Zwei Herzen allein - Harper Bliss - E-Book

Zwei Herzen allein E-Book

Harper Bliss

0,0

Beschreibung

Zwei Frauen. Zwei Welten. Eine Chance auf Liebe. Anna und Zoe könnten nicht unterschiedlicher sein. Anna lebt zurückgezogen mit ihrem Hund Hemingway in Donovan Grove und klammert sich an ihre Routinen. Zoe ist gerade mit ihrer Tochter in die idyllische Kleinstadt gezogen, hat einen Buchladen gekauft und will sich ein neues Leben aufbauen. Schon bei ihrer ersten Begegnung fühlen sich die beiden Frauen zueinander hingezogen, doch es ist nicht leicht für Anna, jemand Neues in ihr Leben zu lassen. Wird Anna den Sprung ins Ungewisse wagen? Und kann Zoe sich mit Annas Eigenarten anfreunden?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 174

Veröffentlichungsjahr: 2022

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Von Harper Bliss außerdem lieferbar

Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen

Über Harper Bliss

Sie möchten keine Neuerscheinung verpassen?

Dann tragen Sie sich jetzt für unseren Newsletter ein!

www.ylva-verlag.de

Von Harper Bliss außerdem lieferbar

Die Erfahrung von Liebe

Ergreif die Sterne

Summer’s End

Sommergeflüster zu zweit

Kaffee mit einem Schuss Liebe

1

Anna

Hemingway ist es egal, dass es draußen schneit. Er sitzt neben der Haustür und wartet auf mich. Seit zehn Minuten versuche ich ihn zu ignorieren. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, und habe es doch vor Augen. Seine traurige, enttäuschte Miene mit den dramatisch herabhängenden Augenwinkeln, die er nur aufsetzt, wenn ich ihm nicht um Punkt zehn Uhr die Leine anlege.

Aber die Januarkälte scheint in meine Knochen gekrochen zu sein und die Aussicht darauf, das Haus zu verlassen, ist noch weniger attraktiv als sonst.

»Verrat mir noch mal, warum ich dich adoptiert habe?«, frage ich Hemingway.

Er dreht das Gesicht zu mir und verstärkt den dramatischen Blick, während seine Schnauze sehnsüchtig zur Tür ruckt.

Sobald ich meinen Mantel nehme, heitert sich Hemingways Stimmung auf. Er wedelt erwartungsvoll mit dem Schwanz.

»Du und ich«, murmle ich, »wir sind so verschieden. Ich weiß nicht, wie wir überhaupt zusammenleben können.« Ich erinnere mich an einen Podcast, den ich letzte Woche gehört habe, in dem behauptet wurde, dass Hunde früher von selbst Gassi gegangen sind. Aber mit Hemingway spazieren zu gehen ist einer der Gründe, warum ich ihn mir überhaupt geholt habe. Müsste ich nicht zweimal am Tag mit ihm das Haus verlassen, würde ich es oftmals gar nicht tun. Er ist meine Verbindung zur Außenwelt.

Hemingway bellt aufgeregt, als ich ihm die Leine anlege. Ich nehme meine wärmste Mütze und Handschuhe und stelle mich dem Schnee.

Die Kälte schlägt mir hart ins Gesicht, aber Hemingway zieht an seiner Leine und ich habe keine Zeit für Selbstmitleid. Er zerrt mich auf unserer üblichen Route vorwärts. Halb gehe, halb jogge ich ihm hinterher und halte den Blick gesenkt. Donovan Grove ist eine Kleinstadt, deren Einwohner ihre Einfahrten sauber halten. Daher ist es nicht schwer, auf dem Gehweg voranzukommen, aber ich muss Hemingway trotzdem bitten, sein Tempo zu zügeln, damit ich nicht auf dem Schnee ausrutsche. Es wäre nicht das erste Mal. Als ich ihn vor zwei Jahren mitten im Winter bekommen habe, riss mich seine Begeisterung einige Male mit. Dafür habe ich bezahlt, indem ich der Länge nach im Schnee gelandet bin.

Hemingways beste Eigenschaft ist seine Vorhersehbarkeit. Jeden einzelnen Tag verrichtet er sein Geschäft an derselben Straßenecke – und ich entsorge es in dem Mülleimer, der von der Stadtverwaltung speziell für Hemingways Bedürfnisse dort aufgestellt wurde. Ich hätte nie selbst einen beantragt, aber meine Mutter hielt es aus irgendeinem Grund für notwendig. Also ist er da.

»Guter Junge, Hem.« Ich kraule ihn hinter den Ohren und er wirft mir dafür einen Blick so voller Liebe zu, dass ich die Kälte fast vergesse.

Wir setzen unseren Spaziergang fort. Auf den Straßen ist es still, sogar auf der Main Street, wo normalerweise einige Einkäufer anzutreffen sind. Ich folge Hemingways Pfotenspuren in der dünnen Schneeschicht, die sich gebildet hat, seit der Gehweg zuletzt geräumt wurde. Dann gewöhne ich mich allmählich an die Kälte und hebe den Kopf etwas höher. So läuft das jeden einzelnen Wintertag. Das Haus zu verlassen ist der schwierigste Teil, aber sobald ich im Freien bin, versuche ich, den Spaziergang ebenso sehr zu genießen, wie Hemingway es tut.

Die vertraute Umgebung beruhigt mich. Die Schaufenster der Geschäfte ändern sich mit den wechselnden Jahreszeiten, aber das ist auch schon alles. Als wir das Ende der Main Street erreichen, bemerke ich doch eine Veränderung. In Bookends, dem Buchladen, der seit Monaten leer steht, brennt Licht.

Und nicht nur das. Auf dem Schaufenster prangt ein großes Herz.

»O nein«, murmle ich und Hemingway bleibt stehen. »Hoffentlich wird aus dem alten Buchladen kein kitschiger Geschenkartikelladen.«

Ich spähe durch das Fenster und kann meinen Augen kaum trauen. Ja, es ist eine Weile her, seit ich zuletzt in den Laden geschaut habe, da er seit Monaten geschlossen ist. Doch der verlassene Buchladen hat eine beeindruckende Verwandlung hinter sich. Ganz gleich, was er jetzt darstellen soll.

Die alten, dunklen Bücherregale leuchten in frischen Farben und Bücherstapel warten darauf, an ihren Platz geräumt zu werden. Mein Herz macht einen kleinen Satz bei der Aussicht darauf, dass der Buchladen neu öffnen könnte. Doch dann wandert mein Blick wieder zu dem großen Herz am Fenster. Irgendjemand – vermutlich der neue Inhaber – hat in das Herz geschrieben: Valentinstag steht vor der Tür!

Ich habe meinen Weihnachtsbaum erst letzte Woche entsorgt – immer ein trauriger Anlass. Nicht nur, weil ich die weihnachtliche Gemütlichkeit liebe. Sondern auch weil ich bald, und der Beweis starrt mich bereits an, wieder daran erinnert werde, dass die Gesellschaft mein Single-Dasein für schrecklich und erbärmlich hält. Es ist schon schlimm genug, dass meine Mutter das denkt, obwohl sie inzwischen besser darin geworden ist, ihre Bestürzung zu verbergen.

»Ist das zu glauben?«, flüstere ich in mich hinein und meine Worte werden in der kleinen Atemwolke sichtbar, die aus meinem Mund kommt. Aber Hemingway kümmert das nicht. Er will nur seinen Spaziergang fortsetzen, und zerrt unruhig an seiner Leine.

»Wir gehen ja gleich«, versichere ich ihm – nicht, dass er es versteht. Ich blicke an der lächerlichen Zeichnung und den Worten auf dem Fenster vorbei und versuche, mehr vom Ladeninneren zu erhaschen.

Mrs. Fincher, die den Buchladen geführt hat, bevor sie letzten Sommer in Rente gegangen ist, hatte immer eine Empfehlung für mich, wenn ich hereingekommen bin – und das bin ich oft. Die Schließung des alten Bookends hat lange Zeit ein klaffendes Loch in meinem Alltag hinterlassen. Aber Mrs. Fincher hat den Valentinstag ebenso sehr gehasst wie ich, vor allem nach Mr. Finchers Tod. Sie hätte ihr Schaufenster nie mit einem lächerlichen Herzen verunstaltet. Tatsächlich würde ich wetten, dass sie wie ihr Mann einen Herzinfarkt bekommen würde, wenn sie den Laden jetzt sehen könnte.

»Eigentlich ist das ein Gesundheitsrisiko«, sage ich, aber Hemingway schert sich immer noch nicht darum. Inzwischen hat er sich beruhigt, sitzt still an meiner Seite und blickt durch die Gegend.

Ich sehe eine Bewegung im Laden. Eine Jugendliche – sie kann nicht älter sein als mein Neffe Jaden – schleppt eine große Kiste herein.

Allein der Anblick eines anderen Menschen bewirkt, dass ich von dem Fenster zurückweiche und zügig weitergehe.

2

Zoe

»Eine komische Frau hat gerade reingeschaut«, sagt Brooklyn. »Aber sie ist weggelaufen, als sie mich gesehen hat.«

»Sie wird zweifellos bald eine zufriedene Kundin sein.« Ich muss mich selbst ebenso motivieren wie meine Tochter.

»In dieser Stadt gibt es nicht viel anderes, also ja, warum nicht, Mom.« Wenigstens gibt Brooklyn sich heute Mühe. Anders als gestern, als ich sie kaum aus dem Bett bekommen habe. Der Umzug von Queens ins Hinterland von New York ist ihr viel schwerer gefallen als mir. Vor allem weil er mitten im Schuljahr stattgefunden hat. Das ist alles nicht so gelaufen, wie wir es uns vorgestellt haben.

»Es wird Zeit brauchen, mija«, wiederhole ich. Das scheint mein Mantra geworden zu sein. Für dich wird es sich schon ändern, wenn du wieder zur Schule gehst, füge ich in Gedanken hinzu. Sie würde es jedoch nicht gut aufnehmen, wenn ich das laut ausspreche. Der Schulwechsel ist immer noch ein sehr heikles Thema – und das verstehe ich.

Brooklyn sieht sich im Laden um, in dem Chaos herrscht. Wir haben die Rollläden erst gestern Abend hochgezogen. Meine erste Amtshandlung am heutigen Morgen war, das Fenster mit einem unglaublich großen Herzen zu bemalen. Ich lasse nicht zu, dass mein eigenes einsames Herz mich zynisch macht – oder ich kann wenigstens so tun.

»Dass du deinen gemütlichen Amazon-Job dafür aufgegeben hast …«, seufzt Brooklyn.

»Komm her, mija.« Ich strecke die Hand nach ihr aus. Sie starrt sie lediglich an. Ich überwinde die Entfernung zwischen uns und nehme ihre Hand in meine. »Ich weiß, es ist hart. Es ist mitten im Winter, Eve ist gerade erst weg und wir sind in dieser neuen Stadt, in der wir niemanden kennen, aber …« Ich ziehe sie etwas näher. »Du hast mich. Deine Mom. Und wir werden das Beste daraus machen. So sind wir Perez-Frauen nun mal. Und weißt du was? Am Ende wird es großartig sein.«

»Wie du meinst.« Sie erwidert meine Umarmung schwach, aber mehr kann ich von meiner fünfzehnjährigen Tochter unter diesen Umständen nicht erwarten.

»Wenn der Laden erst geöffnet ist, lernen wir eine Menge Leute kennen.« Deshalb will ich so schnell wie möglich alles für die Eröffnung vorbereiten. Ich habe gehofft, den Betrieb in ein paar Tagen aufnehmen zu können. Aber momentan sieht es so aus, als könnten es ein paar Wochen werden.

»Wer weiß, wie die so sind«, grummelt Brooklyn.

Ihre Hand liegt noch in meiner, als ich sie zum Fenster führe. »Sieh es dir an«, sage ich. »Ist es nicht idyllisch?«

Brooklyn zuckt nur mit den Schultern. Vielleicht habe ich doch zu viel von ihr verlangt. Vielleicht hätte ich bis zu ihrem Highschool-Abschluss in Queens und bei allem, wofür es steht, bleiben sollen.

Ich sehe zum Fenster hinaus und betrachte die Main Street von Donovan Grove. Genau gegenüber gibt es ein Diner, in dem wir zu Mittag essen werden, sobald wir noch einige Kisten ausgepackt haben. Es gibt einen Baumarkt, einen Mini-Supermarkt und eine Bäckerei. Allesamt voller Leute, die wir noch kennenlernen werden. Eine glückliche Mutter macht immer ein glücklicheres Kind, wiederhole ich in Gedanken.

Ein Mann und eine Frau gehen am Fenster vorbei und bleiben kurz stehen. Die Frau winkt, dann schlendern sie durch den noch immer fallenden Schnee weiter. Bernard, der den Süßigkeitenladen nebenan betreibt, hat mich gleich informiert, dass es zu Beschwerden von den Nachbarn führen kann, wenn der Gehweg vor dem Gebäude nicht sauber gehalten wird. Und ich habe das Gefühl, dass er die erste dieser Beschwerden vortragen wird, wenn ich nicht immer sofort meine Schaufel heraushole. Also habe ich Brooklyn aufgetragen, den Gehweg so sauber wie möglich zu halten. Wenn weiterhin so viel Schnee fällt und liegen bleibt, wird sie bald wieder rausgehen müssen.

»Willst du Marsha und Juan anrufen?«, frage ich. Gemeint sind damit unsere Freunde aus Queens, von denen uns der Abschied am schwersten gefallen ist.

Ein Teil der Spannung verschwindet aus Brooklyns Haltung. »Schon gut, Mom«, sagt sie. »Wir haben Kram zu erledigen.« Sie zieht die Hand aus meiner und öffnet eine Kiste. Sie seufzt, wie es nur ein Teenager kann. »Wo willst du die hinhaben?« Sie hält eine Packung leuchtend roter Valentinstagskarten hoch.

»Dafür müssen wir zuerst den Ständer zusammenbauen. Ich bin nicht sicher, ob das die beste Aufgabe für zwei Frauen ist.« Ich lächle sie an.

»O doch, ist es. Es gibt hier keine Aufgabe, die du und ich nicht erledigen können.« Die Verdrossenheit in ihrer Stimme ist trotziger Kampflust gewichen. »Wo ist der Ständer?«

Ich deute auf eine Kiste neben der Tür. Als ich den Blick durch den Laden schweifen lasse, denke ich kurz an meinen, laut Brooklyns Aussage, gemütlichen Amazon-Job zurück. Er war vielleicht gut bezahlt, aber alles andere als gemütlich oder angenehm. Dieser Laden ist vielleicht ein einziges Chaos, aber das ist nichts, womit wir nicht fertigwerden. Da bin ich Brooklyns Meinung. Es wird Muskelkraft und eine Menge Energie erfordern, aber das ist der Anfang unseres gemeinsamen Lebens in einer neuen Stadt – in Donovan Grove, wo ein Buchladen zum Verkauf stand, gerade als ich mich nach einem umgesehen habe. Gerade als ich vorsichtig über ein anderes Leben für uns nachgedacht habe. Und jetzt sind wir hier.

Brooklyn reißt die Kiste auf. »Wenn ich diesen Ständer zusammenbaue«, sagt sie, »bedeutet das aber nicht, dass ich es gutheiße, dass du diesen kitschigen, kapitalistischen Mist verkaufst.«

»Wir geben den Leuten, was sie wollen«, widerspreche ich. »Damit wir unseren Lebensunterhalt verdienen können.«

»Das ist nicht, was die Leute wollen, Mom. Vielleicht haben sie es gewollt, als du jung warst, aber Valentinstag ist einfach nicht mehr angesagt.«

»Autsch, Mädchen.«

»Ich wette mit dir, dass niemand in meinem Alter eine dieser Karten kaufen wird.«

»Ach ja?«

»Nur Rentner. Und Männer, die bei ihren Frauen etwas wiedergutmachen müssen«, sagt sie.

»So jung und schon so zynisch.« Ich drücke die Kiste platt, die sie gerade ausgeräumt hat.

»Ich schätze, das passiert nun mal, wenn die andere Mutter beschließt, dass sie sich einen schei–« Sie verstummt, bevor ich sie für ihre Ausdrucksweise tadeln kann. »Dass sie sich nicht mehr für einen interessiert.«

»Das tut Eve sehr wohl, Baby. Sie liebt dich.« Ich muss diese Dinge sagen, obwohl ich Eve am liebsten erwürgt hätte, als sie uns gesagt hat, dass sie mehrere Monate früher als geplant ins Ausland zieht. Eves Umzug war schon Schock genug für Brooklyn gewesen. Sie auch noch dazu zu bringen, viel früher als erwartet mit mir hierherzuziehen, hat ihr beinahe den Boden unter den Füßen weggezogen.

Brooklyn rollt mit den Augen. »Sparen wir uns das. Wenn es sie wirklich interessieren würde, wäre sie jetzt nicht dort, wo sie ist.«

»Ich weiß, Baby. Ich weiß.« Ich blicke zu dem Ständer, den wir aufbauen wollen, in der Hoffnung, sie so abzulenken.

»Es ist nur für ein Jahr«, hat Eve gesagt, als sie uns eröffnete, dass sie nach Shanghai ziehen wird.

»Ein Jahr sind trotzdem zwölf Monate im Leben deiner Tochter, die du verpassen wirst«, habe ich gesagt.

Weil Eve ein Jahr weg sein wird, haben wir uns darauf geeinigt, dass Brooklyn zunächst bei ihr in der Stadt bleibt, während ich mich in Donovan Grove einrichte. So hätte Brooklyn im Sommer umziehen und etwas zusätzliche Zeit mit ihrem anderen Elternteil bekommen können. Jetzt musste sie fast von einem Tag auf den anderen hierherziehen, während ihre andere Mutter sich in Asien ein schönes Leben macht. Es ist Brooklyn gegenüber nicht fair, aber so ist es nun mal.

»Ich kann das auch allein.« Brooklyn hockt sich auf den Boden.

»Aber das musst du nicht.« Ich setze mich neben sie und helfe ihr.

3

Anna

»Ich habe sie schon gesehen«, sagt Sean, als ich ihm von Bookends’ bevorstehender Neueröffnung berichte. »Eine reizende Lady und ihre Tochter im Teenageralter.«

Bei dem Wort »reizend« hebe ich skeptisch eine Augenbraue. Wenn das ein anderer Mann als Sean gesagt hätte, wäre ich beleidigt gewesen.

»Du weißt, was ich meine.« Sean zuckt mit den Schultern. »Und nur zu deiner Information, Cathy habe ich die Neue auch so beschrieben.« Er beugt sich hinab, um Hemingway zu streicheln, der neben ihm sitzt und auf das Leckerli wartet, das Sean ihm immer gibt.

»Gibt es irgendetwas, das ich wissen sollte?« Ich bringe das Gespräch zurück zum Geschäftlichen.

»Ich weiß es nicht, Anna. Ich habe sie nur in der Stadt gesehen. Ich weiß wirklich nicht, ob sie –«

»Wovon redest du?«

»Von der neuen Bookends-Inhaberin. Wovon redest du?«

Hemingway legt den Kopf auf Seans Knie.

»Ich habe natürlich über die Aufträge geredet.«

»Ah«, sagt er betont erkennend. »Du hast den Anna-Trick abgezogen. Du bist zum nächsten Thema weitergesprungen, ohne mich vorher darüber zu informieren.«

»Nenn es nicht so. Das tun die Leute ständig.«

»Okay.« Er schaut auf sein Display. »Das Lindsay Hare-Cover ist morgen fällig, aber …« Er kneift die Augen zusammen, als er sich auf das Display konzentriert. »Du hast es mir schon geschickt.«

»Alles, was nicht früh ist, ist spät«, wiederhole ich meine Standardaussage.

»Hm«, brummt Sean nur. »Nichts Neues. Im Januar läuft es immer etwas langsamer.«

»Wenigstens haben wir dieses Jahr keine Aufträge zum Valentinstag bekommen.« Ich schüttle den Kopf. »Ich glaube, das neue Bookends wettet dieses Jahr auf den Tag.«

»Wirklich? Dann muss ich auf einen Sprung dort vorbeischauen. Meine Lady überraschen.«

»Es hat noch nicht geöffnet«, sage ich trocken.

»Es ist noch nicht Valentinstag.«

»Ja, Gott sei Dank.«

»Hey, wenn der Tag da ist, solltest du ihn hier verbringen. Es gibt hier immer einen freien Tisch für dich, Anna. Das weißt du.«

»Was willst du damit sagen? Dass ich am dümmsten, kommerziellsten Fest – wenn man es überhaupt so nennen kann –, nicht allein sein sollte?«

»Ähm, nein, das ist überhaupt nicht, was ich gemeint habe«, sagt Sean.

»Na, du weißt ja, dass ich nur zu Hause arbeite, also …« Sean sollte sich glücklich schätzen, dass ich ein paar Mal die Woche zum Plaudern vorbeikomme.

»Hm.« Er ist ein Experte der einsilbigen Antworten. Schließlich greift er nach der Schublade, in der seine Hundekekse verstaut sind. Hemingway stellt sofort die Ohren auf.

»Dann gehen wir mal«, sage ich, nachdem Hemingway einige Kekse verschlungen hat.

»Tschüss, Augenweide«, sagt Sean und sieht dann zu mir. »Ich habe mit Hemingway geredet.«

»Richte deiner besseren Hälfte liebe Grüße aus.« Ich wappne mich gegen die Kälte und schließe die Tür hinter mir.

Sean hat das Büro, das er mietet, vor einigen Jahren zu einem Coworking-Space ausgebaut. Ich bin nicht sicher, wie er auf die Idee gekommen ist, dass ich ein Büro mit ihm, geschweige denn mit anderen Leuten teilen will. Und so habe ich ihm sofort gesagt, dass er besser auch den Tisch vermietet, den er für mich reserviert hat.

Zuerst war er mehr oder weniger der Einzige im Büro. Inzwischen gibt es jedoch in sogar Donovan Grove mehr und mehr Leute, die von zu Hause arbeiten und einfach ein paar Tage in der Woche aus dem Haus kommen wollen. Um meine Unterstützung zu zeigen, habe ich ihm einige Bilder für die Wände und einige Tipps zur Inneneinrichtung gegeben, die er dringend gebraucht hat. Näher werde ich dem Konzept von Teamwork aber nie kommen. Sean und ich führen gemeinsam ein Grafik- und Webdesign-Unternehmen und das ist mehr als genug Zusammenarbeit für mich.

Idealerweise würde ich ganz allein arbeiten. Aber ich brauche jemanden wie Sean, der sich um die Kommunikation kümmert – nicht, dass seine sozialen Fähigkeiten überragend wären. Aber wenigstens hat er nichts dagegen, diesen Teil zu übernehmen. Manchmal könnte ich schwören, er glaubt, er wäre gut darin. Da unser Geschäft einigermaßen läuft, kann er nicht völlig untalentiert sein. Wir wissen allerdings beide, dass unser kleines Unternehmen uns nie reich machen wird – oder auch nur wohlhabend. Für mich ist das in Ordnung. Ich mache mir eine geistige Notiz, Sean zu fragen, ob es das für ihn auch noch ist – es ist eine Weile her, seit ich das zuletzt getan habe.

Sean ist ein guter Kerl, den ich schon mein ganzes Leben lang kenne und als meinen besten Freund ansehe. Ich kann ihm vertrauen und wir haben eine gute Routine.

Ich kichere, als ich daran denke, dass Sean die neue Bookends-Inhaberin »reizend« genannt hat. Persönlich hatte ich noch nicht das Vergnügen, irgendwelche neuen Einwohner zu entdecken, die als reizend bezeichnet werden könnten. Was hat er noch gesagt? Mutter und Tochter? Es muss die Tochter gewesen sein, die ich durch das Schaufenster gesehen habe. Normalerweise sind es Familien mit zwei Komma vier Kindern, die das Stadtleben satthaben und nach Donovan Grove oder in einen der umliegenden Orte ziehen. Die übernehmen normalerweise aber auch keine Buchläden. Mrs. Fincher war vielleicht bereit für die Rente, aber sie hat nicht gerade ein florierendes Geschäft hinterlassen.

Während ich von Seans Büro nach Hause gehe, halte ich die Augen nach fremden Gesichtern offen. Donovan Grove ist kein Dorf und es gibt tausende Bewohner, die ich nicht kenne, aber jemand Neues ist immer leicht zu erkennen. Sie haben etwas Fremdes in den Augen. Und manchmal, o Graus, wollen sie unbedingt Blickkontakt herstellen, um die Einwohner kennenzulernen – und Hemingways Anwesenheit macht mich zu einem leichten Opfer. Wenn es nach mir ginge, würde ich auf meinem täglichen Spaziergang mit niemandem sprechen. Abgesehen von dem einen Jahr, in dem ich in der Großstadt dem Erfolg nachjagen wollte und kläglich gescheitert bin, habe ich mein ganzes Leben hier verbracht. Daher bin ich automatisch mit zu vielen Leuten bekannt, die gern plaudern.

»Wie geht’s Hemingway?« Ist die immer selbe Frage.

Er antwortet nicht, wenn ich ihn frage, denke ich immer, spreche es aber nie aus.

Ich bin fast zu Hause und es sieht aus, als müsste ich meine Stimme heute nicht mehr benutzen. Trotz der verfrühten Zurschaustellung von Vorfreude auf den Valentinstag, bin ich froh, dass Bookends wieder öffnet. Ich glaube daran, lokale Betriebe zu unterstützen – immerhin bin ich selbst Miteigentümerin eines lokalen Unternehmens. Auch wenn fünfundneunzig Prozent unserer Geschäfte über das Internet laufen. Aber Bücher online zu kaufen ist einfach nicht dasselbe.

Ich frage mich, ob die »reizende Lady« Buchempfehlungen für mich haben wird. Sie muss gern lesen, sonst wäre es sinnlos, einen Buchladen in einer Kleinstadt zu kaufen.

Inzwischen ist mein Haus mit der leuchtend roten Vordertür in Sichtweite. Jedes Mal, wenn ich mich meinem Haus nähere, flattert etwas in mir. Ich habe Jahre und alles Geld, das ich je verdient habe, darauf verwendet, es perfekt für mich und Hemingway zu gestalten. An den meisten Tagen bin ich in meinem gemütlichen Haus und in Gesellschaft meines Hundes wunschlos glücklich.

4

Zoe