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Ist Alter wirklich nur eine Zahl? Die erfolgreiche Rechtsanwältin Alice McAllister liebt ihr geregeltes Leben. Trotzdem lässt sie sich dazu überreden, sich eine Auszeit im Ferienhaus ihrer Geschäftspartnerin Miranda in Portugal zu gönnen. Dort stellt die unerwartete Anwesenheit von Mirandas Tochter Alices geordnete Welt gewaltig auf den Kopf. Trotz ihres Altersunterschiedes lassen Alice und Joy sich auf eine heiße Sommerromanze ein … bis der Tag kommt, an dem sie beide zurück nach London müssen. Wird Alice vergessen können, was Joy in ihr geweckt hat? Und wie kann sie Miranda gegenübertreten, ohne sich für ihr leidenschaftliches Abenteuer schuldig zu fühlen?
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Seitenzahl: 340
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Inhaltsverzeichnis
Von Harper Bliss außerdem lieferbar
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Über Harper Bliss
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
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Kaffee mit einem Schuss Liebe
Kapitel 1
Ich versuche, meinen Sitz etwas zurückzukippen, doch sobald ich den Knopf betätige und ein bisschen gegen die Lehne drücke, spüre ich, wie mir die Knie des Passagiers hinter mir Widerstand entgegenbringen. Vielleicht hätte ich auf Miranda hören und mir einen Platz in der Businessclass buchen sollen.
»Aber das ist keine Geschäftsreise«, hatte ich protestiert, worauf sie nur mit einem Seufzen geantwortet hatte. Nicht, dass ich jemals für irgendeine Reise ein überteuertes Ticken kaufen würde, nur um etwas mehr Beinfreiheit zu haben – abgesehen davon, dass ich nie geschäftlich reise.
»Darf es noch etwas Wein sein, Ma’am?«, fragt eine der Flugbegleiterinnen.
»Nein, danke.« Ich reiche ihr meinen leeren Plastikbecher. Ich hatte schon zwei Wein getrunken. Auch wenn ich gerade auf dem Weg in einen längst überfälligen Urlaub bin, bin ich nicht bereit, meine Gesundheit leichtfertig hintenan zu stellen.
Meine Rückenlehne bleibt gerade und ich schließe die Augen, denke an die zwei Wochen absolutem Nichts, die ich vor mir habe.
»An deinem Lebensende wirst du dir nicht wünschen, dass du mehr gearbeitet hättest, Alice«, hatte Miranda vor ein paar Monaten zu mir gesagt. »Als deine Geschäftspartnerin verlange ich, dass du dir diesen Sommer drei Wochen lang freinimmst.« Sie hielt mir ihr Handy hin und zeigte mir einige Fotos von blauem Himmel und einem schicken Haus nur wenige Minuten vom Strand in Quinta do Lago entfernt. »Betrachte es als fix gebucht. Was hältst du vom 1. bis 21. August?«
»Drei Wochen? Bist du verrückt geworden?« Ich warf ihr einen finsteren Blick zu, konnte die Augen aber kaum von ihrem Handy abwenden. Auf dem letzten Foto war ein Swimmingpool gewesen, den die Sommersonne in ein verheißungsvolles Licht tauchte. Dazu kam, dass sie mir das an einem Tag mit – selbst für London – absolut scheußlichem Regenwetter zeigte. »Okay, aber nur zwei Wochen. Drei sind utopisch.«
Miranda forderte die Besiegelung des Deals per Handschlag. Abgesehen von einem freien Tag ab und an und einem gelegentlichen langen Wochenende in Paris oder Cornwall, bin ich keine große Urlauberin. Ich arbeite lieber, als zu viel Zeit mit meinen eigenen Gedanken zu verbringen. Diese Arbeitsethik hat es, mit Verlaub gesagt, Miranda erlaubt, genug Geld zu verdienen, um sich dieses Haus an der Algarve zu kaufen.
Aber Miranda hat ihren Willen bekommen und nun sitze ich hier. Gleich landet die Maschine auf dem Flughafen Faro.
Nachdem ich mich durch die üblichen Flughafen-Querelen gearbeitet habe – ein weiterer Grund, nur mit dem Auto oder Zug zu reisen – hole ich meinen Mietwagen ab und breite die Karte auf dem Lenkrad aus. Die Dame hinter dem Tresen hat mir versichert, dass das Auto ein Navi hat, aber ich finde mein Ziel lieber auf die altmodische Art.
Als ich endlich bei Mirandas Haus ankomme, bin ich mehr als bereit für eine Runde im Pool. Und als ich mein Auto vor dem Haus abstelle, muss ich ihr recht geben, denn ein wohliges Gefühl von Sommer und von tiefer Ruhe überkommt mich. Das habe ich noch nie irgendwo so empfunden. Oder zumindest schon lange nicht mehr. Ich bin müde von der Anreise, aber allein zu wissen, dass ich angekommen bin und der Blick vor mir lässt mich entspannen.
Das Haus sieht in echt genauso fantastisch aus, wie auf den Fotos. Es ist nicht übermäßig groß, aber die weißen Wände heben sich malerisch gegen den blauen Himmel ab und der Pool ist von dichtem, grünem Gras umgeben, das sicher täglich bewässert wird. Ich hoffe, dass die Verantwortlichen nicht die Privatsphäre stören, die Miranda mir für meinen zweiwöchigen Aufenthalt garantiert hat.
Ich habe nur einen Koffer mitgenommen und den bringe ich jetzt ins große Schlafzimmer. Von hier aus hat man einen Blick auf den Poolbereich. Ich atme tief ein und lasse den Stress von London, der Arbeit und Reise mit jedem Ausatmen mehr aus mir entweichen.
Bevor ich mich jedoch vollkommen der Ruhe hingebe und den Rest des sonnigen Tages genieße, sollte ich mich ein bisschen bewegen. Der Flug hat nur drei Stunden gedauert, aber ich war insgesamt sieben unterwegs gewesen und meine Beine waren steif vom vielen Sitzen.
In London verbringe ich jeden Morgen eine Stunde auf meinem Crosstrainer, den ich in meinem Gästezimmer aufgestellt habe. Er ist meine liebste – und einzige – sportliche Aktivität, aber ich kann dabei die Nachrichten schauen und er hält mich in Form.
Als ich Miranda gefragt habe, ob es ihm Haus Fitnessgeräte gibt, hat sie mich seltsam angesehen, als wäre das die absurdeste Frage der Welt. Die meisten Hotels auf der Welt werben aktiv mit ihren Fitnessräumen.
»Entspann dich einfach«, hatte Miranda gesagt. »Zwei Wochen ohne Sport werden dir schon nicht die fantastische Kondition zerstören, Alice.«
Ich bin nicht wahnsinnig traurig, dass ich mit dem Pool vorliebnehmen muss. Ich bin nicht die beste Schwimmerin der Welt, aber es wird meinem Bizeps, Trizeps und den Deltamuskeln guttun und außerdem die Verspannungen in meinen Beinen lösen. Ich würde jetzt gerne zu Miranda sagen, dass ich mich sehr wohl anpassen kann, wenn es die Situation erfordert, aber das muss warten, bis ich sie in zwei Wochen wiedersehe.
Nachdem ich meinen Koffer ausgepackt und meine Kleidung an ihren dafür vorgesehenen Platz im Schrank geräumt habe, schlüpfe ich in meinen Badeanzug. Ich hatte mir auch einen Bikini mit auffälligem, buntem Blumenmuster geleistet, doch als ich ihn jetzt anschaue, frage ich mich, was ich mir bei diesem Kauf gedacht habe. Ein Badeanzug erfüllt den gleichen Zweck.
Das Wasser ist nicht warm, aber auch nicht kalt. Es hat gerade die richtige Temperatur und bevor ich ein paar Bahnen aus Fitnessgründen schwimme, lasse ich mich auf dem Rücken treiben. Die spätnachmittägliche Sonne ist immer noch stark genug, um durch meine geschlossenen Lider zu dringen.
Das Becken ist nicht sehr lang, also zähle ich die Bahnen mit, bis ich 40 hinter mich gebracht habe. Keuchend setze ich mich auf den Rand. Ein hoher Baum überschattet diesen Teil und ich atme durch, um mich mit den sommerlichen Gerüchen um mich herum vertraut zu machen.
Als Miranda mir damals erzählt hatte, dass sie sich hier ein Haus kaufen wollte, hatte ich ihr Dummheit und Geldverschwendung vorgeworfen. Aber während ich hier sitze, beginne ich ihre Entscheidung langsam zu verstehen. Das Haus gehört Miranda inzwischen seit 18 Jahren und sie hat mir unzählige Male angeboten, herzukommen. Jetzt wird mir klar, dass ich die Dumme war, weil ich immer einen guten Grund gefunden habe, um nicht zu fahren. Aber der Sommer war immer eine stressige Zeit, da Miranda und ihre Tochter mindestens einen Monat in dem Ferienhaus verbrachten – ein Luxus, den ich ihr oft vorhielt. Und nachdem Alan mich verlassen hatte, arbeitete ich sowieso die meiste Zeit. Warum sollte ich allein in den Urlaub fahren? Und mit Miranda und ihrer Tochter zu verreisen hatte mich irgendwie nie gereizt. Ich habe nichts gegen Kinder, aber wenn ich mich entspannen will, suche ich nicht gerade ihre Nähe.
Als mein Magen zu knurren beginnt, dusche ich und fahre dann ins nächstgelegene Dorf. Ich kaufe genug Lebensmittel für ein paar Tage und zwei Flaschen Wein.
Gerade als ich zum Haus zurückkomme, klingelt mein Handy. Miranda hatte mir geraten, es auszumachen und in einer Schublade zu verstecken, aber das war dann doch zu viel für mich. Als ich auf das Display schaue, sehe ich Mirandas Namen. Vielleicht will sie kontrollieren, ob ich abhebe. Natürlich tue ich das.
»Alice, ist es nicht wunderbar? Hör dir das an.« Sie macht etwas mit ihrem Handy und ich höre ein Rauschen. »Das ist ein zauberhafter Londoner Regenguss, der gegen meine Bürofenster prasselt.«
»Wirklich großartig.« Ich lehne mich in der offenen Küche gegen den Esstisch. Von hier aus kann ich den Pool sehen.
»Wie fühlst du dich?«
Wie ich mich fühle? Miranda hat schon vor langer Zeit gelernt, mir diese Frage nicht zu stellen. »Ehm, toll.« Die Ironie in meinem Tonfall ist nicht zu überhören.
»Bist du entspannt?« Sie macht eine Pause. »Weil … na ja … es gibt da etwas …«
Das Stammeln passt so gar nicht zu Miranda.
»Macht Mr. Pappas Probleme? Ich wusste, dass ich nicht –«
»Nein, Alice, alles gut. Es hat nichts mit der Arbeit zu tun.« Sie räuspert sich. »Es ist nur … Joy hat überraschend eine neue Stelle bekommen. Sie fängt in einer Woche an und würde sich gerne noch ein bisschen Sommer gönnen, bevor sie wieder arbeiten geht.«
»Okay. Dann sollte sie das tun.« Ich verstehe nicht, warum Miranda darum so ein Aufhebens macht. Sie sollte froh sein, dass Joy einen neuen Job hatte. Das Mädchen wechselte die Arbeitgeber schneller, als man gucken konnte.
»Ja, nun, die Sache ist die, Alice … Sie hat gefragt, ob sie ins Ferienhaus fahren könnte … Nur für ein paar Tage. Nur, um ein bisschen Vitamin D zu tanken.«
Spricht Miranda über dieses Ferienhaus? Das kann nicht sein. Ich bin hier. Ich habe das Versprechen von Privatsphäre und Ruhe bekommen. »Joy will hierher kommen?« Ausnahmsweise gebe ich mir keine Mühe, meine Verärgerung zu verbergen.
»Nur, wenn es für dich in Ordnung ist. Ich meine, das Haus ist mehr als groß genug für zwei. Sie wird dir nicht auf die Nerven gehen, ich versprech’s dir. Sie wird sowieso die meiste Zeit am Strand sein. Du wirst kaum merken, dass sie da ist.«
Nein, schreit eine kleine Stimme in meinem Kopf. Aber das ist Mirandas Haus. Was soll ich denn sagen? Dein eigen Fleisch und Blut kann es nicht nutzen, weil ich hier bin? Das geht gegen jede Regel der Höflichkeit, die ich verinnerlicht habe.
»Na ja …«, setze ich an, aber Miranda unterbricht mich erneut.
»Es ist nur für ein paar Tage. Sie muss zurückkommen und ihre Stelle antreten.«
Ich verdrehe die Augen. Miranda erniedrigt sich ganz schön für ihre Tochter, wenn sie ihr einfach sagen könnte: »Nein, das Haus ist besetzt.« Ich kenne Joy nicht besonders gut. Ich habe sie seit Jahren nicht mehr gesehen, aber ich gehe davon aus, dass Miranda sie auch nach ihrem Uniabschluss nicht weniger verwöhnt hat.
»Es ist okay, Miranda. Ich werde sie mit offenen Armen willkommen heißen.« Aber nur, weil du mir keine Wahl lässt. Miranda wusste ganz genau, dass ich nicht Nein sagen würde. Für sie ist dieses Telefonat vermutlich deutlich einfacher, als ihrer Tochter einen Wunsch zu verwehren. Kinder. Weder Alan noch ich hatten großes Interesse an einer traditionellen Familie gehabt. Ich zog meine Befriedigung aus der Energie, die ich in meine Karriere steckte.
»Vielen, vielen Dank. Ich schulde dir was«, sagte Miranda. »Das ist mir bewusst. Ich mach’s wieder gut, versprochen.«
Miranda fährt fort, dass Joy – die offenbar neben ihr sitzt, während sie mit mir telefoniert – umgehend einen Flug buchen wird. Sie wird morgen Nachmittag hier eintreffen. Ich brauche sie nicht vom Flughafen abzuholen, weil sie ein eigenes Auto mieten wird. Ein Mietwagen, den Miranda bezahlt.
Als ich auflege, ist meine komplette Entspannung wie weggeblasen. So viel zum Thema Urlaub. Während ich mir einen Salat mache, male ich mir aus, wie ich es Miranda heimzahlen könnte. Sie war diejenige, die mir im Nacken saß, dass ich mir freinehme. Das zeigt nur einmal mehr, wem ihre Loyalität gilt. Blut ist immer dicker als das Wasser der Freundschaft, auch wenn wir schon Freunde waren, bevor Joy auf die Welt kam.
Ich esse meinen Salat, starre auf den Pool und überschreite mein selbst gesetztes tägliches Alkohollimit, indem ich noch zwei Gläser Wein trinke.
Kapitel 2
Joy kommt in einem grellgelben Mini Cooper angefahren – ich hatte gar nicht gewusst, dass Autovermietungen so etwas überhaupt anbieten. Ihr Gepäck besteht lediglich aus einem Rucksack.
»Du reist mit leichtem Gepäck«, ist das Erste, was ich zu ihr sage. Nicht besonders höflich, aber ich kann nicht anders. Ich möchte von Anfang an klarstellen, dass ich nicht wirklich mit dieser unerwünschten Störung meines Urlaubs einverstanden bin.
»Hier braucht man nicht viel Klamotten.« Joy schultert ihren Rucksack und kommt mit raschen Schritten auf mich zu. »Schön, dich zu sehen, Alice. Ist verdammt lang her.« Sie breitet die Arme weit aus.
Erwartet sie wirklich eine Umarmung? Ich kann mich nicht an das letzte Mal erinnern, dass ich jemanden umarmt habe. Bevor ich jedoch auch nur über eine akzeptable Ablehnung der Umarmung nachdenken kann, hat sie auch schon schwungvoll die Arme um mich geschlungen und zieht mich an sich. Ich empfinde diese Art der Begrüßung einer Bekannten als höchst unangebracht und winde mich schnell wieder aus ihrem Überraschungsangriff heraus.
Als ich einen Schritt vor ihr zurückweiche, sieht sie mich mit einem seltsamen Blick an. »Meine Güte, Alice, musst du heute noch auf eine Beerdigung?«
Ich war in schwarze Hosen und eine cremefarbene Seidenbluse geschlüpft, als Joys Ankunftszeit näher rückte.
»Manche Leute ziehen sich gerne etwas Anständiges an«, gebe ich zurück und lasse meinen Blick über Joys spärlich bekleideten Körper wandern. Sie trägt ein Tanktop, durch das man ihren schwarzen BH deutlich sehen kann, und Shorts, die ihre Kehrseite nur knapp bedecken.
Sie zuckt die Schultern und macht sich auf den Weg ins Haus, wo sie ihren Rucksack auf den Küchenboden fallen lässt. »Mum hat mir Anweisungen gegeben, dass ich dich nicht nerven und dir so weit wie möglich aus dem Weg gehen soll.« Sie öffnet die Kühlschranktür und schaut ins Innere. »Ich verspreche, dass ich morgen einkaufen gehe, aber das Essen im Flieger war grauenvoll und ich verhungere.« Sie dreht sich zu mir um, die Kühlschranktür noch immer geöffnet. »Und ich kann’s kaum erwarten, in den Pool zu kommen.« Sie tritt ein wenig mehr in die kühle Luft, die aus dem Kühlschrank entweicht. »Oh Gott, fühlt sich das gut an.«
Hast du den Verstand verloren, will ich fragen. Hat deine Mutter dir nichts über Energieverschwendung und verantwortungsbewusstes Handeln beigebracht? Aber ich war noch nie gut darin, meine Gefühle auszudrücken – und das war auch nie nötig gewesen.
»Nimm dir, was du möchtest«, sage ich stattdessen. »Ich bin in meinem Zimmer.«
»Danke«, ruft Joy mir nach.
Schon jetzt verflüchtigt sich meine Entspannung. Verspannungen kriechen zurück in meine Muskeln und mein Hirn arbeitet auf Hochtouren auf der Suche nach dem besten Umgang mit dieser Situation. Ich lege mich bei weit geöffneten Terrassentüren aufs Bett und blättere abwesend durch einen Roman von Lee Child, ohne ein Wort davon zu lesen. Während der nächsten fünf Tage wird Joy einfach eines dieser Ereignisse im Leben sein, die ich ertragen muss. Stumm, natürlich, so läuft das immer bei mir.
Ich höre Schritte im Zimmer nebenan. Es gibt noch ein weiteres Schlafzimmer auf der anderen Seite des Hauses, aber das geht nicht zur Poolseite hinaus. Ich hoffe, dass Joy wenigstens genug Manieren besitzt, nachts nicht allzu viel Lärm zu machen.
Wenig später tauchen Beine in meinem Sichtfeld auf. Sie sind straff, ihre Haut unberührt vom Alter und sie bewegen sich auf den Pool zu. Als ich meinen Blick über ein Stück Stoff wandern lasse, dass man kaum ein Bikini-Höschen nennen kann, traue ich meinen Augen nicht: Joys Rücken ist nackt. Keine Spur von einer Schnur auf ihrem Rücken. Ich sehe nur nackte Haut. Mir bleibt jedoch keine Zeit für weitere Gedanken, denn Joy springt mit einem eleganten Satz kopfüber in den Pool.
Schockiert setze ich mich auf. So will sie mich nicht stören? Das Mädchen hat Nerven. Ich muss mich davon abhalten, nach meinem Handy zu greifen und Miranda anzurufen. Aber all das hier ist in erster Linie Mirandas Schuld und was soll sie schon tun? Ihre Tochter anrufen und ihr sagen, dass sie sich ein Oberteil anziehen soll? Unwahrscheinlicher ist nur, dass ich Joy in diesem Aufzug Gesellschaft im Pool leisten werde.
Mein Blick ist noch immer auf die Wasseroberfläche des Pools fixiert. Nicht, weil ich das sehen will, sondern weil ich einfach nicht wegschauen kann, so entsetzt bin ich von Joys nicht vorhandener Kleiderwahl. Plötzlich taucht ihr Kopf im Wasser auf. Ihr Gesicht glänzt, ihr Haar ist nass und sie legt ihre Arme auf die Poolkante.
»Ziehst du die Beerdigungsklamotten heute noch mal aus?« Sie setzt ein selbstzufriedenes Grinsen auf.
So viel zum Thema Privatsphäre. Vielleicht sollte ich ins Zimmer am anderen Ende des Hauses umziehen, damit sie nicht beim Schwimmen direkt in meinen Raum schauen kann. Ich bin immer noch zu fassungslos, um zu sprechen. Gott sei Dank hat sie ihre Arme auf die Kante gelegt, wodurch ihr nackter Oberkörper vor meinen Blicken verborgen bleibt.
»Das Wasser ist herrlich.« Joy neigt den Kopf zur Seite. »Oder schmollst du jetzt den ganzen Abend lang in deinem Zimmer.«
Was glaubt dieses Mädchen eigentlich, wer sie ist? Wie redet sie denn mit mir? Offensichtlich hat Miranda ihr auch nicht beigebracht, wie man mit Älteren spricht.
Joy stemmt sich aus dem Pool und lässt sich mir zugewandt im Schneidersitz auf dem Gras nieder, ohne ihre bloßen Brüste zu bedecken. Zu meinem Entsetzen fühle ich, wie meine Wangen heiß werden. Ich kann nur hoffen, dass die Distanz zwischen meinem Bett und dem Pool groß genug ist, dass Joy es nicht bemerkt.
»Ich lese lieber mein Buch weiter.« Ich bin zufrieden mit dem bisschen Würde, das meine Stimme noch ausdrückt.
»Wirklich? Was liest du?«
Joy kann mich wohl einfach nicht in Frieden lassen. Sie wird vermutlich seit ihrer Geburt mit so viel Aufmerksamkeit überschüttet, dass sie sich keine fünf Minuten lang selbst beschäftigen kann.
»Nur der neue Jack-Reacher-Band.« Ich hatte ihn in der Buchhandlung am Flughafen mitgenommen. Ich erlaube mir dieses Laster nicht oft, aber zumindest war das wohl ein Buch, das Joy gefallen könnte.
»Dieser Mist? Echt jetzt?« Ihre Augen verengen sich. »Das hätte ich gar nicht von dir erwartet, Alice. Du überraschst mich.«
»Oh, dann nehme ich an, dass in deiner Bibliothek nur Ian McEwan, Margret Atwood und Ähnliche stehen?«, erwidere ich, bevor ich auch nur eine Chance habe, über meine Worte nachzudenken.
»In meiner Bibliothek?« Joy lacht leise. »Wenn du die auf meinem Kindle meinst, dann ja. Ich steh auf ziemlich anspruchsvolle Literatur.«
Mit den Wassertropfen, die ihr über die Wangen rinnen und dem langen, blonden Haar, das ihr nass am Kopf klebt, sieht sie wie die unintellektuellste Person aus, die ich je gesehen habe. Sie geht wahrscheinlich auf Raves und schaut Reality-TV-Shows – die schlimmste Form der Zeitverschwendung, die je erfunden wurde. Es ist schwierig, diese Konversation zu führen, während Wassertropfen Joys Hals hinunterlaufen, über ihre Brüste und sich zwischen ihren verschränkten Beinen sammeln.
»Schön für dich«, ist alles, was ich sage, weil ich diesen peinlichen Moment nicht weiter ausdehnen will.
Joy legt den Kopf schief und kneift die Augen zusammen.
»Was?« Ich kann mir die Frage nicht verkneifen.
»Ich habe nur gerade versucht, mich zu erinnern, wann ich dich das letzte Mal gesehen habe und ob du damals schon so verklemmt warst.«
Verklemmt? Ich klappe das Buch in meinen Händen zu und werfe es auf den Nachttisch. »Ich bin nicht den ganzen Weg nach Portugal gekommen, um mir Sprüche von einem Teenager anzuhören.« Ich springe vom Bett auf und will die Fenster schließen.
»Ich bin 29, Alice«, ruft Joy etwas lauter. »Ich bin schon lange kein Teenager mehr.«
Ohne weiter auf ihre Worte einzugehen, schließe ich die Fenster vor ihrer Nase und das dreiste Mädchen verschwindet aus meinem Sichtfeld – als könnte ich sie dadurch auch wie von Zauberhand aus dem Haus entfernen.
Ich stehe noch lange genug am Fenster, um zu hören, wie Joy wieder in den Pool springt. Ein Laut der Sorglosigkeit, denke ich bei mir, einer Unbekümmertheit, die ich nie gekannt habe.
Ich schalte die Klimaanlage des Zimmers an, weil es bei geschlossenen Fenstern sofort viel zu heiß und stickig hier drin wird. Das leise Summen ist mir willkommen, denn es überdeckt die Planschgeräusche, die Joy draußen macht.
Die Bluse klebt mir feucht am Rücken – vielleicht hatte sie in diesem Punkt gar nicht so unrecht. Während ich aus meiner Businesskleidung schlüpfe, überlege ich, meinen Flug nach Hause vorzuverlegen, denn nach diesem Urlaub werde ich gestresster sein als bei meiner Ankunft.
Am Ende ist es die pure Sturheit, die mich bleiben lässt. Ich habe den längeren Atem. Joy wird nur für ein paar Tage hier sein und wenn sie wieder weg ist, werde ich in der Erleichterung und langersehnten Einsamkeit meinen ganz persönlichen Frieden finden.
Kapitel 3
Ein paar Stunden später verlasse ich meinen Raum wieder und mache es mir mit einem kleinen Imbiss auf der Terrasse bequem. Ich weigere mich, in der Küche herumzulungern, nur weil Joy oben ohne auf der anderen Seite des Pools auf einer Liege schläft. Normalerweise würde ich um diese Tageszeit noch nicht zum Wein greifen, aber meine Nerven liegen blank und da ich offensichtlich mit Joy in diesem Haus hier festsitze, erscheint mir Alkohol als einzige Möglichkeit, mich ein wenig zu entspannen.
Während ich ein Stück Brot in Olivenöl eintunke, lasse ich den Blick schweifen. Nicht einmal in meinen Zwanzigern wäre ich je auf die Idee gekommen, mein Bikini-Oberteil auszuziehen. Nie im Leben. Aber mir ist natürlich bewusst, dass sich Dinge mit nachfolgenden Generationen ändern. Ich bin 22 Jahre älter als Joy und sie könnte genauso gut von einem anderen Planeten aus nach Quinta do Lago gereist sein. Als ich 29 war, war ich schon vier Jahre mit Alan verheiratet – und selbst er hatte vor der Hochzeit nur äußerst selten meine Brüste gesehen.
»Ich würde auch ein Glas davon nehmen«, sagt Joy plötzlich. Ihre Augen sind nur halb geöffnet.
Soll ich es ihr etwa auch noch bringen?
»Bedien dich.« Ich hebe mein Glas an die Lippen und nehme ein paar tiefe Schlucke. Ich hoffe, dass ich ihr nicht gerade auf die Brust geschaut habe, als sie die Augen aufgemacht hat.
Sie steht auf und begibt sich in die Küche, ein wissendes Lächeln umspielt ihre Lippen.
»Du kannst ruhig ausnutzen, dass ich da bin.« Joy setzt sich – immer noch oben ohne – mit einem Weinglas in der Hand neben mich. »Wollen wir nachher ausgehen? Ich könnte dir die Gegend zeigen.«
»Ziehst du dir dafür etwas an?« Meine Worte haben einen scharfen Unterton. Ich hege keinerlei Absicht, mit Joy in die Stadt zu fahren, aber ihre Frage lässt Hoffnung in mir aufkeimen, dass sie später ausgeht und mich den Rest des Abends in Ruhe lässt.
»Stört es dich?«
Ich kann ihren Blick auf mir spüren, starre selbst jedoch stur auf die Wasseroberfläche des Pools. Sie wirkt nun dunkel im Licht der sinkenden Sonne.
»Es tut mir leid, Alice. Das ist so normal für mich. Es ist fast schon ein Reflex. Im Haus ankommen. Mein Top ausziehen. So machen wir das hier einfach, schon immer.«
»Willst du damit sagen, dass Miranda auch … ehm … so hier sitzt?«
»Natürlich. Ist ja auch nichts Besonderes. Das ist ganz natürlich.«
»Großer Gott«, flüstere ich und versuche dabei angestrengt, mir nicht meine älteste Freundin und Geschäftspartnerin dabei vorzustellen, wie sie sich barbusig in den Pool gleiten lässt. Zum Glück habe ich ihr Angebot nie angenommen, mit ihr zusammen hierher zu kommen.
»Ich kann mir was anziehen, wenn du dich dann wohler fühlst. Mir war nur nicht klar, dass es dir was ausmacht.«
Ich bin hin und her gerissen. Ich will nicht wieder als spießig gelten. Aber nicht hier sitzen und meinen Wein mit einer obenrum nackten Frau in ihren Zwanzigern trinken zu müssen, würde mich wohl durchaus mehr entspannen lassen.
»Das würde ich begrüßen.« Ich drehe den Kopf und schenke ihr ein kleines Lächeln.
»Na dann …« Joy stemmt sich aus ihrem Stuhl hoch. »Du verpasst was, Alice.« Sie zwinkert mir zu und schlendert barfuß ins Haus.
Ich verpasse was? Was soll das denn heißen? Mir kommt es mittlerweile so vor, als wäre das Mädchen nur aus einem Grund hergekommen: mir auf die Nerven zu gehen.
Ein paar Minuten später sitzt sie in dem gleichen transparenten Tanktop neben mir, in dem sie angekommen ist. Darunter trägt sie keinen BH und auch wenn das nur wenig mehr Stoff ist als zuvor, lässt es doch ein wenig die Anspannung aus meinen Muskeln weichen. Bevor sich das Gespräch erneut in eine Richtung bewegt, die mir nicht gefällt, reiße ich es an mich und beginne über Arbeit zu sprechen – auf jeden Fall sicheres Terrain.
»Miranda hat etwas von einem neuen Job erzählt, den du bald anfängst?«
»Jep.« Joy zieht die Füße auf den Stuhl und stützt die Ellenbogen auf ihre Knie. »Social Media-Werbung. Ich werde hauptsächlich an Facebook-Werbeanzeigenkampagnen arbeiten.«
Ich habe natürlich von Facebook gehört, aber eher friert die Hölle zu, als dass man mich auf so einer Plattform findet. »Aha«, sage ich. »Klingt interessant.«
Joy lacht leise und meint dann: »Ich will nicht über die Arbeit sprechen, Alice. Ich habe Urlaub.« Sie lässt die Beine wieder vom Stuhl gleiten und stellt ihr – bereits geleertes – Glas auf dem Tisch vor uns ab. »Also, kommst du mit? Wir könnten entweder um den See spazieren oder ich kann dir die Abkürzung zum Strand zeigen, oder wir genehmigen uns in der Stadt einen Drink. Wobei ›Stadt‹ vielleicht ein zu großes Wort ist.«
»Ich weiß nicht. Ich würde lieber …«
»Hast du etwa ein Date mit Jack Reacher?«, unterbricht sie mich. »Mein Kommentar vorhin war übrigens unfair, ich habe tatsächlich einen oder zwei Lee Childs gelesen – wer nicht? Ich hab auch den Film gesehen, aber mal ehrlich … Tom Cruise? Echt jetzt?«
Ich bin mir nicht sicher, auf was sie sich bezieht, also schweige ich.
Das ist für Joy offenbar ein Grund zum Kichern. »Gehst du überhaupt ins Kino?«
»Selten.«
»Was machst du dann zur Entspannung?« Sie dreht den Stiel des Weinglases zwischen den Fingern hin und her.
»Ich gehe oft ins Theater und in die Oper. Ab und zu am Wochenende ins Museum, wenn es eine interessante Ausstellung gibt. Das Gleiche wie deine Mutter, denke ich.« Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich ausgefragt werde, dass sie meine Persönlichkeit oder meine Lebensgewohnheiten genau unter die Lupe nimmt.
»Mum? Soweit ich weiß, war sie seit über zehn Jahren nicht mehr in der Oper. Sicher nicht mehr seit sie mit Jeff zusammen ist.«
»Ah, Jeff.«
Joy wendet sich mir zu. »Ich hatte nie die Gelegenheit, dich das zu fragen: Du bist eine von Mums besten Freundinnen, also hast du dazu sicher eine Meinung. Was hältst du von ihm?«
Miranda ist seit über zehn Jahren mit Jeff zusammen. Jede Meinung, die ich einmal über ihn hatte –und davon gab es einige – ist mittlerweile irrelevant geworden. »Sie wirken sehr glücklich miteinander.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage, Alice. Komm schon.« Jetzt trommelt sie mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte herum. »Das bleibt auch unter uns. Ich versprech’s.«
Ich atme tief durch, bevor ich zum Sprechen ansetze. Ich weiß ja nicht einmal, ob ich Joy vertrauen kann. Wie durch ihre Ankunft heute eindrucksvoll bewiesen wurde, ist Blut schließlich dicker als Wasser. Und auch wenn Miranda meine Freundin ist, haben wir nicht die Art von Beziehung, bei der ich ihr einfach so die Meinung über den zweifelhaften Charakter des Mannes in ihrem Leben sage. »Man muss ihn wohl besser kennenlernen.«
Joy schüttelt mit einem schiefen Grinsen den Kopf. »Zum Glück kann ich gesellschaftskonforme Mittelstands-Diplomatie ziemlich gut entschlüsseln.« Aus heiterem Himmel legt sie ihre Hand auf meinen Unterarm und tätschelt ihn.
Ich starre auf die Stelle, an der sie mich berührt – mit offenem Mund, wie ich mit einer Verspätung feststellen muss. So viel zum Thema gesellschaftskonforme Diplomatie.
Joy zieht ihre Hand zurück. »Er ist ein Prolet und ein arroganter Arsch. So schaut’s aus.« Joy sieht mir direkt in die Augen. »Aber das war mein Vater auch. Wenigstens hat Mum einen durchgängigen Männergeschmack.«
»Paul war kein bisschen so.«
»Ach, komm schon, Alice. Ich weiß, ich weiß. Man soll nicht schlecht über Tote sprechen und so, aber ich bin seine Tochter. Und wenn ich es recht bedenke, bin ich ihm auch ziemlich ähnlich, also darf ich auch meine Meinung sagen. Mum mag aufgeblasene Selbstdarsteller. Das ist eine Tatsache.«
Lachen steigt in meiner Kehle auf, aber ich weiß nicht, ob das angesichts des Andenkens von Joys totem Vater angebracht ist. »Offensichtlich, du hast ihn schließlich viel besser gekannt als ich.«
Joy kommt auf die Füße. »Wie wäre es, wenn wir unseren Ausflug auf morgen verschieben? Ich hole uns noch was zu Essen und Wein und wir können einfach hierbleiben und reden?«
»Du musst nicht wegen mir bleiben«, werfe ich hastig ein.
»Das macht mir nichts aus. Ich bin sowieso ein bisschen müde von der Reise.«
Nichts ausmachen? Da geht er hin, mein ruhiger Abend. »Sicher.« Ich leere mein Weinglas, um etwaige Enttäuschung auf meinem Gesicht zu verbergen.
Während Joy nach drinnen verschwindet, um das Essen und die Getränke zu holen, erinnere ich mich daran, sie nach ihrem Rückflugdatum zu fragen, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet.
»Ich kann nicht glauben, dass du zum ersten Mal hier bist, Alice«, meint Joy, nachdem sie mir ein weiteres Glas Wein eingeschenkt hat, von dem ich keinen Tropfen zu trinken gedenke.
»Ich bin wohl nicht so reiselustig.« Ich lasse meinen Blick über den Pool wandern, der nun im Schatten liegt.
»Trotzdem. Es sind noch nicht mal drei Stunden mit dem Flugzeug.« Joy nippt an ihrem Glas und fährt dann fort: »Meine Granny war total begeistert, als Mum das Haus gekauft hat. Sie war mindesten dreimal pro Jahr hier …«
»Musst du mich wirklich mit einer Rentnerin vergleichen?« Ich hätte gute Lust, einfach aufzustehen und wieder in mein Zimmer zu gehen, aber es ist ein wunderschöner Abend und ich will den Sonnenuntergang sehen. Stattdessen trinke ich doch vom Wein – ich habe ihn schließlich bezahlt.
»Tut mir leid, Alice, das war nicht meine Absicht.« Joys amüsierter Gesichtsausdruck lässt mich vermuten, dass es ihr wirklich gefällt, mich zu provozieren. Mit Sicherheit tut es das.
»Da bin ich mir nicht so sicher«, antworte ich, bevor ich mir eine Scheibe von dem Schinken schnappe, den sie auf den Tisch gestellt hat. Wenn ich mir den Wein weiter so auf leeren Magen hinter die Binde kippe, büße ich das morgen früh.
»Ich schwör’s. Ich zeige mich von meiner besten Seite. Soll ich mich noch mehr anstrengen?«
»Du kannst tun und lassen, was du willst.« Ich rutsche mit meinem Stuhl zurück, da ich meine Meinung über den Sonnenuntergang geändert habe. Die Sonne steht gerade erst hinter den Bäumen und es wird noch eine ganze Weile dauern, bevor sie uns ihr orangefarbenes Glühen am Horizont zeigt. So lange kann ich nicht warten – nicht in meiner aktuellen Gesellschaft. »Ich gehe rein.«
»Was? Nein. Komm schon.« Joy springt auf. »Lass uns noch mal von vorn anfangen, bitte. Ich weiß, dass ich manchmal ganz schön nerven kann.« Sie neigt den Kopf zur Seite und schiebt die Unterlippe nach vorn. »Gibst du mir noch eine Chance?«
»Wenn wir uns dieses Haus teilen wollen, erwarte ich eine respektvolle Behandlung.« Ich klinge wie eine Schuldirektorin, die ein Kind rügt, und fühle mich dabei absolut lächerlich.
»Du wirst nur noch respektvolle Worte von mir hören, ich verspreche es.« Joy legt sich eine Hand auf die Brust, knapp über der Wölbung ihrer Brüste und lenkt meine Aufmerksamkeit damit nur noch mehr auf ihr durchsichtiges Top.
»Na schön«, sage ich, aber nur, weil ich den Eindruck habe, einen Funken Reue in ihrem Blick zu erkennen.
»Es ist nicht leicht, immer so unausstehlich zu sein, weiß du?« Dann setzt Joy ein Lächeln auf. »Aber niemand ist perfekt.«
»Das ist allerdings wahr.« Ich werfe ihr einen strengen Blick zu, ehe ich meinen Stuhl wieder näher an den Tisch rücke.
Eine Weile lang sitzen wir schweigend nebeneinander – eine Stille, in der ich mich gezwungen sehe, mein Weinglas zur Hälfte zu leeren. Auch wenn ich für einen Moment Ruhe dankbar bin, so stört mich die Stille jedoch auch. Es ist seltsam, neben jemandem zu sitzen und keine Konversation zu betreiben.
»Ich bin froh, dass ich es endlich geschafft habe, hierher zu kommen«, bemerke ich, während ich den Stiel meines Weinglases zwischen den Fingern drehe. »Es ist wunderschön.«
»Ich weiß.« Joys Tonfall hat sich geändert. Er ist netter – weniger provokant. »Ich hatte großes Glück, dass ich als Kind schon herkommen konnte.«
»Vor Jahren hat Alan mal vorgeschlagen, dass wir zum Urlaub herkommen. Ich habe wie immer abgelehnt.« Und er begann kurze Zeit darauf eine Affäre mit Sheryl, füge ich in Gedanken hinzu, während ich mich gleichzeitig frage, wie die Worte ihren Weg aus meinem Mund gefunden haben. Zu viel Alkohol und der ist mir wohl zu Kopf gestiegen.
»Darf ich fragen, warum?« Joys Stimme scheint noch wärmer geworden zu sein und der freche Unterton, der zuvor immer in ihr mitschwang, ist komplett verschwunden.
Ich schaue auf mein fast leeres Weinglas und schwöre mir noch einmal, nicht wieder davon zu trinken. »Arbeit«, sage ich nur und schiebe dann erneut meinen Stuhl nach hinten. »Ich hole uns Wasser.«
»Nein!« Joy ist vor mir auf den Füßen. »Ich hole es. Setz dich wieder.« Es ist, als hätte sie Angst, dass ich mich in meinem Zimmer verschanzen und sie allein der hereinbrechenden Nacht überlassen könnte.
Während sie im Haus ist, sehe ich hinauf zum Himmel und beobachte, wie er sich zu dem tiefdunklen Blau verfärbt, das den Tag von der Nacht trennt.
»Bitte sehr.« Joy hat eine Flasche Wasser und zwei Gläser nach draußen gebracht und macht aus dem Eingießen eine Show.
Auch wenn ich es besser weiß, trinke ich das Wasser als könnte ich so den Alkohol in meinem Blut direkt verdünnen. Mein Universalrezept für die meisten Dinge im Leben war in der Regel immer Abstinenz, daher weiß ich, dass ich mich auf unsicherem Gebiet bewege, weil ich schon deutlich über meinem Tageslimit liege. Als ich Joy anblicke, kann ich sehen, wie sehr sie sich bemüht, einen Kommentar zurückzuhalten. Sie sieht aus, als würde sie gleich platzen vor lauter Fragen, die sie mir stellen will.
»Spuck’s schon aus.« Diesmal sind es meine Lippen, auf die sich ein amüsiertes Lächeln legt.
»Was denn?«, fragt Joy. »Den Wein? Niemals, Alice. Der ist viel zu gut dafür.«
Ich kann ein leises Lachen nicht unterdrücken. »Was du mich fragen willst.« Vielleicht ist es die entspannte Atmosphäre oder die Sonne, die hinterm Horizont versinkt oder zu viel Wein oder alles zusammen, aber jetzt, wo Joy sich ein bisschen zurücknimmt, fange ich sogar an, das Gespräch zu genießen. Ich bin so weit weg von meinem Alltag, da kann ich auch über ein paar Dinge sprechen, an die ich in London kaum noch denke.
»Okay.« Joy mustert mich, während sie unsere Weingläser erneut füllt. »Du arbeitest also lieber als Urlaub an diesem wundervollen Ort zu machen. Das ist interessant.«
»Das ist keine Frage.« Ich greife demonstrativ nach meinem Weinglas und nehme einen Schluck – und ignoriere dabei meinen vorherigen Schwur.
Joy gluckst. »Lass es mich anders formulieren, Alice: Hast du wirklich lieber in einem Büro im verregneten London gesessen anstatt mit deinem damaligen Ehemann ein bisschen Sonne an der Algarve zu tanken?« Sie sieht mich triumphierend an.
»Alan und ich …«, setze ich an. »Wir hatten jeder unser eigenes Leben. Oder ich hatte das zumindest. Arbeit war … ist mein Leben. Deswegen habe ich letztendlich auch aufgehört, ihm die Schuld dafür zu geben, dass er mich für jemanden verlassen hat, der nicht nur deutlich jünger ist als ich, sondern ihm auch mehr Aufmerksamkeit schenken wollte.« Nachdem ich diese Worte laut ausgesprochen habe, brauche ich dringend noch einen Schluck Wein.
»Das ist sehr ehrlich von dir.« Das triumphierende Lächeln ist von Joys Lippen gewichen.
Sie hat vermutlich nicht erwartet, dass ich so offen über Alan spreche. Ehrlich gesagt hatte ich das auch nicht. Joys Ausstrahlung scheint sich exponentiell zu meinem Weinkonsum zu verbessern. Während das Sonnenlicht der Dunkelheit wich, hat sie sich irgendwie von einer nervtötenden Präsenz zu einem angenehmen Gesprächspartner gewandelt.
»Es ist die Wahrheit, auch wenn ich das nicht so gesehen habe, als er mich verlassen hat.« Ich beäuge die beiden Gläser vor mir und entscheide mich diesmal fürs Wasser. Plötzlich fürchte ich den Moment des Aufstehens, da ich Angst habe, es nicht mehr in einer geraden Linie in mein Zimmer zu schaffen.
»Rückblickend und so«, stimmt Joy mir zu. Sie starrt finster in ihr Weinglas und erweckt damit den Eindruck, dass sie über ihr eigenes Liebesleben in der Vergangenheit nachdenkt – oder der Gegenwart.
Als ich die Augen kurz schließe, dreht sich in meinem Kopf alles. Sobald ich sie wieder geöffnet habe, greife ich erneut nach meinem Wasserglas und stürze den verbliebenen Inhalt hinunter.
»Du trinkst wohl nicht so oft?« Joy füllt mein Wasserglas wieder auf.
»Ich genieße ein Glas guten Wein, aber abgesehen davon kann ich in meinem Leben nicht viel mit Alkohol anfangen.« Ich klatsche die Handflächen ein bisschen stärker als beabsichtigt auf die Armlehnen meines Stuhls. »Apropos – Alkohol, meine ich –, ich glaube, der ist mir zu Kopf gestiegen. Ich muss mich jetzt wirklich hinlegen.«
Als ich mich aus dem Stuhl auf die Füße gestemmt habe, finde ich es tatsächlich ein bisschen schade, dass Joy den restlichen Abend nun allein hier genießen wird.
»Schaffst du’s?«, fragt Joy ein wenig besorgt klingend.
»Natürlich«, antworte ich, auch wenn sich meine Beine ein bisschen wackelig anfühlen. »Gute Nacht, Joy. Bis morgen.« Anstatt zu der Doppeltür meines Schlafzimmers zu gehen, nehme ich den längeren Weg durch die Küche, nur damit Joy nicht Zeuge meines betrunkenen Taumelns wird, mit dem ich sehr undamenhaft die Terrasse entlangschwanken würde.
Kapitel 4
Als ich am nächsten Morgen aufwache, fühlt sich mein Schädel an, als würde mein Gehirn ihn von innen mit einem Presslufthammer bearbeiten und auf meiner Zunge liegt ein absolut widerwärtiger Geschmack. Die Sonne scheint durch die Terrassentür – ich habe gestern nicht mal mehr die Vorhänge zugezogen.
Ich massiere mir die Schläfen, als würde das etwas bringen. Ich habe gestern meine Obergrenze von zwei Gläsern deutlich überschritten. Als ich den Kopf vorsichtig nach links drehe und auf den Wecker schiele, stelle ich entsetzte fest, dass es bereits nach zehn ist. Welcher Teufel hat mich nur geritten? Wie viele Tage noch, bevor Joy wieder weg ist? Vielleicht habe ich sie gestern Abend danach gefragt, aber wenn ja, habe ich es vergessen.
Nachdem ich mich schließlich aus dem Bett gequält, eine lange, kalte Dusche genommen und mich angezogen habe, treffe ich in der Küche auf Joy, die dort Kaffee kocht.
»Sie ist erwacht«, kommentiert sie mein Erscheinen.
Ich weiß nicht warum, aber ich fühle, wie meine Wangen bei ihren Worten warm werden – obwohl sie ihren Bikini heute mit Oberteil an hat. »Du hast einen schlechten Einfluss auf mich, junge Dame.«
»Damit kann ich leben.« Sie deutet auf die Kaffeemaschine. »Ein bisschen davon und eine Paracetamol und du bist so gut wie neu.«
Ich schüttle den Kopf. »Ich nehme keine unnötigen Medikamente.«
»Natürlich nicht.« Wieder dieses wissende Lächeln. »Aber ich wette, dass du sonst auch nicht mehr als zwei Gläser Wein trinkst. Für mich sind das außergewöhnliche Umstände, Alice. Dazu kommt, dass du sowieso nur ein paar Tage hier bist, die solltest du nicht mit einem Kater verschwenden, den du leicht wieder loswerden könntest.«
»Mein Gott, warum bist du eigentlich keine Anwältin geworden? Die Argumentationsfähigkeit hättest du dazu.«
»Ich fühle mich für deinen körperlichen Zustand verantwortlich, also lass mich dir helfen, okay?« Unbeirrt gießt sie eine Tasse dampfenden Kaffee ein und reicht sie mir. »Nimm die doch mit auf die Terrasse, ich bring dir gleich alles, was du brauchst.«
»Es geht mir gut und –«
»Keine Widerrede. Geh schon.«
Joy besitzt tatsächlich die Frechheit, mir den unteren Rücken zu tätscheln und mich in Richtung Terrasse zu schieben. Ich habe nicht genug Energie, mit ihr zu streiten. Die Kühle des Morgens ist bereits verschwunden und es ist selbst im Schatten bereits heiß und schwül. Ich setze mich in den gleichen Stuhl wie am Abend zuvor und allein das bringt Erinnerungsfetzen zurück. Habe ich über Alan gesprochen?
»Hier, bitte.« Sie stellt eine große Flasche Wasser und eine Schachtel Schmerzmittel auf den Tisch. »Es ist auch noch Kaffee da, wenn du mehr willst. Ich fahre schnell in den Supermarkt und besorge uns Nachschub für einen Brunch, es ist fast nichts mehr da. Du solltest vielleicht auch eine Runde schwimmen gehen, das wirkt oft Wunder.«
Allein der Anblick von Joy und ihrer grenzenlosen Energie verstärken meine Kopfschmerzen. »Wie geht’s dir?«
»Super. Ich vertrage mehr als eine Flasche Wein.« Sie zuckt die Schultern. »Brauchst du noch was aus dem Supermarkt?«
Ich kann mich nicht daran erinnern, wann jemand das letzte Mal für mich einkaufen gegangen ist. »Nein, danke.«
»Okay.« Joy verschwindet rasch nach drinnen und schnappt sich ihre Handtasche und Autoschlüssel. »Ich koche heute Abend übrigens. Ich hab Wiedergutmachung zu leisten.«
»Du willst in diesem Aufzug in den Supermarkt?«
»Klar.«