Zwei Herzen allein, suchend, vereint - Harper Bliss - E-Book

Zwei Herzen allein, suchend, vereint E-Book

Harper Bliss

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Beschreibung

Ein lesbischer Liebesroman über den Mut, für die Liebe den Sprung ins Ungewisse zu wagen. Anna und Zoe könnten nicht unterschiedlicher sein. Anna lebt zurückgezogen mit ihrem Hund Hemingway in Donovan Grove und klammert sich an ihre Routinen. Zoe ist gerade mit ihrer Tochter in die idyllische Kleinstadt gezogen, hat einen Buchladen gekauft und will sich ein neues Leben aufbauen. Schon bei ihrer ersten Begegnung fühlen sich beide Frauen zueinander hingezogen, doch es ist nicht leicht für Anna, jemand Neues in ihr Leben zu lassen, und Zoe muss feststellen, welche Probleme es bringen kann, eine Beziehung in einer Kleinstadt zu beginnen. Werden die widrigen Umstände sie auseinanderbringen oder ihnen dabei helfen, ihre Gefühle füreinander zu festigen?

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Seitenzahl: 464

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Von Harper Bliss außerdem lieferbar

Widmung

Zwei Herzen allein

Zwei Herzen suchend

Zwei Herzen vereint

Anmerkung der Autorin

Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen

Über Harper Bliss

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Von Harper Bliss außerdem lieferbar

Die Erfahrung von Liebe

Ergreif die Sterne

Summer’s End

Sommergeflüster zu zweit

Kaffee mit einem Schuss Liebe

Widmung

Für meine Frau, die Zoe zu meiner Anna

1

Anna

Hemingway ist es egal, dass es draußen schneit. Er sitzt neben der Haustür und wartet auf mich. Seit zehn Minuten versuche ich ihn zu ignorieren. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, und habe es doch vor Augen. Seine traurige, enttäuschte Miene mit den dramatisch herabhängenden Augenwinkeln, die er nur aufsetzt, wenn ich ihm nicht um Punkt zehn Uhr die Leine anlege.

Aber die Januarkälte scheint in meine Knochen gekrochen zu sein und die Aussicht darauf, das Haus zu verlassen, ist noch weniger attraktiv als sonst.

»Verrat mir noch mal, warum ich dich adoptiert habe?«, frage ich Hemingway.

Er dreht das Gesicht zu mir und verstärkt den dramatischen Blick, während seine Schnauze sehnsüchtig zur Tür ruckt.

Sobald ich meinen Mantel nehme, heitert sich Hemingways Stimmung auf. Er wedelt erwartungsvoll mit dem Schwanz.

»Du und ich«, murmle ich, »wir sind so verschieden. Ich weiß nicht, wie wir überhaupt zusammenleben können.« Ich erinnere mich an einen Podcast, den ich letzte Woche gehört habe, in dem behauptet wurde, dass Hunde früher von selbst Gassi gegangen sind. Aber mit Hemingway spazieren zu gehen ist einer der Gründe, warum ich ihn mir überhaupt geholt habe. Müsste ich nicht zweimal am Tag mit ihm das Haus verlassen, würde ich es oftmals gar nicht tun. Er ist meine Verbindung zur Außenwelt.

Hemingway bellt aufgeregt, als ich ihm die Leine anlege. Ich nehme meine wärmste Mütze und Handschuhe und stelle mich dem Schnee.

Die Kälte schlägt mir hart ins Gesicht, aber Hemingway zieht an seiner Leine und ich habe keine Zeit für Selbstmitleid. Er zerrt mich auf unserer üblichen Route vorwärts. Halb gehe, halb jogge ich ihm hinterher und halte den Blick gesenkt. Donovan Grove ist eine Kleinstadt, deren Einwohner ihre Einfahrten sauber halten. Daher ist es nicht schwer, auf dem Gehweg voranzukommen, aber ich muss Hemingway trotzdem bitten, sein Tempo zu zügeln, damit ich nicht auf dem Schnee ausrutsche. Es wäre nicht das erste Mal. Als ich ihn vor zwei Jahren mitten im Winter bekommen habe, riss mich seine Begeisterung einige Male mit. Dafür habe ich bezahlt, indem ich der Länge nach im Schnee gelandet bin.

Hemingways beste Eigenschaft ist seine Vorhersehbarkeit. Jeden einzelnen Tag verrichtet er sein Geschäft an derselben Straßenecke – und ich entsorge es in dem Mülleimer, der von der Stadtverwaltung speziell für Hemingways Bedürfnisse dort aufgestellt wurde. Ich hätte nie selbst einen beantragt, aber meine Mutter hielt es aus irgendeinem Grund für notwendig. Also ist er da.

»Guter Junge, Hem.« Ich kraule ihn hinter den Ohren und er wirft mir dafür einen Blick so voller Liebe zu, dass ich die Kälte fast vergesse.

Wir setzen unseren Spaziergang fort. Auf den Straßen ist es still, sogar auf der Main Street, wo normalerweise einige Einkäufer anzutreffen sind. Ich folge Hemingways Pfotenspuren in der dünnen Schneeschicht, die sich gebildet hat, seit der Gehweg zuletzt geräumt wurde. Dann gewöhne ich mich allmählich an die Kälte und hebe den Kopf etwas höher. So läuft das jeden einzelnen Wintertag. Das Haus zu verlassen ist der schwierigste Teil, aber sobald ich im Freien bin, versuche ich, den Spaziergang ebenso sehr zu genießen, wie Hemingway es tut.

Die vertraute Umgebung beruhigt mich. Die Schaufenster der Geschäfte ändern sich mit den wechselnden Jahreszeiten, aber das ist auch schon alles. Als wir das Ende der Main Street erreichen, bemerke ich doch eine Veränderung. In Bookends, dem Buchladen, der seit Monaten leer steht, brennt Licht.

Und nicht nur das. Auf dem Schaufenster prangt ein großes Herz.

»O nein«, murmle ich und Hemingway bleibt stehen. »Hoffentlich wird aus dem alten Buchladen kein kitschiger Geschenkartikelladen.«

Ich spähe durch das Fenster und kann meinen Augen kaum trauen. Ja, es ist eine Weile her, seit ich zuletzt in den Laden geschaut habe, da er seit Monaten geschlossen ist. Doch der verlassene Buchladen hat eine beeindruckende Verwandlung hinter sich. Ganz gleich, was er jetzt darstellen soll.

Die alten, dunklen Bücherregale leuchten in frischen Farben und Bücherstapel warten darauf, an ihren Platz geräumt zu werden. Mein Herz macht einen kleinen Satz bei der Aussicht darauf, dass der Buchladen neu öffnen könnte. Doch dann wandert mein Blick wieder zu dem großen Herz am Fenster. Irgendjemand – vermutlich der neue Inhaber – hat in das Herz geschrieben: Valentinstag steht vor der Tür!

Ich habe meinen Weihnachtsbaum erst letzte Woche entsorgt – immer ein trauriger Anlass. Nicht nur, weil ich die weihnachtliche Gemütlichkeit liebe. Sondern auch weil ich bald, und der Beweis starrt mich bereits an, wieder daran erinnert werde, dass die Gesellschaft mein Single-Dasein für schrecklich und erbärmlich hält. Es ist schon schlimm genug, dass meine Mutter das denkt, obwohl sie inzwischen besser darin geworden ist, ihre Bestürzung zu verbergen.

»Ist das zu glauben?«, flüstere ich in mich hinein und meine Worte werden in der kleinen Atemwolke sichtbar, die aus meinem Mund kommt. Aber Hemingway kümmert das nicht. Er will nur seinen Spaziergang fortsetzen, und zerrt unruhig an seiner Leine.

»Wir gehen ja gleich«, versichere ich ihm – nicht, dass er es versteht. Ich blicke an der lächerlichen Zeichnung und den Worten auf dem Fenster vorbei und versuche, mehr vom Ladeninneren zu erhaschen.

Mrs. Fincher, die den Buchladen geführt hat, bevor sie letzten Sommer in Rente gegangen ist, hatte immer eine Empfehlung für mich, wenn ich hereingekommen bin – und das bin ich oft. Die Schließung des alten Bookends hat lange Zeit ein klaffendes Loch in meinem Alltag hinterlassen. Aber Mrs. Fincher hat den Valentinstag ebenso sehr gehasst wie ich, vor allem nach Mr. Finchers Tod. Sie hätte ihr Schaufenster nie mit einem lächerlichen Herzen verunstaltet. Tatsächlich würde ich wetten, dass sie wie ihr Mann einen Herzinfarkt bekommen würde, wenn sie den Laden jetzt sehen könnte.

»Eigentlich ist das ein Gesundheitsrisiko«, sage ich, aber Hemingway schert sich immer noch nicht darum. Inzwischen hat er sich beruhigt, sitzt still an meiner Seite und blickt durch die Gegend.

Ich sehe eine Bewegung im Laden. Eine Jugendliche – sie kann nicht älter sein als mein Neffe Jaden – schleppt eine große Kiste herein.

Allein der Anblick eines anderen Menschen bewirkt, dass ich von dem Fenster zurückweiche und zügig weitergehe.

2

Zoe

»Eine komische Frau hat gerade reingeschaut«, sagt Brooklyn. »Aber sie ist weggelaufen, als sie mich gesehen hat.«

»Sie wird zweifellos bald eine zufriedene Kundin sein.« Ich muss mich selbst ebenso motivieren wie meine Tochter.

»In dieser Stadt gibt es nicht viel anderes, also ja, warum nicht, Mom.« Wenigstens gibt Brooklyn sich heute Mühe. Anders als gestern, als ich sie kaum aus dem Bett bekommen habe. Der Umzug von Queens ins Hinterland von New York ist ihr viel schwerer gefallen als mir. Vor allem weil er mitten im Schuljahr stattgefunden hat. Das ist alles nicht so gelaufen, wie wir es uns vorgestellt haben.

»Es wird Zeit brauchen, mija«, wiederhole ich. Das scheint mein Mantra geworden zu sein. Für dich wird es sich schon ändern, wenn du wieder zur Schule gehst, füge ich in Gedanken hinzu. Sie würde es jedoch nicht gut aufnehmen, wenn ich das laut ausspreche. Der Schulwechsel ist immer noch ein sehr heikles Thema – und das verstehe ich.

Brooklyn sieht sich im Laden um, in dem Chaos herrscht. Wir haben die Rollläden erst gestern Abend hochgezogen. Meine erste Amtshandlung am heutigen Morgen war, das Fenster mit einem unglaublich großen Herzen zu bemalen. Ich lasse nicht zu, dass mein eigenes einsames Herz mich zynisch macht – oder ich kann wenigstens so tun.

»Dass du deinen gemütlichen Amazon-Job dafür aufgegeben hast …«, seufzt Brooklyn.

»Komm her, mija.« Ich strecke die Hand nach ihr aus. Sie starrt sie lediglich an. Ich überwinde die Entfernung zwischen uns und nehme ihre Hand in meine. »Ich weiß, es ist hart. Es ist mitten im Winter, Eve ist gerade erst weg und wir sind in dieser neuen Stadt, in der wir niemanden kennen, aber …« Ich ziehe sie etwas näher. »Du hast mich. Deine Mom. Und wir werden das Beste daraus machen. So sind wir Perez-Frauen nun mal. Und weißt du was? Am Ende wird es großartig sein.«

»Wie du meinst.« Sie erwidert meine Umarmung schwach, aber mehr kann ich von meiner fünfzehnjährigen Tochter unter diesen Umständen nicht erwarten.

»Wenn der Laden erst geöffnet ist, lernen wir eine Menge Leute kennen.« Deshalb will ich so schnell wie möglich alles für die Eröffnung vorbereiten. Ich habe gehofft, den Betrieb in ein paar Tagen aufnehmen zu können. Aber momentan sieht es so aus, als könnten es ein paar Wochen werden.

»Wer weiß, wie die so sind«, grummelt Brooklyn.

Ihre Hand liegt noch in meiner, als ich sie zum Fenster führe. »Sieh es dir an«, sage ich. »Ist es nicht idyllisch?«

Brooklyn zuckt nur mit den Schultern. Vielleicht habe ich doch zu viel von ihr verlangt. Vielleicht hätte ich bis zu ihrem Highschool-Abschluss in Queens und bei allem, wofür es steht, bleiben sollen.

Ich sehe zum Fenster hinaus und betrachte die Main Street von Donovan Grove. Genau gegenüber gibt es ein Diner, in dem wir zu Mittag essen werden, sobald wir noch einige Kisten ausgepackt haben. Es gibt einen Baumarkt, einen Mini-Supermarkt und eine Bäckerei. Allesamt voller Leute, die wir noch kennenlernen werden. Eine glückliche Mutter macht immer ein glücklicheres Kind, wiederhole ich in Gedanken.

Ein Mann und eine Frau gehen am Fenster vorbei und bleiben kurz stehen. Die Frau winkt, dann schlendern sie durch den noch immer fallenden Schnee weiter. Bernard, der den Süßigkeitenladen nebenan betreibt, hat mich gleich informiert, dass es zu Beschwerden von den Nachbarn führen kann, wenn der Gehweg vor dem Gebäude nicht sauber gehalten wird. Und ich habe das Gefühl, dass er die erste dieser Beschwerden vortragen wird, wenn ich nicht immer sofort meine Schaufel heraushole. Also habe ich Brooklyn aufgetragen, den Gehweg so sauber wie möglich zu halten. Wenn weiterhin so viel Schnee fällt und liegen bleibt, wird sie bald wieder rausgehen müssen.

»Willst du Marsha und Juan anrufen?«, frage ich. Gemeint sind damit unsere Freunde aus Queens, von denen uns der Abschied am schwersten gefallen ist.

Ein Teil der Spannung verschwindet aus Brooklyns Haltung. »Schon gut, Mom«, sagt sie. »Wir haben Kram zu erledigen.« Sie zieht die Hand aus meiner und öffnet eine Kiste. Sie seufzt, wie es nur ein Teenager kann. »Wo willst du die hinhaben?« Sie hält eine Packung leuchtend roter Valentinstagskarten hoch.

»Dafür müssen wir zuerst den Ständer zusammenbauen. Ich bin nicht sicher, ob das die beste Aufgabe für zwei Frauen ist.« Ich lächle sie an.

»O doch, ist es. Es gibt hier keine Aufgabe, die du und ich nicht erledigen können.« Die Verdrossenheit in ihrer Stimme ist trotziger Kampflust gewichen. »Wo ist der Ständer?«

Ich deute auf eine Kiste neben der Tür. Als ich den Blick durch den Laden schweifen lasse, denke ich kurz an meinen, laut Brooklyns Aussage, gemütlichen Amazon-Job zurück. Er war vielleicht gut bezahlt, aber alles andere als gemütlich oder angenehm. Dieser Laden ist vielleicht ein einziges Chaos, aber das ist nichts, womit wir nicht fertigwerden. Da bin ich Brooklyns Meinung. Es wird Muskelkraft und eine Menge Energie erfordern, aber das ist der Anfang unseres gemeinsamen Lebens in einer neuen Stadt – in Donovan Grove, wo ein Buchladen zum Verkauf stand, gerade als ich mich nach einem umgesehen habe. Gerade als ich vorsichtig über ein anderes Leben für uns nachgedacht habe. Und jetzt sind wir hier.

Brooklyn reißt die Kiste auf. »Wenn ich diesen Ständer zusammenbaue«, sagt sie, »bedeutet das aber nicht, dass ich es gutheiße, dass du diesen kitschigen, kapitalistischen Mist verkaufst.«

»Wir geben den Leuten, was sie wollen«, widerspreche ich. »Damit wir unseren Lebensunterhalt verdienen können.«

»Das ist nicht, was die Leute wollen, Mom. Vielleicht haben sie es gewollt, als du jung warst, aber Valentinstag ist einfach nicht mehr angesagt.«

»Autsch, Mädchen.«

»Ich wette mit dir, dass niemand in meinem Alter eine dieser Karten kaufen wird.«

»Ach ja?«

»Nur Rentner. Und Männer, die bei ihren Frauen etwas wiedergutmachen müssen«, sagt sie.

»So jung und schon so zynisch.« Ich drücke die Kiste platt, die sie gerade ausgeräumt hat.

»Ich schätze, das passiert nun mal, wenn die andere Mutter beschließt, dass sie sich einen schei–« Sie verstummt, bevor ich sie für ihre Ausdrucksweise tadeln kann. »Dass sie sich nicht mehr für einen interessiert.«

»Das tut Eve sehr wohl, Baby. Sie liebt dich.« Ich muss diese Dinge sagen, obwohl ich Eve am liebsten erwürgt hätte, als sie uns gesagt hat, dass sie mehrere Monate früher als geplant ins Ausland zieht. Eves Umzug war schon Schock genug für Brooklyn gewesen. Sie auch noch dazu zu bringen, viel früher als erwartet mit mir hierherzuziehen, hat ihr beinahe den Boden unter den Füßen weggezogen.

Brooklyn rollt mit den Augen. »Sparen wir uns das. Wenn es sie wirklich interessieren würde, wäre sie jetzt nicht dort, wo sie ist.«

»Ich weiß, Baby. Ich weiß.« Ich blicke zu dem Ständer, den wir aufbauen wollen, in der Hoffnung, sie so abzulenken.

»Es ist nur für ein Jahr«, hat Eve gesagt, als sie uns eröffnete, dass sie nach Shanghai ziehen wird.

»Ein Jahr sind trotzdem zwölf Monate im Leben deiner Tochter, die du verpassen wirst«, habe ich gesagt.

Weil Eve ein Jahr weg sein wird, haben wir uns darauf geeinigt, dass Brooklyn zunächst bei ihr in der Stadt bleibt, während ich mich in Donovan Grove einrichte. So hätte Brooklyn im Sommer umziehen und etwas zusätzliche Zeit mit ihrem anderen Elternteil bekommen können. Jetzt musste sie fast von einem Tag auf den anderen hierherziehen, während ihre andere Mutter sich in Asien ein schönes Leben macht. Es ist Brooklyn gegenüber nicht fair, aber so ist es nun mal.

»Ich kann das auch allein.« Brooklyn hockt sich auf den Boden.

»Aber das musst du nicht.« Ich setze mich neben sie und helfe ihr.

3

Anna

»Ich habe sie schon gesehen«, sagt Sean, als ich ihm von Bookends’ bevorstehender Neueröffnung berichte. »Eine reizende Lady und ihre Tochter im Teenageralter.«

Bei dem Wort »reizend« hebe ich skeptisch eine Augenbraue. Wenn das ein anderer Mann als Sean gesagt hätte, wäre ich beleidigt gewesen.

»Du weißt, was ich meine.« Sean zuckt mit den Schultern. »Und nur zu deiner Information, Cathy habe ich die Neue auch so beschrieben.« Er beugt sich hinab, um Hemingway zu streicheln, der neben ihm sitzt und auf das Leckerli wartet, das Sean ihm immer gibt.

»Gibt es irgendetwas, das ich wissen sollte?« Ich bringe das Gespräch zurück zum Geschäftlichen.

»Ich weiß es nicht, Anna. Ich habe sie nur in der Stadt gesehen. Ich weiß wirklich nicht, ob sie –«

»Wovon redest du?«

»Von der neuen Bookends-Inhaberin. Wovon redest du?«

Hemingway legt den Kopf auf Seans Knie.

»Ich habe natürlich über die Aufträge geredet.«

»Ah«, sagt er betont erkennend. »Du hast den Anna-Trick abgezogen. Du bist zum nächsten Thema weitergesprungen, ohne mich vorher darüber zu informieren.«

»Nenn es nicht so. Das tun die Leute ständig.«

»Okay.« Er schaut auf sein Display. »Das Lindsay Hare-Cover ist morgen fällig, aber …« Er kneift die Augen zusammen, als er sich auf das Display konzentriert. »Du hast es mir schon geschickt.«

»Alles, was nicht früh ist, ist spät«, wiederhole ich meine Standardaussage.

»Hm«, brummt Sean nur. »Nichts Neues. Im Januar läuft es immer etwas langsamer.«

»Wenigstens haben wir dieses Jahr keine Aufträge zum Valentinstag bekommen.« Ich schüttle den Kopf. »Ich glaube, das neue Bookends wettet dieses Jahr auf den Tag.«

»Wirklich? Dann muss ich auf einen Sprung dort vorbeischauen. Meine Lady überraschen.«

»Es hat noch nicht geöffnet«, sage ich trocken.

»Es ist noch nicht Valentinstag.«

»Ja, Gott sei Dank.«

»Hey, wenn der Tag da ist, solltest du ihn hier verbringen. Es gibt hier immer einen freien Tisch für dich, Anna. Das weißt du.«

»Was willst du damit sagen? Dass ich am dümmsten, kommerziellsten Fest – wenn man es überhaupt so nennen kann –, nicht allein sein sollte?«

»Ähm, nein, das ist überhaupt nicht, was ich gemeint habe«, sagt Sean.

»Na, du weißt ja, dass ich nur zu Hause arbeite, also …« Sean sollte sich glücklich schätzen, dass ich ein paar Mal die Woche zum Plaudern vorbeikomme.

»Hm.« Er ist ein Experte der einsilbigen Antworten. Schließlich greift er nach der Schublade, in der seine Hundekekse verstaut sind. Hemingway stellt sofort die Ohren auf.

»Dann gehen wir mal«, sage ich, nachdem Hemingway einige Kekse verschlungen hat.

»Tschüss, Augenweide«, sagt Sean und sieht dann zu mir. »Ich habe mit Hemingway geredet.«

»Richte deiner besseren Hälfte liebe Grüße aus.« Ich wappne mich gegen die Kälte und schließe die Tür hinter mir.

Sean hat das Büro, das er mietet, vor einigen Jahren zu einem Coworking-Space ausgebaut. Ich bin nicht sicher, wie er auf die Idee gekommen ist, dass ich ein Büro mit ihm, geschweige denn mit anderen Leuten teilen will. Und so habe ich ihm sofort gesagt, dass er besser auch den Tisch vermietet, den er für mich reserviert hat.

Zuerst war er mehr oder weniger der Einzige im Büro. Inzwischen gibt es jedoch in sogar Donovan Grove mehr und mehr Leute, die von zu Hause arbeiten und einfach ein paar Tage in der Woche aus dem Haus kommen wollen. Um meine Unterstützung zu zeigen, habe ich ihm einige Bilder für die Wände und einige Tipps zur Inneneinrichtung gegeben, die er dringend gebraucht hat. Näher werde ich dem Konzept von Teamwork aber nie kommen. Sean und ich führen gemeinsam ein Grafik- und Webdesign-Unternehmen und das ist mehr als genug Zusammenarbeit für mich.

Idealerweise würde ich ganz allein arbeiten. Aber ich brauche jemanden wie Sean, der sich um die Kommunikation kümmert – nicht, dass seine sozialen Fähigkeiten überragend wären. Aber wenigstens hat er nichts dagegen, diesen Teil zu übernehmen. Manchmal könnte ich schwören, er glaubt, er wäre gut darin. Da unser Geschäft einigermaßen läuft, kann er nicht völlig untalentiert sein. Wir wissen allerdings beide, dass unser kleines Unternehmen uns nie reich machen wird – oder auch nur wohlhabend. Für mich ist das in Ordnung. Ich mache mir eine geistige Notiz, Sean zu fragen, ob es das für ihn auch noch ist – es ist eine Weile her, seit ich das zuletzt getan habe.

Sean ist ein guter Kerl, den ich schon mein ganzes Leben lang kenne und als meinen besten Freund ansehe. Ich kann ihm vertrauen und wir haben eine gute Routine.

Ich kichere, als ich daran denke, dass Sean die neue Bookends-Inhaberin »reizend« genannt hat. Persönlich hatte ich noch nicht das Vergnügen, irgendwelche neuen Einwohner zu entdecken, die als reizend bezeichnet werden könnten. Was hat er noch gesagt? Mutter und Tochter? Es muss die Tochter gewesen sein, die ich durch das Schaufenster gesehen habe. Normalerweise sind es Familien mit zwei Komma vier Kindern, die das Stadtleben satthaben und nach Donovan Grove oder in einen der umliegenden Orte ziehen. Die übernehmen normalerweise aber auch keine Buchläden. Mrs. Fincher war vielleicht bereit für die Rente, aber sie hat nicht gerade ein florierendes Geschäft hinterlassen.

Während ich von Seans Büro nach Hause gehe, halte ich die Augen nach fremden Gesichtern offen. Donovan Grove ist kein Dorf und es gibt tausende Bewohner, die ich nicht kenne, aber jemand Neues ist immer leicht zu erkennen. Sie haben etwas Fremdes in den Augen. Und manchmal, o Graus, wollen sie unbedingt Blickkontakt herstellen, um die Einwohner kennenzulernen – und Hemingways Anwesenheit macht mich zu einem leichten Opfer. Wenn es nach mir ginge, würde ich auf meinem täglichen Spaziergang mit niemandem sprechen. Abgesehen von dem einen Jahr, in dem ich in der Großstadt dem Erfolg nachjagen wollte und kläglich gescheitert bin, habe ich mein ganzes Leben hier verbracht. Daher bin ich automatisch mit zu vielen Leuten bekannt, die gern plaudern.

»Wie geht’s Hemingway?« Ist die immer selbe Frage.

Er antwortet nicht, wenn ich ihn frage, denke ich immer, spreche es aber nie aus.

Ich bin fast zu Hause und es sieht aus, als müsste ich meine Stimme heute nicht mehr benutzen. Trotz der verfrühten Zurschaustellung von Vorfreude auf den Valentinstag, bin ich froh, dass Bookends wieder öffnet. Ich glaube daran, lokale Betriebe zu unterstützen – immerhin bin ich selbst Miteigentümerin eines lokalen Unternehmens. Auch wenn fünfundneunzig Prozent unserer Geschäfte über das Internet laufen. Aber Bücher online zu kaufen ist einfach nicht dasselbe.

Ich frage mich, ob die »reizende Lady« Buchempfehlungen für mich haben wird. Sie muss gern lesen, sonst wäre es sinnlos, einen Buchladen in einer Kleinstadt zu kaufen.

Inzwischen ist mein Haus mit der leuchtend roten Vordertür in Sichtweite. Jedes Mal, wenn ich mich meinem Haus nähere, flattert etwas in mir. Ich habe Jahre und alles Geld, das ich je verdient habe, darauf verwendet, es perfekt für mich und Hemingway zu gestalten. An den meisten Tagen bin ich in meinem gemütlichen Haus und in Gesellschaft meines Hundes wunschlos glücklich.

4

Zoe

Eine ältere Frau, die schon einige Mal vorbeigegangen ist, bleibt vor dem Schaufenster stehen. Sie tippt mit der Fingerspitze an das Glas. Ich winke sie herein. Darauf hat sie offensichtlich spekuliert.

Die Tür ist unverschlossen und die Frau rauscht zusammen mit einem eisigen Windstoß herein. Irgendwie fühlt sich die Luft hier kälter an als in Queens.

»Hallo.« Ihre Lippen sind zu einem breiten Lächeln verzogen. »Ich bin Sherry Gunn. Ich wollte mich nur vorstellen. Ich freue mich so, dass dieser Laden neu eröffnet wird. Es hat die längste Zeit so ausgesehen, als würde er für immer geschlossen bleiben.« Sie bietet mir ihre Hand an.

»Hi, Sherry. Ich bin Zoe Perez. Schön, dass Sie hereinschauen.« Ich bin einfach froh über die Gelegenheit auf ein Gespräch mit einem anderen erwachsenen Menschen. »Ich habe gesehen, wie Sie einige Male vorbeigegangen sind.«

Sherry nickt. »Da wollte ich dich nicht stören, aber es sieht aus, als wärst du fast bereit für die Neueröffnung.« Es scheint vollkommen natürlich für sie zu sein, mich ungefragt zu duzen. Sie sieht sich im Laden um. »Ich liebe es, wie du ihn eingerichtet hast.«

»Danke.« Unsere Tage des Auspackens und Dekorierens zahlen sich endlich aus. »Der Laden wird dieses Wochenende geöffnet. Ich bin sehr aufgeregt. Es fehlen nur noch einige letzte Lieferungen.«

»Meine Tochter wird begeistert sein, dass Bookends zurück ist«, sagt Sherry. »Sie vergräbt ständig die Nase in Büchern. Als Mrs. Fincher in Rente gegangen ist, war sie am Boden zerstört. Anna, habe ich gesagt, vielleicht ist das ein Zeichen. Das ist deine Chance, deinen eigenen Buchladen zu führen. Aber sie will Bücher nur lesen, nicht verkaufen.«

»Wenn das so ist, kann ich es kaum erwarten, sie zu treffen.«

»Das wirst du sicher sehr bald. Lebst du dich gut ein? Du bist neu in der Stadt, oder?«

»Meine Tochter und ich sind vor ein paar Wochen aus Queens hierhergezogen. Es ist eine ziemliche Veränderung. Brooklyn geht ab Montag auf die Donovan Grove High. Sie ist etwas nervös, wie Sie sich bestimmt denken können.«

»Wie alt ist sie?«, fragt Sherry.

»Gerade erst fünfzehn.«

»Genauso alt wie mein Enkel Jaden. Weißt du was? Ich versuche ihn am Samstag mitzubringen, wenn du den Laden eröffnest … Vielleicht würde Brooklyn gern jemanden treffen, der auf dieselbe Schule geht, bevor sie dort anfängt?«

»Das wäre wunderbar, Mrs. Gunn. Ich bin sicher, sie wäre dankbar dafür.«

»Oh, bitte, nenn mich Sherry. Sonst fühle ich mich so alt.« Sie neigt den Kopf. »Es ist mein persönlicher Stolz, dass Donovan Grove eine besonders einladende Stadt ist. Hast du das Anschlagbrett im Supermarkt gesehen? Wir versuchen, die Neuzugänge der Stadt alle paar Monate im Lenny’s, der örtlichen Bar gleich hier um die Ecke, zu versammeln.«

»Wow.« Das Brett habe ich nicht gesehen. Ich war viel zu beschäftigt damit, mich an ein neues Geschäft zu gewöhnen – wo man das Geld an der Kasse immer noch einem echten Menschen überreicht. »Das ist wunderbar. Kommen viele zu diesen Treffen?«

»Kommt darauf an. In letzter Zeit bekommen wir nicht mehr oft Neuzugang in Donovan Grove. Die eine oder andere Familie auf der Suche nach einem ruhigeren Lebensstil vielleicht, aber die bleiben eher für sich. Eltern, die mit jungen Kindern in eine neue Stadt ziehen, sind normalerweise ziemlich beschäftigt. Aber falls und wenn jemand Neues in unsere hübsche Stadt zieht, behandeln wir sie oder ihn gut. Die meisten, die die Großstadt verlassen, ziehen die idyllischeren oder kleineren Orte vor. Irgendwie wird unser Grove immer übersehen. Aber wir geben unser Bestes.«

Sherry sprudelt geradezu über mit Informationen. Offenbar ist sie eine hervorragende erste Kontaktperson in Donovan Grove. »Dann sehen wir uns beim nächsten Treffen in der Bar.«

»Du wirst mich schon früher wiedersehen. Am Samstag. Für die große Eröffnung.« Sherry sieht sich mit, wie ich glaube, Zustimmung um.

»Natürlich. Ich hoffe, Jaden kann ebenfalls kommen. Ist er Annas Sohn?«

»Oh, nein. Anna hat keine Kinder. Jaden ist das Kind meines Sohns Jamie. Er hat noch einen jüngeren Jungen namens Jeremy. Seine Frau heißt Janet. Wie du siehst, mögen sie den Buchstaben J in der Familie. Sie haben sogar eine Katze namens Jazz.« Sie schüttelt kurz ungläubig den Kopf.

Ich lächle sie an. »Ich freue mich, sie alle bald kennenzulernen.«

»Anna wird allerdings nicht viel von diesem großen Herz an deinem Fenster halten. Jedes Jahr dieselbe Tirade. Sie hat sich immer darüber beschwert, auch als sie noch mit Cynthia zusammen war. Das ist irgendwie nicht ihr Ding. Sie kann den Valentinstag nicht ertragen und so, wie sie ist, wird sie auch nie darüber hinwegkommen.« Sherry richtet sich auf. »Aber sie sind meine Kinder und ich muss sie mit all ihren Macken akzeptieren.« Sie schenkt mir ein Lächeln, das darauf hinweist, dass sie ihre Kinder bedingungslos akzeptiert. Ein Lächeln, das Mutterliebe ausstrahlt – und die scheint auch neue Leute in ihrer Stadt zu umfassen.

An dieser Stelle beschließe ich, dass ich Sherry und ihre sehr direkte, aber herzliche Art mag.

»Ich lasse dich mal weitermachen. Es sei denn, du brauchst Hilfe?«

»Das ist sehr freundlich von dir, Sherry. Wie du sehen kannst, sind wir so gut wie fertig, aber vielen Dank, dass du vorbeigekommen bist. Es hat mich sehr gefreut.«

»Ich denke, du wirst dich hier wunderbar einfinden«, sagt sie. »Nein, ich weiß es.« Damit dreht sie sich um, marschiert zur Tür und in die eisige Kälte hinaus.

Erst als Sherry bereits einige Minuten weg ist und ich eine Chance hatte, unser Gespräch nachwirken zu lassen, erkenne ich, dass sie ihre Tochter gerade vor mir geoutet hat. Anna hat eine Ex-Freundin namens Cynthia. Keine Kinder. Sherry hat mir mehr oder weniger innerhalb von fünf Minuten ihre ganze Familie vorgestellt – und soweit ich es verstanden habe, ist ihre Tochter nicht hetero. Das wird ja immer besser – obwohl ich den Laden noch nicht einmal eröffnet habe.

Mit neuem Schwung in meinen Schritten beginne ich, die Bücher im Selbsthilfe-Bereich einzuräumen.

5

Anna

»Ach, Anna«, sagt Mom und hält dann inne. Es ist, als könnte sie sich nur davon abhalten, etwas auszusprechen, wenn ihr die ersten Worte bereits über die Lippen gekommen sind.

Allerdings weiß ich, was sie sagen wollte. Sie hat erst vor kurzem aufgehört, ihre Verzweiflung darüber auszudrücken, wie ich mich kleide und meine Haare style – oder eher nicht style. Sie wendet den Blick von mir ab und ich ignoriere ihre unausgesprochene Bemerkung.

Ich bin auch so schon nervös genug. Ich verstehe nicht, warum meine Mutter darauf bestanden hat, dass ich sie zur Eröffnung von Bookends begleite – es ist ja nicht so, als hätte ich eine offizielle Einladung bekommen oder so. Und eine Ansammlung von mehr als zwei Leuten, die ich nicht kenne, wird mich immer aus der Fassung bringen. Aber sie hat darauf bestanden und ich habe im Laufe der Jahre gelernt, Kompromisse einzugehen – ihr das Wenige zu geben, was ich ihr als Tochter bieten kann. In vielerlei anderer Hinsicht ist es nicht allzu schwer, zu Bookends zu gehen. Ich gehe jeden Tag daran vorbei und ich liebe Buchläden. So sehr, dass meine Neugier fast über mein Unbehagen triumphiert.

Bis ich vor den Büchern für junge Erwachsene in der gegenüberliegenden Ecke die letzte Person entdecke, die ich sehen will.

»Oh, Scheiße. Cynthia ist hier.«

»Ihr zwei redet doch noch miteinander, oder?«, sagt Mom. Ich bin überrascht, dass sie überhaupt zuhört – dass sie noch nicht davongeschlendert ist, um sich unter die Leute zu mischen. Im Gegensatz zu mir kennt sie bestimmt alle hier.

»So würde ich es nicht nennen.«

»Ihr habt euch vor zwei Jahren getrennt, Anna«, sagt Mom. »Du solltest damit umgehen können, ihr hin und wieder zufällig über den Weg zu laufen.«

Ich nicke nur, obwohl ich anderer Meinung bin. Cynthia ist möglicherweise der freundlichste und geduldigste Mensch, den ich je getroffen habe. Aber ich habe es trotzdem geschafft, sie zu vertreiben. Ich werde mich nie mit meinem Scheitern als Partnerin abfinden können, und ihr Anblick wird mich immer daran erinnern.

»Dort drüben.« Mom deutet auf eine Frau, die ein Tablett mit Cupcakes in der Hand hält und alle Besucher, an die sie sich wendet, strahlend anlächelt. Sie sieht sehr gepflegt aus – dunkle, voluminöse Haare, als wäre sie gerade einer Shampoo-Werbung entstiegen, und perfekte, hellbraune Haut. Sie trägt ein langes, fließendes Kleid. Viel zu glamourös für Donovan Grove. Oder vielleicht bewirkt ihr Auftreten einfach nur, dass ich mich besonders unmodisch fühle. »Sie ist die neue Inhaberin. Zoe heißt sie. Ich habe sie vor einigen Tagen getroffen.«

»Natürlich hast du das.« Wenn ich eins an meiner Mutter bewundere, dann ihre Fähigkeit, mit jedem ins Gespräch zu kommen. Schade, dass ich nichts davon geerbt habe.

»Sie ist reizend. Ich muss euch vorstellen. Ich nehme an, du wirst eine ihrer besten Kundinnen werden.«

»Klar.« Ich bin immer skeptisch, wenn meine Mutter mich jemandem vorstellen will. Und ich habe meinen ersten Eindruck des neuen Ladens nicht vergessen: das große, kitschige Herz, das viel zu früh auf das Fenster gemalt war – und zu unangebracht. Ich frage mich, ob eine Frau, die etwas so Falsches wie Valentinstag so gern hat, jemals ein Buch empfehlen kann, das mir gefällt.

In diesem Moment sehe ich, wie Cynthia auf uns zukommt.

»Bleib hier«, flüstere ich meiner Mutter zu. Ich weiß, dass ich wie ein ängstlicher Teenager klinge. So fühle ich mich tatsächlich. »Cynthia kommt.«

»Sherry.« Cynthia begrüßt zuerst meine Mutter – was ich ihr kaum verübeln kann. »Wie schön, dich zu treffen. Wir haben uns zu lange nicht gesehen.«

Sie umarmen sich, als wären sie alte Freunde. Cynthia und ich waren knapp sechs Jahre zusammen, also sind sie das in gewisser Weise auch.

»Anna. Hi«, sagt Cynthia. »Wie geht’s dir?«

»Hi.« Ich habe nichts für überschwängliche Begrüßungen übrig. Zum Glück weiß Cynthia das und hält Abstand. »Mir geht es gut. Dir?«

»Ich bin begeistert, dass Bookends wieder öffnet. Hast du Zoe schon getroffen?«, fragt Cynthia.

»Nein, noch nicht.«

Cynthia verengt die Augen und wirft mir einen Blick zu, den ich nicht deuten kann. »Wir sollten irgendwann reden, Anna. Wir haben uns lange nicht gesehen und sollten Neuigkeiten austauschen.«

»Was für eine hervorragende Idee«, wirft Mom ein und bewirkt, dass ich es bereue, sie zum Bleiben gedrängt zu haben. Sie hält immer noch an der vergeblichen Hoffnung fest, dass Cynthia und ich wieder zusammenkommen werden, obwohl wir uns vor zwei Jahren getrennt haben.

»Klar. Wir können etwas ausmachen.« Das meine ich nicht ernst, aber ich weiß, dass ich das sagen sollte. Warum sollte ich alte Wunden öffnen, indem ich meine Ex treffe?

»Ich möchte mit dir über etwas sprechen«, sagt Cynthia. »Etwas, das ich dir gern persönlich sagen will.« Sie schaut auf ihre Uhr. »Willst du nachher etwas trinken gehen?«

»Hm, ich glaube, das kann ich nicht. Hemingway braucht –«

Meine Mutter räuspert sich. »Ich kann mit Hemingway Gassi gehen.«

»Könnte ich mit dir und Hemingway mitkommen?«, fragt Cynthia.

»Hi. Willkommen bei Bookends.« Die Frau, auf die meine Mutter vorhin hingewiesen hat, gesellt sich mit einem breiten Lächeln zu uns. »Willkommen zurück, Sherry«, sagt sie, womit sie sich sofort bei meiner Mutter beliebt macht.

Mom stellt uns vor und einen Moment lang werden ungeschickt und schlaff Hände geschüttelt. Dann haben sowohl Cynthia als auch Mom uns den Rücken zugekehrt – jemand, den sie beide kennen, muss gerade hereingekommen sein – und ich merke, dass ich allein vor Zoe stehe.

»Deine Mutter hat mir versprochen, dass du eine meiner besten Kundinnen sein wirst«, sagt Zoe. Sogar ihre Lippen glänzen. Alles an ihr ist so glitzernd, dass ich fürchte, ich könnte davon erblinden.

»Früher bin ich ständig hierhergekommen.« Ich weiß, ich sollte versuchen, wenigstens kurz Blickkontakt herzustellen, also gebe ich mir Mühe. Zoes Augen sind dunkel, aber das ist alles, was ich erkenne, bevor ich wieder wegsehen muss.

»Dann hoffe ich, dich bald wiederzusehen«, sagt Zoe.

»Sind Hunde willkommen?«, frage ich.

Aus irgendeinem Grund findet Zoe die Frage witzig. »Klar. Natürlich. Ich mag Katzen zwar lieber, aber bring deinen Hund ruhig mit. Liest er auch gern?« Sie kichert.

Ich kichere mit, während ich mir selbst die drängende Frage verkneife: Was soll das grässliche Herz auf dem Schaufenster?

»Ich komme bald vorbei«, verspreche ich und beobachte, wie Zoe ihre Runde durch die Menge, die sich in ihrem neuen Laden versammelt hat, fortsetzt.

Ich erhole mich immer noch von ihrem strahlenden Lächeln und ihrem ganzen Auftreten, als meine Mutter sich wieder zu mir umdreht.

»Sogar die Bürgermeisterin ist hier«, sagt sie. »Es ist ziemlich gut besucht.«

»Ich glaube, ich gehe jetzt.«

»Schon?« Sie zeigt mir den besorgten Blick, den ich so gut kenne.

»Ich war lange genug hier. Und ich komme ja wieder.«

»Jamie und seine Jungs sind noch nicht hier«, sagt sie erst, fügt dann aber hinzu: »Na gut, Liebes. Bis morgen.« Sie küsst mich sehr zart auf die Wange. »Viel Spaß mit Cynthia.«

Sie muss doch wissen, dass ich überhaupt keinen Spaß mit ihr haben werde. Ich wünschte, das Treffen wäre bereits vorüber, obwohl ich neugierig darauf bin, was Cynthia mir zu sagen hat. Es muss etwas Großes sein, wenn sie es nicht in einer E-Mail schreiben kann – so haben wir seit der Trennung hauptsächlich miteinander kommuniziert.

Ich werfe einen letzten Blick durch Bookends. Zoe sticht heraus, als würde ihr ein Scheinwerfer folgen, und sorgt dafür, dass alle Aufmerksamkeit auf ihr ruht. Inzwischen ist sie in ein Gespräch mit der Bürgermeisterin vertieft. Es wirkt, als würden sie sich schon ewig kennen. Sie ist einer dieser Menschen, denke ich, während ich mit den Fäusten tief in den Taschen meiner eher schäbigen als schicken Hose vergraben nach Hause gehe. Einer dieser Menschen, die das genaue Gegenteil von mir sind.

6

Zoe

»Das ist gut gelaufen.« Ich drehe mich zu Brooklyn, die gerade Pappbecher und -teller einsammelt.

»Nicht viele verkaufte Bücher.«

Ich habe sie für die Kasse verantwortlich gemacht, damit ich mich darauf konzentrieren konnte, die Leute kennenzulernen, die heute vorbeigekommen sind.

»Heute ging es nicht darum, Bücher zu verkaufen. Es ging ums Networking.« Ich trete meine hohen Schuhe weg, denn meine Füße bringen mich um. »Übrigens … du hast dich ja gut mit diesem Jungen verstanden.« Ich wackle mit den Augenbrauen, während ich mich auf die unterste Stufe der Treppe setze, die in unsere Wohnung hinaufführt.

»Mit welchem Jungen?« Brooklyn versucht, lässig zu klingen, aber ich kenne die Stimme meiner Tochter wie meine Westentasche.

»Der süße Blonde, der sich die ganze Zeit neben der Kasse herumgedrückt hat. Hat er wenigstens etwas gekauft?«

»Ach, Jaden. Er hat eine Geburtstagskarte für seinen Opa gekauft.«

»Jaden?« Der Name klingt vertraut. »Sherrys Enkel?«

Brooklyn zuckt mit den Schultern. »Ich habe nicht nach seinem Familienstammbaum gefragt, Mom.«

»Geht er auf die örtliche Highschool?«

»Ja.« Sie stellt den vollen Müllsack ab. »Er hat gesagt, ich würde ihn am Montag dort sehen.«

Ich lächle und klopfe auf den Platz neben mir. »Komm, setz dich kurz zu deiner alten Mama.«

Brooklyns Gesichtsausdruck ist widerwillig, aber die Art, wie sie sich danach an mich lehnt, ist alles andere als das.

»Danke, dass du mit mir hierhergezogen bist. Dass du von Anfang an dabei bist, macht es zu etwas ganz Besonderem.«

»Es wird vielleicht nicht so übel, wie ich dachte.«

Jetzt singt sie auf jeden Fall ein anderes Lied. Sie muss Jaden wirklich mögen. Ich lege den Arm um sie. »Wie wäre es, wenn wir hier morgen aufräumen? Und jetzt einen Spaziergang durch unsere neue Stadt machen und uns eine Pizza holen?«

»Sag doch einfach, dass du keine Lust hast, eine nahrhafte Mahlzeit zu kochen.« Brooklyn lehnt den Kopf an meine Schulter. Es ist lange her, seit sie das getan hat, also genieße ich den Moment – es könnte das allerletzte Mal sein. Sie wird jetzt so schnell erwachsen. In Queens, als Eve und ich geteiltes Sorgerecht hatten, wenn sie nach einem Wochenende bei meiner Ex-Frau nach Hause gekommen ist, hätte ich schwören können, sie würde anders aussehen als beim Abschied. Einen Zentimeter gewachsen. Eine undefinierbare Veränderung im Gesicht. In drei Jahren wird sie schon aufs College gehen – das ist am schwersten zu glauben.

»Die habe ich überhaupt nicht.«

»Dann Pizza.« Aber Brooklyn steht noch nicht auf und wir sitzen eine Weile schweigend da und betrachten den Laden, der ein großer Bestandteil unseres neuen Lebens sein wird.

~ ~ ~

Es ist Samstagabend, und zwar kalt, aber es hat auch aufgeklart. Ich merke, wie ich auf unserem spontanen Spaziergang nicht wenigen Leuten zunicke. Brooklyn ist vielleicht auf dem besten Weg, einen Freund zu finden, und ich habe begonnen, Bookends neues Leben einzuhauchen. Was ein einziger Tag alles verändern kann.

Während wir schweigend Arm in Arm gehen, frage ich mich, was Eve gerade tut. Ob sie es bereut, früher abgereist zu sein – ihre Tochter so im Stich gelassen zu haben. Außerdem frage ich mich, wie jemand, den man seit Ewigkeiten kennt, einem so plötzlich die kalte Schulter zeigen kann. Oder war es gar nicht so plötzlich und ich habe nur die Zeichen übersehen?

Eve und ich haben uns scheiden lassen, als Brooklyn gerade zehn war, aber wir haben ihr zuliebe immer versucht, uns gut zu verstehen. Wir haben Thanksgiving und Weihnachten gemeinsam verbracht. Wir waren sogar einmal im Urlaub in Mexiko. Es wurde jedoch schnell klar, dass das eine einmalige Angelegenheit sein würde.

Mit den Jahren hat Brooklyn uns weniger gebraucht und wir haben kaum noch Zeit miteinander verbracht, aber ich hatte nie den Eindruck, dass Eve einfach gehen wollte.

»Du gehst auch weg«, hat sie während eines hitzigen Streits gesagt.

»In eine Stadt, die nicht mal zwei Stunden mit dem Auto entfernt ist«, habe ich erwidert. »Das ist ganz anders als ein fünfzehn Stunden langer Flug nach China.«

Brooklyn hätte immer die Wochenenden hier bei mir verbracht …

»Waren die nicht auch vorhin im Laden?« Brooklyn reißt mich aus meinen Erinnerungen. »Sie sind so offensichtlich Lesben. Aber es sieht nicht so aus, als wären sie zusammen.«

Anna und Cynthia kommen auf uns zu, zusammen mit einem goldbraunen Hund mit flauschigem Fell, das sich an den Spitzen kringelt.

»Ich glaube auch nicht, dass sie zusammen sind.« Ich erinnere mich daran, was Sherry von ihrer Tochter und deren Ex Cynthia erzählt hat. »Sie waren es mal.«

»Kann sein, dass es nicht mehr besser für dich wird, Mom.« Obwohl ich sie nicht ansehe, kann ich mir das Grinsen auf Brooklyns Zügen lebhaft vorstellen. »In dieser Stadt kann es nicht gerade vor Lesben wimmeln.«

Ich lache und schüttle den Kopf. »Mach dir darum mal keine Sorgen, Baby.«

»Das tue ich aber. Als alleinstehende Lesbe an so einen Ort zu ziehen … wie stehen die Chancen, dass du je wieder jemanden findest?«

»Das ist sehr dramatisch, sogar für einen hormongesteuerten Teenager.«

Anna und Cynthia kommen näher. Es fühlt sich anders an als die anderen Gäste wiederzusehen, aber ich verwerfe den Gedanken. Es sollte nicht anders sein, nur weil sie Lesben sind. Allerdings glaube ich, dass es nicht nur das ist. Wir haben auf der Party vielleicht nur ein paar Worte gewechselt, aber ich habe eine ungewöhnliche Energie von Anna gespürt, die mich neugierig auf sie gemacht hat.

Sie scheinen in ihr Gespräch vertieft zu sein. Vielleicht sehen sie Brooklyn und mich gar nicht.

»Du kannst mir nicht erzählen, dass du nie daran gedacht hast, Mom.«

Woran ich in diesem Moment denke, ist, dass meine Tochter nicht diejenige ist, mit der ich dieses Gespräch führen sollte. Ich muss Freunde in dieser Stadt finden. Leute, mit denen ich den möglichen Mangel an Lesben bei einem Glas Wein beklagen kann. Allein aus diesem Grund würde ich Anna und Cynthia gern Hallo sagen. Sie sind offensichtlich noch befreundet. Vielleicht können wir unsere eigene Lesbengang gründen.

»Das war nicht meine Hauptsorge für den Umzug.« Ich klammere mich etwas fester an Brooklyn.

Gleich kommen wir an ihnen vorbei.

»Hi«, ruft Brooklyn und bleibt so abrupt stehen, dass ich fast mit ihr zusammenstoße.

»Oh, hallo«, sagt Cynthia.

Anna lächelt nur steif.

»Ist das der Süße, den du in den Laden mitbringen willst?«, frage ich. Brooklyn ist bereits in die Knie gegangen, um den Hund zu streicheln.

»Das ist Hemingway«, sagt Anna.

»Ein sehr passender Hund für einen Buchladen«, fügt Cynthia hinzu.

Alle kichern. Ich sehe hinab und entdecke, dass Brooklyn und Hemingway sich bereits Hals über Kopf ineinander verliebt haben. Er hat die Vorderpfoten auf ihren Knien und sein Schwanz wedelt wie wild.

»Er ist jederzeit willkommen«, sage ich zu Anna, die schüchtern lächelt. Unter dem schwachen Licht der Straßenlaterne leuchten ihre Augen in einem seltsamen Blauton, vermischt mit etwas Grau und Grün.

»Hat er irgendwelche Welpen produziert, die ein Zuhause brauchen?« Brooklyn hat es geschafft, wieder aufzustehen.

Hemingway sieht sehnsüchtig zu ihr auf.

»Ich fürchte, er hat die Tage der Fortpflanzung weit hinter sich«, sagt Anna. »Aber wenn ihr gern einen Hund adoptieren möchtet, kann ich euch in die richtige Richtung weisen. Es gibt –«

»Oh«, unterbreche ich sie. »Das wollen wir nicht. Wir gewöhnen uns gerade erst ein.«

»Und du magst Katzen lieber«, sagt Anna.

»Richtig.« Ich habe vergessen, dass ich das gesagt habe. Obwohl ich in Hemingways gutaussehender Gegenwart leicht zur Hundeliebe verlockt werden könnte.

Dann beginnt Hemingway, an seiner Leine zu zerren. »Hunde können ebenso herrisch sein wie Katzen«, sagt Anna.

Wir verabschieden uns und sie setzen ihren Spaziergang fort.

»Also?«, fragt Brooklyn. »Wen würdest du nehmen, wenn du dich zwischen beiden entscheiden müsstest?«

»Was ist das denn für eine Frage?« Ich hake mich bei ihr unter.

»Eine logische«, kontert Brooklyn.

»Eine, die ich nicht mit einer Antwort würdigen werde.«

»Ach, komm schon, Mom. Tu mir den Gefallen. Das ist das Mindeste, was du tun kannst, nachdem du mich mitten ins Nirgendwo geschleift hast.«

»Erstens ist Donovan Grove wohl kaum mitten im Nirgendwo. Hier leben über fünfzehntausend Leute.« Als ich es ausspreche, merke ich, dass es gar nicht mit Queens vergleichbar ist. »Und du magst vielleicht das Gefühl haben, dass ich dich hierher geschleift habe, aber das gibt dir trotzdem nicht das Recht, mir unangemessene Fragen zu stellen.«

»Ich verstehe nicht, was an der Frage so unangemessen sein soll«, protestiert Brooklyn. »Aber gut, dann sag es mir eben nicht.«

Für einen kurzen Moment denke ich daran, meiner Tochter den Gefallen zu tun – schließlich ist sie mir tatsächlich nur hierher gefolgt, weil sie mein Kind ist und ich einen Neuanfang wollte. Cynthia mag als die konventionell Attraktivere gelten, wie das nette Mädchen von nebenan, aber meine instinktive Antwort auf Brooklyns Frage wäre Anna. Äußerlich hat sie nichts Konventionelles an sich: kurze, dunkle Haare, die aussehen, als wären sie selbst geschnitten und nur mit den Fingern gekämmt worden, ein leicht schiefer Mund, der offenbar nicht oft lächelt, und eine deutliche Vorliebe für bequeme Kleider. Aber es ist diese Unkonventionalität, die Anna für mich interessanter macht. »Sie sind beide sehr hübsch«, sage ich, um keine allzu große Spielverderberin zu sein.

»Ich würde die mit dem Hund nehmen. Er ist so süß.« Ich liebe die Heiterkeit in Brooklyns Stimme. Unerwartete Wärme erfüllt mich bei ihren Worten, als hätte ich auf ihre Bestätigung meiner Wahl für Anna gewartet.

»Das ist er. Aber setz dir ja nicht in den Kopf, einen eigenen zu adoptieren.«

»Ist das nicht ein Vorteil davon, auf dem Land zu leben? Dass wir Haustiere haben können?«

»Wir sind hier nicht gerade auf dem Land.«

»Wäre mir gar nicht aufgefallen.« Brooklyn reckt die Nase und schnüffelt. »Ich glaube, ich rieche Pizza.«

7

Anna

»Hast du ihre Ausstrahlung bemerkt?«, fragt Cynthia.

»Zoes?« Ich halte den Blick auf Hemingway gerichtet, der irgendeinen Geruch aufgeschnappt hat. »Nein. Überhaupt nicht.«

»Ich weiß nicht«, sagt Cynthia. »Ich fand sie ziemlich eindeutig.«

»Ich bin sicher, wir finden es bald heraus. Ich konnte nicht umhin zu bemerken, wie Tom Granger sich ihr bei der Eröffnung vorhin aufgedrängt hat. Es wird nicht lange dauern, bis er sie nach einem Date fragt.«

»Und wer kann schon Tom Granger widerstehen?«, spottet Cynthia.

Hemingway bleibt stehen, um die Nase in einen Laubhaufen zu stecken, und wir halten ebenfalls an.

»Hast du gewusst, dass er mich das ein paar Monate nach unserer Trennung gefragt hat?«, sagt sie.

»Ach, wie ignorant manche Leute sein können.«

»Er hat gesagt, dass ich es vielleicht mal mit einem Mann versuchen sollte, jetzt, da ich wieder Single wäre.« Sie kichert, aber dann verwandelt sich dieses Kichern in etwas, das ich nicht genau definieren kann. »Wie sich herausstellt«, fährt sie fort, »hatte er gar nicht so unrecht.«

»Was meinst du damit?«, frage ich. Hemingway hat sein konzentriertes Schnüffeln abgeschlossen und führt uns weiter.

»Ich meine, dass ich jemandem nahegekommen bin, Anna. Jemandem, von dem ich es nicht erwartet hätte. Einem Mann.«

Jetzt bin ich es, die stehen bleibt. »Du bist was? Wem?« Ich bin nicht sicher, ob ich das richtig verstehe.

»Es ist einfach passiert. Ich habe mich plötzlich zu ihm hingezogen gefühlt.« Cynthia klingt, als müsste sie sich selbst ebenso von dieser erstaunlichen Tatsache überzeugen wie mich. »Ich war auch überrascht, aber, weißt du … das kommt schon mal vor.«

Ich setze mich wieder in Bewegung. Mein Gehirn versucht fieberhaft, die Information zu verarbeiten, die Cynthia mir gerade gegeben hat. »Ich wusste nicht, dass du bi bist«, sage ich, weil mir die Worte fehlen. Meine Muskeln sind angespannt und ich merke, wie meine Schritte aus dem Takt geraten.

»Ich wusste es auch nicht, aber jetzt ist es nun mal so. Es ist nie zu spät, etwas Neues über sich selbst herauszufinden.« Als ich sie ansehe, hat sie ein breites Lächeln aufgesetzt.

»Ist es jemand, den ich kenne?«

Sie nickt. »Aber bevor ich es dir verrate, musst du mir versprechen, dass du nicht ausflippst.«

»Warum? Du hast doch keine Affäre mit meinem Bruder, oder? Oder mit Sean? Oder, Gott bewahre, mit Tom Granger?«

»Nein, Dummerchen.« Sie atmet tief durch, als wollte sie ihre Nerven beruhigen, obwohl da auch etwas sehr Friedliches in ihrem Gesicht ist. »Es ist John Macklethorn.«

»Warum sollte ich deswegen ausflippen?«

»Weil wir ihn praktisch schon unser ganzes Leben lang kennen und … das ist alles etwas komisch, schätze ich.«

»Es ist etwas komisch. Ich meine, hast du dich je zu ihm hingezogen gefühlt, als wir noch zusammen waren?«

»Nein, natürlich nicht. Das hat nichts mit uns zu tun, Anna. Wir sind jetzt schon so lange getrennt.«

»Ist es der Mangel an Lesben in dieser Stadt?« Es ist nur ein halber Witz.

Cynthia kichert. »Nein.«

»Sean hat gerade eine neue Webseite für Johns Unternehmen erstellt. Mit Onlineshop und allem.«

»Ich weiß.«

»Danke, dass du es mir erzählt hast.« Ich weiß immer noch nicht, wie ich reagieren soll. Vielleicht sollte ich ausdrücken, dass ich mich für sie freue. Ich bin mir jedoch nicht ganz sicher, ob ich das tue. Ich sollte es trotzdem sagen. »Wie lange geht ihr schon miteinander aus?«

»Ein paar Monate. Wir wollten heute zusammen zur Bookends-Eröffnung gehen, aber ich dachte mir schon, dass du auch dort bist. Ich wollte es dir vorher sagen. Du könntest uns von jetzt an zusammen auf der Straße sehen.«

»Ich freue mich sehr für dich, Cyn.«

»Danke.« Sie stößt mich leicht mit der Schulter an.

»Mom wird nicht sehr erfreut sein. Du warst immer die ideale Schwiegertochter für sie.«

»Sie hat Janet.«

»Das sage ich ihr auch ständig, aber ich fürchte, die Frau wird nicht eher ruhen, bis ich verheiratet bin. Sie glaubt, dass es für mein Glück unerlässlich ist, dass ich mit jemandem zusammen bin.«

»Ist es das?«

Es ist seltsam – und schwierig –, diese Frage von meiner Ex-Freundin zu hören. »Nein, ich glaube, wir wissen beide, dass es nicht das ist, was ich will. Am Ende habe ich unsere Beziehung schließlich sabotiert.«

»Du hattest eine Menge zu verarbeiten, Anna.«

»Hatten wir das nicht alle?«

Jetzt ist Cynthia es, die stehenbleibt. Sie stellt sich direkt vor mich. »Nein. Nicht so wie du. Das verstehe ich jetzt.«

»Ich wollte nie eine Sonderbehandlung.« Wir nähern uns gefährlichem Territorium. Bald wird die Verbindung zwischen meinem Gehirn und meinem Mund wieder einen Kurzschluss erleiden. Das Einzige, was mir einfällt, ist, weiterzugehen.

Als Cynthia mich eingeholt hat, sage ich: »Es geht ohnehin nicht um mich.«

»Vielleicht können du, ich und John mal etwas zu dritt unternehmen?«, fragt sie.

»Vielleicht«, sage ich, obwohl ich die Idee in Gedanken bereits verwerfe.

»Er ist so ein Lieber, Anna.«

»Das weiß ich.« Manchmal vergesse ich, wie lieb Cynthia selbst ist.

»Ich will nur sicher sein, dass du meine Beziehung mit John nicht als ein Abwenden von dir wertest«, sagt sie. Wir scheinen das Tempo etwas angezogen zu haben.

»Was? Nein, natürlich nicht. Warum sollte ich?«

»Ich weiß nicht. Ich hatte schon früher Probleme einzuschätzen, wie dein Verstand funktioniert.«

Die habe ich auch, will ich sagen, verkneife mir die Bemerkung aber – und das Selbstmitleid darin. »Ich fühle mich nicht weniger lesbisch, nur weil meine Ex jetzt mit einem Mann zusammen ist.«

»Können wir bitte kurz stehen bleiben?« Cynthia wartet nicht, bis ich ihrer Bitte nachkomme, und ich muss mich zu ihr umdrehen.

»Es tut mir leid. Es ist nur … es fällt mir ein wenig schwer, dich mit John zu sehen. Das ist alles. Es ist unerwartet. Natürlich habe ich gewusst, dass du nicht allzu lange allein bleiben würdest. So liebenswert und warmherzig und wundervoll, wie du bist. Vielleicht ist es das, womit ich Schwierigkeiten habe.« Vielleicht bin ich bloß eifersüchtig, weil meine Ex endlich über uns hinweggekommen ist.

»Aber Anna«, sagt sie, »du hast doch nicht gehofft, dass du und ich vielleicht –«

»Nein, nein, sei nicht albern. Natürlich nicht«, unterbreche ich sie. »Ich bin wirklich nicht auf der Suche nach einer Beziehung, Cyn. Und ich freue mich aufrichtig für dich. Obwohl ich auch ein wenig eifersüchtig bin, ja. Ich schätze, das ist normal. Ich habe dich lange Zeit geliebt. Ich bringe dir immer noch positive Gefühle entgegen und du bedeutest mir noch sehr viel.«

»So geht es mir auch. Deshalb wollte ich, dass du es von mir erfährst.«

»Okay.« Ich trete von einem Fuß auf den anderen. Es ist zu kalt, um einfach so herumzustehen. »Ich glaube, ich gehe jetzt nach Hause. Ich muss das verarbeiten.«

»Na gut, aber versprich mir, dass du wenigstens darüber nachdenken wirst, wenn ich dich einlade, Zeit mit uns zu verbringen.«

Cynthia kennt mich zu gut. »Ich verspreche es.« Diesmal meine ich es ernst. Wenn sie mich so ansieht, habe ich keine andere Wahl, als ehrlich zu sein. Und ich muss ja nur darüber nachdenken. Ich muss nicht versprechen, tatsächlich Zeugin von Cynthias neuer Beziehung zu werden.

»Danke.« Sie kommt einen Schritt auf mich zu und zieht mich in eine ungeschickte Umarmung, während unsere dicken Wintermäntel eine Barriere zwischen uns schaffen.

»Hab einen schönen Abend«, sage ich.

Sie beugt sich hinab und streichelt Hemingway. Dann beobachten mein Hund und ich, wie sie geht – wahrscheinlich, um John zu treffen.

8

Zoe

Bookends ist an Montagen geschlossen. Das bedeutet, dass ich mich ganz darauf konzentrieren kann, Brooklyn an ihrem ersten Tag zu ihrer neuen Schule zu begleiten. Auch kann ich frisch gebackene Kekse bereit haben, sobald sie zurückkommt, als wäre es ihr erster Tag in der Grundschule.

Dienstag ist der erste richtige Tag, an dem der Laden geöffnet hat. Brooklyn ist nicht länger da, um mich abzulenken. Alle Bücher sind in die Regale geräumt. Zum ersten Mal seit dem Umzug nach Donovan Grove fühlt sich alles sehr echt an – und ich habe Zeit, darüber nachzudenken, ob es die richtige Entscheidung von mir war, unser Leben so auf den Kopf zu stellen.

Ein paar Leute bleiben vor der Auslage stehen, kommen aber nicht herein. Ich kann die Zukunft des Ladens nicht nach dem ersten Tag bewerten, mein Herz hüpft trotzdem jedes Mal aufgeregt, wenn ein Schatten das Fenster verdunkelt.

Ich schenke mir einen Kaffee nach dem anderen ein, was meinen Geist nicht gerade beruhigt. Während ich im Laden herumlaufe und Dinge verrücke, weil ich nicht anders kann, frage ich mich, wie mein Tag aussehen würde, wenn ich in New York geblieben wäre. Ein normaler später Januartag. Und ich weiß mit Sicherheit, dass ich mich schon nach Freitag gesehnt hätte, obwohl es erst Dienstag ist. Vor etwa einem Jahr ist der Tag gekommen, an dem ich erkannt habe, dass ich einfach nicht mehr so weitermachen konnte. Nicht mehr Tag für Tag in dieses Büro gehen konnte. Deshalb schätze ich mich glücklich, hier zu sein, obwohl die Zukunft so unsicher ist. Das ist weit besser als das Hamsterrad, in dem ich rotiert bin.

Als Amazon sich schließlich dagegen entschlossen hat, das Hauptquartier in New York zu eröffnen, habe ich das nicht als Niederlage betrachtet. Es hat lediglich meine Entscheidung zu gehen beschleunigt. Denn mit jedem verstrichenen Tag habe ich mich dort weniger zugehörig gefühlt.

»Gehöre ich hierher?«, frage ich meinen leeren Laden. Wie verrückt, im Zeitalter von E-Commerce einen echten Buchladen zu übernehmen. Ich wurde von neunundneunzig Prozent der Leute, denen ich von meinen Plänen erzählt habe, davor gewarnt. Obwohl ich nicht hier bin, um ihnen etwas zu beweisen, wäre es gut für mein Ego, wenn ich es schaffen könnte. Wenn ich dieses Geschäft zum Laufen bringen könnte.

Ein weiterer Schatten fällt durch das Fenster. Ich schenke der unbekannten Person ein großes Lächeln. Auch wenn es fraglich ist, ob er oder sie es tatsächlich sehen kann.

Und dann, als hätten meine Sorgen ihn heraufbeschworen, geht die Tür auf und mein erster potenzieller Kunde des Tages kommt herein.

»Willkommen bei Bookends«, sage ich und versuche, die Begeisterung in meiner Stimme zu zügeln. »Sagen Sie Bescheid, wenn Sie Hilfe brauchen.« Der Mann, der hereingekommen ist, sieht nicht bekannt aus.

»Ich habe gehört, Sie hätten schon Sachen für den Valentinstag. Ich dachte, ich kümmere mich früh darum.«

»Eine wunderbare Idee.« Ich gehe zu ihm hinüber. »Ich bin übrigens Zoe. Nett, Sie kennenzulernen.«

Erstaunt sieht er mich an. Wahrscheinlich ist er so enthusiastische Begrüßungen, wenn er einen Laden betritt, nicht gewöhnt. Es fällt mir auch an normalen Tagen schon schwer, mich zurückzuhalten, aber ausgerechnet heute sprühe ich vor Energie – und all der Kaffee hilft auch nicht gerade.

Dann streckt er die Hand aus. »Sean Denton. Freut mich, dich kennenzulernen, Zoe.« Wie in Donovan Grove offenbar üblich, duzt er mich sofort. Annas Mutter Sherry hat das auch schon getan. Als ich seine Hand schüttle, erscheint ein Lächeln auf seinem Gesicht.

»Was hat dein Partner oder deine Partnerin für Vorlieben?«, frage ich, darauf bedacht, weder Geschlecht noch Sexualität einfach anzunehmen.

»Cathy ist ziemlich traditionell. Eine Karte und Schokolade sollten in Ordnung sein. Aber meine Arbeits-Ehefrau«, er macht mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft, »verabscheut den Valentinstag leidenschaftlich. Also will ich ihr etwas besorgen, um sie zu ärgern. Eigentlich nur zu meiner eigenen Belustigung.«

Ich kichere. »Dann sind sie beide sehr glückliche Damen.«

»Anna wird tagelang nicht mit mir sprechen, aber das wird nur zu meiner Erheiterung beitragen.«

»Anna?«, frage ich. »Mit kurzen, schwarzen Haaren? Und einem unglaublich süßen Hund namens Hemingway?«

»Genau die. Wir führen ein Unternehmen. Als du letzte Woche dieses Herz auf das Fenster gemalt hast, war sie schon köstlich irritiert.«