Die Zeitreisende, Teil 1 - Hardy Manthey - E-Book

Die Zeitreisende, Teil 1 E-Book

Hardy Manthey

3,7

Beschreibung

Das E-Book beschreibt die atemberaubenden Abenteuer einer jungen Frau, die durch Raum und Zeit reist. Sie ist eine auffallend schöne, blonde und vor allem intelligente Frau aus Schweden, die in München erfolgreich Medizin studiert hat. Die blinde Liebe zu einem Mann stürzt sie in das Abenteuer ihres Lebens. Ihre Erlebnisse in diesem Roman und in seinen Fortsetzungen schildern beklemmend realistisch, was Frauen seit vielen tausend Jahren, zum Teil bis heute, erdulden und erleiden müssen. Maria Lindström überlebt als einzige einen Flug zum Pluto und landet sicher auf der Erde – allerdings 150 Jahre vor Christi Geburt. Als Aphrodite schließt sie sich Nomaden auf dem Weg nach Karthago an. In die noch unzerstörte antike Stadt zieht sie in Ketten ein und muss als begehrte Hure ihrem Herrn dienen. Aphrodite hat nicht nur das elende Sklavenleben zu erdulden, noch mehr Sorgen macht sie sich, ob sie den 3. Punischen Krieg und die Zerstörung Karthagos überleben wird. Doch genau dieses Wissen über die Zukunft der Stadt setzt sie für ihre Rettung ein. Wird es ihr gelingen. rechtzeitig Karthago zu verlassen und in das 22. Jahrhundert, aus dem sie als Maria startete, eine Botschaft zu übermitteln? Das Buch schildert die Ereignisse überaus spannend und macht süchtig auf die weiteren Teile. Der Autor hat mit der 2. Auflage sein Erstlingswerk sehr stark überarbeitet und die kritischen, trotzdem begeisterten Hinweise berücksichtigt. INHALT: Das Unwetter Zwei Wochen später Schnelle Hilfe Erkenntnisse auf Umwegen Analysen Die Radtour Am runden Tisch Maria und das Vorstellungsgespräch Ein Scheißkerl Die Tücken des Rechts Maria und die neue Liebe Inselträume und Trugbilder Das Tattoo Der Familienrat tagt! Hochzeit oder Katastrophe? Der Morgen danach Abschied von München Zu Hause bei Oma Aufregende Nachrichten Der große Tag Alltag an Bord Außerordentliche Dienstberatung Das Phänomen Ein ganz normaler Dienst Der Geburtstermin Todesstille Ein neuer Tag, neue Fragen und immer noch keine aktuelle Zeit Die Erde Der erste Tag auf der Erde Zweiter Tag auf der Erde Der dritte Tag und der erste Sichtkontakt Wie geht es weiter? Der Kontakt Der Überfall Die Sklavenhändler Die Freuden eines Herrn Der endlos lange Weg Karthago Verkauft Das Hurenhaus Der Lehrmeister Die ersten Freier Ein neuer Herr? Das Rennen Der Sieger, der neue Herr Aphrodite arbeitet? Verspielt an Eklasteos! Hausbesuche Wochen später, die große Weltpolitik

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Impressum

Hardy Manthey

Die Zeitreisende, 1. Teil

Vom 22. Jahrhundert zurück in das antike Karthago

2., stark überarbeitete Auflage

ISBN 978-3-86394-028-7 (E-Book)

Titelbild:

Ernst Franta unter Verwendung einer Reproduktion des Ölgemäldes „Der Sklavenmarkt“ von Jean-Léon Gérome

Ich widme dieses Buch meiner Frau, die mir Mut machte, meine persönlichen Aufzeichnungen zu veröffentlichen und die für mein zeitintensives Hobby Verständnis aufbringt.

© 2011, 2015 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Vorwort

Bevor ich dem geneigten Leser meinen Roman zumute, bedarf es wohl einiger klärender Worte zur Entstehung dieses spannenden Titels über die Zeitreisende. Denn der Anlass meines Buches ist nicht weniger abenteuerlich als die Geschichte, die ich Ihnen in meinem Roman erzählen werde.

Alles begann mit jenem denkwürdigen Tage im Jahre 2004 direkt an der Cheopspyramide. Ich war bis zu diesem Zeitpunkt ein hoffentlich normaler Mann, der gerne spannende Romane las und sich brennend für Geschichte interessierte. Meine Vorliebe für die Vergangenheit hat mir nicht nur eine kleine Bibliothek beschert, sondern mich auch auf meinen zahlreichen Reisen an viele geschichtsträchtige Orte geführt. Bei allem Interesse für Geschichte und ihre oft dramatischen Ereignisse suchte ich, alles aus dem rationalen wissenschaftlichen Standpunkt zu betrachten und mir auch so zu erklären. Selbst die Religionen und Mythen des Altertums hatten nur wissenschaftlich betrachtet einen Platz in meiner Gedankenwelt. Die Idee, selbst Geschichten oder gar Romane zu schreiben, kam mir dabei nie. Lieber telefonierte ich, statt mühselig lange Briefe zu verfassen. Das alles stimmte bis zu diesem denkwürdigen Tag im September des Jahres 2004 auch.

Nun also stand ich mit meiner Frau an diesem frühen Morgen vor der Cheopspyramide und war wie schon beim ersten Besuch von diesem Bauwerk ergriffen. Ich berührte einen dieser Quader und spürte ein Kribbeln in den Händen, gerade so, als seien sie eingeschlafen. Nun weiß ich nicht, ob das überhaupt hierher gehört. Das können Sie hinterher für sich selbst entscheiden. Ich schüttelte meine Hände, das Kribbeln ließ langsam nach und ich konnte meinen Spaziergang um die Pyramiden fortsetzen. Doch jetzt meldete sich in mir ganz aus der Tiefe eine weibliche Stimme, die mir sagte, dass ich von nun an einen Auftrag zu erfüllen hätte. Ich konterte, ja, wir Menschen müssen doch immer einen Auftrag erfüllen, und ignorierte einfach die immer schwächer werdende Stimme.

Die Fahrt zurück zu unserem Hotel in Hurgada dauerte über sieben Stunden. Ich verfiel in eine Art Halbschlaf. Plötzlich tauchte vor mir eine wunderschöne Frau auf und plauderte munter drauf los. Sie brauche mich, behauptete sie kühn. Ich hätte den Auftrag, ihre Abenteuer niederzuschreiben. Sie duldete keinen Widerspruch und begann sofort, mir ihre Geschichte zu erzählen.

Eine Vollbremsung holte mich zurück in die Realität. Etwas verdattert schaute ich mich um und dachte nur: „Wow, was für ein verrückter Traum!“ Vor allem konnte ich mich an jede Einzelheit klar erinnern. So etwas hatte ich zuvor noch nie erlebt. Meine Träume waren sonst bei mir nur undeutliche Erinnerungsfetzen. Für eine Stunde hielt ich mich wach. Als es draußen dunkel wurde, siegte erneut die Müdigkeit. Sobald ich die Augen schloss, war diese Frau wieder da und erzählte ihre Geschichte unbeirrt weiter. Ich protestierte und sagte ihr, dass ich als Mann doch nicht über eine Frau schreiben könne. „Das geht doch nicht!“ Sie erwiderte, gerade weil ich ein Mann sei, müsse ich ihre Erlebnisse niederschreiben. Ich müsse mich auch einfach nur an ihre Erzählung halten. Denn nur ein Mann habe den nötigen gesunden Abstand, der für ihre wahrlich abenteuerliche Geschichte notwendig sei. Sie behauptete, dass besonders Frauen gerne dazu neigen, sich einmal erlebte schlimme Dinge am Ende schönzureden. Das wolle sie aber nicht. „Ihr Männer seid dagegen oft schön brutal realistisch.“ Ich solle mich also nicht ständig herausreden und in Zukunft lieber aufmerksam zuhören, belehrte sie mich erneut. So gab ich mich geschlagen und wurde beinahe eins mit ihr.

Denn diese Frau lässt mich bis heute nicht mehr los. Wenn ich jetzt schreibe, genügt etwas Konzentration und schon kann ich loslegen. Mit ihr bin ich in ferne Welten gereist und habe oft Raum und Zeit durchbrochen. Siebzehn dicke Bücher sind so schon bis heute entstanden. Ich weiß noch nicht, wann es ein Ende geben wird. Das werden Sie als Leser sicher auch mit entscheiden! Aber vielleicht ist sie eines Tages einfach weg. So weg, wie sie damals gekommen ist?

Ich habe mich auch oft schon gefragt, warum es ausgerechnet eine Zeitreisende sein musste. Warum ist es kein Mann, der durch Raum und Zeit reisen kann? Ein Mann, ein wahrer Held, eben ein ganzer Kerl, der all diese Abenteuer bestehen muss. Ich habe diese Variante für mich auch schon durchgespielt. Schon allein aus Solidarität zu meinem Geschlecht. Was soll angeblich diese Frau besser können als ein Mann? Doch mein Wunschheld war schon an den ersten Abenteuern in der Antike kläglich gescheitert. Die Natur des Mannes erlaubt es in vielen Situationen einfach nicht, sich kampflos zu unterwerfen. Sich gar wie unsere Heldin oft ganz aufzugeben, fällt jedem Mann unglaublich schwer. Sich wie unsere Protagonistin unter Zwang zu prostituieren, ist doch die brutalste Form der Selbstaufgabe. Oder etwa nicht? Selbst die modernen Waffen könnten einen männlichen Helden nicht lange vor den Gefahren beschützen. Auch ein Recke braucht mal etwas Schlaf. Wenn ich also mit meiner Hauptfigur glaubwürdig bleiben wollte, müsste ich sie am Ende doch viel zu früh opfern. Schade, aber leider wahr.

Meine Heldin dagegen hat wahrlich viele Fehler gemacht, aber nie wirklich um jeden Preis gekämpft. Ehre, Ruhm oder gar Macht waren ihr nie wichtig. Nur für die Liebe und für ihre Kinder kämpfte sie bis zur Erschöpfung. Das ist das Geheimnis ihres Erfolges bis heute, glaube ich. Das ist eben das Naturwunder Frau! Folgen Sie also dieser Frau auf ihren vielen Abenteuern durch Raum und Zeit.

Ich wünsche Ihnen dabei gute Unterhaltung!

Hardy Manthey

Teil 1

Das Unwetter

Völlig zerschlagen von der unruhigen Nacht, versucht Giorgio Marotti, unter der Dusche irgendwie doch noch halbwegs munter zu werden. Die ganze Nacht tobte ein mächtiges Gewitter. Für diese Jahreszeit kam es mit ungewöhnlicher Heftigkeit. Am Frühstückstisch knabbert er lustlos an einem Apfel herum. Nebenbei aktiviert er über seinen Multiplex den Fernseher. Auf seinem Wandbildschirm verfolgt er eher beiläufig die Nachrichten.

Es ist der 28. August 2107 um 07.35 Uhr. In den Nachrichten wird von schweren Schäden vor allem an Straßen und Brücken auf ganz Sizilien berichtet. Aber immer noch mit seinen Gedanken abwesend, hört er den Nachrichten zu. Denn es ist jetzt schon der dritte Morgen ohne seine Frau Messina. Seit Messina erfolgreich esoterische Bücher verkauft, ist das gemeinsame Frühstück ein seltenes Ereignis. Dementsprechend ist heute sein Stimmungspegel ganz unten.

Beethovens Neunte erklingt schrill und Marotti dreht sich zum Wandbildschirm um, der ihm den Anrufer zeigt.

Sein holländischer Assistent Peter van der Delft erscheint fast in Lebensgröße auf dem Bildschirm und sieht wie ein begossener Pudel aus. „Professor Marotti, guten Morgen, Sie müssen sofort kommen! Eine Sensation! Unglaublich ist das. Das Unwetter hat vermutlich an der neuen Umgehungsstraße Reste einer antiken Tempelanlage freigelegt. Lassen Sie alles stehen und liegen, kommen Sie bitte sofort! Es ist unglaublich“, sprudelt es aus Peter van der Delft nur so heraus und er atmet dabei sichtlich schwer.

Wie vom Blitz getroffen, lässt Marotti den Apfel fallen und den gerade fertig gewordenen Cappuccino rührt er nicht mehr an. Er greift nur noch nach seinem alten Strohhut und rennt hinaus.

Ein warmer Wind begrüßt ihn. Er hat keinen Blick für das Farbenfeuerwerk, das die Morgensonne mit den Resten der Gewitterfront auf dem Meer veranstaltet.

In der ersten Sekunde will Marotti sich eines der fahrerlosen, automatischen Taxen rufen lassen, doch dann denkt er an die mahnenden Worte seiner Frau: „Tu etwas für deine Gesundheit!“

Nervös entsichert er das Schloss an seinem Sportrad. Fast elegant springt er auf das Fahrrad und tritt in die Pedalen. Das Rad war ein Geschenk seiner Frau zum Hochzeitstag und ist ihre Mahnung, gesünder zu leben. Am gleichen Tag, an ihrem ersten Hochzeitstag, machte er damals die archäologische Entdeckung seines Lebens. Bei einem Tauchgang hier in der Bucht fand er eine gut erhaltene, lebensgroße Marmorstatue. Nach seiner Auffassung ist es die Göttin Aphrodite oder die Verherrlichung der Venus. Er datierte die Statue damals auf die Zeit um zweihundert vor unserer Zeitrechnung. Es war die Sensation, die ihn damals auf einen Schlag berühmt machte.

Viel Ärger mit den Berufskollegen gab es später, denn mit seiner These von der blonden Aphrodite konnte sich keiner anfreunden. Laboruntersuchungen hatten bewiesen, dass die Haare der Statue vergoldet waren. Die Fachwelt protestierte damals lautstark bei dieser gewagten These. Die Frau war auch für antike Verhältnisse sehr freizügig dargestellt worden. Andere Experten gingen von einer ganz vergoldeten Statue aus, obwohl Farbreste etwas anderes belegten.

Danach war auf archäologischem Gebiet zumindest aus der antiken Zeit nicht mehr viel los. Nur kleine Keramikreste und Münzen konnte er seitdem hier in Syrakus noch ausgraben.

Im Zusammenhang mit Wohnungsrückbau und Sanierung der Innenstadt, von Europa großzügig gefördert, wurden umfangreiche archäologische Ausgrabungen möglich, aber meistens blieb man bei den Schichten des frühen Mittelalters stehen. Um an antike Schichten heranzukommen, hätten jüngere Siedlungsreste zerstört werden müssen. Sehr zum Leidwesen von Marotti. Nun aber könnte dieser Zufall seiner Arbeit neuen Auftrieb bringen.

Etwas kommt er doch aus der Puste, als er den Berg hoch radelt. Aber er kann schon die Schlammlawine und zum Teil ganze Erdverschiebungen von Weitem gut erkennen. Sogar Marmorplatten sind von hier aus zu sehen. Aufgeregt strebt er seiner neuen Aufgabe zu. Angekommen, lässt er das Fahrrad einfach in den Dreck fallen. An den Polizisten vorbeigehend, steht er schon nach wenigen Schritten auf den freigelegten Fundamenten dieses unbekannten antiken Bauwerks. Dass hier ein antikes Bauwerk freigelegt wurde, daran gibt es für ihn keinen Zweifel. Denn sofort fallen ihm die wuchtigen Quader aus Sandstein auf. Alles erinnert ihn allerdings eher an ägyptische Tempelbauten als an bekannte griechische Baustile. Die freigelegten Steine zeigen an den Seiten eingemeißelte Symbole und Figuren. Sie könnten Motive der Göttin Venus oder der Aphrodite darstellen.

Als sein Assistent Peter van der Delft ihm auf die Schulter klopft, dreht er sich widerstrebend um. In Gedanken malt er sich gerade aus, wie dieser Tempel einmal ausgesehen haben könnte.

Peter van der Delft zeigt nur mit der Hand auf die Straße.

Mürrisch erkennt Marotti eine Pressemeute und sagt zu seinem Assistenten: „Peter, geh bitte hinunter, fang sie ab. Erzähl ihnen irgendeinen Unsinn, damit wir sie loswerden. Ich kann diese Leute nicht ausstehen. Danach rufe alle zusammen. Wir wollen sofort mit der Ausgrabung beginnen!“

Peter van der Delft folgt den Anweisungen nur widerwillig.

An der Absperrung erklärt er der Presse lautstark: „Meine Damen und Herren, nach ersten vorsichtigen Erkenntnissen handelt es sich, überraschend für die Fachwelt, um einen bisher hier nicht vermuteten Aphrodite- beziehungsweise Venustempel. Überraschend deshalb, weil bisher nur Tempel, die Zeus, Jupiter, Hera oder Athene verehren, in Syrakus bekannt sind. Aber erst umfangreiche Ausgrabungsarbeiten werden eine klare Antwort darauf bringen. Ich danke für Ihr Verständnis. Guten Tag.“

Prompt macht Peter van der Delft auf dem Hacken kehrt und ignoriert die Fragen der Journalisten, die jetzt laut fluchen.

Peter weiß, dass er sich mit dieser Erklärung sehr weit aus dem Fenster gewagt hat. Doch die Symbole an den Quadern lassen nach seinen ersten Erkenntnissen keinen anderen Schluss zu. Auch nur so, glaubt er, die Pressemeute zu befriedigen. Die Presseleute schlucken den Köder und nach ein paar Fotos verziehen sie sich schimpfend wieder.

Der Professor klettert immer noch auf den freigelegten Steinen herum, als van der Delft mit ansehen muss, wie ein tonnenschwerer Stein am Abhang einige Zentimeter wegrutscht.

Darum ruft er hastig: „Professor, schnell herunter von den Steinen! Der erste Stein ist schon leicht weggerutscht!“

Erschrocken springt Marotti von den Steinen und betrachtet mit Abstand das Desaster. Tatsächlich hat sich einer der riesigen Blöcke deutlich bewegt.

Das fängt ja gut an, denkt Marotti. Jetzt muss ich das ganze Gelände weiträumig absperren lassen. Die Ausgrabung ist sonst zu gefährlich für alle. Das kostet Geld und vor allem Zeit.

Zwei Wochen später

Es ist Mittagszeit und selbst für diese Jahreszeit noch sehr warm. Marotti sitzt im Schatten der Baubude, er kaut lustlos an einem Stück kalter Pizza herum. Zufrieden blickt er auf die freigelegten Reste dieses antiken Tempels und fasst die letzten Tage seiner Arbeit gedanklich noch einmal zusammen. Die Presseerklärung, die van der Delft zum Anfang der Entdeckung leichtfertig abgab, hat sich tatsächlich bestätigt. Obwohl er sich auch heute noch nicht das wuchtige Fundament erklären kann, weiß man durch die gefundenen Reste von Marmorsäulen und Fußbodenplatten, dass das Bauwerk in die Zeit um einhundert oder einhundertfünfzig Jahre vor unserer Zeitrechnung zu datieren ist. Auch die Art der Schriftzüge, Darstellungen von Figurengruppen und Texte in Latein bestätigen das. Die Schriftzeichen berichten davon, dass eine Aphrodite hier in diesem Tempel lebte und herrschte. Eine selbst für die lebhafte und allgegenwärtige Sagenwelt der Griechen und Römer sehr ungewöhnliche Behauptung. Götter waren auch in der antiken Welt eher unerreichbar. Vor allem muss so der vorherrschenden Lehrmeinung widersprochen werden, dass neben der Göttin Athene auch die göttliche Venus oder Aphrodite in Syrakus Schutzgöttin gewesen sein könnte. Ein antiker Tempel mit so gewaltigen Ausmaßen, der den Göttinnen Aphrodite oder Venus gestiftet wurde, ist im gesamten Mittelmeerraum bisher unbekannt. Tempel zu Ehren des Göttervaters Zeus hier auf Sizilien sind dagegen bescheidene Bauten. Wenn sich das bestätigt, wird die Fachwelt die Geschichte neu schreiben müssen. Jedenfalls die ersten Funde haben ihm mehr Fragen als Antworten gebracht.

Marotti schaut auf seine geliebte antike Uhr. Es ist 12:55 Uhr. Er wartet ungeduldig auf Werner Brand. Sein langjähriger Freund ist ein deutscher Architekt, der selbst Pünktlichkeit hoch schätzt. Wenn Werner wie gewohnt pünktlich ist, muss sein Auto gleich um die Ecke kommen. Werner Brand ist wie Marotti wegen einer schönen Frau hier in Syrakus hängen geblieben. Marotti und Brand sind seit über zehn Jahren gute Freunde, auch wenn der Architekt und Statiker Brand mit dem Archäologen Marotti nicht immer einer Meinung ist. Heute erwartet Marotti seinen Freund, um mit ihm gemeinsam eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen. Das Unwetter hat nicht nur den Tempel freigelegt, sondern auch Teile des Fundamentes gefährlich angegriffen. Seit der Freilegung rutschten schon zwei Quader geringfügig ab. Es sind nur Zentimeter, aber er glaubt selbst seiner Version von einer Bagatelle nicht so recht.

Marotti wird unruhig. Kommt Werner Brand pünktlich? Wegen des Termins musste seine Frau Messina alleine mit dem Taxi zum Flughafen. Fast hätte es deswegen wieder mächtig Krach mit ihr gegeben. Er hat wie immer nicht richtig zugehört, als seine Frau von ihren Plänen und Terminen erzählte. Ausgerechnet heute musste Messina verreisen. Sie will morgen an einem dieser idiotischen Esoterikkongresse teilnehmen, die irgendwo in den Vereinigten Staaten stattfinden. Aber seit seine Frau mit ihm zusammen die freigelegten Tempelreste besichtigt hat, zeigt sie eine erstaunliche Milde, wenn es um Aktivitäten im Zusammenhang mit diesem Tempel geht. Nach ihrer Meinung besäße die Anlage eine ganz besondere Aura. Die Steine wären ein atemberaubendes Medium. Sie glaubt fest, dass diese Anlage ein unglaubliches Geheimnis verbirgt. Das sagte Messina, als sie selbst diese Steine berührte. Diese typisch weibliche Überzeugung seiner Gattin kann Marotti als Wissenschaftler natürlich nicht teilen.

Pünktlich auf die Minute, eben wie immer, hält der kleine Sportwagen von Werner Brand unmittelbar vor ihm. Es ist eines der letzten Autos in Syrakus, die noch selbst gefahren werden dürfen. Nur mit Sondergenehmigung und mit der den Deutschen typischen Sturheit hatte er diese Genehmigung den Behörden abgerungen.

Sie umarmen sich beide herzlich und ohne lange Erklärungen läuft Werner Brand zur Ausgrabungsstätte. Es hatte sich wirklich viel seit dem Unwetter getan. Aber das genügt ihm nicht. Schnell erkennt Werner Brand, dass die ganze rechte Fundamentseite durch Ausspülungen gefährlich angegriffen ist.

Brand überlegt: „Mein lieber Freund, das sieht wirklich nicht gut aus. Deine Idee, die Ausspülungen einfach mit Blitzbeton auszugießen, bringt dir hier überhaupt nichts. Rechts müssen mindestens die ersten zwei Reihen der fast eine Tonne schweren Quader abgetragen werden. Auf einem neuen Fundament kann alles wieder hergerichtet werden. Ich weiß, das wird viel Geld kosten. Eine Alternative gibt es für dich aber leider nicht.“

Die schlimmsten Befürchtungen haben sich nun bestätigt. Blass und schwach geworden von der niederschmetternden Entscheidung seines Freundes, sagt Marotti nur leise: „Die Woche fängt ja gut an, das war es dann wohl. Die Rettungsmaßnahmen kosten bestimmt fünfhunderttausend Euro. Wegen der Gefahr, die von den Quadern ausgeht, muss die Grabungsstätte wohl auch noch geschlossen, womöglich zugeschüttet werden? Oder?“

Werner Brand nickt schuldbewusst: „Ja, leider, mein Freund. Für dich, mein Freund, gibt es nur eine Möglichkeit. Du musst die verhasste Presse alarmieren und so an geeignete Sponsoren für die Rettungsaktion kommen.“

„Die Presse rufen? Bist du wahnsinnig geworden? Das ist für die ein gefundenes Fressen. Die drehen mich durch den Fleischwolf. Die haben mich doch bisher immer fertiggemacht!“, faucht Marotti und sagt gleich entschuldigend zu seinem Freund: „Entschuldigung, Werner, aber seit ich wegen der Statue und meiner Idee von der blonden Göttin von der Presse lächerlich gemacht wurde, bekomme ich einen dicken Hals, wenn ich nur an sie denke oder einige dieser Fatzkes sehe!“

Werner Brand versucht, ihn zu beschwichtigen: „Die Presse lebt von interessanten Geschichten. Die alten Geschichten von damals sind der Schnee von gestern. Sie wollen keine alten Hüte. Verkauf ihnen die Geschichte dieses Tempels mit viel Fantasie und du wirst Geld bekommen. Übertreibe ruhig dabei. Die Presse hinterfragt selten eine Story. Ob zu viel Fantasie dabei ist, wissen diese Leute doch nicht. Glaube es mir, nur so kommst du hier weiter!“

Marotti brummt: „Du kannst Recht haben. Ich muss darüber nachdenken. Bis ich von der EU das nötige Geld bekomme, bin ich längst pensioniert. Die Stadt hat ihre Gelder für die nächsten fünf Jahre schon fest eingeplant. Von dort bekomme ich nicht einmal das Papier für den Antrag.“

Mit Handschlag trennen sich beide Freunde und Marotti überlegt, wie er die Presse einspannen kann. Irgendeine interessante Story muss herhalten. Vielleicht kann wieder sein medienerfahrener Assistent Peter van der Delft helfen?

Der kommt jetzt aufgeregt auf ihn zu und ruft: „Professor, das ist hier eine ganz verrückte Geschichte!“

Marotti fragt: „Was ist nun schon wieder passiert?“

Sein Assistent wirkt unsicher, aber sagt nach kurzer Überwindung: „Hängen Sie es nicht an die große Glocke, Professor! Ich habe vor ein paar Jahren zwei Semester Kunst studiert. Ich wollte Bildhauer werden und habe darum in den Sommerferien in einem Steinbruch gearbeitet, oben in der Toskana. Die Blöcke zeigen hier an den freigelegten Innenseiten die gleichen Spuren wie an modernen Steinblöcken.“

Marotti zuckt mit den Schultern, versteht ihn nicht und meint nur: „Na und, die kannten sich eben damals schon mit dem Brechen von Steinen gut aus.“

„Sie verstehen mich nicht, Professor, diese Blöcke wurden mit Sprengstoff aus dem Felsen gebrochen. Verstehen Sie, Professor? Sprengstoff! Die Spuren sind nicht zu übersehen“, sagt van der Delft schon beinahe bedrohlich, aber immer leiser zu ihm. Er scheint Angst zu haben, dass noch ein anderer mithören könnte.

Marotti schaut seinen Assistenten ungläubig an: „Sie hätten sich doch etwas auf den Kopf setzen sollen. Die Sonne Siziliens ist nicht zu unterschätzen. Ich gebe Ihnen für morgen frei. Ruhen Sie sich aus! Sie müssen fit sein für die nächsten Wochen. Wann kommt endlich unser neuer Praktikant?“

„Weiß ich nicht so genau. Kann sein, dass der Praktikant schon längst in Syrakus ist. Ich fahre dann mal. Bis morgen, Professor. Ciao!“, brummt van der Delft enttäuscht und steigt in das wartende Taxi. So viel Ignoranz hat er von Marotti nicht erwartet.

Marotti wendet sich wieder den Steinen zu. Mit der Hand streicht er über einen der Blöcke und denkt: „Sprengstoff, so ein Blödsinn! Man stelle sich vor, Sprengstoff vor zweitausend Jahren. Die Römer arbeiteten mit Sprengstoff? Der Mann ist nur ..., er kann nur krank sein“, beruhigt sich Marotti und steigt auf sein Rad, um nach Hause zu fahren.

Schnelle Hilfe

Ein riesiger Autodrehkran quält sich schon einen Monat später den extra für dieses Fahrzeug verbreiterten Weg zur Grabungsstätte hoch. Marotti blickt zufrieden von oben auf das Schauspiel. Es wimmelt nur so von Bauleuten und Presse. Er ist immer noch überrascht, wie leicht es war, Sponsoren zu finden. Van der Delft hat sich wieder einmal als Mann mit einem Händchen für die Presse erwiesen.

Eine hiesige große Baufirma hat diese Rettungsaktion als ideale Werbeaktion entdeckt. Zumindest anteilig beteiligt sich die Firma an den horrenden Kosten der Aktion. Prominente aus aller Welt haben gespendet. Achthunderttausend Euro sind dabei zusammengekommen. Marottis Verhältnis zur Presse und zu Peter van der Delft hat sich seitdem deutlich gebessert. Darum hat er ihm die idiotische Vermutung, dass mit Sprengstoff gearbeitet wurde, längst verziehen.

Neben örtlicher Politprominenz hat sich sogar ein Kommissar der EU eingefunden. Tatsächlich, der Tempel wurde mit in das Förderprogramm der EU aufgenommen. Zwar erst nur mit bescheidenen Mitteln, aber sicher mit Steigerungsmöglichkeiten, glaubt Marotti fest.

Die Frau des Bauunternehmers, des Hauptsponsors, gibt symbolisch den Startschuss. Sie darf den Hebel auf dem Controller des Krans in Bewegung setzen. Die Rettung der Tempelanlage kann beginnen. Die ersten Quader werden rund zwanzig Meter weiter auf einem dafür vorgesehenen und vorbereiteten Platz abgesetzt.

Dort steht auch Marotti bereit, während van der Delft das Abtragen der Blöcke überwacht und dokumentiert.

Der erste Block schwebt sanft auf den Abstellplatz. Marotti kann keine Auffälligkeiten an dem Stein entdecken. Nur eben die typischen Bearbeitungsspuren und Zeichen, die vor zweitausend Jahren üblich waren. Keine Sensationen, keine Spuren von Sprengstoff. Van der Delft macht ihm auf einmal seltsame Zeichen. Nicht, dass der Trottel schon wieder Sprengstoffspuren entdeckt haben will, ärgert sich Marotti.

Neue Blöcke folgen. Schon etwas gelangweilt, überwacht er das Absetzen des neuen Steins und dreht dabei obligatorisch seine Runde.

Etwas irritiert, entdeckt Marotti auf einem Quader an der Innenseite etwas Metallenes. Er geht näher heran und sieht tatsächlich auf der einen Seite des Quaders eine Platte aus Metall. Als der Block endgültig abgesetzt wird, läuft Marotti gleich hin. Enttäuscht betrachtet er die Seite mit der Metallplatte genauer. Es ist eine Platte aus Blei und, von wenigen Kratzern abgesehen, völlig glatt. Keine Inschrift, kein Symbol, einfach nichts. Am zweiten und dritten Quader sind keine Platten zu sehen. Als der vierte Quader freisteht, erkennt Marotti, dass hier wieder eine Metallplatte angebracht ist. Welche Funktion soll so eine Platte erfüllen? Statische Aufgaben haben diese Platten sicherlich nicht. Welchen Zweck erfüllen diese Platten? Als Richtungsanzeige beim Bau hätten auch einfache Zeichen im Stein genügt.

*

Am Abend waren alle 20 Quader umgesetzt. Fünf Quader hatten auf der Innenseite Metallplatten. Zur allgemeinen Überraschung zeigte sich in der zweiten Reihe unter den Quadern eine neue Fundamentreihe.

„Der Tempel wurde wahrscheinlich auf einem noch älteren Tempel errichtet“, erklärte Marotti der Presse und den Zuschauern diese Entdeckung.

Zwar erkannte Marotti sofort, dass seine Aussage so nicht unbedingt stimmen musste, aber er hatte mit dieser Erklärung erst mal Ruhe vor den neugierigen Zuschauern. Die Quader waren zwar im Format anders und kleiner, aber die Art der Bearbeitung unterschied sich nicht. Das Spektakel war nun beendet. Alle gefährdeten Quader und die Reihe dahinter waren nun abgetragen. Die Technik wurde unspektakulär und ohne Presse abgezogen.

Endlich hatte der Rummel ein Ende.

Peter van der Delft wirkt auch erleichtert, kommt auf Marotti zu: „Glückwunsch, Professor, wir haben es geschafft. Haben Sie auch diese seltsamen Metallplatten gesehen? Ich halte sie für unsinnigen Schnickschnack. Aber auch die Spuren von Sprengstoff sind jetzt eindeutig zu sehen. Das können Sie nicht mehr leugnen!“

Marotti lacht zynisch: „Verehrter Kollege, ich gebe zu, dass die erkennbaren Bearbeitungsspuren etwas ungewöhnlich sind. Doch ist es eher einer uns unbekannten Technik als dem Einsatz von Sprengstoff zu verdanken. Aber lassen wir das Streiten.“

Im Licht der untergehenden Sonne wirken die abgestellten Quader so in Reih und Glied gestellt wie eine Wolkenkratzerstadt aus vergangenen Jahrhunderten. Marotti geht zu einem Quader mit einer Metallplatte und schaut sich diese genauer an. Er holt sein altes Schweizer Messer aus der Tasche und versucht, zwischen die Platte und den Stein zu kommen. Es ist schier unmöglich. Es gibt keine Ritze, die Platz für sein Messer lässt. Die Tafel sitzt wie aus einem Guss fest im Stein. Irgendetwas stimmt damit nicht.

„Was hältst du davon, Peter?“, fragt Marotti ungewöhnlich vertraulich seinen Assistenten.

Peter van der Delft ist von soviel Vertraulichkeit überrascht und sagt ganz offen: „Auch wenn ich mich wiederhole, ich weiß es nicht, Professor. Diese Metallplatten ergeben für mich keinen Sinn. Sie enthalten keine Botschaft und erfüllen absolut keinen statischen Zweck. Ungewöhnlich viel Aufwand für etwas Unsinniges, finden Sie nicht auch? Genauso sinnlos wie die wuchtigen Quader. Auf diesen Steinen hätte eine Pyramide stehen können. Oder wie sehen Sie das in diesem Fall, verehrter Professor Marotti?“

„Ja, verdammt, das Ganze ist schon recht mysteriös. Doch Ihre Ansicht kann ich nicht teilen. Der hohe Aufwand wird schon seine Berechtigung haben. Genauso gilt das für die Metallplatten. Wir sollten aber nicht darüber streiten. Eine Nacht darüber schlafen macht den Kopf für neue Gedanken frei. Machen wir für heute Schluss. Morgen wartet viel Arbeit auf uns. Buona Sera!“, wendet sich Marotti sichtlich unzufrieden zum Gehen.

„Buona Sera, Professor!“, erwidert van der Delft und geht verärgert zur wartenden Taxe.

Gedankenversunken springt Marotti auf sein Fahrrad und fährt nach Hause. „Warum dieser Aufwand? Warum diese Sorgfalt für eine blanke Metallplatte ohne erkennbare Funktion?“, fragt sich Marotti immer wieder.

Selbst das Licht, die Musik und die gut gelaunten Menschen in der Taverne auf dem Weg zum Haus können ihn heute nicht locken. Der gute Tropfen in der geselligen Runde bei den Weinbauern und Touristen wird ihn nicht von seinen Fragen ablenken können. Er will es auch gar nicht. Er will sich ganz auf sein Problem konzentrieren. Doch wie der Hund, der sich in den Schwanz beißt, kreisen seine Gedanken ohne Ergebnis in seinem Kopf herum. Immer wieder stellt er fest, dass alles keinen Sinn ergibt.

Erkenntnisse auf Umwegen

Marotti lassen diese Metallplatten die ganze Nacht keine Ruhe. Er schläft erst sehr spät ein. Zur Ablenkung hat er heute Morgen entgegen seiner Gewohnheit das Frühprogramm im Fernsehen eingeschaltet. Marotti will sich endlich gedanklich von den Platten trennen. Einfach an etwas anderes denken! Abschalten!

Ein Koch erklärt gerade die Zubereitung einer Mehrfruchtobsttorte. Eben ist der Mann dabei, die Obstschicht mit einer glasigen Masse zu übergießen, und erklärt dabei wortreich, dass mit dem Erstarren des Gusses die Torte ihre Endform für eine vielfältige Gestaltung erhält.

Plötzlich schreit Marotti förmlich befreit aus sich laut heraus: „Ich hab es, die Platten, die Bleischicht, versiegeln nur etwas! Das Blei ist nur der Tortenguss. Nicht mehr und nicht weniger. Die niedrige Schmelztemperatur von Blei erlaubt mit geringem Aufwand eine Versiegelung einer möglichen Botschaft. Leichter lässt sich kein Metall mit Stein präzise verbinden. Das muss die Lösung, das wird die Lösung des Rätsels sein. Hier wollte jemand verhindern, dass das Geheimnis der Platten sofort auffällt.“

Hastig lässt er alles stehen und liegen. Was er braucht, um das Geheimnis zu lüften, glaubt er, im Keller zu finden.

Von dort holt er sich den alten Bunsenbrenner mit einer kleinen Propangasflasche hoch. Er schätzt, dass die kleine Gasflasche noch gut zur Hälfte gefüllt ist. Für ein erstes Freilegen einer Metallplatte wird es sicher reichen, glaubt er.

Marotti verstaut alles in einem alten Rucksack. Mit dem Rucksack auf dem Rücken steigt er auf sein Fahrrad. Mit Mühe, schnaufend, balanciert er diese Fracht mit dem Fahrrad hoch zur Ausgrabungsstätte. Seine unsichere Fahrt sorgt bei Passanten und den Autos für Verwirrung und manchmal auch für Heiterkeit. Mehr als einmal droht er, mit seiner Fracht zu stürzen. Eine Taxe wäre jetzt besser gewesen, ärgerte sich Marotti auf halbem Weg über seine eigene Dummheit. Aber ohne einen Unfall erreicht er, zwar völlig erschöpft, sein Ziel.

Sein junger Assistent Peter van der Delft kommt aus einem Taxi mit einer jungen Frau auf ihn zu. Unfreiwillig und eher abwesend, begrüßt Marotti beide mürrisch, ohne nach ihnen aufzuschauen. Die verrosteten Schlauchverbindungen am Bunsenbrenner machen ihm sehr zu schaffen. So hört er beim Zusammenbauen des Brenners nur mit halbem Ohr zu, als sein Assistent van der Delft erklärt: „Hallo, Professor, die Frau neben mir ist die von uns längst erwartete Assistentin! Sie ist kurzfristig für den erkrankten Praktikanten eingesprungen.“

„Schön, schön!“ Marotti schaut kurz auf.

Die junge, hübsche Frau strahlt den Professor gewinnend an: „Buona Sera, Signor Marotti. Ich bin Swetlana Sukowa. Ich komme aus Deutschland, aus München, und freue mich, bei Ihnen das praktische Jahr im schönen Italien machen zu dürfen!“

„Wir sind hier in Sizilien, verehrte Signorina!“, brummt sie Marotti an und betrachtet ungeniert die gute Figur der Frau. Das luftige Sommerkleid, etwas durchsichtig, lässt tief blicken. Das scheint jetzt auch die junge Frau bemerkt zu haben.

Sichtlich verlegen antwortet sie: „Natürlich, Entschuldigung! Wir sind selbstverständlich in Sizilien.“

Nachdem der Brenner endlich zusammengebaut ist, ist Marotti etwas besser gelaunt: „Nun zeige ich euch einmal, was angewandte Archäologie heißt. Kommt mit. Peter, trag bitte die Gasflasche und den Brenner zu dem vorderen Quader! Du weißt schon, zu dem mit der Metallplatte.“

Wie gebeten, packt van der Delft den Bunsenbrenner und fragt: „Was soll das, Professor?“

Marotti schüttelt nur lächelnd den Kopf und informiert: „Mein verehrter Kollege. Ich werde es Ihnen gleich zeigen!“

Verdutzt folgen beide dem Professor zu den Quadern. Vor der ersten Platte baut Marotti den Bunsenbrenner auf. Nervös kramt er in seinen Taschen nach seinem Feuerzeug. Vergeblich. Verdammt, das Ding liegt bestimmt noch auf dem Küchentisch. Fragend blickt er die beiden an. Schmunzelnd reicht van der Delft dem Professor sein Feuerzeug. Ohne Dank reißt es Marotti seinem Assistenten aus der Hand. Als er die Flamme des Bunsenbrenners in die untere rechte Seite der Platte hält, schreien die beiden Assistenten entsetzt laut auf.

Wie im Chor schreien beide: „Was machen Sie da, Professor, Sie zerstören ja die Platte!“

Marotti wehrt lächelnd ab und hält geduldig den Brenner weiter auf die Platte. Aber als sich nach kurzer Zeit herausstellt, dass das Blei nur eine zweite Metallschicht verdeckte, beruhigen sich die beiden schnell wieder. Es zeigt sich, dass die Bleischicht vielleicht zwei bis drei Millimeter stark ist. Dahinter verbirgt sich eine Metallschicht, die jetzt deutliche Gravuren freigibt.

Peter van der Delft und Swetlana Sukowa sind überwältigt.

Marotti kann seine Freude nicht mehr verbergen und ruft euphorisch: „Das ist es! Das ist die Jahrhundertsensation!“

Nach zwanzig Minuten ist die Platte völlig vom Blei befreit. Waren die zum Anfang freigelegten Linien und Striche noch unverständlich, verblüfft das Endergebnis umso mehr.

Swetlana Sukowa bemerkt schnippisch: „Das ist doch nur eine geografische Karte unserer Erde. Na und!“

Marotti schüttelt den Kopf und wendet sich ihr mit vernichtendem Blick zu: „Äh, Frau Sukowa, das ist richtig. Gut erkannt. Doch was für eine Karte? Schauen Sie genauer hin!“

Die junge Frau nickt freundlich, versteht aber seinen bösen Blick und Unterton nicht.

Marotti blickt der Frau tief in die Augen, zeigt dabei auf die Tafel und ruft: „Frau Sukowa, begreifen Sie doch! Die Darstellung der Erde ist mindestens 2500 Jahre alt. Schauen Sie nur, hier sind Amerika, Australien und die Antarktis in einer Präzision dargestellt, wie das so erst Ende des neunzehnten Jahrhunderts allgemein bekannt war. Also frühestens vor 300 Jahren. Das ist der reinste Wahnsinn. Das stellt die bekannte Geschichtsforschung vollkommen auf den Kopf. Was wussten die alten Griechen von der großen, weiten Welt wirklich? Eines ist jetzt offenbar klar, die alten Griechen haben den Glauben an die Erdscheibe des Hekataios von Milet, der so um 600 vor der Zeitrechnung sein Weltbild über die Erde erdachte, verdammt schnell aufgegeben. Selbst das Bild der Erde des Claudius Ptolemäus aus Alexandria um 150 unserer Zeitrechnung gibt somit nicht annähernd das wirkliche geheime Wissen der antiken griechischen Seefahrer wieder. Waren die antiken griechischen Seefahrer schon vor über 2000 Jahren in Amerika und im noch ferneren Australien? Die Weltkarte lässt definitiv nichts anderes zu. Alle bisherigen Theorien des antiken Wissens sind damit hinfällig. Ob sich das die anerkannte Wissenschaft so einfach gefallen lässt? Wir müssen jetzt mit allen noch so belanglosen Veröffentlichungen über den Tempel besonders vorsichtig sein. Ach, was sage ich da? Wir müssen uns selbst mit Andeutungen zurückhalten. Versteht das auch meine verehrte junge Kollegin und Praktikantin?“

Swetlana Sukowa und Peter van der Delft nicken unsicher, stimmen ihm aber dann doch zögernd zu. Niemand weiß, wie es weitergehen soll.

Van der Delft hat sich endlich gefasst und schlägt vor: „Professor, ich vermute, dass die anderen Tafeln ähnlich brisante Informationen bieten. Es kann nur noch schlimmer kommen. Denn wer auch immer diese Tafeln anbrachte, er wollte sein Wissen verbergen. Nein, er hat dieses Wissen hinter diesen Steinen im Tempel versteckt und versiegelt. Er oder vielleicht auch sie hatte nicht vor, sein oder ihr Wissen einer breiten Masse zu verkünden. Ganz im Gegenteil. Die Botschaft war vielleicht schon damals für eine spätere Zeit hier hinter den Blöcken versteckt worden. Eine Botschaft, die definitiv als Nachricht für eine sehr viel spätere Zeit bestimmt war! Denn es ist Fakt, dass diese Metallplatten erst mit dem Abtragen des tonnenschweren Fundamentes zugänglich wurden. Vielleicht haben wir die Nachricht viel zu früh entdeckt? Folgendes schlage ich vor: Erstens, wir werden jede Tafel vom Blei befreien und dann fotografieren. Nicht das kleinste Detail auf den Platten darf uns dabei entgehen. Zweitens, danach werden wir alles wieder neu mit Blei sauber versiegeln. So den Ursprung wieder herstellen. Ich meine mit danach, den Auftrag heute noch zu realisieren. Alles muss heute wieder versiegelt sein. Spätestens in zwei Wochen sind die tonnenschweren Quader wieder an ihrem vorherbestimmten Platz. Alles ist dann wieder so, als wäre nichts Dramatisches geschehen. Die gemachten Fotos können wir ganz entspannt und im Verborgenen vor neugierigen Blicken im Institut auswerten.“

Der Professor klopft van der Delft anerkennend auf die Schulter und sagt begeistert: „Genauso machen wir drei das auch. Swetlana, ich darf doch Swetlana sagen? Du bist doch auch dafür, oder?“

Swetlana ist im Gesicht ganz rot vor Aufregung, nickt gedankenverloren und antwortet etwas zögerlich: „Das ist ja alles so aufregend. Auf langwierige Puzzlearbeiten, kleine Tonscherben und Münzen war ich vorbereitet. An langweilige Archivarbeiten hatte ich gedacht. Nun am Anfang meines Praktikums, am ersten Tag, in den ersten Minuten meiner Arbeit dann gleich so eine Sensation! Ich werde schweigen wie ein Grab und alles dafür tun, dass unsere Aktion ein voller Erfolg wird.“

Marotti schlägt trotz seiner großen Aufregung um Besonnenheit bemüht vor: „Swetlana, du bist die Sportlichste von uns dreien und holst deshalb die Kamera! Ich werde unser Geheimnis bewachen. Peter, du besorgst bitte noch schnell Blei und eine zweite Gasflasche. Denn das Blei, das hier in den Sand fällt, ist für uns unbrauchbar geworden. Auch ist die kleine Gasflasche so gut wie leer.“

Jetzt haben sie es alle sehr eilig. Swetlana fährt wie verabredet ins Museum und holt die Spezialkamera mit allem Zubehör.

Peter van der Delft muss Blei und Gas besorgen.

Marotti schiebt vor der Tafel Wache, als hätte er den Heiligen Gral gefunden. Seine Jacke hängt wie rein zufällig vor der Tafel. Niemand soll etwas von den geheimen Erkenntnissen mitbekommen.

Marotti denkt: „Diese Entdeckung könnte die Geschichtsschreibung auf den Kopf stellen. Die Geschichte muss wohl neu geschrieben werden!“ Davon ist er jetzt schon überzeugt.

*

Es ist schon kurz vor Mitternacht, als die letzte Tafel wieder versiegelt ist. Eine Wertung des Gesehenen erlaubt sich keiner von den dreien. Nur so viel ist klar, die Botschaft kam von einer Frau, die sich Aphrodite nannte und über die Menschen der Zukunft Bescheid wusste. Denn Wort und Schrift waren je nach Tafel neben Latein und griechischer Schrift in reinstem Oxford-Englisch verfasst worden. Alle drei wissen, dass die Auswertung und Analyse der Tafeln das archäologische Weltbild für immer verändern wird. Geschafft, aber überglücklich trennen sie sich. Marotti steigt mit in das gerufene Taxi. Das Fahrrad bleibt hinter den Steinen liegen. Schweigend verarbeitet jeder für sich das Unglaubliche. Keiner wagt in diesem Moment eine Wertung. Zu ungeheuerlich ist das, was die Tafeln freigaben.

Nur mühselig brummt Marotti ein „Arrivederci“ und steigt aus dem Taxi. Ohne sich noch nach dem Fahrzeug umzudrehen, trottet Marotti mit Händen in den Hosentaschen in sein Haus. Mit einer Flasche Rotwein und einem Schinken geht er hoch in sein Schlafzimmer. Er weiß, nur der Wein wird ihm heute beim Einschlafen eine Hilfe sein.

Analysen

Vom Verkehrslärm ist Marotti schon früh aufgewacht. Seine Frau schläft noch fest. Erst gegen Mitternacht war sie zu Hause angekommen. Der Flieger aus London hatte wegen eines dortigen Fluglotsenstreiks über vier Stunden Verspätung. Unten in der Küche beginnt er, das Frühstück für sie beide vorzubereiten. Es klingelt, na endlich, die frische Milch und die Brötchen sind da. Tatsächlich steht alles wie bestellt in einem kleinen Container an der Tür. Zurück aus der Küche, ist seine Frau, seine geliebte Messina, schon am Tisch. Er begrüßt sie mit einem Kuss auf die Stirn.

Sie blickt zu ihm hoch und sagt freundlich: „Hallo, mein Doktorchen, wieder die ganze Nacht über deine Tafeln nachgedacht? Bei dir ging es nur rein und raus aus dem Bett. Wenn du so weitermachst, zerstörst du dein positives Karma noch ganz.“

Marotti nickt und brummt nur.

Sie schwatzt weiter: „Deine Theorie von außerirdischen Mächten, die diese Aphrodite nur als Tarnung nutzten, ist der allergrößte Quatsch. Was du mir vom Text erzählt hast, deute ich ganz anders.“

Marotti schüttelt mit dem Kopf und sagt kratzig: „Deine Theorie, geh mir bloß damit vom Acker!“

Sie fährt unbeirrt fort: „Es ist alles so sonnenklar. Hinter allem steckt tatsächlich eine Frau. Die mag wirklich eine Sklavin gewesen sein und das sogar ziemlich lange. Denn nur so einfach gibt niemand zu, eine Sklavin gewesen zu sein. Damals wie auch heute war und ist der gesellschaftliche Stand für jeden von uns wichtig. Sklaverei war und ist ein Makel so wie die Prostitution oder das Pornogeschäft. Jeder war und ist bemüht, solch einen Makel zu vertuschen. Hier muss die Frau zu großem Einfluss und unanfechtbarer Macht gekommen sein. Sie muss über Fähigkeiten verfügt haben, die den normalen Rahmen gesprengt hatten. Sie stand nach meiner Meinung quasi über den Dingen. Sie brauchte deshalb ihre Herkunft nicht zu vertuschen.“

Marotti wehrt mit beiden Händen ab und sagt verärgert: „Diesen Quatsch von der antiken Superemanze kann auch nur eine Frau glauben. Nein, kann nur meine Frau glauben. Woher soll die Frau zum Beispiel diese geografischen Kenntnisse hergeholt haben? Ihr Frauen könnt und konntet noch nie Karten lesen. Etwa so nach dem Motto – Ausnahmen bestätigen die Regel!“

Seine Frau bewirft ihn mit dem Marmeladenmesser, verfehlt ihn aber wohl absichtlich.

Marotti duckt sich zwar instinktiv, lacht aber, als das Messer eine Vase hinter ihm im Regal zerschlägt.

Jetzt sagt er triumphierend mit den Fingern auf sie zeigend: „Da haben wir es wieder, Messina. Schau dir nur deine neue Bluse an! Schon am frühen Morgen ist sie von oben bis unten mit Marmelade bekleckert.“

Mit dem Finger versucht Messina verärgert, den Marmeladenfleck auf der Bluse oberflächlich zu beseitigen. Doch das gelingt ihr nicht. So zieht sie ihre Bluse aus und spült unter dem laufenden Wasser den Fleck aus.

Nur so im transparenten BH ist meine Frau noch ein appetitlicher Happen, stellt Marotti jetzt gut gelaunt fest.

Diese spürt nichts von seinen Gefühlen und keift beim Spülen der Bluse zurück: „Du mit deiner Macho-Brille vor den Tomatenaugen hast doch den Blick für das wirklich Wesentliche längst verloren. Du wirst sehen, ich werde recht behalten!“

Marotti kontert: „Meine Teuerste, wo soll diese Frau denn dieses Superwissen erworben haben? Sag jetzt nicht, durch Telepathie mit Menschen der Zukunft.“

Messina droht erneut mit dem Messer: „Sag nichts gegen Telepathie. Dass es Botschaften von Toten gegeben hat, ist so gut wie bewiesen. Warum nicht auch Botschaften aus der Zukunft?“

Marotti lästert: „Ist ja toll, ausgerechnet eine Sklavin ist das Medium für Botschaften aus der Zukunft. Wer soll überhaupt diese Botschaften in die Vergangenheit gesendet haben? Sag jetzt nicht, du!“

„Alter Esel, heute kann man nicht vernünftig mit dir reden“, zischt Messina zurück und verlässt verärgert die Küche.

Etwas versöhnlicher kommt sie später aus dem Bad zurück: „Zugegeben, deine Tafeln sind wirklich sehr rätselhaft. Wir brauchen uns beide deswegen nicht in den Haaren zu liegen. Doktorchen, nimm dir eine Auszeit! Fahr wieder mal mit dem Rad, das ist gesund und bringt dich auf andere Gedanken! Ich muss jetzt zur Vorlesung.“

Marotti steht auf, geht auf seine Frau zu und küsst sie. Als sie schon längst das Haus verlassen hat, beginnt er, ganz in Gedanken versunken, die Küche aufzuräumen. Erst in einer Stunde muss er selber in der Uni sein.

Die Radtour

Marotti ist schon seit neun Uhr mit dem Rad unterwegs. Es ist ein traumhaft schöner Tag. Heute soll es nicht ganz so heiß werden wie in den letzten Tagen, also für eine kleine Radtour ideal. Im Rucksack hat er neben einer Flasche Wasser eine Flasche Chianti Jahrgang 2100, Brot, Wurst und Käse. Das Wichtigste im Gepäck ist aber der abgeschriebene Text von den lateinischen Tafeln aus dem Tempel.

Er hat sich wie die Tage zuvor bis spät in die Nacht hinein mit den Fotokopien der Tafeln beschäftigt.

Die Ergebnisse seiner Studien, besser die Schlussfolgerungen daraus, sind eher mager. Darum will er jetzt mit frischer Luft, Sonne und den Eindrücken der Natur seinen Gedanken auf die Sprünge helfen. Er ist schon fast zwei Stunden unterwegs. Eine beinahe kahle freie Fläche neben dem Weg mit herrlichem Blick auf Syrakus und auf das weite, strahlend blaue Meer lädt zur Rast ein. Als das Rad abgestellt ist, setzt er sich ins dürre Gras und greift gleich zur Weinflasche.

Nach einem kräftigen Schluck spricht er laut: „Mag sein, dass diese Aphrodite vor über 2 000 Jahren den Blick wie ich auf Syrakus und das Meer gerade hier genossen hat. Sie mag vielleicht gedacht haben: „Wie sieht es hier in 1 000 oder 2 000 Jahren aus?“ Im Stillen sagt er sich: „Alter Esel, jetzt drehst du ab. Bleib bei den Tatsachen! Bleib bei dem, was sich wissenschaftlich beweisen lässt!“ Nach einem weiteren kräftigen Schluck aus der Weinflasche kramt er etwas umständlich den sorgfältig gefalteten Zettel aus dem Rucksack und liest halblaut in den Wind vor:

„Ich werde Aphrodite genannt und glaube, den Menschen hier eine gute Freundin gewesen zu sein.Nach langen Jahren der Sklaverei, einer Zeit von manchmal unvorstellbarer Grausamkeit, habe ich durch mein Können die Menschen für mich gewinnen können. Sie haben mir die Freiheit geschenkt. Das Leben hier hat mir gezeigt, worauf es wirklich ankommt und was dem Leben einen Sinn gibt. Ich habe die bescheidenen Gaben und Genüsse der Götter schätzen gelernt. Menschen, besinnt euch auf eure eigenen Kräfte, gebt euch nicht der Gier nach Gold und Macht hin, wenn ihr eine lebenswerte Zukunft haben wollt!“

Marotti blickt auf das herrlich blaue Meer und denkt: „Gut, es ist wahr, dass sich für die meisten Menschen alles im Leben nur um Geld, Macht und Ruhm dreht, dass die ständige Konsumsucht den Menschen auffrisst und vergiftet.“ Aber jenes mit so gewaltigem Aufwand als Botschaft an die Menschen der Zukunft zu richten, gar als geheime Botschaft zu senden, erscheint ihm nicht sinnvoll. Beinahe ist das für ihn absurd. So ein profaner Text versteckt sich hinter meterdickem und viele Tonnen schwerem Fels? Das war doch zu allen Zeiten gültig. Das hätte als Botschaft außen an jedem Tempel für alle sichtbar stehen können. Soviel scheint aber klar zu sein: Wenn Messina Recht hatte, war es eine Frau, schlimmer noch, sie war eine Sklavin. Frauen spielten aber im Normalfall im öffentlichen, im politischen Leben der Antike keine Rolle. Eine Ausnahme waren nur die Huren oder, vornehm genannt, die Hetären. Diese Frauen haben aber nur im Hintergrund Einfluss auf die Männer gehabt und so ihre eigenen Interessen durchgesetzt. Wenn man sie Aphrodite rief, musste ihre Schönheit legendär gewesen sein. Das Los schöner Sklavinnen war doch zwangsläufig das Bordell oder der Tempel. Eine Hure, eine Hetäre vor 2 000 Jahren kannte also die Welt so, wie sie der moderne Mensch frühestens am Ende des neunzehnten Jahrhunderts staunend zur Kenntnis nahm. Denn vorher war die Welt als Ganzes nicht bekannt. Das alles passt zusammen wie Feuer und Wasser. Entweder ist diese Sklavin Aphrodite, der man später gnädig die Freiheit schenkte, eine Tarnung für außerirdische Mächte oder, was noch verrückter ist, diese Frau ist eine Zeitreisende. Eine Frau eine Zeitreisende? Unmöglich! Dazu eine Zeitreisende, die sich erfolgreich mit ihrem Wissen in einer für Frauen extrem feindlichen Welt behauptete. Erfolg von Frauen ist ein fragwürdiges Privileg der heutigen Zeit. Diese Überlegungen stellen die bekannte Weltordnung auf den Kopf. Nein, schlimmer noch, die Welt bricht wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Kein seriöser Wissenschaftler hält Zeitreisen für möglich! Dann kommt also nur noch eine außerirdische Intelligenz in Frage? Den Telepathiequatsch seiner Frau schließt er natürlich völlig aus.

Marotti steigt auf sein Rad. Er nimmt den Weg zum Wasser. Ein Bad im Meer könnte jetzt guttun. Vor dem Überqueren der Küstenstraße muss er das Rad mit einer Vollbremsung zum Stehen bringen. Mindestens zwanzig, vielleicht sogar dreißig Motorräder rollen gerade in Richtung Stadt. Einer hat einen Römerhelm auf. Sofort fällt ihm diese angebliche Aphrodite wieder ein. Wie mag diese Frau den Weg nach Syrakus gefunden haben? Ein Raumschiff wäre auch vor zweitausend Jahren auf Sizilien nicht unbeobachtet gelandet. Weder schriftliche Berichte noch die alten Mythen berichten hier von fliegenden Untertassen oder anderen ungewöhnlichen Flugobjekten, zumindest aus dieser infrage kommenden Zeit.

Der Strand liegt nun direkt vor ihm. Er zieht nur seine Sandalen aus und geht mit hochgezogenen Hosen ins Wasser. Das Wasser ist angenehm warm. Marotti schaut über das Wasser und denkt: „Es ist gut möglich, dass Sklavenhändler diese Aphrodite nach Syrakus verschleppt haben. Mit dem Raumschiff ist sie irgendwo gelandet und in die Fänge der Menschenhändler geraten. Allein der Weg hierher kann für sie die Hölle gewesen sein. Aber vielleicht ist alles ganz anders gewesen? Man vermutet, dass Sklavinnen als Zwangsprostituierte viel Geld für die Tempel und die geldgierige Priesterschaft erwirtschaften mussten. Vielleicht ist diese Aphrodite über die Priester als Aushängeschild zur Gottheit ernannt worden und zu Macht und Einfluss gekommen? Genau, die Priester sind es, die das Wissen hatten und hinter allen Botschaften steckten. Diese Sklavin musste nur als Tarnung für die Botschaft herhalten. Die Priester könnten in Wirklichkeit Vertreter einer außerirdischen Macht gewesen sein, die das notwendige Wissen über die Geografie der Erde mitgebracht hatten. Sie wussten nur zu gut, dass das Weltbild der Antike noch sehr eingegrenzt war. Darum auch diese bewusste Geheimniskrämerei. Gut, diese These von den Außerirdischen klingt banal. Die Außerirdischen müssen immer dann herhalten, wenn die Wissenschaft einen archäologischen Fund nicht erklären kann, wenn etwas nicht in das bekannte Weltbild der Archäologen zu passen scheint. Erich von Däniken und Co. lassen dann schön grüßen. Der Urvater der Theorie vom Einfluss der Außerirdischen auf die menschliche Geschichte und Kultur würde sich tausendfach bestätigt wissen und auf ganzer Linie triumphieren. Zumindest wäre das auch eine tatsächlich mögliche Variante. So verrückt sie auch ist, mit den Tafeln wird sie zur Realität. Über so etwas Absurdes darf er mit seinem Assistenten Peter van der Delft und der Praktikantin Swetlana Sukowa natürlich nicht diskutieren. Sie würden ihn für seine grotesken Fantasien mit Missachtung strafen. Einen senilen Trottel würden sie ihn heimlich schimpfen.“

Marotti steigt aus dem Wasser und setzt sich in den warmen Sand. Als gäbe der Blick auf das weite, ruhige Meer ihm eine Antwort, bleibt er in Gedanken versunken noch eine ganze Weile so sitzen.

Wie ein Hund, der gerade aus dem Wasser kommt, schüttelt er sich durch und spricht laut in Richtung Meer: „Ich glaube, eine kleine Auszeit ist besser als dieses ständige Grübeln. Jeder Baum, jeder Stein erinnert mich jetzt an die Welt vor über zweitausend Jahren. Ich muss auf ganz andere Gedanken kommen. Nur ein guter Wein kann mir noch helfen!“ Sogleich springt er auf und steigt auf sein Rad.

Auf dem Weg nach Hause glaubt er, am heutigen Abend in den Bars von Syrakus die nötige Ablenkung zu finden. Ein Abend mit viel Wein und Freunden und mal ganz ohne Messina, das ist beschlossene Sache!

Am runden Tisch

Swetlana Sukowa sitzt am späten Vormittag auf ihrem kleinen Balkon an der Hinterhofseite ihrer Wohnung in Syrakus und genießt die Sonne. Hier ist es schön ruhig. Noch einmal lässt sie alles Studierte, was diese seltsamen Tafeln hergeben, durch ihren Kopf gehen. Es ist für sie der blanke Horror. Schlimmer konnte es wirklich nicht kommen. Alles, was sie gelernt hat, wird mit den Tafeln auf den Kopf gestellt. Das altbekannte Wissen über die Weltgeschichte steht zur Disposition. Ihre noch druckfrische Diplomarbeit wurde zwar vom Professorenkollegium für gut befunden, aber jetzt ist diese Arbeit nicht einmal mehr das Papier wert, auf das sie sie gedruckt hat. Swetlana weiß, dass ihre Diplomarbeit über die lineare Aufwärtsentwicklung der Wissenschaften der Menschheit durch die jüngsten Entdeckungen schlicht falsch ist. Schlimmer noch, die verdammten Tafeln haben buchstäblich ihre Arbeit vernichtet. Wie schön sauber war vor ein paar Wochen noch ihre Beweislage von der linearen Entwicklung der Wissenschaft? An Hunderten Beispielen konnte sie die stetig aufwärts zeigende Entwicklung des menschlichen Wissens beweisen. Es war einfach klar, dass alles sich vom Niederen zum Höheren entwickelt. Alle Theorien von der Hochtechnologie der Ägypter oder Maya hatte sie für die Wissenschaft wasserdicht widerlegt. Seit dieser Däniken mit seinen Fantasien im zwanzigsten Jahrhundert sich gegen die seriöse Wissenschaft auflehnte, gab es immer wieder solche Spinner, die seine Theorien aufgegriffen haben. Mit viel Fleißarbeit hatte sie die Grundfesten der modernen Wissenschaften zementiert und mit Fallbeispielen überzeugend untermauert. Einen Teufel wird sie tun, jemandem von diesen Tafeln zu berichten. Aber diese Tafeln sind so vernichtend, so zerstörerisch für die ihr bekannte wissenschaftliche Archäologie. Es ist fast so, als ginge eine alles beherrschende Religion unter. Die Tafeln aus diesem über zweitausend Jahre alten Tempel haben ihr Weltbild von der Archäologie völlig zerstört.

Was gar nicht passen will, ist diese verdammt genaue topografische Aufteilung der Erde, dass der Äquator und der nördliche und der südliche Wendekreis eingezeichnet waren, ging ja noch an. Das war ja auch schon damals durch die Sonnenbahn eine festgesetzte Größe. Vorausgesetzt, man sieht die Erde als Kugel. Eine Tatsache, die auch in der Antike schon ihre Anhänger hatte.

Viel schlimmer ist die Längengradeinteilung mit dem rätselhaften Nullmeridian. Der Nullmeridian verläuft wie heute über die Sternwarte in Greenwich. So wie auf unseren modernen Karten dargestellt! Eigentlich ein Ding der absoluten Unmöglichkeit! Damals war die englische Stadt Greenwich nur dichter Urwald, Sumpf und vielleicht ein paar Erdhütten mit primitiven Barbaren auf den britischen Inseln. Es sei denn, dass der oder die Kartenarbeiter mindestens aus dem neunzehnten Jahrhundert kamen.

Obendrein will eine Frau mit dem klangvollen antiken Namen Aphrodite diese Schweinerei veranlasst haben. Dass ausgerechnet eine Frau ihr in den Rücken fällt, ist fast unverzeihlich. Was ist das nur für eine Frau? Ein Symbol, hinter der sich eine oder mehrere Zeitreisende verbergen? Oder ist das ein gigantischer Schwindel? Eine inszenierte kriminelle Machenschaft der immer noch agierenden Mafia hier auf Sizilien? Einer Mafia, die durch solchen Betrug Tausende Touristen anlocken will? Ist Professor Marotti der Kopf dieser Mafia? Oder wurde er sehr geschickt in diese Falle gelockt? Die gestrige Besichtigung hat ergeben, dass diese riesigen Steine in echt antiken Kulturschichten liegen. Die Geröllmassen über dem Tempel sind voll von antikem Müll. Von kleinen Münzen bis zu Tausenden Tonscherben ist alles vorhanden. Der Platz muss auch später im Mittelalter eine Müllhalde gewesen sein.

Vor Jahrtausenden hat eine Naturkatastrophe diesen Tempel begraben. Wir haben ihn nun durch ein erneutes Unwetter, eine erneute Naturkatastrophe wieder entdeckt. Die Schichten sind Jahrhunderte lang unberührt geblieben. Kein Mensch kann solche Steine mit den Tafeln unbemerkt vergraben und so sauber mit antiken und mittelalterlichen Kulturschichten darüber verbinden.

Ihr brummt jetzt schon wieder der Kopf.

Sie will sich noch eine knappe Stunde schlafen legen. Wenn Professor Giorgio Marotti und Peter van der Delft kommen, kann es diesmal eine lange Nacht werden. Swetlana stellt sich den Wecker. Schon vorher hat sie alles eingekauft und das Lieblingsgericht ihres Vaters – Borschtsch – kocht schon seit einer Stunde im Römertopf. Wer dieses Gericht aus frischem Weißkohl, Roten Beten und Schinken nicht mag, muss krank sein, glaubt Swetlana fest. Reichlich zu trinken hat sie für ihre Gäste auch noch besorgt, obwohl der Professor davon nichts gesagt hatte. Hinterher wird immer geredet. Dann heißt es stets, die Frau ist geizig und kennt das ungeschriebene Gesetz der Gastfreundschaft nicht. Ihr Vater, ein gebürtiger Russe aus Moskau, hatte immer auf Gastfreundschaft großen Wert gelegt. Auch wenn oft genug in der Haushaltskasse Ebbe war, für den Gast wurde aufgetischt, dass sich die Balken bogen. So wird sie es auch hier halten. Sie hat durch die sich überstürzenden Ereignisse noch nicht mal ihren Einstand im Team gegeben. Das ist heute gleich die passende Gelegenheit. Auch den Sizilianern ist Gastfreundschaft etwas Heiliges.

*

Marotti ist wie immer mit dem Fahrrad unterwegs. Mit Swetlana und Peter hatte er vor Wochen vereinbart, dass jeder den kompletten Fotosatz der Tafeln erhält. Jeder soll seine eigene Wertung zu den Tafeln abgeben. Heute um 17 Uhr ist der geheime Treff in Swetlanas Wohnung.

Die nächste Kreuzung links, dann bin ich da – denkt Marotti. Gerade wird er von einem Taxi überholt, aus dem ihm Peter van der Delft freundlich zuwinkt.

Der junge Mann weiß, was sich gehört, vor der Haustür wartet er auf den Professor.

Gemeinsam gehen sie die Treppe zu Swetlanas Mansardenwohnung hinauf. Oben werden sie bereits von Swetlana freudig erwartet. In ihrer Wohnung duftet es verlockend nach einem unbekannten, würzigen Gericht. Ein klassisch russischer Samowar, eine Flasche Wodka und Gläser stehen auf dem Tisch für sie bereit. Teller mit Besteck liegen auf einer Anrichte neben der Tür zur Küche parat. Swetlana holt die Teller und stellt sie ebenfalls auf den Tisch mit der Bemerkung: „Es könnte heute etwas länger dauern! Es ist für uns alle besser, wenn wir uns vorher stärken. Dazu möchte ich euch nach russischer Art herzlich einladen.“ Die Gäste nicken zustimmend.

Swetlana steht auf, holt den Römertopf mit dem fertigen Borschtsch und stellt ihn in die Mitte des Tisches. Mit einer bedrohlich großen Kelle füllt Swetlana die Teller. Die Männer registrieren staunend die farbenfrohe und so gut riechende Suppe. Es blieb nicht bei dem einen Teller, den die Männer auslöffelten.

Glücklich darüber, dass ihr der Borschtsch offensichtlich gelungen ist, füllt sie gerne mehrmals nach.

Nach einem Verdauungsschnaps sagt Peter van der Delft erleichtert: „So gestärkt können wir beginnen, oder?“

Der Professor nickt zustimmend.

„Professor, bitte beginnen Sie zuerst mit Ihrer Auswertung der geheimen Fotos. Wir werden zu den einzelnen Tafeln dann ergänzend aus eigener Sicht Stellung beziehen. Einverstanden?“, fragt van der Delft und greift gleichzeitig nach einem Glas Wasser.

Marotti nickt, gut gelaunt erwidert er: „Gut, mein Freund und natürlich auch meine Freundin! Ich will es wagen.“

Er hüstelt.

Marotti macht es sich bequem und erklärt: „Tafel Nr. 1, ich habe Nummern bevorzugt, weil sich die Tafeln Nr. 2, 3 und 4 nur in Schrift und Sprache, aber nicht vom Inhalt her unterscheiden.“

Swetlana und Peter nicken zustimmend.

Professor Marotti fährt fort: „Alle Tafeln haben das Einheitsmaß von präzise 5000 x 4000 Millimeter. Dieses Maß deutet schon alleine daraufhin, dass hier zweifelsfrei mit dem europäischen metrischen System gearbeitet wurde, was ja bekanntlich erst 2 000 Jahre später durchgesetzt wurde. Schockierend ist für mich auch das Material, aus dem die Tafeln selbst bestehen. Alle Tafeln sind aus sehr reinem und hochwertigem Titan. Gewiss ist nicht völlig auszuschließen, dass Titan als Element in der Antike bekannt war! Aber es in dieser Reinheit herzustellen, habe ich bisher für diese Zeit vor Christus völlig ausgeschlossen.“

Betretenes Schweigen umfängt ihn.

„Nun zu den Tafeln. Tafel 1 stellt zweifelsfrei die Geografie der Erde dar. Auch wenn bei der Darstellung der Kontinente und Meere auf kleine Inseln verzichtet wurde, ist diese Karte fast eine aktuelle Weltkarte. Aber eben nur fast. Ich bin nicht gleich darauf gestoßen. Bestimmte Abweichungen hielt ich für Bearbeitungsfehler oder einfach nur für die Unkenntnis der Kartografen. Ein Vortrag meines verehrten Kollegen Professor Meinhard über die Eiszeiten brachte mich auf die Idee, rekonstruierte Küstenlandschaften vergangener Jahrhunderte einmal genauer zu betrachten. Ihr wisst schon, ich meine zum Beispiel Küstenverlauf, die Höhe des Meeresspiegels und Ähnliches. Die schlimmsten Ahnungen schlafloser Nächte wurden zu meinem Entsetzen bestätigt. Die vermeintlichen Abweichungen auf der geheimen Karte decken sich mit rekonstruierten Küstenlandschaften der Zeit der Antike auf beängstigende Weise. Nein, diese rekonstruierten Küstenlandschaften stimmen fast immer mit der Karte auf der Tafel Nr. 1 überein. Einem Freund und Experten habe ich Teile der Karte zur Sicherheit gezeigt. Er meinte, dass diese Karte die Zeit vor zwei- bis fünftausend Jahren darstellen könnte. Er wies auf einige Verschiebungen im Polarbereich und besonders an der Nordsee hin. Keine Angst, er hat die Karte nicht als Ganzes gesehen. Ich sagte ihm, dass es alte, abfotografierte Drucke seien und für ein Buch neu genutzt werden sollten!“

Swetlana wirft aufgeregt ein: „So habe ich mir die Karte nicht angesehen! Mir fiel nur auf, dass der Äquator und die nördlichen und die südlichen Wendekreise eingezeichnet waren! Schlimmer ist die Längengradeinteilung mit dem Nullmeridian. Der Nullmeridian ist exakt mit der Position der Sternwarte in Greenwich ausgerichtet. Eben wie er auf unseren modernen Karten dargestellt wird! Eigentlich ein Ding der absoluten Unmöglichkeit! Es sei denn, dass der oder die Kartografen mindestens aus dem neunzehnten Jahrhundert kamen. Also ein eklatanter Widerspruch zu einer Karte, die vor zweitausend Jahren hergestellt wurde. Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten für diese Karte:

Erstens: Die Karte ist ein Produkt der Neuzeit mit geschickten Korrekturen, die sie zu einer antiken Karte werden lässt. Eben eine gute Fälschung. Der Fälscher hat nicht an die Gradeinteilungen gedacht, die es noch nicht geben konnte.

Oder zweitens: Der oder die Schöpfer waren Zeitreisende. Sie kamen tatsächlich von der Erde und aus einer uns noch unbekannten Zukunft! Aus einer Zukunft, die Zeitreisen möglich macht, die also von der Geografie der Erde nach dem Stand der modernen Wissenschaften wussten und gleichzeitig eine aktuelle Karte dieser antiken Zeit darstellen wollten.“

Beide Männer springen auf und Marotti droht jetzt sogar mit der Faust in Richtung Swetlana.

Doch er beruhigt sich langsam, denkt nach und sagt aber immer noch ganz aufgebracht: „Ich Trottel, so etwas Gravierendes ist mir völlig untergegangen. Du hast Recht, Mädchen. Das darf eigentlich nicht sein. Alleine diese Entdeckung wirft Fragen auf, die mit der bestehenden Lehrmeinung der Archäologie nicht vereinbar sind. Das zu klären, würde den heutigen Rahmen völlig sprengen. Deine beiden Theorien sind sehr gewagt, nein, sie sind gefährlich. Sie alleine auszudiskutieren, würde Tage dauern. Darum schlage ich vor, wir gehen weiter in der Analyse der Tafeln zwei, drei und vier. Einverstanden?“

Swetlana und Peter nicken zustimmend.

Der Professor fährt bewusst ruhig sprechend fort: „Unstrittig ist erst einmal die Feststellung, dass alle drei Tafeln inhaltlich nicht zu unterscheiden sind. Die Tafeln zwei und drei sind im klassischen Griechisch beziehungsweise Latein verfasst worden. Ich glaube, das wird auch von euch bedenkenlos akzeptiert. Bauchschmerzen habe ich aber mit dem englischen Text auf der Tafel Nummer vier. Ich habe einen Sprachwissenschaftler in London konsultiert und ihn mit Textfragmenten der Tafel Nummer vier konfrontiert. Er versicherte mir glaubhaft, dass dieser englische Sprachstil eine Entwicklung aus dem 19. Jahrhundert ist und dem heute gebräuchlichen Schulenglisch sehr nahe kommt. Das zur Sprachform, nun zum Inhalt.

Ich glaube, hier versucht der Autor vielleicht, mit dem Namen Aphrodite seine wirkliche Identität zu verschleiern. Ich begründe das gleich mit dem zweiten Satz:

- Nach langen Jahren der Sklaverei, einer Zeit von manchmal unvorstellbarer Grausamkeit, habe ich durch mein Können die Menschen für mich gewinnen können. -

Das ist mir mit Verlaub nicht ganz verständlich. Jemand, der einen gewaltigen Tempel errichtet, kann nie eine Sklavin gewesen sein. Oder der Satz:

- Ich habe die bescheidenen Gaben und Genüsse der Götter schätzen gelernt.-

Das ist mir als Botschaft für kommende Generationen etwas zu dünn.

Auch der letzte Satz:

- Menschen, besinnt euch auf eure eigenen Kräfte – gebt euch nicht der Gier nach Gold und Macht hin, wenn ihr eine lebenswerte Zukunft haben wollt! -

Er wirkt auf mich nicht wie eine geheime Information an künftige Generationen.“

Der Professor lehnt sich zurück und blickt seine beiden Streiter betont provozierend an. Nur für sich beschließt Marotti, keine der nach seiner Meinung unwissenschaftlichen Theorien seiner Frau Messina auch nur andeutungsweise seinen Mitarbeitern zu erzählen. Er gibt darum van der Delft ein Zeichen, dass er seine Entdeckungen erklären soll.

Peter van der Delft atmet tief durch: „Professor Marotti, Entschuldigung, soweit bin ich auch gekommen und habe außer den prophetisch angehauchten Sprüchen der ganzen Sache nicht viel abgewinnen können. Auch der Name „Aphrodite“ scheint mir eher eine Tarnung zu sein, um als griechisch-römische Göttin die Jahrhunderte zu überstehen. Darum habe ich mir die Schrift genauer angesehen. Mir ist aufgefallen, dass die Musterung der Umrandung der Texte aus römischen Zahlen besteht. Das Muster wurde unter anderem mit Symbolen der Mythologie verziert. Oben rechts ist zum Beispiel der bekannte Neptun zu sehen. An einer Stelle ist aber der Dreizack des Neptuns nicht wie üblich nach oben gerichtet, sondern der Dreizack zeigt nach rechts. So weit, so gut. Dahinter beginnt eine römische Zahl, dann die nächste Zahl und so weiter, nur manchmal von kleinen Figuren oder Pflanzen unterbrochen. Ich habe dann die Zahlen abgeschrieben und die Symbole als Leerzeichen gedeutet. Erst glaubte ich, dass die Zahlen den Buchstaben der uns bekannten Alphabete entsprechen könnten. Das war ein Irrtum. Es kam in allen Sprachen nur unverständliches Zeug ohne jeden Sinn heraus.

Dann versuchte ich es mit der Rückwärtsvariante und anderen Spielereien. Fehlanzeige!

Der Durchbruch kam mit der Idee, die Buchstaben im Text mit einer Zahl zu versehen. Dabei gab es viele Möglichkeiten. Ich habe oben links angefangen und einfach durchnummeriert. Dann habe ich die römische Zahl auf der Umrandung mit der Zahl und dem dazu gehörigen Buchstaben versehen. Daraus entstand tatsächlich ein Text, der einen Sinn ergab. Ein Text mit einem verblüffenden Ergebnis!

Ich zitiere: ‚Maria Lindström – Pluto zwei – sieben tot – in meinem Grab der Schlüssel!‘

So zumindest kommt der Text in allen Sprachen immer gleich heraus!“

Marotti und Swetlana schauen ihn verblüfft an.

Swetlana fängt sich als Erste und meint dazu: „Vielleicht ist das die eigentliche Botschaft, auch wenn sie für uns noch unverständlich ist. An diesem verschlüsselten Text stören mich nur zwei Dinge ganz besonders. Das ist zum Beispiel der Name Lindström! Das ist ein skandinavischer Name, der hier auf Sizilien wirklich nicht hingehört. Noch mehr Bauchschmerzen bereitet mir der Begriff Pluto! Nun gut, Pluto kann vielleicht sprachlich mit dem Totenreich in Verbindung gebracht werden. Nur wäre das für mich doppelt gemoppelt. Denn auf das Grab wird direkt hingewiesen. Den Begriff Pluto mit dem Planeten Pluto in Verbindung zu bringen, ist natürlich völlig absurd. Denn der Zwergplanet wurde erst in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts entdeckt. Also, was hat das zu bedeuten?“

Peter van der Delft bemerkt mit zynischem Unterton: „Zuerst dachte ich auch an einen groben Deutungsfehler. Nur auf den Tafeln, die in griechischer und lateinischer Schrift verfasst wurden, sagen die Koordinierungen grundsätzlich das Gleiche aus. Eben nur in Griechisch oder in Latein. Aber meine ehrliche Meinung zu unseren ganzen Recherchen: Mit diesem Fund und erst recht mit den Deutungen können wir auf keinen Fall an die Öffentlichkeit gehen. Wir würden sicherlich nicht nur viel Staub aufwirbeln. Mit Sicherheit würden wir drei als plumpe, ruhmsüchtige Fälscher niedergemacht und beruflich völlig ruiniert werden. Wir würden danach garantiert alle drei von jeder wissenschaftlichen Arbeit ausgeschlossen. Alle Titel würden uns aberkannt und wir könnten noch froh sein, wenn wir als Nachtwächter oder Putzfrau eine Arbeit fänden. Wollt ihr das?“

Marotti und Swetlana wie aus einem Munde: „Natürlich nicht!“

Marotti schlägt einen Kompromiss vor, damit ihre Arbeit nicht ganz umsonst war. „Wir dürfen trotzdem nicht die Botschaft der Tafeln vergessen. Ganz in die Versenkung verschwinden lassen, dürfen wird sie nicht. Wir sollten nach unserem Ableben unsere Erkenntnisse als Nachlass der Wissenschaft zugänglich machen. Die Tafeln als Nachricht aus der Vergangenheit sind einfach zu bedeutend, sie dürfen der Wissenschaft nicht vorenthalten werden. Auch wenn es wissenschaftlicher Sprengstoff ist.

Die Tafeln sind jetzt wieder gut versteckt an ihrem alten Platz. Sie können uns nicht gefährlich werden. Kein Archäologe späterer Generationen wird diese tonnenschweren Steine noch einmal bewegen wollen. Die Tafeln sind dort vor neugierigen Blicken für die nächsten Jahrhunderte sicher verborgen!“

Im Stillen denkt Marotti, ob nun Außerirdische, Zeitreisende, Telepathie oder von einem Gott begnadet, alles ist im Zusammenhang mit diesen Tafeln gefährlich.

Laut setzt Marotti fort: „Lasst uns auch in der Zukunft dieses Geheimnis wahren. Vielleicht wird es künftige Generationen geben, die den Mut haben werden, diesem Rätsel auf den Grund zu gehen!“

Swetlana ist mit dieser Entscheidung nicht zufrieden, auch wenn ihre Diplomarbeit damit gerettet ist. Ein flaues Gefühl im Magen sagt ihr, dass es ein Fehler ist.

Doch sie hört sich sagen: „Professor, ich bin damit einverstanden. Unsere Entdeckung ist einfach zu brisant. Selbst wenn wir die Fachwelt unterrichten würden. Als verbotene Archäologie würde unsere Entdeckung in den Tresoren verschwinden. Wir selber wären in jedem Fall ruiniert.“

Peter van der Delft wirkt unschlüssig, hadert offen mit sich selbst und sagt: „Im Sinne unserer Botschafterin oder der Botschafter der Tafeln handeln wir nicht. Irgendein Ereignis, vielleicht in der auch für uns noch fernen Zukunft, zwingt die Verfasser von damals, diesen gigantischen Aufwand zu betreiben. Die Tafeln waren und sind nie an die Menschen in den Anfängen der Archäologie gerichtet gewesen. Wir haben vielleicht diese Botschaft viel zu früh entdeckt. Die Idee des Professors, alles als Nachlass für künftige Archäologen zu hinterlassen, klingt sehr vernünftig. Künftige Generationen von Wissenschaftlern können damit vielleicht besser umgehen als wir.“

Das war wie ein Schlusswort.

Schweigend stehen sie auf, reichen sich die Hände und sagen: „So sei es!“