Ich hoffe, Sie werden sich hier wohl fühlen.«

»Danke.« Mit langen Schritten ging er über den Rasen zurück zu der breiten Veranda und verschwand im Haus.

Ana blieb noch einen Moment regungslos stehen. Sie konnte sich nicht entsinnen, jemals eine solche Energie in der Luft gespürt zu haben. Mit einem langen Seufzer sammelte sie schließlich ihre Gartengeräte zusammen, während Quigley ihr um die Beine strich.

Auch hatte sie noch nie feuchte Hände bekommen, nur weil ein Mann sie angesehen hatte.

Allerdings hatte sie auch noch nie ein Mann auf diese Art angesehen. Als würde er sie ansehen, in sie hineinsehen und sie durchschauen, alles gleichzeitig. Ziemlich guter Trick, dachte sie, während sie die Geräte in ihr Gewächshaus zurückstellte.

Ein interessantes Paar, Vater und Tochter. Nachdenklich blickte sie durch die Glasscheiben des Treibhauses zu dem Nachbargebäude, das in der Mitte des angrenzenden großen Grundstücks gelegen war. Als direkter Nachbar war es nur natürlich, dass sie sich Gedanken machte und Fragen stellte. Aber Ana war auch gescheit genug, hatte durch eigene schmerzliche Erfahrungen gelernt, darauf zu achten, dass diese Gedanken einen gewissen Grad der normalen Freundlichkeit nicht überschritten.

Es gab nur wenige, die das akzeptierten, was nicht zum Normalen gehörte. Der Preis für ihre Gabe war ein sehr empfindsames und verletzliches Herz, das bereits die grausame Kälte der Zurückweisung hatte erleiden müssen.

Aber damit hielt sie sich nicht mehr auf. Nein, als sie an den Mann und sein Kind dachte, musste sie sogar lächeln. Was er wohl getan hätte, fragte sie sich mit einem leisen Lachen, wenn ich ihm gesagt hätte, dass ich zwar kein Ungeheuer bin, aber dafür eine Hexe?

In der sonnigen Küche, inmitten eines schrecklichen Durcheinanders, wühlte Boone Sawyer sich durch einen Karton, bis er die Bratpfanne fand, nach der er gesucht hatte. Der Umzug nach Kalifornien war der richtige Schritt gewesen – davon war er überzeugt, aber er hatte eindeutig den Zeitaufwand und die Unannehmlichkeiten unterschätzt, die es verursachte, wenn man ein Heim so einfach von einem Ort an einen anderen verlegen wollte.

Was kam mit, was konnte man zurücklassen? Eine Speditionsfirma finden, sein Auto war ebenfalls geliefert worden, während er mit Jessie und dem Hund, in den sie sich auf Anhieb verliebt hatte, geflogen waren. Die passenden Gründe finden, um den Umzug vor Jessies besorgten Großeltern zu rechtfertigen. Der Papierkram für die Anmeldung in der neuen Schule. Erst einmal eine passende Schule finden …!

Nun, das Schlimmste lag hinter ihm. Hoffte er zumindest. Jetzt musste er nur noch die Kartons auspacken und einen Platz für all die Dinge und den Krimskrams finden, um aus diesem fremden Haus ein Heim zu machen.

Jessie war glücklich hier. Das war die Hauptsache, war immer die Hauptsache gewesen. Andererseits, dachte er, während er Hackfleisch für Chili con Carne in der Pfanne briet, ist Jessie überall glücklich. Ihr sonniges Gemüt und ihre erstaunliche Fähigkeit, überall Freunde zu finden, waren ein Segen, aber sie verwirrten ihn immer wieder. Wie schaffte es ein Kind, das im zarten Alter von zwei Jahren seine Mutter verloren hatte, so ausgeglichen, so unbeschwert und so absolut normal zu sein?

Wäre da nicht Jessie – er wäre nach Alices Tod längst verrückt geworden.

Er dachte nicht mehr so oft an Alice. Häufig ertappte er sich dabei, dass er sich deshalb schuldig fühlte. Er hatte sie geliebt – Gott, wie hatte er sie geliebt! –, und das Kind, das sie gemeinsam gezeugt hatten, war der lebende Beweis dieser Liebe. Aber mittlerweile hatte er mehr Zeit ohne Alice leben müssen, als er mit ihr verbracht hatte. Und obwohl er entschlossen gewesen war, sich an die Trauer zu klammern, als Beweis seiner Liebe, war eben diese Trauer immer schwächer geworden, langsam dahingeschmolzen unter den Anforderungen, die das tägliche Leben an ihn stellte.

Alice weilte nicht mehr unter den Lebenden. Jessie dagegen lebte und wurde mit jedem Tag, den sie heranwuchs, quicklebendiger. Diese Menschen, beide, hatten den Ausschlag zu der schwierigen Entscheidung gegeben, nach Monterey zu ziehen. In Indiana, in dem Haus, das Alice und er zusammen gekauft hatten, hatte es zu viele Erinnerungen gegeben. Sowohl seine Eltern als auch seine Schwiegereltern wohnten keine zehn Minuten Autofahrt entfernt. Als einziges Enkelkind war Jessie für beide Großelternpaare der Mittelpunkt gewesen – und oft der Grund für kleine Eifersüchteleien.

Und Boone selbst … Nun, er konnte gar nicht mehr zählen, wie oft er sich mehr oder weniger diskrete Ratschläge hinsichtlich der Erziehung seiner Tochter hatte anhören müssen – bis hin zu vehementer Kritik. Außerdem waren da noch diese, manchmal recht plumpen, Kuppelversuche gewesen. Ein Kind braucht eine Mutter, ein Mann braucht eine Frau. Und entsprechend diesem Leitsatz hatte seine Mutter es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die perfekte Frau zu finden, die diese Stelle ausfüllen könnte, die eine hervorragende Ehefrau und Mutter sein würde.

Das war es, was ihn am meisten aufgeregt hatte. Und die Einsicht, wie einfach es wäre, sich im Haus zu verkriechen und sich in Erinnerungen zu ergehen. Deshalb die Entscheidung umzuziehen.

Arbeiten konnte er überall. Die Wahl war hauptsächlich wegen des Klimas, des beschaulichen Lebensstils und der Schulen auf Monterey gefallen. Und, wie er sich nur selbst eingestand, weil eine kleine Stimme ihm eingeflüstert hatte, dass dieser Ort genau richtig war. Für Jessie und ihn.

Es gefiel ihm, dass er nur ans Fenster treten musste und das Meer sehen konnte. Oder diese hohen, schlanken Zypressen. Noch besser gefiel ihm, dass er nicht von Nachbarn umgeben war. Alice war diejenige von ihnen beiden gewesen, die gern in Gesellschaft war. Und an diesem Ort kam noch hinzu, dass der Verkehrslärm von der Straße nicht bis hierher drang.

Es hatte sich einfach richtig und gut angefühlt. Und Jessie gab dem Ganzen bereits ihre persönliche Note. Es stimmte schon, als er hinausgesehen und seine Tochter nirgendwo hatte sehen können, hatte die Angst ihm den Magen zusammengezogen. Er hätte wissen sollen, dass sie bereits jemanden kennengelernt hatte, mit dem sie sich unterhalten konnte. Jemanden, den sie mit ihrem kindlichen Charme bezaubern konnte.

Diese Frau.

Mit einer tiefen Falte auf der Stirn setzte Boone den Deckel auf die Pfanne, um das Chili köcheln zu lassen. Er goss sich eine Tasse Kaffee ein und trat auf die Veranda. Schon seltsam. Er hatte die Frau gesehen und sofort gewusst, dass Jessie bei ihr sicher war. In diesen grauen Augen stand nichts als Güte und Sanftmut zu lesen. Es war seine eigene Reaktion, eine sehr primitive Reaktion, die seine Muskeln verkrampft und seine Stimme hatte rau werden lassen.

Verlangen. Prompt, schmerzhaft und höchst unangebracht. Eine solche Reaktion auf eine Frau hatte er nicht mehr verspürt, seit … Er musste über sich selbst grinsen. Nie wieder. Mit Alice war es wie eine stille Vollkommenheit gewesen. Ein sanftes und unabänderliches Zusammenkommen, das er immer wie einen Schatz in der Erinnerung hüten würde.

Aber das hier … das war wie eine Strömung gewesen, die einem den Boden unter den Füßen wegriss und einen immer weiter abtrieb, während man sich verzweifelt bemühte, das Ufer zu erreichen.

Es ist auch lange her, erinnerte er sich selbst und sah einer Möwe nach, die über das weite Wasser glitt. Eine völlig normale Reaktion auf eine schöne Frau, also eine durchaus akzeptable Erklärung. Denn schön war sie unbestreitbar, auf eine ruhige, klassische Art – wobei man seine heftige Reaktion auf sie wohl als das genaue Gegenteil bezeichnen musste. Und das verabscheute er. Er hatte weder Zeit noch Lust, sich mit Reaktionen auf gleich welche Frau zu beschäftigen.

Da war Jessie, an die er denken musste.

Er griff in die Tasche, zog ein Zigarettenpäckchen hervor und steckte sich eine Zigarette an, sich kaum der Tatsache bewusst, dass er die ganze Zeit zu der Rosenhecke hinübersah.

Anastasia also. Der Name passte zu ihr. Wunderbar altmodisch, elegant, ungewöhnlich.

»Daddy!«

Boone zuckte zusammen, wie ein Teenager, den der Direktor auf der Jungentoilette auf frischer Tat beim Rauchen ertappt hatte. Er räusperte sich und lächelte seine streng dreinblickende Tochter schief an.

»Jetzt stell dich nicht gleich so an, Jess. Ich rauche doch immerhin nur noch ein halbes Päckchen pro Tag.«

Sie verschränkte die Arme vor der schmalen Brust. »Die sind schlecht für dich. Die machen deine Lungen schwarz.«

»Ich weiß.« Er trat die Zigarette aus, ohne noch einen letzten Zug getan zu haben. Unter diesen weisen jungen Augen war ihm das einfach nicht möglich. »Ich höre ja auf, ganz bestimmt.«

Jessie lächelte – eines von diesen erschreckend wissenden »Na-klar-doch«-Lächeln –, und er steckte die Hände in die Hosentaschen und imitierte James Cagney. »Nicht doch, Sie werden mich doch nicht wegen eines einzigen Zugs in Einzelhaft stecken, oder?«

Sie hatte ihm längst vergeben, und kichernd kam sie zu ihm, um ihn zu umarmen. »Du bist albern, Daddy. Damit du’s nur weißt.«

»Stimmt.« Er stemmte sie an den Ellbogen hoch und gab ihr einen herzhaften Kuss. »Und du bist eigentlich ziemlich klein.«

»Bald werde ich genauso groß sein wie du.« Sie schlang die Beine um seine Hüften und ließ sich hintenüberfallen, bis ihr Haar fast den Boden berührte. Das war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen.

»Keine Chance.« Er hielt sie sicher und fest und schlenkerte sie ein wenig hin und her. »Ich werde immer größer sein als du.« Er zog sie wieder hoch. »Und klüger und stärker.« Mit seinen Bartstoppeln rieb er spielerisch über ihre Wange, bis sie vor Vergnügen jauchzte und atemlos lachte. »Und ich werde auch immer besser aussehen.«

»Und kitzliger sein!«, rief sie triumphierend und steckte ihre Finger in seine Seiten.

In diesem Punkt hatte sie auf jeden Fall recht. Er fiel mit ihr auf die Bank. »Okay, okay. Ich gebe auf!« Er holte tief Atem und zog sie fest an sich heran. »Du wirst immer mehr Tricks auf Lager haben.«

Mit rosigen Wangen und leuchtenden Augen hüpfte sie auf seinem Schoß herum. »Unser neues Haus gefällt mir.«

»Wirklich?« Er strich mit der Hand über ihren Kopf und genoss, wie immer, das seidige Gefühl an seiner Handfläche. »Mir auch.«

»Können wir nach dem Dinner an den Strand gehen und Robben suchen?«

»Klar.«

»Kann Daisy mitkommen?«

»Sicher.« Da er bereits ausreichend Erfahrung mit Pfützen auf dem Teppich und zerkauten Socken gemacht hatte, sah er sich argwöhnisch um. »Wo ist Daisy eigentlich in diesem Moment?«

»Sie macht ein Nickerchen.« Jessie legte den Kopf an die Schulter des Vaters. »Sie war sehr müde.«

»Kann ich mir denken. Es war ja auch ein anstrengender Tag.« Lächelnd küsste er Jessie aufs Haar, hörte sie gähnen und spürte, wie sie auf seinem Schoß schwerer wurde.

»Es war mein erster Tag. Heute habe ich Ana getroffen.« Weil ihre Lider so schwer waren, schloss sie sie einfach, eingelullt durch den rhythmischen Herzschlag ihres Vaters. »Sie ist nett. Sie hat gesagt, sie zeigt mir, wie man Blumen pflanzt.«

»Hm.«

»Sie kennt alle Blumennamen.« Jessie gähnte noch einmal, und als sie wieder sprach, klang ihre Stimme bereits schläfrig. »Daisy hat ihr übers ganze Gesicht geleckt, und sie hat nicht geschimpft, nur gelacht. Es hat sich hübsch angehört. Wie das Lachen einer Fee«, murmelte sie und war schon eingeschlafen.

Boone saß still da, hielt Jessie fest und sicher in seinen Armen und lächelte vor sich hin. Die Vorstellungskraft seiner Tochter. Er bildete sich gerne ein, dass sie das von ihm hatte.

Rastlos, dachte Ana, während sie in der Dämmerung über den felsigen Strand wanderte. Sie konnte einfach nicht im Haus bleiben, sich um ihre Pflanzen und Kräuter kümmern, wenn sie diese innere Unruhe verspürte.

Die Brise vom Meer her würde die Ruhelosigkeit verscheuchen, dessen war sie sicher. Sie hielt ihr Gesicht in den Wind. Ein schöner, langer Spaziergang, und dann würde sie auch die Ausgeglichenheit wiederfinden, den Frieden und die Ruhe, die zu ihrem Leben gehörten wie das Atmen.

Unter anderen Umständen hätte sie ihren Cousin und ihre Cousine angerufen und vorgeschlagen, etwas zusammen zu unternehmen. Aber Morgana hatte es sich bestimmt schon mit Nash gemütlich gemacht. Außerdem brauchte sie in diesem späten Stadium der Schwangerschaft so viel Ruhe wie möglich. Und Sebastian war noch nicht von seiner Hochzeitsreise zurück.

Es hatte Ana noch nie gestört, allein zu sein. Sie genoss die Einsamkeit der Bucht, den Strand, das leise Geräusch der Wellen, wenn sie gegen die Steine schlugen, die Schreie der Möwen, die sich fast wie Lachen anhörten.

So wie sie auch das Lachen des Kindes genossen hatte. Und das des Mannes, das der Wind am Nachmittag zu ihr herübergetragen hatte. Ein schöner Laut. Es war nicht nötig gewesen, dabei zu sein, um sich darüber zu freuen.

Jetzt, während die Sonne langsam versank und den Horizont in glühende Farben tauchte, spürte Ana, wie die Ruhelosigkeit verflog. Wie hätte sie etwas anderes fühlen können als Harmonie, hier, allein, während sie den Zauber des ausklingenden Tages beobachtete?

Sie kletterte auf ein Stück Treibholz, einen dicken Baumstamm, nahe genug am Wasser, dass die feine Gischt ihr Gesicht benetzte. Abwesend fühlte sie den Stein in ihrer Jackentasche und nahm ihn hervor, rieb ihn zwischen den Fingern, während sie der Sonne zusah, die wie ein glühender Ball im Meer versank.

Der Stein in ihrer Hand wurde warm. Ana sah auf das kleine Juwel herab, dessen perlmutterner Glanz in der Dämmerung erstrahlte. Mondstein. Sie lächelte über sich selbst. Mond-Magie. Schutz für den nächtlichen Wanderer. Eine Hilfe zur Selbstanalyse. Und natürlich ein Talisman, dem Kräfte innewohnten, die der Liebe förderlich waren.

Welche von diesen Eigenschaften wohl heute Abend wichtig war?

Noch während sie über sich selbst leise lachte und den Stein wieder in ihre Tasche gleiten ließ, hörte sie, wie ihr Name gerufen wurde.

Da kam auch schon Jessie auf sie zugerannt, den tapsigen Welpen auf den Fersen. Und ihr Vater, etliche Meter hinter ihr, so als zögere er, näher zu kommen. Ana überließ sich einen Moment der Frage, ob die überschäumende Energie und Offenheit des Kindes den Vater vielleicht umso distanzierter wirken ließen.

Sie kletterte von dem Baumstamm herunter und breitete die Arme aus. Es war das Natürlichste der Welt, dass Jessie sich von ihr auffangen und im Kreis herumwirbeln ließ. »Hallo, Sonnenschein. Suchst du mit Daisy etwa nach Elfenmuscheln?«

Jessies Augen wurden groß. »Elfenmuscheln? Wie sehen die denn aus?«

»Genauso, wie man sie sich vorstellt. Entweder bei Sonnenaufgang oder -untergang. Nur dann kann man sie finden.«

»Mein Daddy hat gesagt, dass Elfen im Wald leben und sich meistens verstecken, weil die Menschen nicht so genau wissen, wie man mit ihnen umgehen muss.«

»Das stimmt.« Sie lachte und stellte das Mädchen wieder auf die Füße. »Aber Elfen mögen auch das Wasser und die Berge.«

»Ich würde zu gern mal eine kennenlernen, aber Daddy sagt, dass sie fast nie mit Menschen reden, weil niemand mehr so richtig an sie glaubt. Nur Kinder.«

»Das kommt daher, weil Kinder der Magie noch so viel näher sind.« Ana schaute auf, während sie sprach. Boone war zu ihnen getreten, und die Sonne, die hinter seinem Rücken unterging, warf dunkle Schatten auf sein Gesicht, die bedrohlich und gleichzeitig sehr anziehend wirkten. »Wir sprachen gerade von Elfen«, teilte sie ihm mit.

»Ich hab’s gehört.« Er legte eine Hand auf Jessies Schulter. Auch wenn die Geste sehr unaufdringlich war, die Bedeutung war unmissverständlich. Mein.

»Ana sagt, dass es hier am Strand Elfenmuscheln gibt und dass man sie nur bei Sonnenaufgang oder -untergang finden kann. Wirst du eine Geschichte darüber schreiben?«

»Wer weiß?« Das Lächeln, das er seiner Tochter schenkte, war warm und voller Zärtlichkeit. Als sein Blick jedoch über Ana fuhr, rann ihr ein Schauer über den Rücken. »Wir haben Ihren Abendspaziergang gestört.«

»Nein.« Gereizt zuckte Ana die Achseln. Sie wusste genau, was er meinte: Sie hatte seinen und Jessies Spaziergang gestört! »Ich wollte nur noch einen Blick aufs Meer werfen, bevor ich hineingehe. Es wird langsam kühl.«

»Wirst du mir denn helfen, Elfenmuscheln zu finden?«, fragte Jessie bittend.

»Irgendwann einmal, sicher.« Wenn der Vater nicht wie ein Wachhund daneben stand und sie mit seinem Blick durchbohrte. »Jetzt ist es schon zu dunkel, und ich muss ins Haus zurück.« Sie versetzte Jessie einen sanften Nasenstüber. »Gute Nacht.« Den Vater bedachte Ana mit einem knappen Nicken.

Boone sah ihr nach, wie sie davonging. Vielleicht wäre ihr nicht so kalt geworden, dachte er, wenn sie etwas tragen würde, das ihre Beine warm hielt. Diese schlanken, wohlgeformten Beine. Er stieß ungeduldig den Atem aus.

»Komm, Jess, rennen wir um die Wette nach Hause.«

2. KAPITEL

»Ich würde ihn zu gern kennenlernen.« Ana sah von dem Potpourri aus getrockneten Blütenblättern auf, das sie zusammenstellte, und blickte Morgana mit gerunzelter Stirn an. »Wen?«

»Den Vater dieses kleinen Mädchens, das dich so bezaubert hat.« Erschöpfter, als sie zuzugeben bereit war, strich Morgana sich mit der Hand über ihren Bauch. »Du sprudelst über mit Informationen über die Kleine und bist geradezu verdächtig einsilbig, wenn es um Daddy geht.«

»Weil er mich nicht so sehr interessiert«, erwiderte Ana leichthin. Sie mengte dem Potpourri Zitrone hinzu. Sie wusste genau, wie besorgt Morgana war. »Der Mann ist so kühl und distanziert, wie Jessie herzlich und offen ist. Wenn nicht so offensichtlich wäre, wie sehr er sie liebt, wäre er mir wahrscheinlich sogar unsympathisch. So ist er mir einfach nur gleichgültig.«

»Sieht er gut aus?«

Ana hob fragend eine Augenbraue. »Im Vergleich zu?«

»Zu einer Kröte.« Morgana lachte und beugte sich vor. »Komm schon, Ana. Spann mich doch nicht so gemein auf die Folter.«

»Nun, hässlich ist er nicht.« Ana stellte die Schale mit dem Potpourri beiseite und suchte auf dem Regal nach dem richtigen Öl, das sie dazugeben wollte. »Man kann wohl sagen, dass er ein markantes Gesicht hat. Sieht irgendwie fast gefährlich aus. Durchtrainierte Figur, aber nicht wie ein Gewichtheber.« Sie las mit gerunzelter Stirn die Etiketten auf zwei Ölfläschchen und versuchte zu entscheiden. »Eher wie ein Langstreckenläufer. Drahtig, erschreckend fit.«

Genießerisch lächelnd stützte Morgana ihr Kinn in die Hand. »Weiter, erzähl mir mehr.«

»Also wirklich! Und das von einer verheirateten Frau, die noch dazu bald mit Zwillingen niederkommt.« Ana lachte und entschied sich schließlich für Rosenöl, um der Mischung Eleganz zu verleihen. »Also, wenn du unbedingt etwas Positives hören musst … Er hat unglaublich schöne Augen. Sehr klar, sehr blau. Wenn diese Augen Jessie ansehen, sind sie einfach umwerfend. Wenn sie mich anschauen, sehr misstrauisch.«

»Aber wieso denn?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«

Morgana schüttelte den Kopf. »Anastasia, das interessiert dich doch sicher genug, um es herauszufinden, oder? Du brauchst doch nur mal ganz vorsichtig einen Blick zu riskieren.«

Mit geübter Hand ließ Ana etwas Rosenöl auf die Blätter fallen. »Du weißt, wie ungern ich mich aufdränge.«

»Also wirklich …«

Bei Morganas enttäuschter Miene musste Ana lächeln. »Selbst wenn ich neugierig wäre … ich glaube nicht, dass ich sehen möchte, was da im Herzen von Mr. Sawyer so alles vor sich geht. Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass es recht unangenehm werden könnte, sich mit ihm zu verbinden. Selbst wenn es nur ein paar Momente sind.«

»Du bist die Empathin.« Morgana zuckte die Schultern. »Wenn Sebastian hier wäre, könnte er dir sofort sagen, was sich im Kopf dieses Mannes abspielt.« Sie nippte an dem Elixir, das Ana für sie gemixt hatte. »Ich könnte es für dich tun. Ich habe schon seit Wochen keinen Grund mehr gehabt, die Kristallkugel zu benutzen. Ich komme noch aus der Übung.«

»Nein.« Ana küsste ihre Cousine auf die Wange. »Danke.« Sie gab das Potpourri in einen kleinen Netzbeutel. »Hier, ich möchte, dass du dies immer bei dir trägst. Und den Rest der Mischung verteilst du in Schalen im Haus und im Laden. Du arbeitest doch nur noch zwei Tage in der Woche?«

»Zwei, manchmal auch drei.« Morgana lächelte beruhigend, weil Ana so besorgt um sie war. »Ich übertreibe es nicht, wirklich nicht, Liebes. Nash lässt es gar nicht dazu kommen.«

Mit einem abwesenden Nicken verschloss Ana den Beutel. »Trinkst du den Tee, den ich dir gegeben habe?«

»Jeden Tag. Und ja, ich benutze auch dein Öl regelmäßig. Außerdem trage ich immer einen Rhyolith gegen emotionalen Stress, einen Topas gegen äußere Stresseinflüsse, einen Zirkon für positive Einstellung und einen Bernstein für die gute Laune bei mir.« Sie drückte Anas Hand. »Glaub mir, ich bin von allen Seiten wirklich bestens geschützt.«

»Es ist nur natürlich, dass ich mich so anstelle.« Ana stellte das Säckchen mit dem Potpourri neben Morganas Handtasche, dann überlegte sie es sich anders und ließ den Beutel selbst in die Tasche gleiten. »Schließlich ist es unser erstes Baby.«

»Babys«, verbesserte Morgana.

»Also noch mehr Grund, um ein wenig achtsamer zu sein. Zwillinge kommen immer früher, diese Erfahrung habe ich jedenfalls gemacht.«

Morgana gestattete sich einen kleinen Seufzer. »Ich hoffe wirklich, dass diese beiden es tun. Nicht mehr lange, und ich brauche einen Lastkran, um mich zu setzen und wieder aufzustehen.«

»Du brauchst mehr Ruhe. Und leichte Bewegungsübungen«, wies Ana an. »Was sowohl das Herumwuchten und Auspacken von Kisten ausschließt sowie auch das stundenlange Stehen, um Kunden zu bedienen!«

»Jawohl, Ma’am. Ich werde mich bemühen, mich genauestens an die Anweisungen zu halten.«

»Und jetzt lass uns nachsehen.« Sanft legte Ana beide Hände auf den gewölbten Leib ihrer Cousine, spreizte langsam die Finger und öffnete sich für das Wunder.

Im gleichen Moment spürte Morgana, wie ihre Müdigkeit verflog. Stattdessen fühlte sie sich wunderbar wohl und ausgeglichen. Durch ihre halb geschlossenen Lider erkannte sie, dass Anas Augen dunkel geworden waren, die Farbe von Zinn angenommen hatten. Der Blick war starr auf etwas gerichtet, das nur Ana sehen konnte.

Während ihre Finger über den Bauch ihrer Cousine strichen, knüpfte Ana das Band. Sie spürte das Gewicht und für einen unglaublich intensiven Moment das Leben, das in diesem Leib pulsierte. Dann die Erschöpfung, die Müdigkeit, die Schwere. Aber auch die glückliche Erwartung, die wachsende Vorfreude und das ehrfurchtsvolle Staunen, dass sie dieses neue Leben in sich trug.

Dann öffnete sich Anas Herz noch mehr, ein Ziehen erfasste ihren Körper. Und sie begann zu lächeln.

Jetzt war sie dieses Leben, erst das eine, dann das andere. Traumlos in dem dunklen, warmen Leib gebettet, versorgt und beschützt von der Mutter, bis der Moment kommen würde, sich der Außenwelt zu stellen. Zwei Herzen, die kraftvoll unter dem Herzen der Mutter schlugen. Winzige Finger, die sich streckten, ein träger Tritt.

Ana kam wieder zu sich zurück. Allein. »Dir geht es gut. Euch allen geht es gut.«

»Ich weiß.« Morgana verschränkte ihre Finger mit Anas. »Aber ich fühle mich trotzdem beruhigter, wenn du es mir sagst. Genau wie das Wissen mich beruhigt, dass du da sein wirst, wenn es so weit ist.«

»Du weißt, dass ich nirgendwo anders sein würde.« Ana zog ihrer beider verschränkten Hände an ihre Wange. »Aber ist Nash mit mir als Hebamme einverstanden? Was denkt er darüber?«

»Er vertraut dir – genauso sehr, wie ich dir vertraue.«

Anas Blick wurde weich. »Du hast wirklich Glück gehabt, Morgana, einen Mann zu finden, der akzeptiert und versteht, ja, sogar schätzt, was du bist.«

»Ich weiß. Die Liebe zu finden ist schon wunderbar genug, aber die Liebe mit ihm zu finden …« Morganas Lächeln erstarb. »Ana, Liebes, das mit Robert ist schon so lange her.«

»Ich denke nicht mehr an ihn. Zumindest nicht an ihn als Person. Irgendwo auf einer unwegsamen Straße habe ich eben eine falsche Abbiegung genommen.«

Entrüstung ließ Morganas Blick hart werden. »Er war ein Narr und deiner nicht wert.«

Statt Trauer verspürte Ana eher den Drang zu kichern. »Du hast ihn nie gemocht, Morgana. Von Anfang an nicht.«

»Stimmt.« Morgana setzte ihr Glas ab. »Sebastian übrigens auch nicht, wenn du dich erinnerst.«

»Oh ja. Aber ich erinnere mich auch, dass Sebastian Nash gegenüber äußerst misstrauisch war.«

»Das war etwas ganz anderes. Doch«, bestärkte sie, als sie Ana grinsen sah. »Sebastian wollte mich beschützen. Bei Robert war er so höflich, dass es schon beleidigend war.«

»Ja, ich weiß es noch.« Ana zuckte die Schultern. »Was mich wiederum erst recht herausgefordert hat. Ich war eben jung«, sagte sie mit einer abwinkenden Geste, »und so naiv zu glauben, dass, nur weil ich verliebt war, es auf der anderen Seite auch so sein müsste. Dumm genug, um ehrlich zu sein. Und dumm genug, völlig am Boden zerstört zu sein, als diese Offenheit erst mit Unglauben und dann mit Zurückweisung belohnt wurde.«

»Ich weiß, wie verletzt du warst, aber ich weiß auch, dass du es besser machen könntest.«

»Ganz sicher«, stimmte Ana bereitwillig zu, denn auch sie hatte ihren Stolz. »Aber manchen von uns ist es eben nicht bestimmt, sich mit Außenstehenden zusammenzutun.«

Morgana wurde ungeduldig. »Da hat es genügend Männer gegeben, mit und ohne Elfenblut, die sich für dich interessiert haben, Cousine.«

»Schade nur, dass ich mich nicht für sie interessiert habe.« Ana lachte. »Ich bin schrecklich wählerisch, Morgana. Und mir gefällt mein Leben so, wie es ist.«

»Wenn ich nicht genau wüsste, dass das stimmt, würde ich mir wahrscheinlich einen kleinen Liebeszauber für dich einfallen lassen. Nichts Ernstes, natürlich«, fügte Morgana mit einem amüsierten Blitzen in den Augen hinzu. »Nur, um dich ein wenig abzulenken.«

»Danke, aber ich kann für meine eigene Ablenkung sorgen.«