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Die brutale Ermordung seiner Familie macht Dylan Trake über Nacht zum Alleinerben des Trakener-Clans, einem Verbund unzähliger Familien, deren Mitglieder es dank ihrer geistigen Fähigkeiten weit gebracht haben. Als drittes Kind und potenzialfreies Psi-Talent wurde Dylan nie auf eine Rangfolge vorbereitet, doch plötzlich wird von ihm verlangt, die Erbfolge abzutreten und gleichzeitig einen vor Jahren geschlossenen Bindungsvertrag mit dem Wintermeer-Haus zu erfüllen. Dylan, der keinerlei Interesse daran hat Partner eines Gestaltwandlers zu werden, lehnt die Einhaltung des Vertrages ab, da er nicht ihm galt, sondern seinem verstorbenen Bruder. Caleb Wintermeer hingegen besteht auf der Vertragserfüllung und droht mit der Beendigung eines langjährigen Friedens, sollte sich Dylan nicht innerhalb einer Woche in seinem Haus einfinden, um ihre Bindung zu vollziehen.
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Veröffentlichungsjahr: 2016
Mathilda Grace
DRACHENHERZ
Impressum
© 2016 Mathilda Grace
Am Chursbusch 12, 44879 Bochum
Text: Mathilda Grace 2015
Fotos: magpunky, ClkerFreeVectorImages; Pixabay
Coverdesign: Mathilda Grace
Korrektorat: Corina Ponta
Web: https://mathilda-grace.blogspot.de/
Alle Rechte vorbehalten. Auszug und Nachdruck, auch einzelner Teile, nur mit Genehmigung der Autorin.
Sämtliche Personen und Handlungen sind frei erfunden.
Drachenherz enthält homoerotische Handlungen.
- Fantasy -
Die brutale Ermordung seiner Familie macht Dylan Trake über Nacht zum Alleinerben des Trakener-Clans, einem Verbund unzähliger Familien, deren Mitglieder es dank ihrer geistigen Fähigkeiten weit gebracht haben. Als drittes Kind und potenzialfreies Psi-Talent wurde Dylan nie auf eine Rangfolge vorbereitet, doch plötzlich wird von ihm verlangt, die Erbfolge abzutreten und gleichzeitig einen vor Jahren geschlossenen Bindungsvertrag mit dem Wintermeer-Haus zu erfüllen. Dylan, der keinerlei Interesse daran hat Partner eines Gestaltwandlers zu werden, lehnt die Einhaltung des Vertrages ab, da er nicht ihm galt, sondern seinem verstorbenen Bruder. Caleb Wintermeer hingegen besteht auf der Vertragserfüllung und droht mit der Beendigung eines langjährigen Friedens, sollte sich Dylan nicht innerhalb einer Woche in seinem Haus einfinden, um ihre Bindung zu vollziehen.
Die neue Welt
Für Corina,
die tapfer für das Überleben gewisser Charaktere gekämpft hat, von meiner Muse allerdings ignoriert wurde.
»Du kannst einen Menschen nicht zwingen dich zu lieben.«
Prolog
Weiße Särge.
Eingefasst in ein Meer aus leuchtend farbigen Blumen, die seine Mutter so sehr geliebt hatte.
Rosen, Margeriten, Calla, Lilien, mehr Namen hatte er sich nicht merken können, weil ihn Grünzeug nicht interessierte. Das hatte es noch niemals getan. Dylan hatte nie verstanden, warum seine Mutter darauf bestand, immer Vasen mit frischen Blumen in jedem Zimmer des Hauses zu haben, aber er hatte seine Mutter über alles geliebt. Genauso wie seinen Vater und seine Geschwister, die nur wenige Schritte vor ihm aufgebahrt waren.
Bereit für ihre letzte Reise.
Was machte er hier eigentlich? Er war nicht im Geringsten dazu bereit sie ziehen zu lassen. Er wollte nicht hier stehen und den einzigen Überlebenden spielen. Er wollte auch nicht der letzte Erbe sein. Alles, was Dylan wollte, war sein Leben zurück. Die unzähligen Partys, die lockeren Freunde, sein Apartment in der Stadt. Er war ein Trake, Kind einer der angesehensten Familien innerhalb der Psi-Gemeinde, und doch gehörte er nicht zu ihnen. Das hatte er nie getan, denn sein Potenzial hatte sich leider nicht entwickelt.
Das machte ihn zu einem Normalen und ermöglichte ihm gleichzeitig ein Leben, wie sein Bruder es niemals hätte führen dürfen. Ein Privileg, um das ihn viele Psi beneidet hatten.
Doch nun, nachdem seine Familie ermordet worden war, war er plötzlich der Erbe.
Ein Name ohne Talent.
Ein Mann ohne Ruf, ohne Ausbildung, ohne Zukunft.
Mit 29 Jahren wurde von Dylan auf einmal erwartet, den Trakener-Clan zu führen, wichtige und richtige Entscheidungen zu treffen und bei dieser Beerdigung anwesend zu sein, die ihm das einzige nahm, dessen er sich je sicher gewesen war.
Die Liebe seiner Familie.
Kapitel 1
»Auf gar keinen Fall.«
»Dylan ...«
»Nein, George. Ich lasse mich nicht von diesem Wintermeer erpressen. Der Vertrag galt Christian, nicht mir. Ich werde mich nicht an einen verfluchten Gestaltwandler binden, den ich nie zuvor gesehen habe.«
»Ich fürchte, dass du in dieser heiklen Angelegenheit keine andere Wahl hast, Dylan.«
»Herrgott, George ...«
»Bitte, lass mich zu Ende sprechen«, bat der alte Mann und Dylan nickte schweigend. »Ich diene deiner Familie seit dem Tage meiner Geburt und ich werde deiner Familie bis zu meinem Todestag dienen. Ich habe miterlebt, wie du deinen ersten Zahn bekommen hast und ich werde hoffentlich erleben, wie du selbst Vater wirst.«
George trat seufzend vor eines der großen Fenster, die das Arbeitszimmer seines Vaters mit Licht durchfluteten, und sah einige Zeit still hinaus, bevor er sich wieder zu ihm umwandte. Sein mitfühlender Blick brachte Dylan dazu, genervt die Augen zu verdrehen. Er würde seine Meinung nicht ändern. Niemals. Jedenfalls nicht freiwillig.
Vor weniger als einer Woche war fast seine gesamte Familie bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Getötet mithilfe einer Bombe, was man ihm erst vor wenigen Stunden gesagt hatte. Von heute auf morgen war er der letzte Erbe eines Clans unzähliger Häuser und Familien, hatte keine Ahnung, was er wie und als nächstes tun sollte, und jetzt verlangte man auch noch von ihm, den ältesten Sohn des Wintermeer-Hauses zu ehelichen?
Caleb Wintermeer. Alpha, Familienerbe, Gestaltwandler.
Ein gut aussehender Mann, den Dylan privat mit Sicherheit nicht von der Bettkante gestoßen hätte, aber das ging wirklich zu weit. Er kam ja kaum mit dem Wissen zurecht, dass er jetzt einen alten, mächtigen Clan zu führen hatte. Wie sollte er dann noch einem Bündnisvertrag gerecht werden, der zwischen den Trakes und den Wintermeers weiter für Frieden sorgen würde? Was hatte sein Vater sich nur dabei gedacht, so einen Vertrag zu schließen? Sie lebten doch nicht mehr im Mittelalter, wo es gang und gäbe gewesen war, die eigenen Töchter für Politik, Geld und gute Verbindungen an Männer zu verschachern.
»Ich sehe dir an, was du denkst, aber dem ist nicht so. Dein Vater und Jonathan Wintermeer haben diesen Vertrag damals wohlüberlegt geschlossen.« George hob eine Hand und deutete einmal durch das ganze Arbeitszimmer. »Dieser Raum gehört nun dir. Ebenso wie das Haus, seine Bewohner und leider auch alle Verträge, Verpflichtungen und andere Dringlichkeiten, die die Aufgabe, den Trakener-Clan zu führen, mit sich bringt. Und dazu gehört auch der Bündnisvertrag mit den Wintermeers.
Ich will ehrlich sein, Dylan, ich war dagegen, als dein Vater diesen Vertrag unterschrieb. Natürlich wollte ich Frieden, aber nicht um diesen Preis. Dein Bruder hat die Bedingungen des Vertrages mit der ihm eigenen Ruhe akzeptiert und, soweit ich weiß, vor einigen Monaten eine eigene, private Vereinbarung mit Caleb Wintermeer getroffen, die beiden gewisse Freiheiten gab. Weitere Details kann ich dir nicht nennen, da sie mir nicht bekannt sind, doch bei diesen Gesprächen hatte ich einige Male die Gelegenheit, mich mit dem Alpha zu unterhalten. Caleb Wintermeer weiß, was er will, meint, was er sagt, und er macht keine leeren Drohungen.« George deutete auf den Brief, den Dylan immer noch in der Hand hielt und der sein Schicksal besiegelte, sofern er auf den Inhalt einging. »Er wird den Frieden mit uns brechen, wenn du das Bündnis ablehnst.«
»Wir könnten neu verhandeln. Christian ist tot und ...«
Georges Kopfschütteln ließ Dylan wieder verstummen. »Er hat seine Worte klug formuliert. Die Wintermeers sind seit vielen Generation Kämpfer, aber sie beherrschen auch die Kunst der Politik. Er weiß, welche Vorteile eine hochoffiziell geschlossene Verbindung unserer Familien mit sich bringt. Dieser Vertrag wurde nach dem Ende der letzten Schlacht geschlossen, als die Tränen der Trauernden noch nicht versiegt und das Blut auf den Schlachtfeldern noch nicht getrocknet war. Das erste Kind. Ein Bündnis auf Lebenszeit. Für unsere Häuser, den Frieden und für die Macht, die damit einhergeht. Wir sind stark geworden, Dylan, aber einen Bruch mit den Gestaltwandlern können wir uns nicht leisten. Caleb Wintermeer weiß das.«
Dylan legte den Brief, ein auf edlem Papier per Hand verfasstes Schreiben, behutsam auf den wuchtigen Schreibtisch seines Vaters und betrachtete das braun lackierte Holz eine Weile, bevor er tief durchatmete und seinen Blick nachdenklich durch den Raum schweifen ließ. Der Schreibtisch würde nie ihm gehören, ebenso wenig wie das Arbeitszimmer im Ganzen oder der Rest des Hauses. Es gehörte seinem Vater und das würde es immer tun. Dylan erhob sich, um zu dem langjährigen Berater seiner Familie ans Fenster zu treten.
»George, wir sind beide Männer.«
»Das ist mir bewusst und ich weiß ebenso, dass du deinem eigenen Geschlecht weniger abgeneigt bist, als es dein Bruder war.« George lächelte traurig. »Niemand erwartet eine sexuelle Komponente, das weißt du. Wir schließen Bündnisse mit unserem Blut, nicht unbedingt mit dem Herzen.«
»Und genau deswegen will ich das nicht, denn es bedeutet, dass ich einen Mann in meinem Kopf akzeptieren soll, den ich weder kenne noch liebe. Du weißt, dass ich mich nie entwickelt habe. Wie soll ich mich gegen ihn verteidigen? Ich bin kein Psi. Ich bin nur ...«
»Du bist ein Trake und du wirst es bleiben!«, fuhr George ihm entschieden ins Wort. »Es ist vollkommen gleichgültig, ob deine geistigen Fähigkeiten entwickelt sind oder nicht. Zudem steht in diesem Vertrag schwarz auf weiß, dass es euch beiden untersagt ist, die Gedanken des jeweils anderen zu lesen, wenn derjenige das nicht wünscht. Ein Wintermeer hat es nicht nötig, Gewalt anzuwenden.«
Dylan schauderte unwillkürlich, denn er wusste durch alte Geschichten, was geschehen konnte, wenn sich ein starker Psi einem schwächeren Geist aufzwang. Geistige Vergewaltigung wurde nicht grundlos mit dem Tode bestraft.
»Ich kann das nicht. Er wird immer in meinem Kopf sein.«
»Du wirst fühlen, was er fühlt, spüren, was er spürt, aber deine Gedanken werden weiterhin dir gehören. Um diese Tiefe der Verbindung zu erreichen, müsstet ihr eure Seelen vereinen. Ihr müsstet einander ehrlich lieben. Denk' an deine Mutter und den Unterricht. Was hat sie euch beigebracht, als Christian das erste Mal unglücklich verliebt war?«
»Du kannst einen Menschen nicht zwingen dich zu lieben.«
George nickte. »Deine Mutter war eine sehr weise Frau. Ihr schließt ein Bündnis zum Wohle unserer Häuser, aber diese Entscheidung kann und wird euch nicht davon abhalten, ein eigenständiges Leben zu führen.«
Dylan wandte sich vom Fenster ab und warf einen Blick auf den Brief. »Eine Woche. Und er erwartet, dass ich mindestens ein halbes Jahr mit ihm verbringe. Wie stellt er sich das vor? Wie stellen sich die anderen Familien unseres Clans dieses lächerliche Arrangement vor? Was frage ich eigentlich, denen ist das doch egal, sie müssen ja keines ihrer Kinder verkaufen. Aber ich soll mich ihrem Willen kampflos beugen? Was denken sie, wer ich bin? Ihr Bimbo? Wer soll unser Haus leiten, solange ich mich bei den Wintermeers aufhalte?«
»Ich natürlich.«
Dylan fuhr herum. Ein erleichtertes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht, als er den breit grinsenden Mann in der offenen Tür entdeckte, den er das letzte Mal vor über einem Jahr gesehen und besonders in den letzten drei Tagen wahnsinnig vermisst hatte. »Onkel Adrian! Wo hast du bloß immer diese schrecklichen Anzüge her?«
»Onkel, tze, jetzt fühle ich mich alt. Und diese Anzüge sind nicht schrecklich, sondern der neueste Schrei. Auch wenn die hellblaue Farbe ein bisschen gewöhnungsbedürftig ist, ich gebe es zu.« Blaue Augen funkelten ihn vergnügt an. »Und wenn du jetzt tatsächlich wagst zu behaupten, ich würde mich nicht nur alt fühlen, sondern wäre es auch, muss ich dich leider mit meinem Gebiss bewerfen.«
»Seit wann hast du ein Gebiss?«, feixte Dylan und fand sich gleich darauf in einer liebevollen, festen Umarmung wieder, in die er sich mit einem schweren Seufzen fallen ließ. »Adrian, ich bin so froh, dass du hier bist.«
»Ich weiß, ich weiß«, murmelte sein Onkel und strich ihm durchs Haar. »Es tut mir leid, dass ich erst jetzt komme. Ich habe den ersten Flug genommen, nachdem ich eure Nachricht endlich erhalten hatte. Da haben wir seit einem Jahrhundert wieder unzählige Satelliten im Orbit herumschwirren, aber versuch' mal in den amazonischen Moorfeldern eine Brieftaube zu finden. Von einem funktionierenden Telefon oder Funkgerät ganz zu schweigen.«
»Wie war deine Forschungsreise?«
»Dylan ...«
»Die vergangenen Tage waren wirklich schlimm, also bring' mich vor George bitte nicht zum Weinen. Das hält mein schwer angeschlagenes Ego nicht aus.«
Adrian lachte leise. »Ich will mal nicht so sein. Würdest du uns entschuldigen, George? Keine weiteren Störungen für den Rest dieses Tages, und wenn du uns Kaffee und etwas zu essen organisieren könntest, stünde ich tief in deiner Schuld.«
»Gerne, Sir Adrian ... Master Dylan.«
»George!«
»Ja, Master Dylan?«
Dylan seufzte und winkte George nach draußen. Er hasste es mit seinem Titel angesprochen zu werden und das wusste der alte Mann verdammt gut. Er tat es dennoch, verzichtete aber wenigstens im privaten Rahmen darauf. Mehr konnte er von George vermutlich nicht verlangen. Dylan sah zu Adrian auf, nachdem George sie alleingelassen hatte. Das Lächeln im Gesicht seines Onkels war eine Mischung aus Sorge, Trauer und einer Frage, die Dylan mit einem ratlosen Schulterzucken inklusive Seufzen beantwortete.
»So furchtbar?«
Dylan löste sich von Adrian und holte den Brief. »Lies das, und dann hilf mir, so schnell es geht zu flüchten. Möglichst ans andere Ende der Welt.«
»Putain de Merde!«, fluchte sein Onkel nach den ersten Zeilen unflätig. »Ich glaubte, dieser Mist wäre hinfällig, wo Christian ...« Adrian unterbrach sich abrupt und warf ihm einen verlegenen Blick zu. »Bitte entschuldige. Das war nicht sehr sensibel.«
Dylan ließ sich schnaubend auf die Besuchercouch sinken, die vor einer wandlangen Reihe prall gefüllter Bücherregale stand. Sein Vater hatte mit Begeisterung gelesen. Alte Schinken in alten Sprachen, aber auch neumodisches Zeug und schlichte Romanzen. Dylan hatte diese Liebe zum gedruckten Papier nie verstanden. Bücher nahmen Unmengen an Platz weg, verstaubten und wurden mit der Zeit alt. Die modernen Errungenschaften der Technik waren ihm da lieber, auch wenn Dylan seine freie Zeit eher in Nachtclubs verbrachte, statt lesend im Bett zu liegen. Wobei er sich das in Zukunft vermutlich abschminken konnte, denn er bezweifelte irgendwie, dass Caleb Wintermeer ein großer Partygänger war.
»Was sagt George dazu?«
»Dass ich keine Wahl habe.«
»Ich möchte dir ungern deine Laune noch mehr verhageln, aber ich fürchte, er hat recht.« Adrian sah mit düsterem Blick auf das Schreiben. »Wintermeer steht zu seinem Wort, so viel weiß ich über diese Familie, und wir können es uns auf keinen Fall leisten, sie zu verprellen.« Sein Onkel warf ihm einen fragenden Blick zu. »Haben sich die anderen Familien unseres Clans schon dazu geäußert?«
»Sie verlangen, dass ich den Vertrag unterzeichne und einhalte.«
»Das wundert mich nicht. Diese Bande von Feiglingen und Arschkriechern hat deinem Vater immer zugestimmt. In allem. Versteh' mich nicht falsch, ich lege keinen Wert auf einen erneuten Krieg, aber das«, Adrian deutete mit angewidertem Gesichtsausdruck auf den Brief, »ist ein schlechter Witz. Das eigene Kind verkaufen. Wo leben wir denn? Im Mittelalter? Es ist mir ein Rätsel, was Benjamin sich dabei gedacht hat.«
»Ich könnte tot umfallen, würde das helfen?«
Adrian schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Darüber macht man keine Witze.« Sein Onkel begann vor dem Schreibtisch seines Vaters auf- und abzulaufen. »Eine Woche. Hat der Mann keinen Anstand? Er müsste doch wissen, dass du gerade erst deine Familie beerdigt hast. Diese Drängelei gibt mir ziemlich zu denken, nur leider können wir ihm schlecht antworten, dass es dir zeitlich gerade nicht passt. Das wäre erstens unhöflich und zweitens eine Lüge. Wie ich Wintermeer kenne, wird er von meiner Ankunft erfahren haben, er kann sich also denken, dass ich dir meine Hilfe bei den Geschäften unseres Clans anbiete.« Adrian seufzte lang und tief, ehe er den Kopf schüttelte. »Ich weiß einfach nicht, wie ich dich da rausbekommen kann, ohne Probleme zu verursachen. Dieser Vertrag ist hieb- und stichfest und leider hat Caleb Wintermeer das Recht, seine Erfüllung von dir einzufordern.«
»Hast du den ursprünglichen Vertrag gelesen?«
»Ja.« Adrian sah ihn an. »Du nicht?« Dylan schüttelte den Kopf. »Hol' das nach, Dylan! Du musst genau wissen, worauf du dich einlässt. Ich könnte ihn dir Wort für Wort vorbeten, so oft habe ich ihn damals gelesen, dabei geflucht und versucht, meinem Bruder diesen Schwachsinn wieder auszureden. Aber Benjamin hat nicht mit sich reden lassen. Er wollte unbedingt einen anhaltenden Frieden aushandeln. Lobenswert, gar keine Frage, wenn ich an die vielen Toten denke, die wir zu beklagen hatten. Dennoch, das eigene Kind zu verschachern wie ein ...« Adrian fuhr sich durch sein dunkelblondes Haar. »Nein, ich will und kann das niemals gutheißen. Vor allem jetzt nicht, wo du den Preis bezahlen musst.«
»Vermisst du ihn?«
»Natürlich.« Adrian ließ den Brief sinken und setzte sich zu ihm. »Sehr. Auch wenn wir uns nicht sonderlich nahe standen, er war immerhin mein Bruder.«
»Ihr habt euch ständig gestritten, als ich klein war.«
»Das hast du gehört?« Sein Onkel grinste schief. »Ben und ich, das war nie einfach. Wir haben oft konkurriert und ich war mit vielen seiner Entscheidungen nicht einverstanden. Früher oder später musste es zum Bruch kommen. Deine Mutter versuchte zu vermitteln, aber wir sind nun mal Trakes. Wahre Sturköpfe.« Adrian stieß ihm mit der Faust neckend gegen den Oberarm. »Genau wie du, und deswegen wirst du mit diesem Wintermeer zurechtkommen, darauf wette ich.«
»Was willst du setzen? Diesen grausamen Anzug?«, ärgerte Dylan seinen Onkel und begann zu lachen, als der ihm mit der Faust drohte. Ein Klopfen an der Tür rettete ihn. »Ja, bitte?«
George trat ein, ein Tablett mit Getränken und Essen in der Hand, das er auf dem Beistelltisch der Couch abstellte, bevor er ein Blatt Papier aus seinem Jackett zog und es Dylan reichte.
»Eine Einladung zum Abendessen der Familie Wintermeer. Um einander kennenzulernen. Der Bote wartet in der Halle auf Antwort, Master Dylan.«
Dylan stöhnte frustriert, aber da er kaum eine andere Wahl hatte, nickte er George zu. »Sag' ihm, wir kommen.«
»Wie Ihr wünscht.«
»Der Mann verliert keine Zeit«, sagte Adrian, als sie wieder unter sich waren und Dylan die wenigen Zeilen, dass er heute Abend, gerne mit Begleitung, um Punkt 7 Uhr im Herrenhaus der Wintermeers erwartet wurde, vorgelesen hatte.
»Was denkst du? Sei ehrlich«, bat Dylan leise und nahm das Sandwich entgegen, das sein Onkel ihm reichte.
»Ich bin mir nicht sicher. Mein Gefühl sagt mir, dass du vorsichtig sein solltest.«
Das wäre er ohnehin gewesen. Dylan war zwar jung und in keinster Weise für die Aufgaben ausgebildet, die man jetzt von ihm erwartete, aber er war kein Dummkopf. »Begleite mich«, bat er nach kurzem Nachdenken. »Ganz offiziell. Es wurde mir schließlich eine Begleitung zugestanden und du bist mein Onkel.« Dylan kam ein Gedanke, der ihn grinsen ließ. »Warst du schon mal Anstandswauwau?«
Adrian lachte. »Nein, aber das dürfte interessant werden. Soll ich meine Sinne bei passender Gelegenheit ein wenig schweifen lassen?«
Dylan nickte, denn genau darum ging es ihm. »Ich würde es selbst tun, aber ...«
»Du bist nicht weniger wert, Dylan«, nahm Adrian ihm die Worte aus dem Mund und hob tadelnd einen Finger, als er das Gesicht verzog. »Nein, das wirst du nicht glauben, hast du mich verstanden? Ich weiß, dass du es deswegen nicht immer leicht hattest, aber manchmal entwickelt sich das Potenzial eines Psi einfach nicht. Das ist der Lauf der Natur und weder unnormal noch krankhaft. Auch wenn einige der Alten in den Familien das immer wieder behaupten.« Adrian zwinkerte ihm zu. »Sieh es positiv. Wenn ich erwischt werde, kannst du alle Schuld auf deinen ungezogenen Onkel schieben, der seinen Anstand in den Moorfeldern von Amazonien gelassen hat.« Dylan begann zu lachen und Adrian klatschte mit einem amüsierten Lächeln in die Hände. »So gefällst du mir schon besser. Und jetzt werde ich dir einen Schnellkurs in Benehmen und Ansprache geben. Es wäre höchst kontraproduktiv, wenn du die Familie deines zukünftigen Bündnispartners bereits beim allerersten Kennenlernen verärgerst.«
»Ich könnte mich geben, wie ich bin«, schlug Dylan vor und sein Onkel sah ihn entsetzt an.
»Auf gar keinen Fall.«
»Danke sehr«, beschwerte sich Dylan, konnte sich ein Grinsen aber nicht verkneifen, als Adrian lachte. Dann erhob sich sein Onkel und begann, eine Kaffeetasse in der Hand haltend, vor dem Sofa auf- und abzugehen.
»Das Wichtigste kennst du von zu Hause. Die Kinder sind Master oder Miss, Eltern und Großeltern, sofern vorhanden, sind Sir oder Madame. Die Dienerschaft wird mit Vornamen angesprochen, gleiches gilt für das Sicherheitspersonal. Wie du das mit deinem Partner löst, bleibt euch überlassen. Ich denke, ihr werdet das persönliche Du wählen. Sollten Mitglieder aus den übrigen Häusern der Wintermeer-Gemeinschaft anwesend sein, um dir ihre Aufwartung zu machen, stellen sie sich selbst vor. Ich bin Mister Thomas oder Mister Barton, um zwei Beispiele mit Vor- und Nachnamen zu nennen. Du nimmst das auf und nennst sie so. Ist das nicht der Fall, sprichst du sie mit Mister oder Misses an. Du hast keinen Grund sie nach ihren Namen zu fragen, denn du bist der Trake-Erbe und stehst gesellschaftlich über ihnen. Tu' es also nicht, falls sie sich dir nicht vorstellen. Was die Misses angeht, kein Wandler wird es wagen mit weniger als der eigenen Gefährtin aufzutauchen. Es wäre eine grobe Beleidigung, selbst wenn besagter Wandler zu Hause drei Geliebte hat und die Ehefrau nur schmückendes Beiwerk an seiner Seite ist.«
Dylan erinnerte sich dunkel an diese groben Regeln, die er im frühen Kindergartenalter gelernt hatte, um wenigstens ein Grundmaß an Höflichkeit zu beherrschen, sollte er Gästen über den Weg laufen. »Was ist mit Kindern?«, fragte er, doch Adrian schüttelte den Kopf.
»Nicht bei einem offiziellen Abendessen. Höchstens die der Wintermeers, aber auch das ist eher unüblich. Für den Fall der Fälle … Neben dem ältesten Sohn gibt es drei weitere Erben. Zwei Söhne und eine Tochter.«
»Krawattenzwang?«
»Worauf du Gift nehmen kannst. Dresscode wird erwartet, also wirst du einen Anzug tragen, dein Haar kämmen und dich rasieren. Denk' daran, du repräsentierst unsere ganze Familie, das bedeutet, heute Abend sind alle Augen auf dich gerichtet. Da jeder weiß, dass du erst vor kurzem deine Geschwister und Eltern begraben hast, wird dir niemand übel nehmen, wenn du eher schweigsam bist, aber verzichte auf Unhöflichkeiten oder Bosheiten. Halte deine Mimik unter Kontrolle.«
»Mach' es mir nur leichter«, grollte Dylan und rieb sich die müden Augen. »Adrian, ich habe keine Ahnung, was ich hier eigentlich tue, geschweige denn, was die Wintermeers von mir erwarten.«
Sein Onkel stellte die Tasse ab und setzte sich wieder neben ihn. »Dafür bin ich da. Ich werde dir helfen und sie erwarten vermutlich weniger, als du glaubst. Wandlern geht die Familie über alles und du hast deine verloren. Das wissen sie und aus dem Grund werden sie Rücksicht nehmen. Alles andere wäre eine Beleidigung deiner Person.«
»Warum gehst du nicht einfach und ich bleibe hier?«
Adrian streichelte ihm mit mitfühlendem Gesichtsausdruck über die Wange. »Weil die Einladung deinen Namen trägt und nicht meinen. Noch etwas ...« Adrians Blick wurde ernst. »Man wird dir mit Freundlichkeit und Mitgefühl begegnen, und das wird ernst gemeint sein. Aber sei dir bewusst, man wird auch reden. Hinter deinem Rücken. Ununterbrochen. Du bist der Erbe, der nie für diese Aufgabe ausersehen war und auch nicht auf sie vorbereitet wurde. Man wird sich über dich das Maul zerreißen, um es vulgär auszudrücken, und du wirst es wissen und trotzdem lächeln. Du bist ein Trake. Egal, wie schlimm es wird, egal, was du über dich hörst oder wie sie dich ansehen, vergiss niemals, wo du herkommst, Dylan.«
Kapitel 2
»Nimm die grüne Krawatte.«
Caleb warf seinem langjährigen Freund und Leibwächter Connor Lisbin, der an seinen üblichen Platz bei der Tür stand, einen fragenden Blick zu. »Warum?«
»Es heißt, er hat grüne Augen. Vielleicht wird er die Geste als Freundlichkeit interpretieren.«
Daran zweifelte Caleb, tat aber trotzdem, was Connor ihm vorgeschlagen hatte, denn schaden konnte es wohl kaum, und er hatte in Bezug auf passende Accessoires zu dem schwarzen Anzug ohnehin noch keine Wahl getroffen. Dieses Abendessen bereitete ihm seit Stunden Bauchschmerzen und daran würde sich erst etwas ändern, wenn es vorbei war.
Oder auch nicht, immerhin würde er in weniger als einer Stunde dem Mann gegenüberstehen, der Christian Trakes Platz einnehmen sollte, einem Psi von Ehre, mit perfekter Erziehung und einem sehr ansehnlichen Äußeren. Zudem war Christian höflich, charmant und überaus beredet gewesen, und neben einem Faible für alte Bücher, hatten sie weitere Hobbys geteilt. Unter anderem das Reiten, Schwimmen und den Zweikampf mit langen Klingen.
Von Dylan Trake hatte er bislang nur ein Foto gesehen, und er wusste, dass der Erbe des Trakener-Clans erst am Tage der Beerdigung seiner Familie aus der Stadt heimgekehrt war. All seine übrigen Informationen beruhten auf Gerüchten und jeder Menge Hörensagen.
Keine gute Ausgangsposition für das erste Treffen mit dem Mann, an den er sich schon bald binden sollte.
»Ich bezweifle, dass er dafür im Moment überhaupt einen Gedanken hat.« Caleb sah mit finsterem Gesichtsausdruck in den mannshohen Wandspiegel, vor dem er stand. »Ich hätte nicht auf Vater hören dürfen. Vier Tage waren zu wenig Zeit, um genug Informationen über ihn zusammenzutragen. Ich will mich nicht nur auf diese ganzen unseligen Gerüchte verlassen, die über seine Familie im Umlauf sind.«
»Er ist Christians Bruder. Vielleicht sind sie sich ähnlicher als du denkst, und kennenlernen musst du ihn so oder so. Ein zwangloses Abendessen ist die beste Gelegenheit, dich ihm zu nähern und einen ersten Kontakt zu knüpfen.«
»Zwanglos?« Caleb ließ sich zu einem Schnauben herab, da sie unter sich waren, und hörte Connor leise lachen. »Das ist nicht amüsant, im Gegenteil. Die anderen Alphas werden über ihn herfallen wie eine Horde Geier. Ein potenzialfreier Psi, der nun den Clan der Trakener führt, mir klingeln immer noch die Ohren von Joshuas anmaßendem Gebrüll. Ginge es nach diesem dummen Wolf, läge der Psi längst neben seiner Familie unter der Erde. Er täte nichts lieber, als mich herauszufordern, und ich hoffe, Dylan Trake bringt jemanden mit, der ihm heute Abend ein wenig unter die Arme greift. Ich kann nicht ständig um ihn herum sein.«
»Joshua wird es niemals wagen, dich herauszufordern. Er ist ein Choleriker, kein Idiot«, widersprach Connor und Caleb zog es vor, diese Worte nicht zu kommentieren, denn in seinen Augen war Joshua sehr wohl ein Idiot. Und zwar einer von der allerschlimmsten Sorte, weil er sich für den perfekten Anführer der Gestaltwandler hielt und keine Gelegenheit ausließ, das zu verkünden. »Der Bruder von Dylans Vaters ist aus Amazonien eingetroffen. Adrian Trake, ein verrückter Wissenschaftler, der sein halbes Leben mit Forschungsreisen in aller Welt verbracht hat. Offenbar standen sich die Brüder nicht sehr nahe.«
»Familiäre Streitigkeiten?« Connor schüttelte den Kopf, als Caleb ihn durch den Spiegel hinweg ansah. »Sieh zu, was du herausfinden kannst. Ich brauche mehr Informationen und ich brauche sie schnell.« Ein dezentes Klopfen an der Tür ließ ihn die Augen verdrehen. »Ich komme, Armand.«
»Ihr Vater lässt fragen, ob Sie Master Dylan vor dem Haus zu begrüßen wünschen? In einem etwas privateren Rahmen, bevor das Essen beginnt.«
»Er ist kein Master mehr, Armand.«
»Natürlich. Ich bitte um Entschuldigung, Sir.«
Caleb lachte in sich hinein. Er würde es wohl nie schaffen, seinen persönlichen Diener aus der Fassung zu bringen, dabei versuchte er es bereits seit mehr als dreißig Jahren. Aber der Wandler ließ sich durch nichts und niemanden aus der Ruhe bringen, was mit Sicherheit auch daran lag, dass er sich schon um seinen Vater gekümmert hatte.
»Sag' meinem Vater, dass ich seinen Vorschlag annehme.«
»Wie Ihr wünscht.«
Caleb wusste nicht, was er erwartet hatte, aber der Mann, der später aus einer schwarzen Limousine stieg, wirkte derart verkrampft und deplatziert, dass es auf ihn den Eindruck machte, man hätte Dylan Trake gefoltert, um ihn zu diesem Abendessen zu bringen. Caleb musterte ihn unauffällig und war sichtlich überrascht, wie wenig Dylan mit seinem älteren Bruder gemeinsam hatte.
Sie besaßen eine ähnliche Statur, das war aber auch alles. Wo Christian ein dunkler Typ gewesen war, so wie sein Vater, ähnelte Dylan seiner Mutter. Blondes, streng zurückgekämmtes Haar, eine sportliche Figur und grüne Augen, die sich derzeit nervös umschauten. Zudem war Dylan mindestens eine Handbreit kleiner als Caleb mit seinen 1,93m. Er wusste, dass sein baldiger Bündnispartner 29 Jahre alt war und abgesehen von einem einfachen Schulabschluss nichts vorzuweisen hatte. Er war ein Trake und von Beruf jüngster Sohn. Das war absolut nichts Ungewöhnliches in Psi-Kreisen, doch Caleb fragte sich, ob Dylan sich gedankenlos der Norm angepasst hatte, oder ob es möglicherweise einen anderen Grund dafür gab, dass er weder studiert noch einen Beruf erlernt hatte.
»Guten Abend«, begrüßte er Dylan, nachdem der Wagen zu den Garagen weitergefahren war, und reichte, als der jüngste Trake nur wortlos nickte, dessen Begleitung die Hand, der sich ihm als Adrian Trake vorstellte. »Sehr erfreut, Euch persönlich kennenzulernen.«
»Ich bedanke mich für die Einladung«, erwiderte Adrian galant und verbeugte sich kurz. »Genug der netten Worte, ich lasse euch allein. Ein privater Moment dürfte geeigneter sein, um einen ersten Kontakt zu knüpfen.«
Dylans Onkel wandte sich seiner Familie zu, die höflich an der Eingangstür gewartet hatte, und Caleb sah Dylan fragend an, der immer noch in der Einfahrt stand und augenscheinlich nicht wusste, was er als Nächstes tun sollte. Etwas Hilfe war hier definitiv angebracht, dachte Caleb und lächelte seinem zukünftigen Partner höflich zu.
»Danke für dein Kommen. Ist es dir genehm, wenn wir du sagen?«
»Klar.« Dylan räusperte sich verlegen. »Ja, gern. Danke.«
»Wie wäre es mit einem Rundgang durch die Gärten, bevor das Essen serviert wird?«, fragte Caleb und musste ein Grinsen unterdrücken, als Dylan nach seiner Frage hörbar erleichtert seufzte. »Darf ich dieses Seufzen als Ja interpretieren?«
Christians Bruder bekam rote Wangen. »Entschuldige. Du musst mich für einen totalen Idioten halten. Ich wollte nicht … Ich … Es ist … Ach, verdammt.«
»Mach' dir keine Gedanken, Dylan«, bat Caleb und deutete zu dem befestigten Sandweg, der sie direkt in die Gärten hinter dem Haus führen würde. Dylan setzte sich in Bewegung und Caleb passte sich seinem Tempo an, bis sie nebeneinander gingen. »Ich weiß, dass dies alles neu für dich ist. Wir lassen uns Zeit, um einen guten Weg für unser Bündnis zu finden.«
»Eine Woche nennst du Zeit lassen?«
»Diese Frist war Teil des Vertrages. Ich sehe keinen Grund, von ihm abzuweichen.«
»Und ich sehe keinen Grund, heute über diesen Wisch zu diskutieren. Falls du es doch vorhast, könnte ich auf die Idee kommen, dir das Bier über den Kopf zu schütten.«
»Welches Bier?«, fragte Caleb verdattert.
Dylan winkte ab. »Oder was auch immer bei euch zum Essen serviert wird.«
»Rehbraten mit selbst gezüchtetem Gemüse aus unseren Gärten«, antwortete Caleb sofort, da er mit seiner Mutter lang und breit über das heutige Menü diskutiert hatte. Selbst für Vegetarier oder Veganer gab es mehrere Gerichte zur Auswahl, da sie auf die Schnelle nicht sicher in Erfahrung hatten bringen können, ob Dylan eine fleischlose Ernährung bevorzugte.
»Ich meinte die Getränke.«
»Wein oder Wasser, ganz nach Wunsch.«
»Habt ihr nichts Stärkeres?«
»Nun ...« Caleb geriet ins Stocken. Solch ein merkwürdiges Gespräch hatte er noch nie zuvor geführt und es irritierte ihn merklich. »Es wäre wohl mehr als unangemessen, uns beim ersten Kennenlernen zu betrinken.«
»Warum nicht?«, konterte Dylan zynisch. »Dann dürfte der Abend wenigstens lustig werden.«
Bevor Caleb nachhaken konnte, was Christians Bruder ihm damit sagen wollte, blieb der stehen, sah sich um und lief dann einfach quer über den akkurat gestutzten Rasen zu einer der vielen Bänke, die sein Urgroßvater beim Anlegen der Gärten hatte aufstellen lassen. Es waren helle Steinbänke, die während der Sommermonate mit weichen Polstern bedeckt waren. Seine Großeltern waren an warmen Tagen ständig hier draußen zu finden und es hätte ihn nicht gewundert, wenn auf oder neben der Bank ein Weidenkorb voller Strickwolle gestanden hätte. Seine Großmutter vergaß abends ständig ihre Handarbeit mit ins Haus zu nehmen.
»Interessant«, murmelte Connor hinter ihm und Caleb hob tadelnd einen Finger, als sein Leibwächter leise lachte, bevor er Dylan folgte und sich neben ihn setzte.
»Ein Vorschlag zur Güte … Wir bleiben heute nüchtern und betrinken uns dafür ein anderes Mal?« Das folgende, amüsierte Zucken von Dylans Mundwinkeln war mit Sicherheit ein gutes Zeichen, entschied Caleb. »Und frage mich bitte nicht, wann ich das letzte Mal betrunken war.«
Das erregte Dylans Aufmerksamkeit. »Warst du überhaupt schon mal richtig blau?«
Caleb runzelte irritiert die Stirn. »Blau?«
»Besoffen. Voll wie eine Haubitze. Nenn' es wie du willst«, antwortete Dylan und grinste schief, als Caleb ihn ratlos ansah, denn diese Erklärungen waren ihm nicht geläufig. »Du bist im Goldenen Käfig aufgewachsen, hm?«
»Ich wüsste nicht, was daran schlecht sein sollte. Um deine Frage zu beantworten: Nein, ich war noch nie betrunken.«
»Das dachte ich mir«, murmelte Dylan und betrachtete ihn von der Seite. »Bist du sicher, dass dieser Bündnisvertrag eine gute Idee ist? Ich dürfte kaum das sein, was du dir als Partner erhofft oder erwartet hast.«
Caleb erwiderte Dylans fragenden Blick offen. »Das bist du tatsächlich nicht, aber du irrst dich, ich habe nichts erwartet. Mir ist durchaus bewusst, dass man dich in weniger als einer Woche in eine Rolle gedrängt hat, auf die du nicht vorbereitet wurdest. Dennoch bin ich nicht bereit, einen langen Frieden einfach kampflos aufzugeben, solange es eine Möglichkeit gibt, an ihm festzuhalten.«
»Warum dann die Drohung in deiner Nachricht?«
»Politik.«
»Wenn ich das Wort heute noch einmal höre, schreie ich«, murrte Dylan und verschränkte die Arme vor der Brust.
Calebs Blick schweifte über blühende Rosen und von seiner Urgroßmutter einst angelegten Blumenbeeten, die von bunten Schmetterlingen, Bienen und anderen Insekten Tag für Tag mit Begeisterung in Beschlag genommen wurden. Doch um diese Uhrzeit waren sie längst fort und hatten den Grillen ihren Platz überlassen, deren Rufe laut und in Massen zu hören waren.
»Ich muss dich warnen. Es sind Alphas aus verschiedenen Häusern zum Essen erschienen, um dich zu sehen, und es ist durchaus im Bereich des Möglichen, dass man dir nicht immer mit der zu erwartenden Höflichkeit begegnen wird.«
Dylan schnaubte abwertend. »Kein Problem. Das ist nichts Neues für mich.«
»Wie meinst du das?«, hakte Caleb beunruhigt nach und entschloss sich gleichzeitig dafür zu sorgen, dass Connor den ganzen Abend über ein Auge auf Dylan haben würde.
»Ich bin ein potenzialfreies Psi-Talent und Kinder können sehr grausam sein.«
»Aber du bist ein Trake.«
»Na und?«, konterte Dylan trocken. »Glaubst du etwa, ein großer Name schützt dich davor, ausgegrenzt und beleidigt zu werden? Wo bist du aufgewachsen? Unter einer Glasglocke?«
Caleb beschloss die Beleidigung seiner Person schlichtweg zu ignorieren, denn er hatte das ungute Gefühl, dass Dylan sie nicht einmal als solche ansah. »Das tut mir leid.«
»Vergiss es.« Dylan zuckte betont lässig mit den Schultern. »Das ist lange her. Ich wollte damit auch nur sagen, dass ein unhöflicher Gestaltwandler mich nicht dazu bringen wird, vom Dach eures netten Gemäuers zu springen.«
Nettes Gemäuer? Wie, bei allen Göttern, hatte dieser Psi die vergangenen Jahre überlebt? Und aus welchem Grund hatte ihm niemand eine helfende Hand gereicht, um ihm wenigstens die Grundbegriffe von Etikette beizubringen? Caleb wusste absolut nicht, wie er reagieren sollte, und er schluckte seine Frage hinunter, ob Dylan einen Hang zur Übertreibung besaß oder ernsthafte psychologische Probleme mit sich herumtrug. Vielleicht waren seine Worte ein Scherz gewesen. Bei Dylans ungewöhnlicher Ausdrucksweise lag das mit Sicherheit im Bereich des Möglichen. Er musste unbedingt mehr über seinen Bündnispartner in Erfahrung bringen, sonst bestand eine nicht zu unterschätzende Gefahr, dass die Erfüllung ihres Vertrages in einem Desaster endete.
»Komm«, bat er und erhob sich, um Dylan galant die Hand zu reichen. Er zog sie wieder zurück, als der aufstand, ohne seine freundliche Geste überhaupt zu bemerken. »Lass uns ins Haus gehen. Das Essen dürfte bald serviert werden.«
Je später der Abend, umso nervöser schien Dylan Trake zu werden. Dabei gab sich sein Onkel wirklich alle Mühe, es ihm so leicht wie nur irgendwie möglich zu machen. Wann immer Caleb durch Gespräche abgelenkt war, hielt sich Adrian Trake an Dylans Seite auf und schirmte ihn ab. Der erfahrene Psi ließ sich dabei nicht einmal von Joshua abschrecken, wie Caleb von Connor wusste. Sein Leibwächter und vor allem seine Familie amüsierten sich königlich über die fruchtlosen Versuche des Wolfs, an Dylan heranzukommen, die Adrian Trake jedes Mal charmant, aber zugleich rigoros unterband.
»Nun, mein Junge? Was hältst du von Dylan Trake?« Sein Großvater Jeremy trat neben ihn und reichte ihm ein Glas mit schwerem Rotwein. Connor liebte diese Sorte ebenso sehr wie er selbst und Caleb ließ sich den ersten Schluck genüsslich auf der Zunge zergehen, bevor er seinen Großvater ansah.
»Er wird es nicht leicht haben.«
»Meinst du in seinem Zuhause oder mit uns?«
»Beides.«
»Dann sei der Partner, den er braucht. Es ist deine Aufgabe, ihm zu helfen, bis er sich selbst helfen kann.«
»Ich weiß.«
Die klugen Augen seines Großvaters zeigten auf einmal eine deutliche Belustigung. »Du magst ihn, nicht wahr?«
Caleb schüttelte den Kopf. »Es ist viel zu früh, um mir ein Urteil zu erlauben. Er hat nichts mit Christian gemeinsam.«
»Das habe ich nicht gefragt, Caleb.« Jeremy deutete mit der Hand zu Dylan, in dessen Richtung gerade Joshua unterwegs war. Wieder einmal, und leider hatte Adrian Trake den Saal vor wenigen Augenblicken verlassen, vermutlich um die Toiletten aufzusuchen. »Hilf ihm. Joshua erlaubt sich zu viel. Der Junge hat gerade erst seine Familie beerdigt und es ist unsere Pflicht, vor allem deine Pflicht, dafür zu sorgen, dass ihm mit dem gebotenen Respekt begegnet wird.«
Caleb nickte und setzte sich in Bewegung. Auf seinem Weg zu Dylan reichte er sein halb volles Weinglas an Connor weiter, und traf im selben Augenblick neben Dylan ein, als Joshua vor seinem zukünftigen Bündnispartner zum Stehen kam.
»Es reicht, Joshua!«
»Was? Kann dein Hündchen sich nicht selbst verteidigen? Sein Bruder hatte mehr Mumm in den Knochen.«
Es war allein Calebs guter Erziehung zu verdanken, dass Joshua nicht mit einem gebrochenen Kiefer auf dem polierten Holzfußboden landete. Manche Grenzen übertrat man einfach nicht und dass Joshuas Atem eindeutig preisgab, wie sehr er bereits dem Alkohol zugesprochen hatte, war in Calebs Augen keine Entschuldigung für diese Beleidigung.
»Christian ist tot, Joshua. Beschmutze nicht sein Andenken mit unangemessenem Verhalten.«
Joshua schnaubte abfällig. »Unangemessen? Von wegen.«
»Du bist betrunken«, flüsterte Caleb angewidert und hob in derselben Sekunde die Hand. »Connor?«, rief er und war sich der neugierigen Blicke von anderen Gästen sehr wohl bewusst, als sein Leibwächter mit Verstärkung an Dylans anderer Seite auftauchte.
»Ja, Alpha?«
»Joshua möchte uns verlassen. Dringende Angelegenheiten, die keinen Aufschub dulden. Begleite ihn sicher hinaus.«
»Natürlich.« Connor deutete eine Verbeugung in Richtung Joshua an. »Wenn Ihr mir bitte folgen wollt, Sir.«
Es war weit nach Mitternacht, als Caleb mit einem tiefen Seufzen die Tür hinter sich zuwarf und sich auf die Couch im Wohnraum fallen ließ, um beide Beine von sich zu strecken. Ob es wohl auffiel, wenn er diese unbequemen Stiefel bei nächster Gelegenheit im Wald verscharrte? Wahrscheinlich nicht, da in seinem Schrank noch einige Paare standen. Caleb wackelte mit den Zehen und war erleichtert, als die Schmerzen nachließen. Sich stundenlang die Beine in den Bauch zu stehen und höfliche Konversation zu betreiben, war einfach nichts für ihn. Aber als Alpha des Wintermeer-Hauses wurde er in dieser Hinsicht nun einmal nicht um seine Meinung gefragt.
Man erwartete von ihm bestmögliche Entscheidungen für ein ganzes Volk zu treffen, doch seit dem heutigen Abend war er nicht mehr sicher, ob dieser Bündnisvertrag richtig war. Mit Christian hatte er sich gut verstanden. Sie wären miteinander zurechtgekommen und hätten gute Leben führen können. Aber Dylan Trake war nicht wie sein Bruder. Ganz und gar nicht.
Caleb hatte dem jüngsten Trake-Spross deutlich angesehen, wie erleichtert er darüber gewesen war, sich verabschieden zu können, um mit seinem Onkel nach Hause zu fahren. Obwohl es ihnen nach Joshuas Abgang gelungen war, eine Weile ungezwungen miteinander zu plaudern, hatte Caleb die ganze Zeit das Gefühl nicht losgelassen, dass Dylan am liebsten vor ihm geflüchtet wäre. Caleb legte den Kopf in den Nacken und rollte seine schmerzenden Schultern. War er denn als Mann so schrecklich? Er konnte es sich nicht vorstellen, doch dann fiel ihm ein, wo Dylan in den vergangenen Jahren gelebt hatte und das ernüchterte ihn.
Das Klappen der Tür ließ ihn den Kopf heben. »Ich frage mich ernsthaft, ob er in einer Höhle aufgewachsen ist. Er kennt nicht einmal die Grundbegriffe unserer normalen Etikette. Wie soll ich bloß mit ihm zurechtkommen?«
Connor lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür. Er trug noch immer seine schwarze Ausgehuniform, hatte aber bereits die obersten Knöpfe an der Jacke geöffnet. »Christian hat kein böses Wort über ihn verloren.«
»Natürlich nicht, Dylan war sein kleiner Bruder und er hat ihn über alles geliebt. Er hätte sich niemals dazu herabgelassen, schlecht über ihn zu sprechen.« Caleb stöhnte fassungslos und richtete sich auf. »Das tue ich gerade, Grundgütiger.«
»Es wird viel Zeit brauchen. Dylan hat ein freies Leben in der Stadt genossen und sie sind anders dort. Ihnen bedeuten Privilegien nichts. Zumindest habe ich das gehört.«
»Er ist das Oberhaupt der Trakes. Ob er will oder nicht, er wird diese Privilegien brauchen und sie nutzen müssen, wenn er auf Dauer mit den anderen Familien zurechtkommen will.«
»Sei nicht so ein Snob.«
»Wie bitte?«, fragte Caleb entrüstet und Connor lachte leise.
»Das hat er zu seinem Onkel gesagt, als sie in den Wagen gestiegen waren. Diese Psi vergessen immer wieder, dass viele Gestaltwandler verdammt gute Ohren haben.«
Caleb war beleidigt. »Ich bin kein Snob.«
»Für seine Begriffe schon«, widersprach Connor amüsiert, doch der ernste Ausdruck in seinen blauen Augen sagte Caleb, dass sein Freund die Angelegenheit mitnichten so harmlos und lustig fand, wie es auf den ersten Blick schien. »Ganz Unrecht hat er ohnehin nicht. Erinnere dich daran, wie du mich in der Anfangszeit behandelt hast, als wir uns kennenlernten.«
»Wir waren noch Kinder. Das kannst du nicht miteinander vergleichen.«
»Du warst ein zehnjähriger Angeber, der genau wusste, welchen Platz er eines Tages innehaben würde, und so hast du dich auch verhalten. Du hast deine Nase über jeden gerümpft, der nicht den gleichen oder einen höheren Stand hatte als du. Aus diesem Grund wurde ich als dein Leibwächter ausgesucht. Unsere Väter wussten, dass ich mir dein überhebliches Benehmen nicht gefallen lassen würde.«
»Du hast mir nach drei Tagen die Nase gebrochen.«
»Und du hattest es verdient, Caleb.«
»Ja, ich weiß«, gestand Caleb nach einem finsteren Blick zu Connor ein, den der mit einem Zwinkern kommentierte.
Das wiederum brachte Caleb zum Lächeln, denn er hatte nicht vergessen, mit welch herablassenden Worten er Connors Mutter am Tag ihres Kennenlernens betitelt hatte. Doch dieser Vormittag war 25 Jahre her und er hatte sich verändert. War in seine Rolle als Anführer der Gestaltwandler hineingewachsen, und Caleb würde niemals vergessen, dass Connor seit jenem Tag treu an seiner Seite stand.
»Ich soll also Geduld haben und ihm die Zeit geben, die er braucht, willst du mir das damit sagen?«
Connor nickte. »Niemand hat Dylan Trake beigebracht, sich richtig zu verhalten. Er ist, wie er nun einmal ist, und genauso solltest du ihn akzeptieren.«
»Er ist so ...« Caleb wusste nicht, wie er es nennen sollte, ohne beleidigend zu werden.
»Direkt? Ehrlich? Mit dem Herzen am rechten Fleck?«
»So siehst du ihn?«, fragte Caleb überrascht und Connor nickte erneut.
»Er ist Christians Bruder. Er mag anders reden und anders aussehen. Er mag sich sogar anders benehmen, aber er ist und bleibt ein Trake. Er wird lernen, was er wissen muss, um sich in seiner und auch in unserer Welt zurechtzufinden. Er braucht dafür nur Zeit. Er braucht allerdings keinen Partner, der ihn vollkommen verändern will, weil besagter Partner schlicht zu eingefahren in seiner Art und offenbar zu faul ist, sich Mühe zu geben, einen gemeinsamen Weg zu finden.«
Caleb verzog angesäuert das Gesicht, stand schweigend auf und wandte sich ab, um zu einem der großen Fenster zu gehen und einen Blick in den von Sternen übersäten Nachthimmel zu werfen. Der Vorwurf war klar und deutlich formuliert worden und er würde ihn besser nicht kommentieren, weil er keinen Streit anfangen wollte und Connors Worte leider nicht gänzlich von der Hand zu weisen waren.
»Du darfst ihn nicht verbiegen, Caleb. Ich kenne ihn nicht gut genug, um zu wissen, wie er damit umgehen würde, aber ich weiß sehr wohl, dass das kein angemessenes Verhalten für einen Wintermeer wäre. Willst du einen Bündnispartner, der mit dir auf Augenhöhe ist oder willst du ein niedliches, kleines Hündchen, das brav bei Fuß geht?«
Anstatt zu antworten, lehnte sich Caleb mit der Stirn gegen das kühle Glas der Scheibe, um ruhig durchzuatmen. Connor war offiziell nur sein Leibwächter, aber inoffiziell war er so viel mehr, dass Caleb schon lange aufgehört hatte, einen passenden Begriff dafür zu suchen. Connor würde ihm in einem Raum voller anderer Wandler niemals widersprechen, sofern es nicht um Fragen der Sicherheit ging, aber sobald hinter ihnen eine Tür zufiel und sie unter sich waren, hielt er mit seiner Meinung nicht mehr hinter dem Berg, und er war dabei so ehrlich, dass es manches Mal an Beleidigung grenzte.
Einige Wandler würden es als Nachteil ansehen, wenn man einander seit einem Vierteljahrhundert kannte und über die Stärken und Schwächen des jeweils anderen Bescheid wusste, und es gab Augenblicke, da verfluchte er den Wolf dafür, dass der in ihm lesen konnte, wie in einem aufgeschlagenen Buch. Dieser hier gehörte dazu.
»Dylan Trake bekommt seine Zeit.«
»Eine gute Entscheidung.«
Caleb verschränkte beide Arme hinter dem Rücken. Durch die spiegelnde Scheibe weilte sein Blick auf Connor und dabei fiel ihm etwas ein. »Gab es Ärger mit Joshua?«
»Warum fragst du?«
»Du hast geschwollene Fingerknöchel«, antwortete Caleb und schnalzte tadelnd mit der Zunge, als Connor prompt die rechte Hand hinter seinem Rücken versteckte. Er drehte sich zu ihm um. »Lass den Unsinn. Ich kenne ihn lange genug. Was ist passiert?«
»Wir waren unterschiedlicher Meinung.«
Was übersetzt hieß, Joshua hatte Dylan, Connor, ihn selbst oder jemand anderen beleidigt. Caleb stöhnte genervt und ging ins Badezimmer, das zu seinen privaten Räumen gehörte, um dort ein kleines Handtuch zu befeuchten, das er dann Connor gab, der es auf seine Hand presste.
»Wen hat er diesmal beleidigt?«
»Ist das eine Frage oder die Annahme, er hätte etwas getan, das deiner Aufmerksamkeit bedarf?«
»Jetzt wirst du kindisch«, warf Caleb Connor vor und baute sich dicht vor ihm auf, die Hände in die Seiten gestemmt. »Ich verlange eine Antwort. Was ist passiert?«
»Nichts.«
»Lisbin!«, fuhr er Connor verärgert mit Nachnamen an und das brachte ihm ein Zusammenzucken ein, weil er zu diesem Mittel nur griff, wenn er kurz davor stand, ernsthaft wütend zu werden. Dennoch schüttelte Connor abwehrend den Kopf.
»Er ist es nicht wert, Caleb. Außerdem war er betrunken.«
»Nicht betrunken genug, um nicht mehr zu wissen, was er tat, das weißt du ganz genau, Connor. Und jetzt rede!«
»Er hat sich in einer Art und Weise über deine sexuelle Orientierung geäußert, die ich nicht wiederholen werde.«
Das war nichts Neues für Caleb und kaum ein Augenrollen wert. Derartige Entgleisungen gab Joshua mindestens einmal im Monat zum Besten. Andererseits konnte er es ihm nicht kommentarlos durchgehen lassen, alles hatte seine Grenzen. Er würde mit seinem Vater sprechen müssen und das erledigte er am Besten gleich. Caleb wandte sich ab und ging zur Tür.
»Vater wird sich darum kümmern. Merkt Joshua eigentlich nicht, dass er sich von Tag zu Tag lächerlicher macht? Ob wir Männer oder Frauen lieben, spielt seit mehreren Generationen keinerlei Rolle mehr.«
»Das bedeutet noch lange nicht, dass Dummköpfe wie er jemals aussterben.«
Caleb hielt inne und schaute über die Schulter. »Großvater würde es lieben, wenn ich Joshua so nenne.«
»Ich weiß. Aber falls du das jemals tust, versinkt dein Vater vor Scham im Boden«, konterte Connor trocken und da musste Caleb lachen. »Was? Ich bin nur ehrlich.«
»Ich werde Vater nicht erzählen, wie du über ihn denkst.« Caleb zog amüsiert sein Jackett glatt, denn sein Vater würde es kaum schätzen, wenn er nicht vernünftig angezogen im Haus herumlief. Daran änderte selbst die späte Uhrzeit nichts. Mit der Hand am Türgriff drehte er sich ein letztes Mal zu Connor um. »Wirst du hier sein, wenn ich zurückkomme?«
»Ja.«
»Vater. Ich weiß, es ist spät, aber ...«
»Hat Joshua Connor verletzt?«, fragte sein Großvater aus dem Inneren und sein Vater lachte leise, bevor er die Tür zu seinem Arbeitszimmer freigab und ihn hereinbat.
»Wir hatten uns gerade bei einem Glas Wein über Joshua unterhalten. Claudia und deine Mutter vertraten sich draußen die Beine, als Connor den Alpha zu seinem Wagen brachte. Er war wohl recht angetrunken.«
»Jonathan, dein Sohn ist weder blind noch taub. Joshua wusste genau, was er tat. Er provoziert uns schließlich nicht zum ersten Mal. Dieser Wolf will unserem jungen Alpha den Rang streitig machen.«
»Das soll er ruhig versuchen«, grollte sein Vater verärgert und deutete dabei fragend auf eine Flasche Wein. Caleb nickte. »Revierkämpfe wurden nicht ohne Grund vor sehr langer Zeit verboten. Wir leben in einer Demokratie und wenn er Calebs Position als Oberhaupt unserer Häuser einnehmen will, muss er offizielle Wahlen anstoßen. Doch mit dem Versuch würde er scheitern, das weiß er, deshalb tut er es nicht. Joshua Peterson ist und bleibt ein aufbrausender Dummkopf.«
Caleb schaute seinen Vater überrascht an, als der ihm ein Weinglas in die Hand gab und anschließend sein eigenes und das seines Großvaters nachfüllte. Jeremy zwinkerte ihm nur zu und so entschied Caleb, nichts dazu zu sagen, dass sein Vater einen Wolf-Alpha eben als aufbrausenden Dummkopf betitelt hatte. Das hatte er noch nie getan. Jonathan Wintermeer nahm keine Beleidigungen in den Mund, das empfand er als unter seiner Würde. Wer zu verbalen Entgleisungen griff, tat es nur, weil er keine vernünftigen Argumente mehr hatte. Das war die erste Direktive seines Vaters und an der hielt er fest, seit Caleb denken konnte.
»Hat er deinen Bündnispartner beleidigt?«, wollte Jeremy wissen, nachdem er einen Schluck getrunken hatte, und Caleb nickte. »Schwer?«
»Ich bezweifle, dass Dylan das so sieht«, antwortete Caleb ehrlich. »Er ist anderes gewöhnt, sagte er mir.«
»Bah.« Sein Großvater trank einen weiteren Schluck, ehe er weitersprach. »Soziale Ausgrenzung, weil sein Talent sich nicht entwickelt hat. Diese Psi sind grausam zu ihren Kindern, wenn sie nicht perfekt sind.« Jeremy sah seinen Sohn an. »Wir sollten Joshua von der Gästeliste für die Bündniszeremonie streichen. Ich will nicht, dass er uns diesen Tag verdirbt, dazu ist er zu wichtig für beide Völker.«
Jonathan ließ sich an seinem Schreibtisch nieder. »Ich setze morgen ein Schreiben auf und lasse es ihm zukommen. Caleb, wie ist dein erster Eindruck von Dylan Trake? Er scheint mir sehr … hm, neumodisch zu sein.«
»Das ist untertrieben ausgedrückt, aber er ist mir dennoch nicht unsympathisch. Wir dürfen nicht vergessen, dass er nie für die Rangfolge vorgesehen war und dementsprechend nicht dahingehend erzogen wurde.« Caleb blickte auf den Wein und begann das Glas leicht zu schwenken. »Ich will ehrlich sein. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit ihm zurechtkommen werde. Er kennt nicht einmal die Grundbegriffe unserer Etikette. Ich weiß absolut nicht, wie ich mit ihm umgehen soll.«
»Dann bringen wir sie ihm bei«, erklärte Jeremy ungerührt. »Sein Onkel, dieser Wissenschaftler, wird mit der Führung des Clans vorläufig genug zu tun haben. Wir sollten seinem Neffen so gut wir können unter die Arme greifen.«
»Sofern er dem Vertrag wirklich zustimmt«, warf Caleb ein und sein Vater merkte auf.
»Denkst du, er wird sich weigern?«
Caleb runzelte überlegend die Stirn. »Ich bin nicht sicher. Er ist nicht glücklich darüber, was von ihm verlangt wird. Aber das kann ihm niemand vorwerfen. Ich wundere mich nur, wie gefasst er zu sein scheint. Seine Familie wurde ermordet und er erwähnt sie mit keinem Wort.« Caleb kam ein Gedanke, den er noch nicht in Erwägung gezogen hatte. »Trauern Psi anders als wir Gestaltwandler?«
»Nein.« Sein Großvater seufzte leise. »Andererseits … Es ist erst eine Woche her. Möglicherweise hat er es noch gar nicht begriffen, geschweige denn akzeptiert. Sobald das geschieht, wird er trauern und dabei Unterstützung brauchen.« Der Blick, mit dem Jeremy ihn nach den Worten bedachte, war eindeutig. Es würde ihm zufallen, sich um Dylan zu kümmern. »Gibt es irgendwelche Neuigkeiten bezüglich der Täter? Eine Bombe in ein bewachtes Privatflugzeug zu schmuggeln, dürfte für eine einzelne Person praktisch unmöglich sein.«
Sein Vater schüttelte den Kopf. »Unsere Informanten sagen, die Polizei tappt im Dunkeln. Sie untersuchen die Trümmer, in der Hoffnung, dort eine Spur zu entdecken. Aber das dauert. Dazu kommt noch Kompetenzgerangel der Behörden, weil die Maschine über dem Gebiet der Menschen abgestürzt ist.«
»Wissen die Psi mehr?«
»Offiziell nein. Inoffiziell heißt es, die Bombe kam aus den eigenen Reihen. Weiter heißt es, es gäbe mehrere Psi, die nichts lieber täten, als den Platz mit Dylan Trake zu tauschen. Das kann alles oder nichts bedeuten, denn wenn es nach Joshua geht, waren wir Wintermeers ebenfalls lange genug Oberhaupt unserer Häuser. Es gibt immer irgendwo jemanden der denkt, dass er es besser kann als jene, die an der Macht sind, und falls ein Mitglied des Clans tatsächlich den Auftrag gegeben hat, die Trakes zu ermorden, werden wir es bald erfahren, denn dann dürfte diese Bombe nicht der letzte Versuch gewesen sein, die Familie auszulöschen.«
»Wir könnten den Vertrag für Null und Nichtig erklären. Dann würden wir nicht in Kleinkriege hineingeraten, sofern es welche gibt«, schlug Caleb vor, obwohl ihm bewusst war, dass sein Vater das nicht akzeptieren würde.
»Das kommt nicht infrage«, zischte dieser auch sofort und schob das Weinglas von sich. »Vor weniger als 50 Jahren haben wir zum letzten Mal tausende Wandler, Psi und Menschen begraben, nur weil wir nicht in der Lage waren mit unseren Unterschieden zu leben und sie als gegeben hinzunehmen. Stattdessen haben wir einander bekämpft. Jahrhundertelang. Um der Macht willen. Dieser Vertrag wurde geschlossen, um zu verhindern, dass genau das wieder passiert, und ich werde niemals zulassen, dass unsere Häuser ihr Gesicht verlieren, nur weil der Trakener-Clan uneins ist. Ich hätte sogar mit den Menschen einen Vertrag derselben Art geschlossen, aber sie gaben sich mit Unterschriften auf einem Blatt Papier zufrieden, und sie leben dermaßen abgeschottet in ihren neuen Städten, dass es keinen Grund gibt, an ihrem Wort zu zweifeln.« Sein Vater sah ihn eindringlich an. »Kein neuer Krieg, Caleb. Es darf nie mehr dazu kommen. Euer Bündnis wird das sicherstellen. Ich weiß selbst, dass so eine Lösung nicht perfekt ist, aber du und der junge Trake, ihr werdet für euch einen Weg finden, um trotz eurer Blutverbindung ein erfülltes Leben zu führen.«
Caleb nickte schweigend und ließ die beiden Männer ohne ein Wort des Abschieds allein. Er wusste, wieso vor allem sein Vater so heftig auf diesen Vertrag pochte, und er konnte es nachvollziehen. Caleb hatte leider nie die Möglichkeit erhalten, seine Onkel kennenzulernen, denn beide waren in der letzten großen Schlacht gestorben. Seine Großeltern hatten bis auf den Zweitgeborenen alle Kinder verloren und sein Vater wollte um jeden Preis verhindern, dass sich dieses Drama wiederholte.
Für ihre Familie, aber auch für die unzähligen anderen, die damals Töchter, Söhne, Brüder, Schwestern, Mütter und Väter hatten beerdigen müssen.
Kapitel 3
»Caleb Wintermeer ist das Produkt einer langjährigen und äußerst umfangreichen Erziehung. Ihn als Snob zu bezeichnen war nicht sehr höflich.«
Dylan stöhnte auf und ließ den Kopf nach hinten sinken. Das Polster der Couch in Adrians Wohnraum gab nach und er schloss die Augen. So ging das bereits seit einer Stunde und langsam war er es wirklich leid. Ja, er hatte sich heute Abend nicht immer korrekt verhalten, von seinem Gespräch mit Caleb im Garten gar nicht zu reden, aber was hatte Adrian denn von ihm erwartet? Dass er durch einen Schnelldurchlauf im Lernen von Benimmregeln ein perfekter Trake wurde?
Er hörte seinen Onkel seufzen, dann sank das Polster neben ihm ein Stück ein. »Dylan?«
»Nicht noch mehr Vorwürfe, bitte. Ich bin nicht Christian.«
»Ach je … So war es nicht gemeint, mein Junge, es tut mir leid. Ich weiß, dass das alles nicht einfach für dich ist. Obwohl das eher eine harmlose Untertreibung ist, wenn man bedenkt, in welcher Situation du dich momentan befindest. Möchtest du schlafen gehen?«
»Willst du eine diplomatische oder eine ehrliche Antwort?«
Adrian gluckste und Dylan öffnete die Augen, als sein Onkel nach seiner Hand griff. »Wie wäre es mit beidem?«
»Na gut«, gab Dylan nach, denn in den blauen Augen von Adrian entdeckte er Belustigung. »Die korrekte Antwort wäre wohl, ja, ich möchte schlafen gehen. Die ehrliche Antwort lautet, ich will sofort meine Sachen packen, zurück in meine Wohnung in die Stadt fahren und für immer vergessen, was letzte Woche passiert ist.«
Adrian drückte seine Finger. »Verständlich, und ich gebe zu, ich würde es auch gerne vergessen. Nur leider steht uns diese Option nicht offen.« Adrians Blick verdüsterte sich für einen Moment, aber dann lächelte er wieder. »Wir schaffen es schon. Daran glaube ich ganz fest, Dylan, und jetzt erzähl' mir ehrlich, was du über Caleb Wintermeer denkst.«
»Er ist ein Snob.«
Sein Onkel lachte, bevor er tadelnd einen Finger hob. »Ich meine abgesehen von dieser unwiderlegbaren Tatsache, die wir bereits diskutiert haben.«
Dylan zuckte ratlos mit den Schultern. Er hatte sich noch nicht entschieden, was er von Caleb Wintermeer halten sollte. Zumindest konnte er ihm kein Desinteresse oder Falschheit vorwerfen. Der Wandler hatte sich den ganzen Abend um ihn bemüht, ihn in Gespräche einbezogen, ihm seine Eltern und Großeltern vorgestellt und ihn vor diesem angetrunkenen Wolf geschützt, als Adrian auf der Toilette gewesen war. So ein unheimlicher Kerl war ihm noch nie begegnet und der Geruch nach Alkohol bedeutete mit Sicherheit nichts Gutes. Dass Caleb den Wolf nicht mochte, war ein zusätzlicher Punkt, der Dylan zu denken gab, aber er wollte es ihm nicht negativ auslegen. Er mochte schließlich auch nicht jeden.
»Er scheint nett zu sein«, sagte er am Ende schlicht, da der Abend in Dylans Augen schlicht zu kurz gewesen war, um sich ein vernünftiges Bild seines Zukünftigen zu machen.
»Nun, das ist immerhin ein Anfang. Gefällt er dir denn? So rein äußerlich gesehen?«
»Warum soll er mir gefallen?«, wunderte sich Dylan, begriff aber im nächsten Moment, worauf Adrian mit seiner Frage hinauswollte. »Oh nein, vergiss es. Ja, er sieht klasse aus, gar keine Frage. Ich meine, hast du den Körper gesehen? Groß, dunkelhaarig, umwerfend braune Augen und er hat garantiert einige ansehnliche Muskeln unter seinem hübschen Jackett, aber ich werde sicher nicht mit der steifen Frostbeule ins Bett steigen.«
»Dylan ...«
»Okay, er ist keine Frostbeule. Aber steif ist er.«
»Ich habe mir erzählen lassen, dass es gelegentlich sehr gut sein soll, steif zu sein.«
Dylan sah Adrian empört an. »Onkel Adrian!«
»Was?« Sein Onkel schien sich keiner Schuld bewusst. »Du bist ein erwachsener Mann mit Bedürfnissen. Wenn dir Caleb als Bettpartner zusagt, was spräche dagegen? Es würde euer Bündnis um einiges angenehmer gestalten.«
»Ich gehe schlafen«, erklärte Dylan und erhob sich.
»Wenn ich dich beleidigt habe ...«
»Nein.« Dylan winkte ab, während er mit festen Schritten zur Tür strebte. »Möglicherweise hast du ja recht und morgen kann ich bestimmt darüber lachen, aber jetzt bin ich müde und finde es ganz und gar nicht lustig, mit dir über mein Sexleben zu reden. Ich liebe diesen Mann nicht und ich wäre freiwillig niemals auf die Idee gekommen, mich an ihn zu binden, hast du das schon vergessen? Mich in Caleb Wintermeers Bett zu legen ist das allerletzte, was ich will.«
Dylan verließ Adrians Räume ohne zurückzublicken und war erleichtert, als er störungsfrei sein früheres Kinderzimmer erreichte. Viel geändert hatte sich nicht. Sein alter Teppich war verschwunden und die dunkelblaue Farbe an den Wänden, die er in einem Trotzanfall selbst gestrichen hatte, einem sanfteren Blau mit dunklen Akzenten gewichen. Ansonsten hatten seine Eltern alles so belassen, wie er es in Erinnerung hatte.
Ein Bett an der Wand zwischen zwei großen Fenstern, links sein Kleiderschrank, rechts ein Schreibtisch und eine Tür, die zum Badezimmer führte, dunkle Möbel aus edlen Hölzern, so wie er es liebte. Dylan trat an seinen Schreibtisch und musste grinsen, als er seinen Namen fand, den er als rotzfrecher Vierzehnjähriger mit seinem Taschenmesser ins Holz geritzt hatte. Noch heute hatte er das Toben seiner Mutter im Ohr, nachdem sie es entdeckt hatte. Sein Vater indes hatte ihm nur mit mildem Lächeln eine Woche Küchendienst aufgebrummt.
Dylan sah zu dem Regal an der linken Wand. Sie standen immer noch dort. Fein säuberlich aufgereiht betrachtete er die Bilder von seiner Familie. Er mit seinen Eltern, allein oder mit seinen Geschwistern. Christian lachte in die Kamera, während er ihn, damals ein magerer zehnjähriger Junge, über der Schulter zu liegen hatte. Katharina stand hinter ihnen und lachte. Dylan erinnerte sich daran, dass sie zuerst ausgesehen hatte, als wäre ihr ihre Familie unglaublich peinlich, aber schließlich hatte sie das Lachen nicht länger zurückhalten können.
Sein Blick blieb an dem Hochzeitsfoto seiner Eltern hängen. Er hatte unbedingt eines haben wollen, warum, das konnte er heute nicht mehr sagen. Vielleicht, weil sie damals so glücklich ausgesehen hatten. So zufrieden mit sich und der Welt und den unzähligen Jahren, die vor ihnen lagen. Dylan spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Er unterdrückte sie.
Kurz darauf klappte die Tür hinter ihm und er erkannte an den Schritten, dass es George war.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er und hörte den alten Mann leise seufzen. »George?«
»Sei ihm nicht böse, Dylan. Dein Onkel hat es ebenfalls nicht leicht und er meint es nur gut.«