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Hamburg, 1950er Jahre. Else Doppke wächst im Schatten des Hafens auf, still und kräftig, zwischen Wäscheleinen, Waschzubern und Worten, die niemand sagt. Was als gewöhnliche Biografie einer Arbeiterin beginnt, führt langsam in eine Welt, in der Nähe gefährlich, Stille laut und Berührung nie harmlos ist. In den Gassen von St. Pauli wird Else bald zu einer Figur, die man nur noch flüsternd erwähnt. Manche sagen, sie habe eine Gabe. Andere sprechen von einer Gefahr. Niemand kennt die Wahrheit. Dies ist ihre Geschichte. Eine Frau, die niemand verstand und die deshalb nie wieder vergessen wurde.
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Seitenzahl: 46
Veröffentlichungsjahr: 2025
Vorwort
Kapitel 1: Geboren im Kohlquartier
Kapitel 2: Die Lehre bei Frau Zitzewitz
Kapitel 3: Der Gang zur Bernhard-Nocht-Straße
Kapitel 4: Die Einladung
Kapitel 5: Der Zwischenfall
Kapitel 6: Der Name
Kapitel 7: Die Mutprobe
Kapitel 8: Der Bericht
Kapitel 9: Die Regeln
Kapitel 10: Der letzte Versuch
Sie war kein Name in den Zeitungen. Keine Schlagzeile, keine Fußnote, keine Legende, der man ein Denkmal errichtet hätte. Und doch – wer auf St. Pauli lebte, zwischen den Jahren, die zu Jahrzehnten wurden, der kannte sie. Oder meinte, sie zu kennen.
Man sprach von ihr in Spelunken, in Friseurläden, in den Rauchpausen zwischen zwei Besuchen.
Man sagte: „Die mit der Kraft. Die mit dem inneren Schraubstock. Die, die Männer bricht.“
Manche lachten, andere schwiegen. Manche übertrieben. Die meisten logen.
Ich habe sie ein einziges Mal gesehen. Es war spät. Sie saß auf einer Bank, den Mantel offen, den Blick in Richtung Elbe. Neben ihr: eine Flasche, halb leer. Vor ihr: ein aufgerissener Zigarettenschachtelboden, auf den jemand „Du bist stärker als du willst“ geschrieben hatte.
Vielleicht war sie es selbst. Vielleicht war es ein Gast. Vielleicht war es niemand.
Nach ihrem Tod fanden sich keine Briefe. Kein Tagebuch. Nur ein altes Heft mit Skizzen – Falten, Knöpfe, Schnitte. Und einige Wörter, sorgfältig geschrieben, unterstrichen, durchgestrichen, dann wieder notiert: Plättnerin. Kugelfisch. Halten.
Fest. Druck.
Dies ist kein Tatsachenbericht. Kein psychologisches Protokoll. Und schon gar kein Versuch, etwas zu erklären, das sich nicht erklären lässt.
Es ist ein Bild. Ein Flimmern. Eine Annäherung.
Was Sie in den folgenden Kapiteln lesen, ist zusammengesetzt aus Gesprächsfetzen, Beobachtungen, Gerüchten, alten Waschzetteln und zwei Tonbändern, auf denen sie schweigt, während jemand sie fragt, ob sie sich erinnern wolle.
Sie sagt nur:
„Ich war nie das Problem. Nur die Reaktion.“
Vielleicht hat sie recht. Vielleicht war sie nicht Täterin, nicht Heilige, nicht Opfer – sondern ein Spiegel, in dem sich die Männer sahen, wenn sie zu nah traten.
Ich widme dieses Buch ihr – und all jenen, über die man lacht, bevor man sie vergisst.
Herold zu Moschdehner
Else wurde in einem Zimmer mit gewölbter Decke und Wasserflecken geboren. Das Fenster zeigte in einen Hof, der nie Sonne sah. Die Tapete war grau von den Jahren und der Atem der Bewohner schwer vom Kohlenstaub. Es war ein Mittwoch im Spätherbst, und die Hebamme – Frau Wittschneider, eine Witwe mit eingefallenen Wangen und hartem Griff – sagte nur: „Ein kräftiges Mädchen. Die macht sich.“
Die Doppkes waren einfache Leute. Ihr Vater, Heinrich Doppke, arbeitete am Hafen beim Kaffeestapeln. Ihre Mutter, Frieda, war gelernte Schneiderin, aber die Zeiten hatten ihr das Nähen aus der Hand geschlagen. Seit Jahren nahm sie Wäsche zum Waschen an, scheuerte Rücken an Rücken mit anderen Frauen in einer feuchten Waschküche in der Leunastraße.
Else war das zweite Kind. Der erste war tot zur Welt gekommen, ein Junge, dem nie ein Name gegeben wurde. Vielleicht war es das, was die Mutter so hart machte, so kühl im Blick, selbst wenn sie sang. Else wuchs mit dieser Kühle auf, lernte früh, dass es im Leben weniger um Worte ging als um Tücher, Eimer, Wäscheklammern.
Sie lernte das Gehen auf unebenen Dielen, zwischen Stiefeln und Blecheimern, die nach Chlor rochen. Mit zwei konnte sie schon das Kochgeschirr allein vom Küchentisch schieben, um sich Platz zu machen. Mit drei hockte sie auf der Fensterbank und sah auf die schmutzige Leine, an der ein alter BH wie ein Aasvogel hing.
Sie sprach wenig. Wenn man sie fragte, antwortete sie knapp. Ihre Mutter sagte: „Die denkt zu viel. Das wird ein mühsames Kind.“
Die Schule war ein Gebäude aus Backstein mit rußgeschwärztem Sockel. Draußen standen große Mädchen mit fettigen Zöpfen und Jungen, die stanken wie alte Butter. Else saß still auf ihrer Bank, schrieb sauber, vergaß nie ihr Heft. Sie war nicht beliebt. Sie war nicht unbeliebt. Sie war einfach da. Wer sie necken wollte, ließ es bald. Nicht, weil sie laut wurde – sondern weil sie einen ansah wie ein Stein, der wusste, dass er länger lebt als der, der ihn tritt.
Sie war nicht stark im üblichen Sinne. Sie war nicht laut, nicht rotbäckig, nicht sportlich. Aber sie hatte etwas an sich, das sich nicht biegen ließ.
Wenn der Lehrer mit dem Zeigestock kam, verzog sie keine Miene. Wenn andere weinten, sah sie nur geradeaus. Ihre Mutter sagte: „Elsetje, du bist wie ein Schürhaken. Man kann dich benutzen, aber nicht zerbrechen.“
Mit acht trug sie Wasser aus dem Keller. Mit neun schleppte sie ihre kleine Schwester auf dem Rücken, als die Windpocken kamen. Mit zehn zog sie ein Bettlaken so straff über das Lager ihres Bruders, dass es klang, als würde Holz reißen. Da gab es keine Besonderheit, keine Verwunderung – nur ein Mädchen, das fest zupacken konnte, wenn niemand hinsah.
Die Doppkes wohnten zu viert auf 42 Quadratmetern. Das Klo war auf halber Treppe, der Ofen ein Ziehhund, der nie richtig warm wurde. Im Winter trug Else ihre Wollstrumpfhose auch nachts, und wenn es fror, klebten ihre Haare an der Wand, wenn sie zu nah am Mauerwerk schlief. Die Milch war dünn, das Brot mit Sirup bestrichen, das Fleisch kam nur am Sonntag.
Und doch: Else beschwerte sich nie. Nicht aus Stolz, nicht aus Erziehung. Es war einfach nicht ihre Art. Sie sah, dass auch andere nichts hatten.
Warum also klagen?
Einmal, mit elf, trat sie einem Jungen in den Magen, der ihrer Schwester den Rock hochzog.