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Ihre Welt war perfekt. Bis die Liebe alle Regeln brach. Helens Welt ist eigentlich perfekt: Neben ihrer Karriere als Professorin in Oxford baut sie gerade ihr zweites Standbein als Cosy-Krimi-Autorin sehr erfolgreich weiter aus. Dass in ihrem Leben kaum Platz für Liebe und Beziehung ist, stört dabei nur selten. Doch dann tritt Rory in ihr Leben – und wirft alles über den Haufen, was Helen sich so mühsam aufgebaut ist. Denn Rory ist nicht nur viel zu jung, zu attraktiv und ihre Doktorandin, sie weckt auch nie gekannte Gefühle in Helen. Doch wie soll man zwischen Vernunft und Gefühl wählen, wenn das Herz sich doch eigentlich längst entschieden hat?
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Seitenzahl: 333
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Inhaltsverzeichnis
Von Harper Bliss außerdem lieferbar
1 Helen
2 Rory
3 Helen
4 Rory
5 Helen
6 Rory
7 Helen
8 Rory
9 Helen
10 Rory
11 Helen
12 Rory
13 Helen
14 Rory
15 Helen
16 Rory
17 Helen
18 Rory
19 Helen
20 Rory
21 Helen
22 Rory
23 Helen
24 Rory
25 Helen
26 Rory
27 Helen
28 Rory
29 Helen
30 Rory
31 Helen
32 Rory
33 Helen
34 Rory
35 Helen
36 Rory
37 Helen
38 Rory
39 Helen
40 Rory
41 Helen
42 Rory
43 Helen
44 Rory
45 Helen
46 Rory
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
Über Harper Bliss
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Ergreif die Sterne
Summer’s End
Sommergeflüster zu zweit
Kaffee mit einem Schuss Liebe
1
Helen
Ich habe noch zehn Minuten Zeit bis zu meinem ersten Termin und greife automatisch nach meinem Handy. Mein Finger schwebt schon über meiner bewährten Diktier-App, doch dann halte ich inne. Nicht hier.
Seufzend stecke ich das Gerät wieder ein. Bei meiner Ankunft heute Morgen war ich gerade mitten in einer wichtigen Szene gewesen, doch es hätte seltsam ausgesehen, allein in meinem Auto auf dem Parkplatz herumzusitzen, also hatte ich das Diktat abgebrochen – auf der anderen Seite wäre es vielleicht gar nicht aufgefallen, weil heutzutage so viele Menschen ständig aussehen, als würden sie mit sich selbst reden.
Jetzt muss ich allerdings meinem Job an der Universität nachgehen und ich kann die beiden Arbeitsbereiche nicht miteinander vermischen, selbst wenn meine Bürotür geschlossen ist und ich allein bin.
Stattdessen greife ich nach dem Blatt Papier, das ich vorhin ausgedruckt habe. Victoria Carlisle. Klingt nach Upper Class. Aber ich habe mir inzwischen beigebracht nicht voreingenommen zu sein – soweit es eben geht. Das hier ist Oxford. Leute aus der Oberschicht gibt es hier genug. Über die Jahre habe ich viele Studierende aus den unterschiedlichsten Lebenshintergründen kommen und gehen sehen, aber die Mehrzahl gehört eher zur Oberschicht.
Ich werfe einen Blick auf Victoria Carlisles Foto. Wird das die letzte Studentin sein, die ich betreue?
»Könntest du tatsächlich sein, Victoria Carlisle«, erkläre ich dem ausgedruckten Bild. Dunkle Haare, braune Augen. Breiter Mund, volle Lippen. Vielleicht hat sie in einer meiner ersten Vorlesungen gesessen, aber erinnern kann ich mich nicht an sie – trotz ihres erinnerungswürdigen Munds.
Es klopft an meiner Tür.
»Ja?« Ich lasse das Blatt sinken.
Die Tür öffnet sich und herein kommt die Frau, deren Foto ich gerade noch so eingehend betrachtet habe. Sie trägt Jeans und einen Rollkragenpullover, die Haare sind zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
»Hallo, Professor Swift.« Sie kommt auf mich zu und streckt mir eine Hand entgehen. »Ich bin Victoria.«
Nach einem kurzen Händeschütteln biete ich ihr einen Stuhl an.
»Okay …« Sie schaut mir direkt in die Augen und schenkt mir ein breites Lächeln. »Ich muss zugeben … Ich bin ein bisschen nervös.«
Ihre Stimme klingt klar. Auch ihre Körpersprache und ihr Gesichtsausdruck widersprechen ihrer Aussage. Die Atmosphäre in meinem Büro hat sich verändert, als sie über die Schwelle getreten ist. Victoria ist einer dieser Menschen, die alle Blicke auf sich ziehen, die positive Energie um sich herum verbreiten. Ein Klischee, dass ich nie und nimmer so in meinen Romanen ausdrücken würde.
»Das müssen Sie nicht sein.« Jetzt macht sie mich ein bisschen unruhig. Wenn sie ihre Promotion abgeschlossen hat, wird sie eines Tages eine hervorragende Dozentin abgeben – anders als ich vielleicht. Bei manchen Leuten sieht man schon auf den ersten Blick, dass eine glänzende Karriere vor ihnen liegt.
»So wie ich das sehe …« Sie legt den Kopf ein wenig schief. »… sind Sie meine einzige Chance, mich so tiefgreifend in die wissenschaftliche Forschung einzuarbeiten.«
Ich ziehe die Augenbrauen nach oben. Dass Victoria in die Forschung gehen will, weiß ich bereits. Das hat sie mir in ihren E-Mails detailliert dargelegt. »Das würde ich nicht so schwarz-weiß sehen, Miss Carlisle.«
»Nun, Sie wissen sicher, was ich meine.« Wieder ein breites Lächeln, dieses Mal in Verbindung mit einem Augenzwinkern.
Himmel, diese Frau kommt direkt zum Punkt. Wie so viele junge Leute heutzutage, die deutlich weniger Distanz zum Lehrpersonal haben, als es noch zu meiner Zeit üblich war. So richtig habe ich mich bis heute noch nicht daran gewöhnt.
Natürlich weiß ich, was sie meint. »Professor Monohan interessiert sich für das Thema, das Sie vorgeschlagen haben.«
Victoria schüttelt den Kopf. »Nein, tut sie nicht.«
»Haben Sie bei ihr angefragt?«
»Ja und sie wollte sich nicht einmal mit mir treffen, um darüber zu sprechen.«
Das passt zu ihr. »Dann bin ich Ihre zweite Wahl?«
»Absolut nicht, Professor«, erwidert sie wie aus der Pistole geschossen. »Sie waren immer meine erste Wahl, aber ich wollte auf Nummer sicher gehen.«
»Haben Sie es bei Professor Fleming versucht?«, erkundige ich mich, eher für meinen persönlichen Unterhaltungsfaktor.
»Nein, natürlich nicht.« Sie klingt, als wäre die Frage vollkommen absurd.
»Na schön.« Zeit, den Stein ins Rollen zu bringen. »Die Entwicklung lesbischer Figuren in der englischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts.«
Victoria nickt.
»Ich gehe davon aus, dass Sie sich dieses Thema gut überlegt haben?« Eine weitere, dumme Frage, die ich ihr jedoch stellen muss.
»Gegenstand meiner Masterarbeit war lesbische Groschenheftliteratur der Fünfziger und Sechziger, also ist die Doktorarbeit nur die Ausweitung des Themas. Ich habe einfach das Gefühl, dass es dazu noch so viel zu sagen gibt und eine Promotion verleiht dem Ganzen mehr Gewicht.«
»Sie scheinen mit sehr viel Leidenschaft an die Sache ranzugehen.« Ich nehme mir einen Moment, um ihr Gesicht eingehender zu mustern.
»Das stimmt.« Sie setzt sich aufrechter hin. »Lesbische Frauen sind in fast jedem Lebensaspekt die unsichtbarste Minderheit. Unabhängig von den Gründen für diese Tatsache, möchte ich gern so viele lesbische Figuren aus den letzten hundert Jahren englischer Literatur ans Licht bringen wie nur möglich. Da bin ich in der Tat sehr leidenschaftlich bei der Sache.«
»Gut.« Ich nicke ihr aufmunternd zu. Das Ziel dieser Vorgespräche ist es immer, das Durchhaltevermögen der Doktoranden ab- und einzuschätzen – so gut es eben möglich ist. Die Abbruchquote ist unglaublich hoch und eine große Menge vielversprechender Dissertationen werden nie fertiggestellt. Ich für meinen Teil würde jedenfalls gern die fertige Arbeit bei diesem speziellen Projekt lesen. Im Moment wirkt Victoria Carlisle zumindest sehr enthusiastisch. Ich sehe eine Entschlossenheit in ihrem Blick, wie sie mir nur selten begegnet. Das könnte eine der wenigen sein, die es schafft. »Ich würde sehr gern Ihre Doktormutter werden.«
»Ja!« Victoria reckt triumphierend eine Faust in die Luft.
Das entlockt mir ein kleines Lächeln und es weckt meine Begeisterung für meinen eigenen Job wieder ein bisschen. Das gute Gefühl, dass ich irgendwo auf meinem Weg verloren zu haben scheine. Es ist schon eine Weile her, seit ich das letzte Mal jemanden wie Victoria kennengelernt habe. Nur noch ein Jahr Vollzeit, erinnere ich mich. Ende des Jahres werden meine anderen Doktoranden ihre Dissertationen fertiggestellt haben und auch in Teilzeit wird mir mehr als genug Zeit für Victoria zur Verfügung stehen. Um dieser Frau dabei zu helfen, ihre Forschungsarbeit zu beginnen. Inzwischen finde ich den Gedanken recht angenehm.
Victoria fasst sich wieder und faltet die Hände im Schoß.
»Während der ersten Monate treffen wir uns einmal die Woche.« Ich freue mich schon darauf, mich mit Victoria über ihre Rechercheabenteuer zu unterhalten. Als ich noch studiert habe, wäre es zwar nicht vollkommen undenkbar gewesen, eine Doktorarbeit über dieses Thema zu verfassen, aber man hätte viel mehr Überzeugungsarbeit leisten müssen, um eine Genehmigung dafür zu erhalten. Ich hatte allerdings auch keine geouteten Professoren, an die ich mich hätte wenden können. Aktuell gibt es allein in der Fakultät für Englische Sprache und Literatur drei von uns – und einige Gerüchte um eine Vierte.
»Ich freue mich sehr darauf, Professor Swift«, erwidert Victoria.
2
Rory
Professor Swift hat keine Ahnung, wie sehr ich mich auf die Zusammenarbeit mit ihr freue. Insgeheim habe ich zwar gehofft, dass sie mich zweimal die Woche sehen will, um meine Fortschritte zu besprechen – oder mich zur Feier des Tages zum Mittagessen einladen würde. Aber ich begnüge mich mit einmal die Woche. Ich nehme was ich kriegen kann.
Vorsichtig werfe ich ihr einen Seitenblick zu und frage mich, ob sie noch mehr wissen will. Vielleicht braucht sie noch Informationen über meine wissenschaftlichen Arbeitsmethoden oder eine Kopie meiner Masterarbeit. Die ich für genau diesen Zweck dabei habe.
Sie bewegt ihre Computermaus und schaut auf den Bildschirm. »Passt Ihnen montags um drei?«
»Selbstverständlich.« Dazu muss ich nicht mal in meinen Kalender schauen. Ich richte es so oder so ein.
»Gibt es sonst noch etwas?« Professor Swifts hellblaue Augen schauen mich auf einmal ein wenig kühler an.
»Ähm, nein.« Ich bin so gut auf dieses Treffen vorbereitet, habe alle Antworten auf ihre möglichen Fragen parat, aber sie scheint mir überhaupt keine stellen zu wollen. Vielleicht hat sie schon vor dem Termin beschlossen, mich anzunehmen. Wie der gesprächige Typ kommt sie mir zumindest nicht vor, aber ihr eisiger Blick ist sehr aufmerksam.
»Ich gehe davon aus, dass Sie wissen, was Sie als Nächstes zu tun haben?« In ihrer Stimme schwingt leiser Zweifel mit.
»Ja.« Ich stehe mit einer schwungvollen Bewegung auf. »Ich berichte Ihnen dann nächste Woche.« Noch einmal reiche ich ihr die Hand. Professor Swift beäugt sie einen Moment lang, erhebt sich dann jedoch und schüttelt sie, bevor sie mir zunickt und meine Hand wieder loslässt.
Ich verlasse das Büro und recke noch einmal die Faust in die Luft, sobald die Tür hinter mir zugefallen ist. Vom ersten Moment an, in dem ich mich für eine Promotion entschieden habe, wollte ich dieses Thema mit Professor Swift als Doktormutter bearbeiten. Wenn sie abgelehnt hätte, hätte ich wahrscheinlich noch bei Professor Fleming angefragt, aber das wäre nicht dasselbe gewesen. Schon allein, weil er ein Mann ist.
Mit einem Gefühl, als hätte ich im Lotto gewonnen, gehe ich den muffig riechenden Gang hinunter. Und irgendwie habe ich das ja auch. Damit werden auch Mutter und Vater noch ein paar Jahre lang zufrieden sein.
~ ~ ~
»Swift hat mich angenommen«, brülle ich kaum in meiner Wohnung angekommen. Keine Ahnung, ob Jessica überhaupt zu Hause ist.
Sie kommt aus der Küche ins Wohnzimmer gerannt. »Du hast der eisernen Jungfrau erfolgreich den Hof gemacht!« Sie stemmt die Hände in die Hüften. »Der Wahnsinn.«
Ich lache leise. »Mit Hof machen hatte das nichts zu tun.«
»Du weißt, was Sarah mir erzählt hat.« Jess geht zu unserer Schrankbar hinüber. »Gin Tonic zur Feier des Tages?«
»Das hat dir Sarah gesagt?« Ich schenke ihr ein breites Lächeln.
Sie verdreht die Augen. »Willst du einen oder nicht?«
»Das musst du fragen?« Jess und ich sind beide Doktorandinnen und stecken damit in diesem komischen Zwischenstadium zwischen Studenten- und »echtem« Leben. Wir können uns jeden Tag einen Gin Tonic vorm Mittagessen genehmigen, wenn wir wollen.
»Schon dabei, Darling.«
»Was hat dir Professor Monahan denn nun erzählt?«
Sie wirft mir einen spöttischen Blick über die Schulter hinweg zu. »Swift wird sich von dir nie beim Vornamen nennen lassen, aber Sarah und ich haben da kein Problem damit. Schon vom ersten Tag an nicht.«
»Ja, ja, ich weiß. Hast du mir schon oft genug gesagt.« Ich lasse mich aufs Sofa fallen.
»Sarah hat erzählt, dass es sie ziemlich überraschen würde, wenn Swift dieses Jahr neue Promotionsarbeiten annimmt.« Jess zieht die Augenbrauen nach oben.
»Dann bin ich wohl sehr überzeugend.«
Sie wendet sich wieder der Bar zu und ich höre das Zischen der Tonicflasche, die sie öffnet.
»Das bist du wohl, Rory«, entgegnet Jess. »Das sollte ich am besten wissen.«
Ich ignoriere Jess’ Kommentar und gehe in Gedanken noch einmal das kurze Gespräch in Professor Swifts Büro durch. Überzeugen musste ich sie kein bisschen. Da hat Professor Sarah Monohan offenbar falsch gelegen.
»Bitte sehr, Darling.« Jess reicht mir ein randvolles Glas. »Cheers.« Als sie mit mir anstößt, schwappt ein bisschen was vom Inhalt über den Rand. Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir immer noch ein bisschen zu sehr im Studentenleben stecken.
»Jetzt, wo es offiziell ist«, fährt sie fort, »solltest du morgen mit zum Mittagessen mit Sarah und Alistair kommen. Alle vom gleichen Schlag.«
»Ach, Jess.« Ich nehme einen großen Schluck aus meinem Glas und frage mich, warum ich mir nicht eine etwas subtilere Person als Mitbewohnerin ausgesucht habe.
»Sarah ist deutlich zugänglicher als Swift und sie steht auf alkoholreiche Mittagessen. Überleg mal, wie viele Hintergrundinfos du ihr entlocken könntest.«
»Mal sehen.« Ich werfe meiner Freundin einen Seitenblick zu. Drei Jahre leben wir nun schon zusammen und ich kenne sie in- und auswendig – neugierig, laut und immer bereit, eine Party zu schmeißen.
»Hab dich nicht so, Rory. Natürlich kommst du mit. Ich kenne dich besser als du dich selbst. Du willst es.«
»Musst du dich nicht für ein Tinder-Date hübsch machen?«
»Heute nicht«, sagt Jess seufzend. »Auch nicht diese Woche oder diesen Monat oder dieses Jahr.«
»Gehen dir die Singles in Oxford aus?«
Sie seufzt erneut. »Ich hätte bei dir bleiben sollen, Rory.« Rasch setzt sie wieder ein Grinsen auf. »Wir hatten viel Spaß miteinander.«
»So für eine Woche oder zwei.« Dieses Gespräch haben wir schon unzählige Male geführt, meistens wenn wir schon mehr Alkohol intus haben.
»Ich könnte inzwischen mit Victoria Carlisle verheiratet sein«, sinniert Jess vor sich hin. »Und mir nebenbei ein Stück vom Familienvermögen gesichert haben.«
»Ich sage das nur ungern – schon wieder …« Ich sehe ihr fest in die Augen. »Aber das Vermögen ist nicht besonders groß und außerdem hätte meine Mutter dich nicht mit offenen Armen in der Familie willkommen geheißen. Sie umarmt generell nicht gern andere Leute.«
»Was redest du denn da? Lady Carlisle liebt mich von ganzem Herzen.« Jessica schenkt mir einen Augenaufschlag.
»Sicher, solange du nicht mehr als eine gute Freundin für mich bist.«
Sie zuckt mit den Schultern und nimmt einen großen Schluck von ihrem Gon Tonic. Doch selbst ihr fällt keine schlagfertige Erwiderung ein.
3
Helen
Auf dem Weg zu meinem Auto – meiner Midlife-Crisis auf Rädern, wie Alistair es so schön nennt – versuche ich wie immer, wieder in die Geschichte hineinzufinden, an der ich gerade schreibe. So kann ich mit dem Diktieren beginnen, sobald ich den Parkplatz verlassen habe. Meine Protagonistin Orla Parish steht kurz davor, einen weiteren, wichtigen Hinweis zu entdecken.
»Helen«, ertönt auf einmal eine Stimme hinter mir. Eine Stimme, die ich nur zu gut kenne.
Ich drehe mich um. »Sarah«, begrüße ich sie mit einem Lächeln.
»Hast du Lust auf einen Drink im Maiden’s Head?«
Ich versuche, so leise wie möglich zu seufzen, und deute auf mein Auto – ich war so nahe dran. Wenn ich doch nur mein Büro eine Minute früher verlassen hätte. Genau in diesem Moment könnte ich bereits weggefahren sein und zu diktieren beginnen. »Ich muss noch fahren.«
»Bleibst du mittwochs nicht normalerweise in Oxford?« Sie neigt den Kopf fragend zur Seite.
»Ich, hm, arbeite zu Hause an etwas. Deswegen pendele ich gerade.«
»Muss ja wirklich wichtig sein.«
Der Kommentar klingt mehr nach einer Frage als nach einer Feststellung, aber ich werde Sarah sicher nichts über mein Projekt erzählen. Sie würde nur die Nase darüber rümpfen – und ich könnte es ihr nicht einmal verdenken.
»Komm schon. Ein Glas Wein wird doch kein Problem sein, oder?«
Es wird mich sicher daran hindern, meinem Manuskript ein paar dringend benötigte Seiten hinzuzufügen; ich hänge deutlich hinter dem Zeitplan her. Und ich habe noch ein Postfach voller E-Mails, die beantwortet werden wollen.
»Sicher.« Mein Problem war schon immer, dass ich Sarah nichts abschlagen kann. »Ein Glas.«
»Na dann, komm.« Sie hakt sich bei mir unter – etwas, dass sie auf dem Campus nie getan hätte, als wir noch zusammen waren – und wir machen uns auf den Weg zum Pub.
~ ~ ~
»Wir sind uns nicht zufällig über den Weg gelaufen«, gesteht Sarah, nachdem wir uns mit einem Glas Rotwein an einen Tisch gesetzt haben. »Ich muss dir etwas sagen.«
»Muss ich Angst haben?« Ich mustere ihr Gesicht, ihre langen, braunen Locken, ihre dunklen, nachdenklich dreinblickenden Augen.
»Ich wollte nur, dass du es von mir erfährst. Ich … treffe mich mit jemandem.«
Einen Moment lang habe ich das Gefühl, als würde mir der Schluck Wein, den ich gerade getrunken habe, direkt wieder hochkommen. Die Trennung von Sarah war das Schwerste, was ich je in meinem Leben habe durchmachen müssen.
»Wer ist denn die Glückliche?«, bringe ich mühsam hervor. Dann atme ich tief durch und sammle mich wieder. Natürlich war es klar, dass das irgendwann passieren würde.
»Sie ist keine Akademikerin«, erzählt Sarah, als wäre das eine bedeutende Leistung. »Sie hat tatsächlich überhaupt nichts mit der Universität zu tun.«
Ich nicke nur. Was sie damit sagen will, ist mir klar: anders als du.
»Du wirst nicht glauben, was sie beruflich macht, Helen.« Ich sehe einen Ausdruck in Sarahs Augen, den ich kaum ertrage.
»Ach ja?«
»Sie ist Klempnerin.« Sarah klingt beinahe triumphierend.
»Oh. Dann kann ich mir wahrscheinlich denken, wie ihr euch kennengelernt habt.«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich habe sie nicht beauftragt, bei mir ein Rohr zu verlegen.« Sarah sieht mir direkt in die Augen. »Wir haben uns bei einem dieser Dinger für Lesben getroffen.«
Das macht mich nun doch stutzig. »Was für Dinger für Lesben?«
»So was wie ein Stammtisch.«
»Du hast einen Lesben-Stammtisch für Klempnerinnen besucht?« Ich gebe mir keine Mühe, meine Ungläubigkeit zu verbergen.
»Nein. Einfach nur ein Lesben-Stammtisch. Nach unserer Trennung … Na ja, ich habe eine Weile gebraucht, um festzustellen, dass du, hm, vielleicht bei einigen Sachen recht hattest.«
»Das freut mich für dich.« Ich atme noch einmal tief durch. Sarah ist mir immer noch sehr wichtig – ich habe sie geliebt –, also bleibt mir gar keine andere Wahl, als mich für sie zu freuen. Sie platzt beinahe vor Glück bei der Erwähnung ihrer Klempnerin. »Wie heißt sie?«
»Joan.« Sie lächelt breit. »Joan Arnott.«
»Ich freue mich ehrlich für dich.« Ich drehe das Glas zwischen meinen Fingern und bin hin und her gerissen, den Wein so schnell wie möglich zu trinken oder es zu lassen und einfach zu gehen. Dass meine Ex, die sich nie wohl dabei gefühlt hat, wenn sie mit einer anderen Frau zusammen gesehen wurde – und schon gar nicht mit einer anderen Professorin – jetzt mit einer Klempnerin zusammen ist, die sie bei einem Lesben-Stammtisch kennengelernt hat … das muss ich erst einmal sacken lassen.
»Ich hatte ein bisschen Angst, es dir zu sagen.« Der größte Teil der Anspannung ist inzwischen aus Sarahs Stimme verschwunden.
»Wir sind seit mehr als drei Jahren nicht mehr zusammen. Kein Grund, Angst vor irgendetwas zu haben.«
Sarah neigt den Kopf zur Seite. »Doch, schon irgendwie.«
Ich nicke knapp.
»Ich bin schon jetzt auf den Tag gespannt, an dem du mir von deiner eigenen Klempnerin erzählst.« Sie lächelt mich strahlend an. »Auf der anderen Seite gibt es wahrscheinlich nicht so viele lesbische Klempnerinnen in Oxfordshire. Vielleicht ja eine Schreinerin.« Sie setzt sich etwas aufrechter hin. »Vielleicht kannst du nächstes Mal mitkommen, wenn Joan und ich zum … Stammtisch gehen.«
»Ich gehe ganz sicher nirgendwo mit meiner Ex und ihrer neuen Freundin hin, um Frauen kennenzulernen.« Ich spitze die Lippen. »Außerdem bin ich nicht auf der Suche. Mein Leben ist wunderbar, so wie es ist.« Das stimmt natürlich nicht ganz. In Wahrheit habe ich keine Ahnung, wo ich jemanden zwischen meinem Vollzeitjob an der Universität und meinem Hobby, das ein bisschen aus dem Ruder gelaufen ist, unterbringen soll.
»Hast du dir deswegen einen Porsche gekauft? Weil du so glücklich bist?«
»Ja, ganz genau.«
Sarah mustert mich skeptisch. »Sieht für mich nicht so aus.« Sie beugt sich über den Tisch nach vorn. »Eigentlich siehst du eher müde aus, Helen. Schläfst du genug?«
»Wahrscheinlich nicht, aber ich schaffe das schon.«
Sie verengt die Augen ein wenig. »Jess hat gesagt, dass du eine neue Doktorandin übernehmen willst.«
»Jess?«
»Jessica Malone, die ich bei ihrer Promotion betreue.«
Ich schüttle den Kopf. Sarah geht mit ihren Studierenden viel zu vertraut um. Ich habe sie schon etliche Male mit besagter Jessica beim Mittagessen gesehen – etwas, was ich selbst nie mit jemandem machen würde, den ich unter meine Fittiche genommen habe. »Das stimmt, ich habe sie angenommen.«
»Konntest du ihr nicht widerstehen?«
»Wie bitte?«
»Als wir uns das letzte Mal darüber unterhalten haben, hattest du die Nase voll von Doktoranden. Okay, du hattest da auch ein bisschen zu viel Wein intus.« Sarah zwinkert mir zu.
»Sie ist möglicherweise die letzte«, gebe ich ein bisschen wehmütig zu.
Sarah hebt ihr Glas. »Du bist erst neunundvierzig, Helen. Ich denke, die Uni wird das nicht so sehen, aber lass uns trotzdem darauf anstoßen.«
Unsere Gläser treffen mit einem Klirren aufeinander und mir ist klar, dass Sarah eher auf ihre Klempnerin trinkt als auf meinen Entschluss, meine Arbeitszeit an der Universität zu reduzieren. Solange ich ihr nicht von meinem zweiten Standbein erzähle, hat sie keine Ahnung von meiner tatsächlichen Motivation für die Stundenreduzierung.
4
Rory
Jessica hat recht, Professor Monohan ist dem Alkohol zum Mittagessen wirklich nicht abgeneigt. Sie ist einer dieser Menschen, die den Anblick eines halb leeren Glases nicht ertragen. Mein Wein wird stetig nachgefüllt, sobald ich auch nur einen Schluck getrunken habe.
Wir sitzen an einem großen Tisch im Außenbereich des Maiden Head. Neben Jessica und mir hat sich auch zwei weitere Doktoranden und Professor Fleming eingefunden. Ich sitze neben dem Professor, der darauf besteht, dass ich ihn Alistair nenne.
»Es überrascht mich, dass Helen Sie angenommen hat, aber jetzt, wo ich das Thema Ihrer Dissertation kenne, verstehe ich, warum sie nicht widerstehen konnte.« Er spricht so leise, dass nur ich ihn hören kann. Wie immer ist Jess außerdem laut genug, alle anderen zu übertönen. »Das passt genau in ihr Beuteschema.«
»In meins ebenso, also sollte das gut passen.«
»Helen hat eine sehr motivierende Art, wenn sie will. Sie werden also nicht enttäuscht werden.«
»Und trotzdem sagt jeder, dass sie die Nase voll hat, Studierende zu betreuen.« Ich sehe Alistair in die Augen. Sein Blick erinnert mich an den eines deutlich jüngeren Menschen: neugierig und immer auf der Suche nach Neuem.
»Ich verrate Ihnen ein Geheimnis«, flüstert er. »Jeder hat irgendwann mal die Nase voll von seinem Job, egal, wie sehr er ihn liebt. So ist das Leben.« Er macht eine kleine Pause. »Allerdings habe ich bei Helen irgendwie das Gefühl, dass noch mehr dahintersteckt. Ich weiß nur nicht was. Erst dachte ich, dass sie eine neue Freundin hat, die sie vor allen geheim hält. Jemand, für den sie ständig nach Chewford zurückfährt, aber …«
»Professor Swift lebt in Chewford?«
»Upper Chewford, ja«, bestätigt Alistair. »Warum?«
»Ich stamme aus der Gegend. Meine Eltern leben am Rand von Upper Chewford.« Sofern man da überhaupt von Ortsrand sprechen kann. Das Dorf hat gerade einmal Briefmarkengröße.
»Ein Landkind.« Er mustert mich eingehend. »Ja, jetzt sehe ich es. Sie haben so etwas an sich … wie jemand, der vom Land kommt.«
»Ich habe nicht lange in Chewford gelebt.«
»Erzählen Sie mir was über Ihren akademischen Werdegang, Rory.« Er lehnt sich zurück und sein ehrliches Interesse ist ihm deutlich anzusehen. In diesem Moment entscheide ich, dass ich Professor Alistair Fleming sehr gern mag.
Also spreche ich über mein Studium und wie ich meinen ersten Masterabschluss in Cambridge gemacht habe, bevor ich für einen zweiten Master nach Oxford gewechselt bin und mich schließlich für die Promotion entschieden habe.
»Ah, der Prototyp der ewigen Studentin.« Er nickt, als hätte er während seiner Berufslaufbahn schon viele von meiner Sorte gesehen. »Vielleicht werden Sie ja irgendwann mal eine von uns. Unter uns gesagt: Das ist kein schlechtes Leben.« Er grinst mich verschmitzt an.
»Abgesehen von den nervigen Studierenden, mit denen man sich rumschlagen muss«, entgegne ich mit einem Lächeln.
»Ich mag meine Doktoranden sehr gern. Die meisten von ihnen sind deutlich erwachsener als die Studierenden, vor denen ich Vorlesungen halte.« Er verdreht die Augen. »Die sich natürlich alle für unglaublich erwachsen halten – obwohl sie noch grün hinter den Ohren sind. Das ist schon irgendwie niedlich.« Er schmunzelt. »Ach, ich habe schon großes Glück. Ich mag meinen Job. Und jetzt darf ich hier sitzen und eine kluge, junge Dame aus Upper Chewford näher kennenlernen.«
»Das vermittelt mir vielleicht einen etwas falschen Eindruck von Ihrer Arbeit. Ich gehe davon aus, dass entspannte Mittagessen eher den geringeren Teil Ihres Alltags einnehmen?«
»Ja, mein Leben besteht aus deutlich mehr als netten Zusammenkünften.« Er zwinkert mir zu. »Wissenstransfer spielt eine nicht unerhebliche Rolle. Und recht viel Zeit, die ich in stickigen Seminarräumen verbringe. Und Fakultätssitzungen. Der Papierkram wird gefühlt mit jedem Semester mehr. Ich dachte eigentlich, dass wir uns schon im papierlosen Zeitalter befinden.«
»Alistair«, unterbricht uns Professor Monohan. »Hör auf, Rory auszuquetschen.«
»Tue ich doch gar nicht.«
»Er hat mich nur gerade über die Vor- und Nachteile der Arbeit als Dozent aufgeklärt«, sage ich.
Monohan und Alistair unterhalten sich weiter, was ich allerdings nur am Rand mitbekomme, weil ich immer noch die Information verarbeite, dass Professor Swift in Upper Chewford wohnt. Vielleicht kennt sie sogar jemanden aus meiner Familie oder weiß zumindest, wer wir sind. Keine Ahnung, wie ich das finde.
~ ~ ~
Nach dem Essen sollte ich eigentlich wieder zurück zum Campus gehen und an meiner Forschungs-Outline werkeln, aber ich habe ein bisschen zu viel Wein getrunken. Also entscheide ich mich für ein Nickerchen zu Hause – ohne Jess, die an alkohollastige Mittagspausen mit ihrer Doktormutter gewöhnt ist und sich deshalb direkt wieder an die Arbeit machen kann.
Ich schlendere an perfekt gepflegten Rasenflächen vorbei, die viel grüner wirken als die in den Gärten meiner Eltern. Dass meine Mutter dazu bei ihrem letzten Besuch keinen Kommentar abgegeben hat, wundert mich immer noch.
Die Verfärbungen an den Blättern der Bäume kündigen den beginnenden Herbst an. Ich schwelge in der Vorstellung, dass ich noch ein paar Jahre in Oxford bleiben werde. Hier fühle ich mich wirklich zu Hause. Jess sollte ihre Promotion dieses Jahr abschließen können, wenn sie beim Alkohol zum Mittag ein bisschen kürzertritt. Ich hoffe, dass sie in Oxford bleibt, weil ich meine Mitbewohnerin nur ungern verlieren würde.
Noch immer in Gedanken versunken – die zugegebenermaßen ein bisschen verschwommen sind – entdecke ich plötzlich eine vertraute Gestalt, die mir entgegenkommt. Ich gehe ein bisschen aufrechter und hoffe, dass mein Gesicht nicht allzu gerötet vom Wein ist.
Soll ich sie formell begrüßen, weil wir jetzt eine Arbeitsbeziehung haben? Oder ihr nur zunicken? Ich weiß nicht mal, warum mich das so verunsichert. Wenn es eine andere Person wäre, würde ich stehen bleiben und etwas Small Talk betreiben. Aber Professor Swift ist für mich nicht irgendwer.
Ich winke ihr ein bisschen steif zu.
»Wie ich sehe, haben Sie sich schon fragwürdige Routinen angewöhnt.«
Woher weiß Professor Swift …
»Ich habe die Professoren Fleming und Monohan mit ihrem Gefolge im Maiden’s Head gesehen.«
»Meine Mitbewohnerin Jessica wird von Professor Monohan betreut. Sie hat mich zum Mitkommen überredet.« Warum habe ich eigentlich das Bedürfnis, mich zu rechtfertigen?
»Sie können mit Ihrer Zeit tun, was immer Sie wollen, Miss Carlisle.«
Ich würde ihr gern sagen, dass ich von allen Rory genannt werde – ohne Zweifel angespornt vom Wein – aber ich kann es mir gerade noch verkneifen.
»Ich stelle Ihnen am Montag eine erste grobe Gliederung und meinen Forschungsplan vor.« Unwillkürlich achte ich etwas mehr auf meine Haltung. Professor Swift ist größer als ich und ich fühle mich unter ihrem Blick reichlich unwohl.
»Ich freue mich schon darauf.« Sie setzt ihren Weg fort, aber ich habe das Bedürfnis, unser spontanes Gespräch noch ein wenig auszuführen. So viele Gelegenheiten, angetrunken mit Professor Swift zu reden, wird es wohl nicht geben.
»Alist– ich meine, Professor Fleming hat mir erzählt, dass Sie in Upper Chewford wohnen.«
Sie nickt knapp.
»Ich bin in Chewford aufgewachsen. Die Landschaft ist wunderschön und es ist so friedlich. Inzwischen bin ich schon eine ganze Weile weg, aber ich genieße meine Zeit zu Hause immer.« Das stimmt nicht ganz. Das Dorf ist zwar wirklich schön, aber viele der Dorfbewohner – und die meisten meiner nahen Verwandten – wissen nicht, wie sie mit mir umgehen sollen.
»Was für ein Zufall.« Sie neigt den Kopf ein wenig zur Seite. »Sind Sie eine von den Carlisles?«
»Kommt drauf an, was Sie mit den Carlisles meinen.« Wie immer bei Erwähnung meiner Familie weiß ich nicht, ob ich davon belustigt oder genervt sein soll.
»Die Chewford Carlisles, die auf ihrem Landsitz außerhalb des Dorfs leben.«
»Die jüngste und enttäuschendste ihrer Nachkommen.« Das ist nur zur Hälfte ein Scherz. Ups. Vielleicht ist der Einfluss des Weins ein bisschen zu merken.
Professor Swift ignoriert meinen Ausrutscher – genau wie meine Eltern es tun würden.
»Interessant«, sagt sie mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich muss jetzt wirklich los. Wir sehen uns dann am Montag.« Damit wendet sie sich zum Gehen und lässt mich ein bisschen durcheinander zurück.
5
Helen
Am Samstagmorgen stehe ich wie immer früh auf. Ich muss die Kapitel noch einmal durchgehen, die ich gestern diktiert habe. Ein paar Dutzend E-Mails beantworten. Mir virtuelle Büroassistenz zulegen, die mir einen Teil der Arbeit abnimmt. Und ich muss die Lektoratsänderungen meines nächsten Buchs durchsehen.
Obwohl ich gerade erst aufgestanden bin, werde ich von Müdigkeit erfasst, wenn ich nur daran denke, was heute alles ansteht – an einem eigentlich arbeitsfreien Tag.
Als ich mit dem Schreiben von Romanen begonnen habe, hatte ich einfach Lust darauf. Ein nettes Hobby, mit dem man seine Freizeit verbringen kann – von der ich nach der Trennung von Sarah mehr als genug zur Verfügung hatte. Jetzt hat das Ganze aber ein Eigenleben entwickelt. Es vergeht kein Tag ohne E-Mail, in der jemand fragt, wann ein neues Buch von mir erscheint. Nie hätte ich erwartet, dass meine Cosy-Cotswolds-Krimis auf so viel Interesse stoßen, auch wenn ich das Genre selbst verschlinge, seit ich lesen kann. Offenbar bin ich nicht die Einzige, der es so geht.
Ich sollte mich wirklich nicht darüber beschweren, aber mit fehlt jemand, mit dem ich darüber reden kann. Ein echter Mensch, der weiß, wie es ist, mit zwei Vollzeitjobs zu jonglieren, von denen einer nie über die Hobbyebene hinausgehen sollte. Ein Hobby, von dem ich inzwischen nicht genug bekommen kann. Während meiner Vorlesungen schweifen meine Gedanken oft zu Orla Parish – der Hauptfigur meiner Romane – und dem Verbrechen, das sie gerade aufklärt, ab. Der Drang ist stärker als ich und dazu noch eine ziemlich große Ablenkung. Ein endloses Tauziehen zwischen der Verpflichtung gegenüber meinem Universitätsberuf und der Sehnsucht meiner kreativen Seite.
Sarah hat mir gestanden, dass sie sich Hals über Kopf in eine Klempnerin verliebt hat, vielleicht kann ich ihr dann gestehen, dass ich Cosy-Krimis schreibe. Wenn ich es ihr sagen kann, dann auch allen anderen. Immerhin ist sie diejenige, die mich ausgiebig für meine Bücherauswahl verspottet hat, als sie zum ersten Mal meine Regale in Augenschein genommen hat.
»Für eine Literaturprofessorin hast du einen überraschend gewöhnlichen Romangeschmack«, waren ihre genauen Worte.
»Das eine schließt das andere nicht aus«, habe ich ihren Kommentar abgeschmettert, doch sie hat nur mit den Schultern gezuckt.
An gemütlichen Sonntagen beschäftigte sie sich am liebsten eingehend mit dem Telegraph, der größten konservativen Zeitung Großbritanniens, die sie von der ersten bis zur letzten Seite durcharbeitete. Ich wurde dann häufig gefragt, ob ich mal wieder einen meiner Groschenromane las. Mir schoss dann jedes Mal durch den Kopf, dass ich nicht diejenige bin, die mit ihren Doktoranden saufen geht. Etwas, das Sarah auch heute noch tut. Wir hatten wohl beide unsere Ecken und Kanten, und letzten Endes waren wir einfach zu verschieden für eine Beziehung.
Momentan kann ich von gemütlichen Sonntagen nur träumen. Aber immerhin ist heute erst Samstag. Wenn ich es also schaffe, alles von meiner To-do-Liste zu streichen, belohne ich mich heute Abend mit einem Abstecher in den Pub. Ich muss Josie sagen, dass ich den monatlichen Quizabend nicht mehr übernehmen kann. Irgendwo muss ich Abstriche machen – und das ist das Einzige, was ich aktuell sein lassen kann.
Ich schlurfe zur Dusche und warte, bis das Wasser angenehm warm ist. Es dauert eine ganze Weile, bis sich meine Schultermuskeln entspannen und der Stress ein wenig abebbt. Vielleicht muss ich noch mehr aufgeben als nur den Quizabend im Golden Fleece.
Als ich abends im Golden Fleece ankomme, ist mein Lieblingstisch neben dem Bücherregal belegt. Josie schenkt mir ein entschuldigendes Lächeln. In den letzten Jahren scheint der Touristenstrom in den Cotswolds unabhängig von der Jahreszeit nicht mehr abzureißen. Eine laute, amerikanische Familie besetzt meinen zweitliebsten Tisch. Also entscheide ich mich für die Bar.
»Wieder mal voll.« Ich lächle Josie an.
»Ich werde mich sicher nicht beschweren. Wie geht’s dir, Helen?«
Ich will nicht ›viel Arbeit‹ sagen. ›Gut‹ ist wohl die gängigste Antwort auf die häufigste aller Fragen. Gerade wäre die ehrliche Antwort ›viel, viel, viel Arbeit‹. »Mir geht es gut, danke. Und dir?«
»Viel Arbeit«, entgegnet Josie.
Das entlockt mir ein leises Lachen. Aber Josie hat tatsächlich viel Arbeit. Zum Glück muss sie den Pub nicht allein betreiben.
»Was darf es denn sein? Das Übliche?«
Ich nicke. Auf diesen Gin Tonic habe ich mich schon den ganzen Tag lang gefreut.
Als sie das Glas vor mir abstellt, frage ich: »Hast du einen kurzen Moment Zeit? Ich müsste etwas mit dir besprechen.«
»Klar.« Sie schaut mir in die Augen. »Was gibt’s?«
»Ich sage das wirklich nicht gern, aber ich kann den Quizabend ab nächstem Monat nicht mehr leiten. Diesen Monat mache ich es natürlich noch. Tut mir wirklich sehr leid.«
»Oh, Helen, im Ernst? Du leitest das Quiz schon seit einer halben Ewigkeit. Hast du dir eine neue Freundin angelacht? Das ist wahrscheinlich die einzige Ausrede, die Mum gelten lassen wird.« Sie grinst mich an, als wäre es vollkommen selbstverständlich, dass ich jemanden kennengelernt habe.
Ich schüttle den Kopf. »Ich habe … einen freiberuflichen Nebenjob angenommen und das wird gerade alles ein bisschen viel.« Warum kann ich ihr nicht einfach sagen, dass ich in meiner Freizeit Romane schreibe? Warum fällt mir das so schwer? Ich schwöre, mein Coming-out war leichter.
»Freiberuflicher Nebenjob? Als was? Tourst du mit Quiz durch die Cotswolds?« Josie grinst mich weiter an.
»Beratungen. Ziemlich langweiliges Zeug«, erwidere ich hastig.
»Das wirst du Mum schon selbst sagen müssen, Helen. Für sie bist du die Quizmeisterin von Oxfordshire, vor allem durch deine Qualifikation als etablierte Oxford-Professorin und so.«
»Ich schaue morgen noch mal vorbei, um ihr Bescheid zu geben.« Ich nehme einen Schluck von meinem Gin Tonic.
»Ich bereite sie schon mal drauf vor.« Josie zwinkert mir zu und eilt dann zu einem anderen Gast. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass mein Lieblingstisch inzwischen frei geworden ist. Ich entscheide mich jedoch, noch eine Weile an der Bar sitzen zu bleiben und mich mit Josie zu unterhalten, während ich meinen Drink genieße. Und zum ersten Mal in dieser Woche stellt sich ein wenig Entspannung ein.
6
Rory
Auf meinem Weg durch Upper Chewford muss ich unwillkürlich an Professor Swift denken. Was macht sie wohl sonntags? Genehmigt sie sich vielleicht ein Stück Braten in ihrem Lieblingspub? Egal, was sie gerade tut, es ist vermutlich deutlich spannender als das Familientreffen, das mir bevorsteht. Der Geburtstag meines perfekten Bruders ist eine der Veranstaltungen, aus deren Teilnahme ich mich nicht rauswinden kann.
Ich erreiche das Eingangstor, das sich beinahe sofort öffnet. Noch komme ich oft genug nach Hause, sodass George mein Auto erkennt und mich direkt reinlässt. Oder vielleicht hat Dad auch eine neue Alarmanlage installieren lassen, deren moderne Erkennungssoftware Nummernschilder zuordnen kann. Tatsächlich habe ich absolut keine Ahnung, was mein Vater in letzter Zeit so macht, obwohl er das Familienmitglied ist, mit dem ich mich noch am besten verstehe.
Man sollte meinen, dass das eigentlich mein Bruder wäre, weil der Altersunterschied zwischen uns nicht so groß ist, aber seit er Brenda geheiratet hat, wird er unserer Mutter immer ähnlicher. Diese Entwicklung ist faszinierend und gruselig zugleich.
Bis ich mein Auto geparkt habe, wurde die Haustür bereits geöffnet. George, der schon vor meiner Geburt für meine Familie gearbeitet hat, ist der Einzige, der mich begrüßt. Ich sehe die Karosse meines Bruders, also gehe ich davon aus, dass meine Eltern zu beschäftigt damit sind, ihre Enkel zu betüddeln – ebenso perfekte Exemplare der menschlichen Gattung, auch wenn sie in diesem Alter eigentlich nur eine Menge Krach und sonst nichts machen –, um die Ankunft ihrer jüngeren Tochter zu bemerken.
»Miss Rory«, sagt George. »Wie schön, Sie zu sehen.«
»Gleichfalls.« Ich verkneife es mir, George verspielt den Arm zu tätscheln, weil ich genau weiß, wie unwohl er sich dabei fühlen würde. »Wie geht es Ihnen, George?«
»Sehr gut, danke Miss Rory. Und Ihnen?«
»Kann mich nicht beschweren, aber noch besser werde ich mich wahrscheinlich fühlen, wenn ich wieder gehe.« Ich zwinkere ihm zu.
»Sagen Sie doch nicht so etwas, meine Liebe. Sie wissen, dass die Wände hier Ohren haben.«
»Hat Mutter die Eingangshalle verwanzt?« Ich schenke ihm ein Lächeln. Wäre ihr durchaus zuzutrauen.
George schüttelt den Kopf.
Ich atme tief durch und gehe in Richtung Salon, um mich meiner Familie zu stellen.
~ ~ ~
»Victoria«, begrüßt mich meine Mutter und breitet die Arme aus. Als wäre sie ehrlich erfreut, mich zu sehen.
Ist sie heute vielleicht sogar. Wer weiß? Immerhin bin ich allein gekommen und habe nicht im Vorfeld die explizite Erlaubnis eingeholt, ›eine Freundin‹ mitzubringen, wie meine Mutter meine Partnerinnen immer nennt. Einmal habe ich den Fehler gemacht, unangekündigt mit jemandem aufzutauchen, weswegen prompt die Regel der »expliziten Erlaubnis« implementiert wurde.
Mein Bruder durfte natürlich mit nach Hause bringen, wen immer er wollte, solange es sich dabei um Frauen handelte – und sie eine gewisse Herkunft vorwiesen.
»Wie schön, dich zu sehen, Darling«, sagt meine Mutter und umarmt mich für den Bruchteil einer Sekunde. Ausgedehnte Umarmungen werden in meiner Familie seit jeher als Zeichen von Schwäche angesehen.
Mein Vater belässt es sogar bei einem kurzen Drücken meiner Schulter.
»Alles Gute zum Geburtstag, Tommy.« Ich schaffe es kaum, meinen Bruder auf die Wange zu küssen, da er ein Baby im Arm hält. »Wo ist Brenda?«
»Sie ist mit Emma rausgegangen. Die beiden brauchten ein wenig frische Luft.«
»Seid ihr allein hier?«, frage ich und verweise damit diskret auf die Abwesenheit des Kindermädchens.
»Abby fühlt sich nicht gut. Die Grippe.« Er wirft mir einen Blick zu, der besagt, dass Kindermädchen seiner Meinung nach immun gegen Grippeviren sein sollten. »Wir wollten sie natürlich nicht in die Nähe der Kinder lassen, während sie krank ist.«
»Natürlich nicht.« Ich bin klug genug, nicht die Augen zu verdrehen. Auch wenn mir das sehr schwerfällt.
»Bitte sehr, Miss Rory.« George ist inzwischen ebenfalls hereingekommen und reicht mir ein Glas Champagner.
»Sie dürfen mir gern nachschenken«, wirft mein Bruder ein. »Brenda fährt«, fügt er auf den missbilligenden Blick meiner Mutter noch hinzu.
Das gefällt Mutter jedoch ebenso wenig. Wahrscheinlich denkt sie, dass ein Mann seine Familie immer selbst nach Hause fahren sollte.
Untypischerweise zwinkert Tommy zu. Er scheint heute wirklich gute Laune zu haben. Mein Neffe Matthew auf seinem Arm grapscht nach dem Champagnerglas, das Tommy in der anderen Hand hält.
»Gib ihn mir, Darling«, sagt meine Mutter.
Matthew scheint jedoch nicht besonders begeistert zu sein, von seiner Oma auf den Arm genommen zu werden. Er heult los, sobald er zu ihr gewechselt hat. Tommy stellt sein Glas ab, übernimmt das Kind dann wieder und geht mit ihm ebenfalls nach draußen, was mich allein mit meinen Eltern zurücklässt.
»Wie läuft es denn in Oxford?«, fragt Dad.
Mutter dirigiert uns zu einer Sitzgruppe am Fenster, wo wir uns niederlassen.
»Sehr gut. Ich habe die Betreuerin für meine Doktorarbeit bekommen, die ich mir dafür gewünscht habe.«
Dad fragt nicht weiter nach dem Thema meiner Dissertation, weil er genau weiß, dass meine Mutter nicht glücklich damit wäre, so etwas beim Aperitif vor dem Mittagessen zu besprechen. Das L-Wort wird in diesem Haus möglichst selten erwähnt.
»Was macht die Wohnung?«, fragt meine Mutter.
»Hm, alles in Ordnung, denke ich.«
»Ich hoffe, dass du und … wie war doch gleich ihr Name? Dass ihr nicht zu viele Partys feiert. Studenten als Mieter mindern den Wert einer Immobilie drastisch«, erklärt sie mir, als würde sie das Geld brauchen.
»Ihr Name ist Jessica und wir haben nur selten …« Bevor ich meinen Satz zu Ende führen kann, kommen mein Bruder und seine Familie lautstark in den Salon zurück.