Die Donovans 4. Der verzauberte Fremde - Nora Roberts - E-Book

Die Donovans 4. Der verzauberte Fremde E-Book

Nora Roberts

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Beschreibung

Der Donovan-Clan: Eine bezaubernde Familiensaga mit einem Hauch Magie.

Rowan will für ein paar Monate in einem abgelegenen Haus in Oregon eine Auszeit von dem hektischen Großstadtleben genießen. Bei ihrer Ankunft bemerkt sie einen dunklen Wolf, der sie mit seinen magischen Augen in den Bann schlägt. Kurze Zeit später trifft sie ihren Nachbarn Liam Donovan. Er ist ein attraktiver Mann, der etwas Besonderes ausstrahlt, das sie nicht benennen kann. Sie weiß nicht, dass er aus der Magierfamilie Donovan stammt. Sie weiß nur, dass sie fasziniert ist. Seine Augen erinnern sie an die des Wolfes, aber das kann nicht sein, oder?

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Seitenzahl: 316

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Nora Roberts

Die Donovans 4

Der verzauberte Fremde

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Sonja Sajlo-Lucich

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe Enchantedist bei Silhouette Books, Toronto, erschienen.
Die deutsche Erstausgabe ist im MIRA Taschenbuch erschienen.
Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH & Co. KG, Hamburg Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Fotos von thinkstockSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-12062-7V003
www.penguinrandomhouse.de/nora-roberts

PROLOG

Schwarz wie die Nacht und hurtig wie der Wind, preschte der Wolf durch die Vollmondnacht. Er rannte, weil er es genoss, allein zwischen hoch aufragenden Stämmen von mächtigen Bäumen, in den dunklen Schatten des Waldes, durch den Zauber und die Geheimnisse der Nacht.

Der Wind wehte vom Meer herüber und strich durch die Fichten, entlockte ihnen leise Töne, die von uralten Zeiten berichteten, ließ sie ihren würzigen Duft in die Nacht verströmen. Kleine Kreaturen, die Augen im Dunkeln leuchtend, zogen sich zurück, um aus dem sicheren Versteck der kraftvollen schwarzen Gestalt nachzusehen, die den feinen Nebelschleier zerteilte, der über dem Waldboden waberte.

Er wusste, dass sie da waren, konnte ihre Anwesenheit riechen, hörte das angstvolle Schlagen ihrer kleinen Herzen. Aber heute Nacht jagte er nichts, außer der Nacht selbst.

Er gehörte keinem Rudel an. Sein einziger Begleiter war die Einsamkeit.

Doch selbst grenzenlose Freiheit und berauschende Geschwindigkeit vermochten die Unruhe nicht zu stillen, die in ihm schwelte. Auf der Suche nach innerem Frieden hatte er den Wald durchquert, war über die Klippen gelaufen, hatte die Lichtungen aufgesucht, aber nichts hatte ihn beruhigen, besänftigen können, nichts ihm seinen Frieden geben können.

Als der Pfad weniger steil anstieg und der Wald sich zu lichten begann, verfiel er in einen langsameren Trott. Sog die Luft ein, witterte. Da war etwas … es lag in der Luft. Etwas, das ihn dazu antrieb, die Klippen hoch über dem Pazifik zu erklimmen. Mit geschmeidigen, kraftvollen Bewegungen stieg er hinauf auf den höchsten Punkt der Felsen, die goldenen Augen leuchteten, die feine Nase schnuppernd in den Wind gehalten.

Dort oben auf dem höchsten Punkt, wo der silbrige Mond zum Greifen nahe schien, während tief unten die Brandung mit Wucht gegen die Felsen schlug, hob er den Kopf und stieß seinen Ruf aus. Den Ruf an das Meer, an den Himmel, an die samtschwarze Nacht.

An die Magie.

Das Echo des Heulens drang durch die Nacht, fragend, nach Antworten verlangend. Mit einer Macht, die so natürlich war wie das Atmen.

Doch das leise Flüstern, das ihm antwortete, sagte ihm nicht mehr, als dass Veränderungen sich ankündigten. Anfang und Ende. Schicksal.

Sein Schicksal wartete auf ihn.

Erneut warf der einsame Wolf mit den goldenen Augen den Kopf zurück und rief. Da war noch mehr, und er würde es erfahren. Jetzt bebte die Erde, das Wasser begann zu wirbeln. Weit hinten am Horizont zuckte ein gleißender Blitz über das dunkle Meer. In dem Schein, der kurz den Himmel erhellte, nicht länger als ein Herzschlag, war die Antwort zu sehen.

Die Liebe wartet.

Und die Magie ließ die Luft erzittern, tanzte über dem Meer. Winzige Lichtfunken hüpften auf dem Wasser, drehten sich im Kreis, wurden zu einer Spirale, stiegen in den sternenübersäten Himmel auf und zerstoben zu einer leuchtenden Wolke.

Der Wolf beobachtete, lauschte. Selbst als er in die Schatten des Waldes zurückkehrte, hallte die Antwort in ihm nach.

Die Liebe wartet.

Seine Unruhe nahm zu, mit jedem Schlag, den sein Herz tat. Er jagte über den Pfad, mit kraftvollen Sprüngen, zerriss die Nebelschwaden zu spinnwebzarten Gebilden. Sein Blut erhitzte sich durch die Geschwindigkeit, pulsierte in ihm. Er drehte nach links ab, brach aus dem Wald heraus, in den warmen Lichtschein, der von dort schimmerte. Ein Blockhaus, solide gebaut, die erleuchteten Fenster hießen ihn willkommen. Das Flüstern der Nacht verstummte.

Als er die Stufen erreichte, stieg weißer Rauch auf, blaues Licht erstrahlte. Und der Wolf wurde zum Mann.

1. KAPITEL

Als Rowan Murray den ersten Blick auf die Hütte warf, verspürte sie sowohl Erleichterung als auch ein gewisses Unbehagen. Erleichterung, weil sie die lange Reise von San Francisco zu diesem abgeschiedenen Ort an der Küste Oregons endlich hinter sich hatte. Das Unbehagen allerdings entstammte genau dem gleichen Grund.

Sie war hier. Sie hatte es tatsächlich getan.

Was jetzt?

Der logische nächste Schritt war natürlich, erst einmal aus dem Geländewagen auszusteigen, die Haustür aufzuschließen und sich in dem Blockhaus umzusehen, das für die nächsten drei Monate ihr Zuhause sein sollte. Koffer und mitgebrachte Vorräte auspacken. Sich eine Tasse Tee aufbrühen. Eine heiße Dusche nehmen.

Ja, das waren alles sehr praktische, sehr vernünftige Überlegungen.

Stattdessen blieb sie sitzen, wo sie war, auf dem Fahrersitz ihres zwei Wochen alten Range Rovers, die Finger so fest um das Lenkrad geklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Sie war allein. Absolut allein.

Das war es doch, was sie gewollt hatte. Was sie gebraucht hatte. Wofür sie sich seit Monaten angetrieben hatte, um es zu erreichen. Seit sie das Angebot bekommen hatte, die Hütte zu nutzen. Ein Angebot, das sie ergriffen hatte, als sei es der rettende Ast, an den sie sich klammern konnte, während sie Gefahr lief, im Treibsand zu versinken.

Und jetzt, da sie endlich an diesem Ziel angekommen war, konnte sie es nicht einmal über sich bringen, aus dem Wagen auszusteigen.

»Du bist eine Närrin, Rowan.« Sie flüsterte es vor sich hin, lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. »Ein regelrechter Feigling.«

Sie saß da, sammelte ihre restlichen Energien. Eine kleine, zierliche Frau mit heller Haut, deren rosiger Schimmer verloren gegangen war. Das glatte Haar hatte die Farbe von polierter Eiche und war zu einem dicken Zopf zusammengebunden, damit es nicht störte, auch wenn der Zopf lange nicht mehr so straff saß wie anfangs noch. Die Nase war gerade und fein geschnitten, die Lippen eine Spur zu voll für das herzförmige zarte Gesicht. Ihre Augen, jetzt müde von den langen Stunden hinter dem Steuer, waren von einem tiefen Dunkelblau, mit dichten, langen Wimpern und leicht mandelförmig.

Elfenaugen, wie ihr Vater immer sagte. Als sie daran dachte, traten ihr Tränen in die Augen.

Sie hatte ihn enttäuscht. Wie auch ihre Mutter. Die Schuld lastete unendlich schwer auf ihrem Herzen. Sie war nicht in der Lage gewesen zu erklären, zumindest nicht klar, nicht verständlich genug, warum sie den Weg nicht weitergehen konnte, den die beiden mit so viel Sorgfalt und Umsicht für sie vorbereitet und geebnet hatten. Jeder Schritt, den sie auf diesem Weg gegangen war, war eine Qual gewesen und hatte sie weiter und weiter von dem Ort fortgeführt, an dem sie sein wollte. Wo sie sein musste.

Was sie sein musste.

Also war sie davongerannt. Oh nein, nicht wirklich natürlich. Sie war viel zu vernünftig, um sich wie ein Dieb in der Nacht davonzustehlen. Sie hatte Pläne gemacht, war systematisch Schritt für Schritt vorgegangen. Aber unterm Strich kam das Gleiche heraus: Sie war davongelaufen, von zu Hause, vor ihrem Beruf, vor ihrer Familie. Vor der Liebe, die sich ihr wie eine Schlinge um den Hals gelegt hatte und ihr die Luft zum Atmen raubte.

Hier, so hatte sie sich versprochen, würde sie Zeit und Muße finden, um über alles in Ruhe nachzudenken. Um wieder atmen zu können und Entscheidungen zu treffen. Und vielleicht, aber auch nur vielleicht, würde sie sogar begreifen, warum sie nicht das annehmen konnte, was die anderen für sie wollten. Und sollte sie am Ende zu dem Schluss kommen, dass die anderen recht und sie unrecht gehabt hatten, dann würde sie eben damit umgehen müssen. Aber die nächsten drei Monate gehörten vorerst ihr, ihr allein, damit sie sich in Ruhe entscheiden konnte.

Rowan öffnete die Augen wieder und sah sich um. Und langsam entspannte sie sich. Es war so schön hier draußen. Die hohen, majestätischen Bäume, die sich in den Himmel reckten und in der lauen Brise raschelten, das zweigeschossige Blockhaus, in das abgeschiedene sanfte Tal geschmiegt, das kleine Flüsschen, das sich silbern durch die Wiesen nach Westen schlängelte.

Das Blockhaus selbst schimmerte wie dunkles Gold im Sonnenlicht. Glattes Holz, blinkende Fenster. Die schmale Veranda sah einladend aus, wie geschaffen dafür, die Morgen und Abende dort zu sitzen und zu faulenzen. Von ihrem Platz im Wagen aus glaubte Rowan, die ersten grünen Spitzen von Frühlingsblumen aus dem Boden brechen zu sehen.

Diese Mutigen werden nur herausfinden, dass es noch zu kalt ist, dachte sie. Belinda hatte ihr geraten, sich Flanellschlafanzüge zu besorgen, weil der Frühling in diesem Winkel der Welt erst sehr spät Einzug hielt.

Nun, wie man ein Feuer im Kamin entfachte, das wusste sie. Sie sah zu dem gemauerten Kamin auf dem Dach empor. Wie oft hatte sie in ihrem Elternhaus direkt neben dem lustig prasselnden Feuer im Wohnzimmer gesessen. Es war ihr Lieblingsplatz gewesen, weil dort die feuchte Kälte der Stadt nicht hinreichte.

Sobald sie ausgepackt hatte, würde sie ein Feuer machen. Sozusagen, um sich selbst willkommen zu heißen.

Etwas beruhigter öffnete sie die Wagentür und stieg aus. Mit ihren schweren Stiefeln trat sie auf einen trockenen Ast, der auf dem Boden lag. Er brach unter ihren Füßen, mit einem lauten Knacken, wie ein Schuss. Rowan zuckte erschreckt zusammen und lachte dann verlegen. Das Stadtmädchen hat neues Schuhwerk, dachte sie und schüttelte ihren Schlüsselbund, nur um ein Geräusch zu hören, während sie zu der Hütte ging. Sie stieg die Stufen zur Veranda empor, steckte den Schlüssel ins Schloss, atmete tief durch und schob die Tür auf.

Und verliebte sich sofort.

»Oh, sieh sich das nur einer an!« Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Belinda, du bist einfach ein Schatz!«

Die Wände hatten die Farbe von golden gebräuntem Toast, abgesetzt mit dunklen Holzbohlen. Farbtupfer lieferten die zauberhaften Illustrationen, für die ihre Freundin berühmt war. Im aus Natursteinen gemauerten Kamin lagen schon die Holzscheite aufgeschichtet, bereit für ein fröhlich flackerndes Feuer. Bunte Läufer bedeckten hier und dort den polierten Holzboden, verliehen Behaglichkeit. Das Mobiliar war einfach und mit klaren Linien, tiefe Polster und viele Kissen nahmen die Farben wieder auf. Smaragdgrün, Saphirblau, Rubinrot.

Wie um den märchenhaften Charakter abzurunden, waren überall kleine Statuen von Drachen und Zauberern zu finden. Schalen mit Kristallen und getrockneten Blumen standen auf Tischchen und Stellflächen, aufgeschnittene und polierte Geoden glitzerten von Regalen. Voller Entzücken schlang Rowan die Arme um sich, eilte dann die Treppe hinauf, um sich die beiden Räume im Obergeschoss anzusehen.

Der eine, lichtdurchflutet mit einer Reihe Fenster, durch die die Sonne hereinschien, diente ganz offensichtlich als Studio für die Freundin, wenn sie sich hier in der Hütte aufhielt. Leinwände, Farbtuben und Pinsel waren ordentlich bereitgestellt. Ein Stativ stand leer in einer Ecke, ein Malerkittel hing an einem Kleiderhaken aus Messing.

Auch hier gab es eine kleine Sammlung von märchenhaften Gegenständen – dicke weiße Kerzen in silbernen Haltern, Sterne aus Kristall, eine Kugel aus Rauchglas.

Das Bett im Schlafzimmer begeisterte Rowan sofort – groß und einladend, mit blütenweißem Leinen bezogen. Ein Schrank aus Rosenholz bot Platz für Kleidung und Wäsche. Der kleine offene Kamin würde für anheimelnde Wärme sorgen.

Alles strahlt eine so … so friedliche Atmosphäre aus, dachte Rowan. Gemütlich, behaglich, einladend. Ja, hier würde sie endlich wieder atmen können. Und nachdenken. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund fühlte sie sich, als gehöre sie hierher.

Jetzt darauf erpicht, sich einzurichten, eilte sie wieder nach unten und zur Haustür hinaus, um den Wagen auszupacken. Sie schnappte sich den erstbesten Karton aus dem Kofferraum, als sie spürte, wie ihre Nackenhärchen sich aufrichteten. Das Herz schlug ihr plötzlich bis zum Hals, ihre Handflächen wurden feucht.

Sie wirbelte herum. Der erschreckte Schrei blieb ihr in der Kehle stecken.

Der Wolf war pechschwarz, mit Augen, die wie Goldmünzen funkelten. Er stand am Waldrand, unter den Bäumen, still und regungslos wie eine Statue. Sah sie an, beobachtete sie. Rowan konnte nichts anderes tun als zurückstarren, völlig unbewegt, während ihr Herz wild gegen ihre Rippen hämmerte. Warum schrie sie nicht auf? Warum rannte sie nicht sofort wie von Teufeln gehetzt ins Haus?

Wieso war sie eigentlich mehr überrascht als verängstigt?

Hatte sie von ihm geträumt? Konnte sie sich vielleicht an Fetzen eines Traumbildes erinnern, wie er durch den Nebel auf sie zugerannt kam? War er ihr deshalb etwa so vertraut? Fast, als hätte sie auf ihn gewartet?

Aber das war ja absolut lächerlich. Außer im Zoo hatte sie noch nie einen Wolf in freier Wildbahn gesehen. Und ganz sicher nicht einen, der sie so durchdringend anstarrte, als könnte er in sie hineinsehen.

»Hallo.« Ihre Stimme klang belegt, irgendwie heiser, es war wie ein Schock für Rowan. Sie lachte nervös. Als sie blinzelte, war der Wolf verschwunden.

Sie schwankte leicht, wie jemand, der aus einer Trance erwacht. Sie schüttelte sich, um wieder ganz zu sich zu kommen, sah dann hinüber zum Waldrand, um irgendetwas zu sehen, irgendeine Bewegung auszumachen, einen Schatten vielleicht.

Doch da war nur Stille.

»Jetzt bildest du dir schon wieder Dinge ein«, tadelte sie sich selbst und hob den Karton an. »Wenn da überhaupt etwas war, dann höchstens ein Hund.«

Sie würde sich das bestimmt noch einmal genauer ansehen, aber sie war sicher, dass es sich nur um einen Hund gehandelt haben konnte. Wölfe waren Nachttiere, oder etwa nicht? Sie tauchten nicht einfach im hellen Sonnenschein auf, betrachteten sich die Menschen eine Weile und verschwanden dann wieder. Außerdem hatte Belinda nichts davon erwähnt, dass es hier Wölfe in dieser Gegend gab. Allerdings hatte Belinda auch nichts von Nachbarn oder anderen Blockhäusern gesagt. Und seltsamerweise hatte Rowan auch nicht danach gefragt.

Nun, irgendwo musste es wohl einen Nachbarn geben. Und der hatte einen riesigen, wunderschönen schwarzen Hund. Es gab hier wohl genug Landschaft, dass man sich nicht ständig über den Weg laufen würde.

Der Wolf beobachtete sie von seinem Platz im Schatten der Bäume. Wer war diese Frau? Was suchte sie hier? Sie bewegte sich fahrig, ein wenig nervös. Sah immer wieder über die Schulter zurück, während sie Sachen aus dem Wagen ins Haus brachte.

Er hatte ihre Witterung schon aus einer halben Meile Entfernung aufgenommen. Ihre Ängste, ihre Aufregung, ihre Sehnsüchte waren ihm zugeflossen. Und hatten ihn zu ihr gezogen.

Verärgert kniff er die Augen zusammen und fletschte die Zähne. Den Teufel würde er tun! Verflucht wäre er, sollte er sie anrühren! Verflucht, sollte er ihr gestatten zu ändern, was er war oder was er wollte.

Mit lautloser Geschmeidigkeit wandte er sich ab und verschwand im Dickicht.

Rowan machte Feuer. Entzückt beobachtete sie, wie die Flammen an den Scheiten aufzüngelten, dann machte sie sich systematisch ans Auspacken. Viel zu verstauen gab es nicht. Ein paar Kleidungsstücke, einige Vorräte. Die meisten Kartons, die sie mitgebracht hatte, enthielten Bücher. Die Bücher, ohne die sie nicht leben konnte. Bücher, die sie schon immer hatte lesen wollen, wenn sie endlich die Zeit dazu fand. Sachbücher, Bücher zur Entspannung. Von klein auf hatte sie eine starke Leidenschaft fürs Lesen entwickelt. Liebte es, die Welt durch Worte zu erforschen und zu erkunden. Gerade wegen dieser Liebe zum Lesen fragte sie sich immer wieder, wie es kam, dass das Lehren sie nicht erfüllte.

Es hätte doch der perfekte Beruf für sie sein müssen, so, wie ihre Eltern es immer behaupteten. Lernen hatte ihr immer Spaß gemacht, und sie hatte schnell und gut gelernt. Sie hatte studiert und ihr Lehrerstudium abgeschlossen. Mit siebenundzwanzig war sie bereits seit über vier Jahren Lehrerin.

Und eine gute Lehrerin dazu, dachte sie jetzt, während sie vor dem Kamin an ihrem Tee nippte. Sie hatte ein untrügliches Gespür für die Talente und Schwächen ihrer Schüler, wusste sofort, wie sie sie an Lerninhalte heranführen musste, um ihr Interesse zu wecken, um sie herauszufordern und zu fördern.

Und doch zögerte sie es immer wieder hinaus, ihren Doktortitel zu machen. Jeden Morgen wachte sie irgendwie unbefriedigt auf und kam abends genauso unerfüllt wieder nach Hause.

Weil sie nie wirklich mit dem Herzen dabei gewesen war.

Als Rowan das denjenigen, die sie liebten, zu erklären versucht hatte, waren alle wie erschlagen gewesen. Ihre Schüler verehrten sie, die Schulverwaltung hielt große Stücke auf sie. Warum beendete sie nicht ihre Dissertation, heiratete Alan und führte das nette, angesehene Leben, das ihr zustand und das sich gehörte?

Ja, warum eigentlich nicht, fragte sie sich jetzt selbst. Weil die einzige Antwort, die sie hatte, für sich und die anderen, in ihrem Herzen lag.

Aber zum Grübeln war sie nicht hergekommen, sondern zum Nachdenken, erinnerte sie sich. Sie würde einen kleinen Spaziergang machen, sich ein wenig umsehen, die Gegend auskundschaften. Sie wollte die Klippen sehen, von denen Belinda ihr so viel vorgeschwärmt hatte.

Aus reiner Gewohnheit schloss sie die Tür ab und atmete tief die würzige Meeresluft ein. Das schnell dahingekritzelte Bild von der Landschaft, das Belinda für sie gezeichnet hatte, tauchte wieder vor ihr auf, und so schlug Rowan, ihre Unsicherheit ignorierend, den Pfad in westlicher Richtung ein.

Sie hatte noch nie außerhalb der Stadt gelebt. In San Francisco großzuwerden hatte sie nicht auf die schier endlose Weite der Wälder Oregons vorbereitet, auf die Gerüche, auf die verschiedenen Laute. Und doch wich ihre Nervosität langsam, machte Platz für das Erstaunen über die wunderbare Natur.

Es war wie ein Buch, eine unglaublich reiche Story, angefüllt mit Farben und Texturen. Die gigantischen Douglasfichten, unter deren ausladenden Ästen Rowan wandelte, ließen das Sonnenlicht auf den Waldboden fallen, der mit dickem dunkelgrünem Moos bewachsen war. Im Schatten der Bäume war es kühler, das würzig-herbe Aroma erfüllte die Luft. Farne wuchsen zwischen den Wurzeln, manche kräftig und gerade wie Schwerter, andere feingliedrig und filigran. Wie Elfen, dachte Rowan mit einem Anflug von Romantik, die nur bei Nacht tanzen.

Der Fluss schlängelte sich dahin, das Wasser ergoss sich fröhlich murmelnd über Kiesel und Steine, fiel dann donnernd und rauschend über eine Ansammlung von Felsbrocken und bildete weißen Schaum, der sich im weiteren Verlauf wieder auflöste. Rowan ließ sich von der Musik des Windes führen.

Etwas weiter flussaufwärts gab es eine Biegung, das wusste Rowan, und dort würde ein alter Baumstumpf stehen, der an das Gesicht eines alten Mannes erinnerte. Fingerhut wuchs hier, im Sommer würden die Stauden hoch und stark werden und in ihrer violetten Blütenpracht prangen. Ein guter Platz, um sich hinzusetzen und auszuspannen, dem Wald dabei zuzusehen, wie er zu neuem Leben erwachte.

Erstaunt blieb sie stehen, als sie um die Biegung kam und der alte Baumstumpf mit der rissigen Rinde tatsächlich wie das Gesicht eines alten Mannes aussah. Woher hatte sie gewusst, dass es so sein würde? Sie rieb sich mit dem Handballen über die Brust, dort, wo ihr Herz plötzlich schneller schlug. Das war nicht auf Belindas Zeichnung gewesen, wie also hatte sie das wissen können?

»Weil Belinda es bestimmt irgendwann mal erwähnt hat. Sie hat’s mir erzählt, das ist es. Denn es ist genau die Art von Detail, die sie mir beschreiben und die ich sofort wieder vergessen würde.«

Doch Rowan setzte sich nicht hin, beobachtete nicht, wie der Wald um sie herum zu Leben erwachte. Irgendwie schien er schon lebendig zu sein. Verzaubert, dachte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Der Zauberwald, von dem jedes kleine Mädchen träumt, wo Elfen und Feen tanzen und der junge Prinz darauf wartet, die schöne Prinzessin aus den Klauen der bösen Hexe oder des bösen Zauberers zu befreien.

Hier gab es nichts, wovor sie Angst haben müsste. Dieser Wald war ihrer, solange sie es wollte. Hier gab es niemanden, der tadelnd den Kopf schüttelte, wenn sie wieder einmal ihren Tagträumen nachhing, sich in einer Märchenwelt verlor. Ihre Träume gehörten auch ihr.

Wenn sie einem kleinen Mädchen eine Geschichte erzählen wollte, so würde es eine Geschichte über einen verwunschenen Wald sein. Und den Prinzen, der darin umherirrte, auf der Suche nach der einen, der wahren Liebe. Natürlich war der Prinz verzaubert, er war gefangen in der Form eines schlanken, kräftigen schwarzen Wolfes. Bis die schöne Maid kam und ihn von dem Fluch befreite, mit ihrem Mut, ihrer Klugheit und mit ihrer Liebe.

Rowan seufzte. Sie wünschte, sie hätte das Talent zum Geschichtenerzählen. Die Themen flogen ihr nur so zu, aber die Details … Sie konnte sie nie ausarbeiten, um eine spannende Geschichte zu erfinden und sie in allen Einzelheiten zu erzählen.

Deshalb las sie und bewunderte diejenigen, die diese Fähigkeit besaßen.

Sie vernahm leises Meeresrauschen, wie der Nachhall einer Erinnerung, und schlug ohne zu zögern den linken Pfad der Weggabelung ein. Was erst wie ein Flüstern geklungen hatte, wurde zu einem gewaltigen Donnern, und Rowan beschleunigte ihre Schritte. Fast rannte sie, als sie aus dem Wald hervorbrach und die Klippen erblickte.

Die festen Wanderstiefel klickten hart auf den Felsen, als sie die Klippen erklomm. Der Wind zerrte und riss an dem, was von ihrem Zopf noch übrig war, und schon bald flatterte ihr Haar offen und frei und lang. Lachen brodelte in ihr, quoll über, aus ihrer Kehle, voller Entzücken, als sie atemlos oben auf den Klippen stand.

Es war mit Abstand der überwältigendste Anblick, den sie je gesehen hatte. Der endlose blaue Ozean, gesäumt von weißen Schaumkronen, wenn das Wasser sich mit Wucht an den Felsen brach. Die Nachmittagssonne tauchte die Szenerie in goldenes Licht, durchsetzte die blaue Fläche mit funkelnden Lichtdiamanten.

In der Ferne erkannte sie Boote und Schiffe, die den Wellen trotzten, und eine vorgelagerte kleine Insel, die wie eine geballte Faust aus dem Wasser ragte.

An den Felsen unter ihr konnte sie schwarz schimmernde Miesmuscheln hängen sehen, und als sie genauer hinblickte, bemerkte sie ein Vogelnest, das in eine kleine Nische gebaut worden war. Vorsichtig ließ sie sich auf den Bauch nieder und wurde dafür mit dem Anblick von Vogeleiern belohnt.

Rowan stützte das Kinn auf die Hände und sah den Booten nach, bis sie hinter dem Horizont verschwunden waren und das Meer leer dalag. Die Schatten waren lang geworden.

Sie richtete sich auf, blieb in der Hocke und sah zum Himmel auf. »Das ist das erste Mal seit viel zu langer Zeit, dass ich einen ganzen Nachmittag gar nichts getan habe.« Sie seufzte zufrieden. »Und es war einfach herrlich.«

Sie stand auf, streckte die Arme in die Luft, drehte sich einmal um die eigene Achse. Und wäre fast über den Rand der Klippen gefallen, hätte er sie nicht zurückgehalten und auf sicheren Boden zurückgezogen.

»Vorsicht«, sagte er ruhig. Es klang eher wie ein Befehl denn wie ein guter Rat.

Er hätte durchaus als die Verkörperung des Märchenprinzen durchgehen können, in den Träumen gleich welcher Frau. Oder als dunkler Engel. Sein Haar war schwarz wie eine mondlose Nacht und umspielte locker sein Gesicht. Ein Gesicht mit markanten Konturen, kräftigen Knochen und einem festen Mund, der nicht lächelte. Ein makelloses Bildnis männlicher Schönheit.

Er war groß. Rowan hatte nur eine Ahnung davon, denn es waren seine Augen, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich zogen. Die Augen des Wolfs, den sie gesehen hatte – wachsam und golden, mit durchdringendem Blick, unter Brauen, die ebenso schwarz waren wie sein Haar. Diese Augen blickten jetzt direkt und unablässig in ihre, ließen ihr Blut heißer durch ihre Adern fließen. Sie spürte die Kraft seiner Hände, denn noch immer hatte er sie nicht losgelassen, obwohl sie sowohl Ungeduld als auch Neugier in seiner Miene erkannte.

»Ich wollte nur … Sie haben mich erschreckt. Ich habe Sie nicht gehört. Auf einmal waren Sie einfach da.« Sie merkte, dass sie sinnloses Zeug daherplapperte, und wand sich.

Es war seine Schuld, dessen war er sich bewusst. Er hätte sie auf seine Anwesenheit vorbereiten können. Aber wie sie da so gelegen hatte, auf den Felsen, mit diesem verträumten Lächeln auf dem Gesicht, das hatte etwas mit ihm angestellt, dass er nicht mehr überlegt hatte.

»Sie haben mich nicht gehört, weil Sie geträumt haben.« Er hob eine schwarze Augenbraue. »Und mit sich selbst gesprochen haben.«

»Oh. Das ist eine schlechte Angewohnheit von mir, diese Selbstgespräche.«

»Sind Sie nervös?«

»Nein, bin ich nicht. War ich nicht, meine ich.« Himmel, in einer Sekunde würde sie zu zittern anfangen, wenn er sie nicht bald losließ. Es war lange her, dass sie einem anderen Mann als Alan so nahe gewesen war. Und noch länger, seit sie eine solche Reaktion auf die Nähe eines Mannes gespürt hatte. Nein, eigentlich hatte sie noch nie eine solche Reaktion verspürt, nicht so stark, nicht so intensiv, nicht so verwirrend. Und schon gar nicht direkt am Rande einer Klippe.

»Sie waren also nicht nervös.« Er ließ seine Finger zu ihren Handgelenken gleiten, dort, wo ihr Puls hämmerte. »Aber jetzt sind Sie es.«

»Sie haben mich erschreckt, das sagte ich doch schon.« Es kostete Anstrengung, aber sie sah über ihre Schulter zurück und den Abhang hinunter. »Ich wäre tief gefallen.«

»Allerdings.« Er zog sie noch zwei Schritte zurück. »Besser?«

»Ja, danke … Ich heiße übrigens Rowan Murray. Belinda Malone hat mir ihr Blockhaus für eine Weile überlassen.« Sie hätte ihm ja gern ihre Hand geboten, aber das war unmöglich, da er immer noch ihre Handgelenke umklammert hielt.

»Donovan. Liam Donovan«, stellte er sich vor und ließ dabei seine Daumen sanft über ihre Haut kreisen. Was ihren Puls seltsamerweise beruhigte.

»Sie sind nicht von hier.«

»So? Bin ich nicht?«

»Ich meine … Ihr Akzent. Irisch.«

Als seine Lippen sich zu einem Lächeln verzogen und sich dieses Lächeln auch in seinen Augen widerspiegelte, hätte sie fast aufgeseufzt wie ein Teenager. »Ich komme aus Mayo, aber ich lebe jetzt schon seit fast einem Jahr hier in dieser Blockhütte. Belindas Haus liegt knapp eine halbe Meile entfernt.«

»Also kennen Sie sie?«

»Ja, gut sogar. Wir sind sozusagen entfernte Verwandte.« Er lächelte nicht mehr. Ihre Augen hatten das gleiche Blau wie die wilden Glockenblumen, die auf den sonnigen Lichtungen im Wald wuchsen. Und sie waren völlig klar und ohne Argwohn. »Sie hat mir nichts davon gesagt, dass ich einen Nachbarn zu erwarten habe.«

»Wahrscheinlich hat sie einfach nicht daran gedacht. Mir hat sie davon ja auch nichts gesagt.« Rowans Hände waren jetzt frei, auch wenn sie noch immer die Wärme seiner Finger fühlen konnte. Wie unsichtbare Armbänder. »Was tun Sie hier oben?«

»Das, was ich will. Ihnen wird es genauso ergehen. Es ist mal eine angenehme Abwechslung.«

»Wie bitte?«

»Sie haben doch bestimmt schon oft genug Dinge getan, die Sie eigentlich nicht tun wollten, nicht wahr, Rowan Murray?«

Sie schüttelte sich leicht und steckte die Hände in die Taschen. Die Sonne versank am Horizont, es wurde langsam kühl. Das musste wohl der Grund für den plötzlichen Kälteschauer sein. »In Zukunft werde ich mehr darauf achten, dass ich keine Selbstgespräche führe, wenn ein so leichtfüßiger Nachbar in der Nähe wohnt.«

»Eine halbe Meile Distanz zwischen uns müsste genug sein. Ich schätze nämlich meine Privatsphäre.« Er sagte es bestimmt, Rowan schien es, als sagte er es nicht zu ihr, sondern zu jemand anderem, dort in der Dunkelheit des Waldes. Dann glitt sein Blick wieder zu ihrem Gesicht zurück, blieb darauf haften. »Und ich werde Ihre nicht stören.«

»Ich wollte nicht unhöflich erscheinen.« Sie versuchte zu lächeln, wünschte, sie hätte nicht so brüsk und abweisend mit ihm gesprochen. »Ich habe bisher immer in der Stadt gelebt. Da gab es so viele Nachbarn, dass ich sie überhaupt nicht wahrgenommen habe.«

»Das passt gar nicht zu Ihnen.«

»Wie?«

»Die Stadt. Das Leben in der Stadt passt nicht zu Ihnen. Sonst wären Sie nicht hier, oder?« Und was, zum Teufel, ging ihn das an, ob es zu ihr passte oder nicht? Sie bedeutete ihm nichts, bis er etwas anderes beschloss.

»Ich … ich brauchte nur eine kleine Auszeit.«

»Da sind Sie hier gerade richtig. Finden Sie den Weg zurück?«

»Zu der Hütte? Ja, natürlich. Ich muss nur dem Flusslauf folgen und rechts abbiegen.«

»Bleiben Sie nicht mehr zu lange.« Er drehte sich um und begann den Abstieg, drehte sich nur noch einmal kurz zu ihr um, um sie anzusehen. »Die Nacht fällt hier schnell ein, und im Dunkeln verläuft man sich leicht, wenn man sich nicht gut genug auskennt.«

»Ja, ich werde bald zurückgehen. Mr. Donovan … Liam …«

Er hielt wieder an, Ungeduld flackerte in seinem Blick auf. »Ja?«

»Ich habe mich nur gefragt … Wo ist Ihr Hund?«

Sein Lächeln kam so spontan, so strahlend und so ehrlich amüsiert, dass sie automatisch zurücklächelte. »Ich habe keinen Hund.«

»Aber ich dachte … Gibt es hier noch andere Blockhütten in der Nähe?«

»Nicht im Umkreis von drei Meilen. Hier gibt es nur uns, Rowan, und die Wälder und was in ihnen lebt.« Er sah den beunruhigten Blick, den sie zum Waldrand hin warf. »Hier droht Ihnen keine Gefahr. Genießen Sie Ihren Spaziergang und den Abend. Und Ihre freie Zeit.«

Bevor Rowan noch ein Grund einfiel, Liams Weggehen weiter hinauszuzögern, hatte der Schatten der Bäume ihn verschluckt. Erst jetzt fiel ihr auf, wie schnell die Dämmerung hereingebrochen, wie plötzlich der scharfe Wind aufgekommen war. Ihren Stolz aufgebend, eilte sie die Felsen hinunter und rief nach ihm.

»Liam! Warten Sie eine Minute! Ich laufe ein Stück mit Ihnen …«

Doch sie hörte nur das Echo ihrer eigenen Stimme. Mit trockener Kehle lief sie zu der Stelle, wo sie ihn hatte verschwinden sehen, aber da war keine Spur mehr von ihm.

»Nicht nur geräuschlos«, murmelte sie in sich hinein, »sondern auch schnell. Na schön.« Um sich zu wappnen, atmete sie tief durch. »Es gibt nichts hier im Wald, das nicht auch vorhin schon hier gewesen wäre, als es noch hell war. Also geh jetzt einfach den gleichen Weg zurück, den du gekommen bist, und hör auf, dich wie eine Närrin zu fürchten.«

Doch je tiefer Rowan in den Wald hineinging, desto düsterer und bedrohlicher wurden die Schatten. Dünner Nebel tanzte über dem Waldboden, und sie hätte schwören mögen, dass sie leise Musik hörte – wie Glockentöne. Oder Lachen. Es harmonierte mit dem Murmeln und Rauschen des Wassers, passte zu dem Pfeifen und Seufzen des Windes. Wie eine Melodie.

Das muss ein Radio sein, dachte sie. Oder ein Fernseher. Wenn es so still war, konnte man Klänge meilenweit hören. Wahrscheinlich hatte Liam Musik in seiner Hütte angestellt. Seltsam nur, dass der Klang direkt vor ihr zu sein schien, also aus Richtung ihres eigenen Blockhauses kam. Nun, der Wind spielte ihr wahrscheinlich einen Streich und trug die Klänge herüber.

Der erleichterte Seufzer, den sie ausstoßen wollte, als sie schließlich an der letzten Flussbiegung ankam, blieb ihr in der Kehle stecken, als sie plötzlich ein goldenes Augenpaar im Dickicht auffunkeln sah. Dann raschelte es im Unterholz, und die blitzenden Augen waren wieder verschwunden.

Rowan beschleunigte ihre Schritte, bis sie fast rannte. Sie verlangsamte ihr Tempo erst wenige Meter vor der Haustür. Und Atem holte sie erst wieder, als sie schon im Haus und die Tür sicher verschlossen war.

Hastig streifte sie durchs Haus, schaltete alle Lampen ein, auch im Obergeschoss. Dann schenkte sie sich ein Glas von dem Wein ein, den sie mitgebracht hatte, und sprach einen Toast aus: »Auf einen seltsamen Anfang, geheimnisvolle Nachbarn und nicht existente Hunde.«

Um sich heimischer zu fühlen, wärmte sie eine Dosensuppe für sich auf und aß im Stehen am Küchenfenster. Gedankenverloren sah sie hinaus in die Dunkelheit, so wie sie es oft in ihrer Wohnung in der Stadt tat.

Aber die Tagträume hier waren weicher, sanfter und doch klarer und deutlicher. Da waren die hohen Bäume, das Schlagen der Wellen und das letzte Licht des Tages.

Ein gut aussehender Mann mit goldenen Augen, der auf den windzerklüfteten Klippen stand und sie anlächelte.

Sie seufzte still. Warum hatte sie nicht geschliffen und weltgewandt sein können? Ein wenig flirten, sich lässig geben … Dann hätte er sie vielleicht mit Interesse betrachtet statt mit Ungeduld und leichter Verärgerung.

Lächerlich, ermahnte sie sich. Da Liam Donovan mit Sicherheit nicht eine Sekunde damit verschwendete, an sie zu denken, war es auch absolut unsinnig, dass sie an ihn dachte.

Mit automatischen Bewegungen schaltete sie die Lampen aus, während sie nach oben ging. Sie hatte vor, sich mit einem langen Bad in der gusseisernen, vierfüßigen Badewanne zu verwöhnen und sich ein zweites Glas Wein zu gönnen.

Ein Luxus, den sie sich viel zu selten gestattete.

»Das wird sich ändern«, sagte sie laut, als sie in das duftende Wasser glitt. »Viele Dinge werden sich ändern. Ich muss mich nur immer wieder daran erinnern.«

Als das Wasser zu kühl wurde, stieg Rowan aus der Badewanne und schlüpfte in den warmen Flanell-Pyjama, den sie neu erstanden hatte. Das Kaminfeuer im Schlafzimmer flackerte fröhlich, und mit einem zufriedenen Seufzer kroch Rowan unter das dicke Federbett, um sich ihr Buch zur Hand zu nehmen.

Zehn Minuten später war sie eingeschlafen. Die Lesebrille rutschte ihr von der Nase, das Licht brannte noch, und der Wein im Glas wurde warm.

Sie träumte von einem schwarzen Wolf, der auf leisen Pfoten in ihr Zimmer kam und sie mit neugierigen goldenen Augen betrachtete, während sie schlief. Ihr war, als würde er mit ihr reden, nicht mit Worten, sondern durch seine Gedanken.

Ich habe nicht nach dir gesucht. Ich habe nicht auf dich gewartet. Ich will nicht, was du mir bringst. Geh zurück in deine Welt, Rowan Murray, deine sichere Welt. Meine Welt ist nichts für dich.

Ihre Antwort war nur gedacht: Ich brauche doch nur Zeit für mich. Ich suche nichts anderes als Zeit.

Er kam näher an das Bett heran, sodass ihre Hand fast seinen Kopf berühren konnte. Wenn du hierbleibst, könnte das für uns beide Folgen haben. Wir könnten beide gefangen werden. Bist du bereit, dieses Risiko einzugehen?

Oh, sie wollte so gern berühren, fühlen. Mit einem leisen Seufzer ließ sie ihre Hand über das warme seidige Fell gleiten, vergrub ihre Finger darin. Es ist an der Zeit, dass ich einmal ein Risiko eingehe.

Und unter ihrer Hand wurde der Wolf zu einem Mann. Sie spürte seinen Atem an ihrem Gesicht, als er noch näher kam und sich über sie beugte. »Wenn ich dich jetzt küssen würde, Rowan, was würde dann geschehen?«

Ihr ganzer Körper schien plötzlich vor Verlangen zu glühen. Sie wälzte sich, bog sich dem Mann mit einem Seufzer entgegen, griff nach ihm, um ihn zu sich zu ziehen.

Liam legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Schlaf«, flüsterte er und nahm ihr die Brille herunter. Er drehte das Licht aus und ballte die Fäuste, als das Verlangen, sie zu berühren, ihn zu überwältigen drohte. »Verflucht, ich will das nicht. Ich will sie nicht.«

Er warf die Arme in die Höhe und löste sich in Luft auf.

Später, viel später, träumte Rowan von einem Wolf, schwarz wie die Nacht, der auf den Klippen über dem Meer saß. Den Kopf hatte er weit in den Nacken gelegt, während er den schimmernden Vollmond anheulte, seine Augen leuchteten in der Dunkelheit.

2. KAPITEL

In den nächsten Tagen wurde es Rowan zur Angewohnheit, nach dem Wolf Ausschau zu halten. Meist sah sie ihn früh am Morgen oder in der Abenddämmerung, direkt am Waldrand, im Schatten der Bäume.

Er beobachtet das Haus, dachte sie.

Ihr wurde klar, dass das, was sie empfand, wenn sie ihn einmal nicht sah, Enttäuschung war. Sie stellte sogar Teller mit Essensresten hinaus, in der Hoffnung, ihn mit diesem Futter anzulocken, ihn zu einem regelmäßigen Besucher werden zu lassen, den sie als Mitbewohner ihrer kleinen Welt hier draußen betrachtete, der schon fast zu ihrem Leben gehörte.

Überhaupt dachte sie viel an den Wolf. Fast jeden Morgen erwachte sie und konnte sich an Traumfetzen erinnern, in denen Bilder von dem Wolf auftauchten, wie er in der Nacht an ihrem Bett gesessen, wie sie die Hand ausgestreckt und sein seidiges Fell gestreichelt hatte.

Manchmal vermischten sich die Grenzen, und im Traum wurde der Wolf zu ihrem Nachbarn. Dann wachte sie morgens auf, zitternd vor sexueller Frustration und Scham über sich selbst.

Wenn sie es logisch betrachtete, so war Liam Donovan das einzige menschliche Wesen, zu dem sie in den letzten Wochen Kontakt gehabt hatte. Daher war es nicht verwunderlich, dass er, noch dazu als ausgesprochen ansehnlicher Vertreter der männlichen Spezies, sich für erotische Träume geradezu anbot.

Lieber beschäftigte sie sich jedoch mit dem Wolf, erfand eine Geschichte um ihn. Sie bildete sich gern ein, dass er ihr Wächter sei und sie vor allen bösen Geistern beschützte, die dort im Wald leben mochten.

Die meiste Zeit verbrachte sie mit Lesen, Zeichnen oder langen Spaziergängen. Und versuchte dabei zu verdrängen, dass es bald an der Zeit war, den versprochenen wöchentlichen Anruf bei ihren Eltern zu absolvieren.

Oft hörte sie Musik, die durch ihre Fenster drang oder durch die Luft im Wald schwang. Flöten, Glocken und Streicher. Einmal glaubte sie eine Harfenmelodie zu hören, so süß und rein, dass es ihr das Herz zusammenzog.

Und während sie die Ruhe und den Frieden genoss, während sie auskostete, dass niemand Anforderungen an sie stellte, niemand ihre Zeit in Anspruch nahm, durchlebte sie doch auch Momente solch intensiver Einsamkeit, dass es sie geradezu körperlich schmerzte. Aber auch wenn das Verlangen danach, eine menschliche Stimme zu hören, menschlichen Kontakt zu haben, an ihr zerrte, so brachte sie es nicht über sich, Liam aufzusuchen.

Ihn vielleicht auf eine Tasse Kaffee einladen, dachte sie, als sie beobachtete, wie die Dämmerung sich über den Wald senkte und der Wolf sich immer noch nicht hatte blicken lassen. Oder vielleicht zu einem gemeinsamen Abendessen. Eine kleine, unverbindliche Unterhaltung. Abwesend drehte sie eine Haarsträhne um ihre Finger.

»Ist er denn nie einsam?«, fragte sie sich. »Was macht er denn nur den ganzen Tag, die ganze Nacht?«

Der Wind heulte auf, in der Ferne grollte Donner. Ein Gewitter, dachte Rowan. Sie ging zur Tür und zog sie auf, um die kühle Luft hereinzulassen. Am Himmel konnte sie die sich auftürmenden Wolken sehen, am Horizont zuckte ein Blitz durch die Nacht.

Es würde wunderbar werden, mit dem rhythmischen Getrommel des Regens auf dem Dach einzuschlafen. Oder noch besser, sich mit einem guten Buch ins Bett zu verkriechen, die halbe Nacht durchzulesen und dem Regen und dem Wind zu lauschen, der ums Haus heulte.